Aus der Adminperspektive sah Seitenwind so aus: Zuerst am Thema feilen. Ideen haben, das ist leicht. Sie so zu formulieren, dass andere sie für sinnvoll halten ist schwieriger. Montagabends müde sein, dienstagnachmittags nervös und abends euphorisch. Dann: lesen und staunen. Von der ersten Woche an war es unfassbar, auf wie viele Arten ihr unsere Themen zu Geschichten gemacht habt. Dann lachen, seufzen, eine Träne fix zurück ins Auge schieben, feststellen, das Auge ist schon voll. Den irritierten Blick des Herrn am Coworking-Schreibtisch gegenüber bemerken. Weiterlesen.
Das Leben gibt einem jeden Tag Gründe, nicht zu schreiben: Arbeit, Ablenkung, Verpflichtungen. Unsicherheit darüber, ob wir überhaupt etwas zu sagen haben und ob jemand es lesen wird. Mit Seitenwind wollten wir uns allen Gründe geben, mehr zu schreiben. Etwas anderes zu schreiben. Es einfach darauf ankommen zu lassen.
Wir haben das Privileg, mit euch zu einer Community aus unglaublich talentierten Autorinnen und Autoren zu gehören, die uns tatkräftig dabei unterstützen, uns weiterzuentwickeln. Wir wollten Gelegenheiten schaffen, zusammen zu schreiben, uns gegenseitig zu unterstützen und einander zu inspirieren. Jeden Tag.
Oppa ist viel netter als Omma. Wenn wir mit ihm am Büdchen sind, dürfen wir uns immer ein teures Eis aussuchen. Nogger oder Cornetto. Aber nur, wenn wir der Omma nicht sagen, dass Oppa sich einen Flachmann gekauft hat.
In der ersten Woche ging es ums Essen. Aber nicht nur! Es ging auch darum, sich zu erinnern, ausführlich. Daran, wie die Speisen unserer Kindheit geschmeckt und gerochen haben, und wie es war, Kind zu sein, und diese Gefühle und Sinneswahrnehmungen möglichst präzise in andere Köpfe zu übertragen. Die Texte zum ersten Thema waren zutiefst persönlich und zugleich universell, und die Gespräche, die um sie herum entstanden, gingen weit über das Thema Essen hinaus. Wir waren ins Erzählen gekommen.
Die Katze kam mit der Bahn, aber erschreckend und neu war dieses Mal, dass sie herausgefunden hatte, wie armselig der Einsatz gelaufen war.
Die zweite Woche widmeten wir der Suche nach dem perfekten ersten Satz. Einem Satz, der stark genug ist, um einen Leser am Kragen zu packen und aus dem Alltag herauszuziehen.
Statt zu antworten, drehte sie ihren Kopf und fixierte den an der Wand hängenden Fernseher. „Ohhh, lauter nackte Männer!“
In der dritten Woche schrieben wir vom Leben ab. Es ist leicht, in einem Tunnel aus Gedanken, Musik und Internet durch den Alltag zu gehen. Aber wenn man nicht beobachtet, was ist, fängt man irgendwann an, zu sehen, was man erwartet. Und dann zu schreiben, was man nur irgendwo gelesen hat.
„Und alles wieder okay?“
„Nein, leider gar nicht.“
„Das ist die Hauptsache …“
Die vierte Woche brachte Streitgespräche und Selbstgespräche hervor, lustige und absurde, berührende und beziehungsbeendende. Das Thema war „Dialoge“ – ein heikler Balanceakt zwischen Lesbarkeit und Authentizität.
Auf dem Tisch steht ein Teller, liegt ein Messer. So, als wollest du dich gleich zu Tisch setzen und speisen. Die hässliche Wachstuchtischdecke ist abgerieben und in den Jahrzehnten hart geworden, die Farbe blättert ab. Auf dem Teller, als sehr frugales Mahl, ein Brocken Kalk, der vom geweißelten Deckenbalken abgefallen ist. (…) Der Abreißkalender an der Küchenwand endet am 2. Oktober 1986. Ein Freitag. Und dann?
In der fünften Woche erkundeten wir Räume, die lange niemand betreten hatte. Verlassene Orte können ein Rätsel sein, das du deinen Lesern aufgibst oder ein Spiegel, in dem eine Figur sich plötzlich selbst erkennt. Oder das Porträt eines Menschen, der schon lange fort ist. Fast immer sind sie eine Mutprobe.
Schon erfasst es einen Passanten. Sein Körper wird über das Auto hinweg durch die Luft geschleudert. Sein Popcorn sehe ich wie kleine Sternchen im Straßenlampenlicht durch die Luft fliegen. Sie scheinen einen Moment dort zu verharren – bis ihr Licht erlischt.
Dann haben wir die Zeit erst verlangsamt und plötzlich beschleunigt. Mit Staunen und Begeisterung verfolgten wir mit, auf wie viele unterschiedliche Arten das geht. Eine andere Tatsache, die die Texte der sechsten Woche einem wieder und wieder vor Augen führten: wie entscheidend ein einziger Augenblick für einen Plot – oder ein Leben – sein kann.
Es klopfte wieder. Joost litt unter dem lauten Pochen. Lasst mich, dachte er. Ich brauche Ruhe zum Arbeiten, Ruhe zum Denken, Ruhe für meine tanzenden Farbkringel.
Ein Alchemist, ein Elixir, ein unerwarteter Besucher. Wie viele Geschichten kann ein- und derselbe Anfang hervorbringen? Unendlich viele, fanden wir in der siebten Woche heraus. Eine Tür, so scheint es, ist eine magische Apparatur. Es ging um Anfang, Höhepunkt und Schluss – um Veränderung.
Durch den Druck des Gletschers bildet sich in der Tiefe von 90 Metern Gletscherwasser, das im Kalkstein neue Höhlenformationen zurücklässt. Ein kleiner Lebenskünstler hat hier ein Zuhause gefunden: Pholeun prosperpinae glaciale, ein weisses wimpernloses Käferchen, ist hier glücklich und knabbert an den organischen Überresten in dieser gigantischen Tiefkühltruhe.
Das achte Thema brachte uns zurück auf den Boden der Realität. Auf den Dachboden der Realität, wo sich eine Vielfalt vergessener Schätze stapelte. Es war ein Genuss, zu sehen, wie viel Wissen das Schreiben generiert und wie neues Wissen wiederum neue Geschichten hervorbringt – wenn das kein Perpetuum mobile ist, dann weiß ich auch nicht.
Meine Mutter wirkt wie Spiritus und Grillanzünder gleichzeitig auf mich, wenn es um meine Schwester geht.
In der neunten Woche fingen wir Streit an. Streit treibt die Handlung voran, gibt uns wichtige Anhaltspunkte zu Charakter, Umständen und Werten einer Figur… Die neunte Woche bot reichlich Gelegenheit zu Mord und Körperverletzung. Viel häufiger kam es jedoch zu Diskussionen, Aussprachen, Versöhnungen und zum lebensrettenden Schlussstrich.
Einen Helm besaß er nicht, sein goldenes Haar wehte frei im Wind. Er brauchte derlei Schnickschnack nicht. Keiner der verbliebenen achtundzwanzig Gegner würde es wagen, ihn hinterrücks zu erstechen. Denn er hatte die beste Rüstung von allen: den Plot.
Und dann die zehnte Woche. Kiloweise Adjektive, Vampire mit Glitzersprühaugen und Kommissare, die am Tatort den Flachmann zücken. Im Regen. In der zehnten Woche nahmen die Konventionen und Eigenheiten unserer Lieblingsgenres vor und übertrieben sie bis ins Absurde. Eine spaßige Aufgabe zum Abschluss, hatten wir uns gedacht, aber dann –
Ein verklärt lächelnder Igel auf einem Ferienhaus, eine verschwitzte Zwiebel vor einer unmöglichen Aufgabe, eine schlecht gelaunte Elster im Anflug und ein verzweifeltes Eichhörnchen … was ist los? Weihnachten.
Dann entstand aus der Community heraus eine elfte Woche: eine Weihnachtswoche, ein Fest. Wie Geschenke unterm Weihnachtsbaum türmten sich lustige, besinnliche, traurige, chaotische und zauberhafte Texte. Danke.
Übrigens haben wir Seitenwind-Autoren und -Autorinnen nach ihren Geheimnissen gefragt, und sie haben geantwortet. In den nächsten Wochen veröffentlichen wir eine kleine Serie literarischer Erkenntnisse aus der Saison!
Wir hoffen, ihr hattet wundervolle Festtage. Wir wünschen euch ein schönes neues Schreibjahr voller guter Einfälle, mit viel Zeit und einem Zimmer für euch allein.
Wir sehen uns auf der anderen Seite.