Weihnachten abgeschminkt
Ein ohrenbetäubendes Gebrüll ertönt, dann ein leises Wimmern. Gitta sitzt mit zusammengezogenen Knien vor dem Sofa. Die Tränen fliessen an ihren Wangen hinunter, aber sie bemerkt sie nicht. Was waren das für Geräusche? Sie klangen, als wären sie unendlich weit weg. Es waren Schreie aus ihrem Herzen. Sie kann es nicht glauben. Ein Lächeln breitet sich auf dem tränenverschmierten Gesicht aus. Es hat etwas Skurriles an sich. Kleine schwarze Linien, mal dicker, mal dünner, die sich unterhalb der Augen Richtung Hals ausbreiten. Das Makeup löst sich auf, auch die Fassade, die sie wie jedes Jahr über drei Tage, vielleicht auch über mehrere Wochen, aufrecht erhalten hat. Es fühlte sich an wie ein Urknall, mit einem lauten Schrei brach alles aus ihrem Inneren heraus.
Und das tut so gut. Jetzt wo alles vorbei ist. Sie erinnert sich…
Wie jedes Jahr zu dieser Zeit ist es ein endloses Hetzen, ein Hindurchschieben durch ein Gewimmel von Menschenkörpern, deren Seelen im Stress unsichtbar bleiben. Kaum ein Lächeln, außer das aufgesetzte Getue der Verkäuferinnen, die ihr noch ein Zusatzprodukt aufschwatzen wollen. Die letzten Kleinigkeiten liegen in ihrem Einkaufswagen. In der Schlange vor der Kasse stehend registriert sie, dass sie bereits jetzt schon zu spät dran ist. Sie kann die Gesichter ihrer Lieben vor sich sehen, die Enttäuschung, dass sie nicht alles besorgt hat, nicht jeder Wunsch erfüllt wird. Oder ist es der Überfluss, der ihrem Mann nicht bewußt ist und die Kinder völlig überfordert? Aber es ist doch Weihnachten, und auch Gitta möchte die Menschen, die ihr lieb und vor allem teuer sind, glücklich sehen. Aber wie kann das gehen? Heute, in diesem reichen Land welches wir Heimat, andere Zuflucht oder Deutschland nennen. Ihre Gedanken, so erinnert sie sich jetzt, begannen in diesem Moment sich zu drehen, zu verdrehen, ineinander zu verhaken, sodass sie nicht einen einzelnen davon aus dem Knäuel herausziehen konnte, um ihn genau betrachten und etwas verändern zu können.
In ihren Gedanken kommt Gitta noch einmal die Einfahrt hoch, bepackt mit Tüten und Päckchen, bepackt mit Ballast, der ihr zu viel zu werden droht. Was ist nur los mit ihr? Kann sie sich nicht einfach zusammenreißen? Doch sie kann.
Sie bereitet das Weihnachtsessen vor, bittet ihren Mann den Weihnachtsbaum aufzustellen und die Kinder um Hilfe beim Schmücken. John kann den Christbaumständer nicht finden, also läuft sie selbst die Treppen hinauf zum Dachboden und kramt ihn aus der Ecke, in der dieser seit fast 20 Jahren steht. Noch einmal bittet sie Lisa und Leon, den Baum zu schmücken. Die beiden Kinder lümmeln gemütlich auf der Couch und daddeln auf ihren Handys herum. Die Stimme der Mutter nehmen sie nicht wahr.
Wie schön das früher war, denkt sie, als die Kinder noch klein waren und wir mit einer Kanne Kakao am alten Küchentisch saßen, die selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen probieren durften und jeder etwas zu erzählen hatte. Die Aufregung der Kinder konnte man wie ein Knistern in der Luft spüren. Alles war geheimnisvoll und besonders. Ab und zu konnte man von draußen Glockchenläuten vernehmen, viele Erwachsene versteckten sich hinter Häuserecken, um das Christkind anzukündigen und das Leuchten in den Kinderaugen noch größer zu zaubern. Ab und an waren schwere Schritte zu hören, wenn die letzten Weihnachtsbäume über die liebevoll beleuchteten Bürgersteige gezogen wurden, oder waren es die Geräusche der fleißigen Helfer des Christkindes? Die Haustüren waren mit echten Tannenzweigen dekoriert und in den Wohnungen mischte sich der Duft von Tannengrün und Kerzenwachs. Alles war so heimelig. Am Abend sah man bei den Nachbarn vorbei und sammelte die Menschen ein, die sonst den Heiligen Abend alleine verbracht hätten. Niemand durfte an so einem Abend alleine bleiben. Es wurde gefeiert und gelacht und es war immer ein Platz am Tisch frei, man konnte ja nie wissen, wer noch kommen wollte.
Diese Erinnerungen wärmen Gitta das Herz. Doch dann fallen andere Gedanken nach vorne, landen genau am heutigen Nachmittag des Holidays. Fast muss sie sich übergeben, als die Bilder der kleinen Katastrophe sie übermannen. „Das ist kein Weihnachtsfest mehr“, hört sie sich rufen, „das ist eine Farce, eine Veranstaltung, bei der ich nicht mehr mitmachen möchte. Ich finde das alles nur noch zum Kotzen.“ John und die Kinder schauen sie an, als wäre sie verrückt geworden. „Habt ihr denn gar nichts kapiert von dem was ich gesagt habe? Spreche ich eine andere Sprache als ihr, oder wollt ihr nicht verstehen?“ hört sie sich fragen. - Keine Antwort. Sie springt auf, öffnet die Wohnzimmertür und befördert ihre Familie mit barschen Worten aus dem Zimmer. Oh Wunder, stumm verläßt diese den Raum. Liegt das an Weihnachten oder an Gittas hysterischem Anfall? Sie setzt sich auf das Sofa und versucht sich zusammenzureißen. Gerade hat sie ihrer Familie von der syrischen Familie aus dem abbruchreifen Haus an der Ecke erzählt. In deren Wohnung ist heute nachmittag das Heizungsrohr in der Küche geplatzt, hat diese unter Wasser gesetzt und die vorbereiteten Speisen ruiniert. Jetzt sitzt Familie Abdel mit Wolldecken im kalten Wohnzimmer. Wie aus einem Reflex heraus hatte Gitta Wael, seine Frau Razan mit ihren drei kleinen Kindern eingeladen, das Weihnachtsfest bei ihr und ihrer Familie zu verbringen. Und jetzt darf sie von ihrer Familie erfahren, dass diese gerne in Ruhe essen und einen Film schauen möchte, da wäre so ein fremdländisches Gequassel doch sehr störend. Ticken die denn noch ganz richtig? Gitta atmet tief ein und aus und langsam beruhigt sie sich wieder. Sie versucht, ihre Lieben zu verstehen und doch möchte sie nicht aufgeben. Sie weiß, wenn sie noch einmal ruhig ihre Sichtweise erklärt, wird ihre Familie sie verstehen und vielleicht auch unterstützen.
Sie wischt sich das verlaufene Makeup aus dem Gesicht und beginnt, den Baum zu schmücken. Sie zündet die elektrischen Kerzen mit der Fernbedienung an und geht leise in die Küche. Ohne ein Wort bereitet sie eine Kanne Kakao zu, holt die Weihnachtskekse aus dem Versteck und stellt sie auf den Tisch. Gitta findet die verloren geglaubten Worte wieder und bittet ihren Mann und die Kinder sich mit ihr an den Küchentisch zu setzen.
Sie beginnt zu erzählen. Von früher, als Weihnachten noch anders war. Und jeder in der Küche kann ihn spüren, den Geist der Weihnacht.
Gitta endet mit den Worten, was für sie Weihnachten bedeutet:
„Weihnachten ist Musik von der Stillen und Heiligen Nacht, und auch ein liebevolles Wort und ein offenes Ohr.
Weihnachten ist ein festlich gedeckter Tisch mit Kerzen und Tannengrün, an dem es für JEDEN einen Platz gibt.
Weihnachten sind leuchtender Schmuck und ein riesengroßes Herz in dem es Raum für ALLE hat.
Weihnachten ist wie eine Umarmung der ganzen Welt.
Weihnachten geht nur zusammen.“
John, Lisa und Leon sind ganz still.
Es klingelt, alle springen auf, jeder möchte als Erster an der Tür sein, um sie für die Fremden zu öffnen.
Gitta lächelt glücklich. Das ist Weihnachten.