Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Langsam und in aufrechter Haltung ging sie an mir vorbei zu ihrem Tisch. Die Absätze ihrer Westernstiefel hallten laut in dem Café, in dem außer mir um diese Uhrzeit noch niemand saß. Ihr Duft hauchte an mir vorbei, zitronig, kühl wie ein Eisbonbon. Kölnisch Wasser? Ihr weißes Haar fiel weit über die Schultern der ärmellosen verwaschenen Jeansweste, der Pony berührte die Brauen über den grünen Augen.
„Einen Kaffee bitte, ohne Milch und Zucker“, sagte sie zu der Kellnerin.
Sie saß nur da – mit einem leichten Lächeln, als wäre sie jederzeit bereit, fotografiert zu werden. Sie blickte nicht nach links und nicht nach rechts, nippte nur hin und wieder an ihrem Kaffee. Viele kleine Falten prägten das Kinn, wenige tiefe umrahmten die Mundwinkel. Sie hatte die Arme auf den Tisch gelegt, die Haut an den Innenseiten hing etwas herab. Am rechten Arm trug sie eine kleine silberne Uhr, am linken ein schwarzes Lederarmband. Sie hob den Arm, kein Ring an den schlanken Fingern.
„Das macht 4,60 Euro“, sagte die Kellnerin. „Machen Sie 20“, antwortete die Dame leise.

Wysiwyg

Am Ende sind es immer nur wir beide im Arbeitszimmer.
Ich sitze in dem Bürostuhl, der eigentlich deiner ist. Du hast dir meinen geschnappt, klar, der ist ja auch bequemer. Während du dich lässig ausstreckst, darf ich gekrümmt nach vorn sitzen, Bittstellerin, die ich bin. Ich starre aus dem Fenster, drehe ein bisschen hin und her- es heißt schließlich auch Drehstuhl, oder? Mein Blick schweift wieder zu dir. Deine Augen liegen auf Halbmast, doch ich mache mir nichts vor. Du beobachtest mich mindestens genauso intensiv wie ich dich. Deine entspannte Haltung täuscht mich kein bisschen. Graue Haare bedecken dein Haupt, aber du bist nicht so alt, wie du gerade tust. Und selbst, wenn du es wärst, ich weiß, wer hier der Boss ist.
„Hör mal …“, setze ich an. Ich verstumme sofort wieder, weil mich jetzt ein Blick aus zusammengekniffenen grünen Augen trifft. Die Frage, wer hier den Chefsessel behält, ist geklärt.
Man kann nicht gegen eine Katze gewinnen.

Erst 16.30 Uhr! Ich war erheblich zu früh auf dem überfüllten Bahnsteig. Füße und Rücken schmerzten nach einer ausgedehnten Shoppingtour. Einen Sitzplatz zu erobern, erwartete ich nicht um diese Uhrzeit. Dennoch scannte ich das langgezogene Areal ab, während ich an der Mauer des Treppenaufgangs lehnte, um meinen Rücken zu entlasten. Vollbesetzte Bänke, wohin ich auch sah. Kurz zog ich in Erwägung, mich auf den schmutzigen Boden zu hocken. Nur der Ekel hielt mich davon ab.

Zwanzig lange Minuten noch bis zum Eintreffen des Zuges. Nie wieder trüge ich unbequeme Schuhe zum Stadtbummel, schwor ich mir. Gutes Aussehen hin oder her. Einen Augenblick später blieben meine Augen ungläubig an einem freien Platz hängen. Glück musste man haben. Ich raffte die Einkaufstaschen zusammen und peilte die Sitzgelegenheit an. Erst auf dem Weg dahin nahm ich die Frau wahr, die ganz allein dort saß. Ich ahnte, warum neben ihr alles frei geblieben war. Sie wirkte ungepflegt.

Das stumpfe Haar war nachlässig zu einem Zopf zusammengebunden, dazu war sie abgemagert und ungewöhnlich blass. Ihre Finger krampften sich um den Hals einer braunen Flasche, so als hielte sie sich daran fest. Alles klar! Bier, mutmaßte ich angewidert.

Nach einem kurzen Zögern setzte ich mich an den äußersten Rand der Bank. Ohne die Frau anzuschauen, mühte ich mir ein knappes »Hallo« ab. Ihre dünne Stimme ging fast unter im Bahnhofsgetöse, als sie den Gruß erwiderte.

Verstohlen musterte ich sie. Die Jacke war zu groß und zu warm für die Jahreszeit. Das passte zu meiner Vorstellung von einer obdachlosen Trinkerin. Bei genauerem Hinsehen aber stellte ich fest, dass es sich um ein teures Markenmodell handelte und durchaus gepflegt war. Mein Blick wanderte ein Stück höher bis zu ihrem Gesicht. Aus der Nähe betrachtet sah sie jünger aus. Ein Rinnsal Speichel lief ihr aus dem Mundwinkel. Wortlos schob ich ihr eine Packung Papiertaschentücher rüber und deutete mit dem Finger auf den Mund. Ihre matten blauen Augen leuchteten kurz auf und sie hauchte ein Dankeschön. Sie ist hübsch, dachte ich verwundert.

»Möchten Sie meinen Kaffee? Ich habe ihn noch nicht angerührt. Und er ist noch heiß.«
Während ich das sagte, rutschte ich auf der Bank ein Stück näher an sie heran.

Sie schüttelte ablehnend den Kopf. »Vielen Dank. Das ist sehr nett von ihnen, aber Kaffee vertrage ich nicht so kurz nach der Chemotherapie. Ich komme gerade aus der Klinik.« Sie hielt mir die Flasche hin. »Malzbier geht«, fuhr sie fort. »Seit der Krebstherapie fällt mir das Essen so schwer.«
Malzbier also, dachte ich beschämt …

Käthe vonne Bude

Das Büdchen sah aus wie immer, ein kleiner holzverkleideter Kasten am Ende der Hauptstraße. Die Leuchtreklame flackerte. Melli war lang nicht mehr hier gewesen. Beim Eintreten bimmelte das kleine Glöckchen über der Tür und kündigte ihr Kommen an. Käthe stand hinter dem langgezogenen Verkaufstresen, der vertraute, geblümte Kittel umhüllte ihre schmale Gestalt. Wie viele hat sie eigentlich davon, fragte sich Melli. In all den Jahren hatte sie Käthe nie in einem anderen Kleidungsstück gesehen.
„Na, auch ma wieda da?“
Melli grinste, als sie Käthes knarzige Stimme hörte. Wie ein altes, ungeöltes Scharnier.
„Jupp, Heimatbesuch. Omma Änne hat Geburtstag.“
„Wie imma bunte Tüte?“
Melli nickte und kramte ein paar Münzen aus der Hosentasche hervor und legte sie auf den Tresen. Käthe nahm das Geld in ihre Hand und sortierte es ins Kassenkästchen. Alt war diese Hand geworden, die dicken Adern traten auf dem Handrücken hervor, die Fingergelenke verdickt und unzählige Falten kräuselten sich auf der feinen Haut und erzeugten bei jeder Bewegung kleine Wellen. Wie kräftig diese Hand früher mal gewesen war. Damals, als sie ihren Ollen mit der schweren Bratpfanne aus dem Haus gejagt hatte. Mit der Trulla von dem Kaminski hatte der sich eingelassen. Jeder in der Siedlung kannte diese Geschichte. Diese Hand füllte jetzt langsam und behutsam die spitz zulaufende Papiertüte. Melli beobachtete Käthe nun ganz genau. Der Rücken war krumm geworden, die Schultern nach vorne gebeugt. Wie flink Käthe früher war, wie geschäftig sie den schmalen Gang des Verkaufsraums auf und ab lief. Tag für Tag, Jahr für Jahr. Käthe knüllte die Papiertüte oben zusammen und reichte sie an Melli. Die Hand zitterte leicht.
„Und sons, wie isset?“
„Och, wie imma, ne. Muss ja.“
Käthe verzog leicht ihren Mund, was für ihre Verhältnisse fast einem Lächeln gleichkam und sah Melli direkt in die Augen. Sie blitzten noch wie früher. Blau, wie die Eisbonbons, die Melli als Kind so gerne gelutscht hatte. Die Tränensäcke waren größer geworden. Müde sah sie aus. Falten, in einem langen Leben mühsam erworben, zogen sich über das Gesicht. Nur die Haare glänzten frisch in mahagonibraun, sorgfältig in feine Wellen gelegt. Gefärbt hat Käthe immer. Sie wolle ja nicht aussehen wie eine alte Omma, sagte sie.
„So, Schätzeken, jetz mach ma hinne, die Änne wartet bestimmt nich gerne auf dich. Die hat doch bestimmt schon ne Ladung Frikadellchen fertich. Sach ihr ma, die soll mir eine übrig lassn.“
Melli winkte mit der Bonbontüte leicht in der Luft. Ein letztes „Tüss“ und die alte Türglocke bimmelte noch einmal leise zum Abschied.

Auf eine letzte Stunde

„Hier ist Besuch für Sie.“ Fast liebevoll schaut der Pfleger dich an, während er zu deinem Bett geht, das Kopfende ein wenig aufstellt, dir die Bettdecke glatt streicht und einen Stuhl näher rückt.
Diesen Stuhl für mich.

Ich erkenne dich fast nicht mehr.
Du, der du doch immer ein stattlicher Mann warst, den Raum mit deiner Persönlichkeit füllend, gewohnt, Macht auszuüben, Entscheidungen zu treffen und dir auf gar keinen Fall das Zepter aus der Hand nehmen zu lassen.
Jetzt liegst du klein und geradezu verloren in diesem scheinbar viel zu großen Bett und diesem viel zu kargen Zimmer.
So eingefallen die Wangen, auf deren Pergamenthaut sich Bartstoppeln und Falten versammeln. Bartstoppeln! Wie stolz warst du doch immer auf deinen akkurat gepflegten Bart und die Kotelleten, die dein rundes, immer etwas zu rotes Gesicht rahmten. Das Rot der Hypertoniker und Choleriker.
Deine blaugrauen Augen fordern nicht mehr. Ihr wässriger Blick aus halb geschlossenen Lidern geht durch mich hindurch in eine Welt, die wohl nur du selbst kennst.
Mich jedenfalls erkennst du nicht.

Als ich zu deinem Zimmer geführt wurde, sagte mir der Pfleger, dein Geist sei bereits vorausgegangen. Der Körper verspäte sich nur, damit die Familie Abschied nehmen kann.
Deine ganze Familie, die in diesem Moment hier auf diesem Stuhl sitzt.

Du öffnest leicht den Mund, als wolltest Du etwas sagen. Doch da, wo früher Machtworte donnernd ihren Weg fanden, kommt jetzt nur ein leiser, undefinierbarer Ton. Als hättest du alles, was zu sagen war, längst gesagt.
Ein kleines Rinnsal Speichel sucht sich seinen Weg vom Mundwinkel eine Falte entlang. Ehe es das Kopfkissen erreichen kann, tupfe ich es sanft weg.
Ist das ein zaghaftes Lächeln, das du mir schenkst?
Ganz still liegst du. Dein Atem geht flach. Die Lider scheinen inzwischen zu schwer geworden.
„Vielleicht hat er nur noch eine Stunde“, haben sie gesagt.
Fast rührt mich dein Anblick.
Fast möchte ich dir den kahlen, kleinen Kopf tätscheln.
Denn so, wie du jetzt vor mir liegst, passt du ganz und gar nicht mehr zu dem Bild des Mannes, welchen ich vor 30 Jahren zum letzten Mal sah.
Doch ich widerstehe der Versuchung.
Statt dessen halte ich deine Hand, deren schmale Finger mit ihrer durchscheinenden Haut schlaff und unbeweglich in der meinen ruhen.
Diese Hand, die einst so kraftvoll den Teppichklopfer umfasste, bevor er auf mich herniedersauste, diese Stahlarbeiterhand, die stahlharte Schläge austeilte. Weißt du noch?
Wie kraftlos sie doch heute ist.

Mein Zeigefinger sucht die Stelle an deinem Handgelenk, an welcher er deinen Puls fühlen kann.
Ich will ihn nicht verpassen, den Augenblick, an welchem ich sicher sein kann, dauerhaft von dir erlöst zu sein, mein Vater.

Auf und davon

Es war fast so, als wären wir am Strand.
Als hätte der böige Nordseewind Ihr lockiges, graues Haar zerzaust.

Eine Strähne hing ihr über der runzligen Stirn. Sie öffnete leicht ihren Mund, stülpte die Lippen vor und pustete. Die Strähne blieb beharrlich an ihrem Platz.

Der deutliche Flaum unter Ihrer Nase schimmerte, als wäre er nass. Als hätte sie gerade erst den Becher Sekt abgesetzt, den es zuweilen in großer Runde zwischen den Strandkörben zur Begrüßung gab. Doch in dem Becher auf Ihrem Beistelltisch war nur Wasser. Stilles Wasser.

Maria Heck war nicht mit mir verwandt. Sie war eine Freundin meiner Eltern. Kinderlos und seit einigen Jahren Witwe. Es gab keine Angehörigen. Die meiste Zeit war sie allein. An diesem Tag aber nicht. Ich war ja da.

Die Augen weit geöffnet, sah sie mich an.
Ich wollte ihrem Blick standhalten, konnte es aber nicht. So schaute ich aus dem Fenster und fragte sie ablenkend, ob sie denn nicht den wunderschönen, blauen Himmel sehen würde.
Sie lächelte und sagte: „Ja-ha – und ich sehe die Himmelsleiter.“

„Um die zu erklimmen, bedarf es aber ein bisschen mehr Fitness, Frau Heck.“, erwiderte ich. Zweifelsohne ein kläglicher Versuch, die beklemmende Situation zu überspielen.

Statt zu antworten, drehte sie ihren Kopf und fixierte den an der Wand hängenden Fernseher.
„Ohhh, lauter nackte Männer!“

Der Fernseher zeigte nur ein schwarzes Bild. Das Netzkabel war aufgerollt und der Stecker hing stromlos herab.

„Mensch, Ihnen wird ja heute was geboten! Erst die Himmelsleiter und jetzt nackte Männer. Wo soll das nur hinführen?“

Wieder antwortete sie nicht und sah mich nur lächelnd an.

Die Ausschläge auf dem Monitor wurden immer unregelmäßiger. Die Krankenschwester eilte herein und stellte das monotone und nervtötende Piepen nach kurzem Blickkontakt mit mir ab.

Ohne zu überlegen, legte ich Marias kraftlose Hand in die meine und hielt sie sachte fest.
Wir spürten beide die Bedeutung dieses Momentes.

„Es ist in Ordnung, Sie können jetzt gehen.“

Dann schloss sie die Augen. Für immer.

[jetzt noch mal im Ernst:]

Sie hat mich berührt

Diese Frau hatte etwas. Ich lasse mich nicht gerne ansprechen, auf der Straße. Bei ihr war das anders. Diese Jugend. Dieser Charme. Lebhaft redete sie auf mich ein. Ich verstand kein Wort und hätte ihr doch stundenlang zuhören können. Dieses Lachen. Diese Augen. Sie wirkte so unbekümmert. Ohne jede Scheu. Ja, sie hatte etwas. Das ließ sich nicht beschreiben, nur spüren. Ich war wie verzaubert. Was sie wollte? Keine Ahnung. Irgendwas mit ihrem Handy. Sie hielt es mir immer wieder vor die Nase. Entziffern konnte ich nichts. Ihr Haar roch so gut. Dann plötzlich der Abschied. Einfach so. Noch ein Lächeln, ein letztes Winken, dann war sie in der Menge verschwunden. Wie ein flüchtiger, wunderschöner Traum. So sehr ich den Hals auch reckte, ich konnte sie nicht mehr entdecken. Sehr schade. Sie hatte wirklich etwas. Mein Portemonnaie.

1 „Gefällt mir“

Da vorne sitzt ein Typ, der seit einer halben Stunde am Versuch scheitert, mich unauffällig zu beobachten. Der zwölfte Schluck aus der winzigen Espressotasse, ein pseudo-verstohlener Blick aus dem Augenwinkel, dann kritzelt er in ein ledernes Notizbuch. Die Mimik wirkt aufgesetzt kühl, doch das Zappeln des linken Fußes durchbricht die Fassade. Er steht unter Hochspannung. Wenn er nicht lunzt oder schreibt, starrt er aus dem Fenster des Cafés und lässt den glänzenden Stift zwischen Zeigefinger und Daumen wippen. Der Blick aus seinem aschfahlen Gesicht wirkt grimmig. Die kantigen Züge zeichnen einen Mann, der nicht gänzlich durchs Raster fällt, aber ein wenig arbeiten muss, um ein Date zu bekommen. Falten, wo Mitte 30 keine hingehören. Dunkle Schatten unter den Augen. Jemand, der entweder kaum Sonnenlicht sieht, sich seit Jahren von Fastfood ernährt oder auf die Frage nach dem Lebenslauf sehr tief Luft holen muss. Sein Outfit passt nicht zum Teint. Er sieht aus wie einer, der gerne Kapuzenpulli und Jogginghose trägt, aber von irgendwem dazu verdonnert wurde, in den besten Sonntagsanzug zu schlüpfen. Erst macht sein Verhalten mich nervös, doch langsam wächst die Neugier. Ich muss vorsichtig zurückbeobachten, sonst merkt er, dass ich ihm auf der Spur bin. Seine Hand taucht in die Innentasche des Jacketts und greift ein silbernes Etui. Er zupft eine selbstgedrehte Zigarette heraus, steckt sie in den Mundwinkel, lässt ein glänzendes Zippo aufspringen. Moment, will der Typ jetzt mitten im Café rauchen? Seine stahlblauen Augen weiten sich, als hätte ich den Gedanken quer durch den Raum geschrien. Der Kopf kippt in den Nacken, wie aus einer Trance erwacht, und der Arm mit dem Feuerzeug sinkt herab. Er steht auf, verlässt seinen Platz und bleibt draußen vor dem Lokal an der Glastür stehen. Rauchschwaden hüllen den dreckblonden Kopf ein. Offenbar grübelt er jetzt so richtig angestrengt, denke ich amüsiert. Vielleicht ein Schreiber? Ein irrer Serienkiller? Womöglich tauche ich in seinem nächsten Roman auf. Oder ich lande verschnürt und geknebelt im Keller. Mir wird mulmig zumute, weil ich die Serienmörder-These dann doch für zu abwegig halte.

Er hastet die Straße entlang, ein schwarzes Fragezeichen vor dem Schneematsch im Rinnstein, hält inne, huscht weiter. Um die gebeugten Schultern schlottert ihm weit die Anzugjacke, er trägt sie aufgeknöpft, die Ärmel flattern, Hände wie aufgeregte Vögelchen – er kann sie nicht stillhalten.

Ein verwackelter Schritt zurück. Der Blick kommt auf dem Busfahrplan zur Ruhe, einen Atemzug lang. Dann weiter, weiter, neun Schritte in die eine Richtung, bis zur Litfaßsäule, umkehren, zur Haltestelle. Innehalten. Die Hände fliegen am Hosenbund: dürre Schwalben, die im Winter nicht nach Süden ziehen.

Sein Gesicht sehe ich kaum, es wischt zu schnell vorbei, die Ahnung einer langen Nase und helle Augen, halb versteckt zwischen Haarfransen und Kragen, das Kinn vorgereckt, als gälte es, als Erster eine Ziellinie zu überschreiten.
Wieder der Busfahrplan, er murmelt Zahlen, schüttelt den Kopf. Etwas beugt ihm den Rücken noch tiefer, der Takt der öffentlichen Verkehrsmittel schmerzt ihn – so helfe ihm doch jemand! – er flattert, zuckt erneut über den Gehsteig, umrundet die Litfaßsäule und steht schließlich still.

Späht die Straße hinunter und wartet auf Erlösung.

Klick, klick…
Ein Bein untergeschlagen; ein unter dem Tisch sichtbarer Fuß im fast weißen Socken krümmt seine Zehen auf den Steinboden. Ihre Hand tief in ihren Haaren vergraben, ist ihr Blick nach unten gerichtet.

Klick. Klick.
Ihre Brauen und der Schwung der Nase lassen die junge Frau in ihr schon erahnen. Ihre Zungenspitze liegt auf der Unterlippe. Die Abendsonne lässt kleine Lichtflecke auf ihr tanzen. Durch das Fenster dringt das Leben der Nachbarn in Form von Zigarettenrauch und Rasenmäherdröhnen herein.

Klick. Klick.
Der fast weiße Socken hat sich um ein Stuhlbein geschlungen. Die Zungenspitze stößt nun von innen an ihre Wange. Ihre Finger fest um den Kugelschreiber geschlossen, löst der Daumen wieder den Mechanismus aus. Klick. Klick.

Ein tiefer Seufzer, in dem die unverhohlene Sorge mitschwingt, der Grund allen Elends ihres derzeitigen Daseins würde nie enden.
Klick. Klick.

Klack. Der Stift landet auf dem Tisch. Ihr Kopf hebt sich langsam, dann

„Mamaaaaaaaa, ich brauch Hilfe bei Mathe!“

Junge Mütter gelten in der Gesellschaft als harmlos und warmherzig. Ich jedoch bin eine tickende Zeitbombe. Ich sitze mit meinem 11 Wochen altem Sohn in einer Krabbelgruppe und singe „Aramsamsam“ in Endlosschleife. Ein Lied bestehend aus Fantasiewörtern mit lustigen Armbewegungen. Die Kursleiterin, eine Frau mittleren Alters mit Kurzhaarfrisur und dünner silberner Brille, gibt Instruktionen über Lautstärke und Geschwindigkeit bei jedem neuen Durchgang. Ihr Lächeln ist breit und wirkt unecht. Sie hat nur einen oberen Schneidezahn, trotzdem ist das Gebiss lückenlos. Ich habe seit Wochen nicht länger als drei Stunden am Stück geschlafen. Wenn wir das Lied och ein weiteres Mal Singen, schmeiße ich ihr eine volle Windel an den Kopf und da wird mehr drin sein als Urin.

Eine der Frauen hat sich mit ihrer weinenden Tochter zurückgezogen. Ihre zimtfarbene Haare sind zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden, die Augen haben die gleiche Farbe wie die Haare. Ein Auge wirkt größer als das andere. Vielleicht geht es vor Müdigkeit nicht ganz auf. Die Tochter könnte gegensätzlicher kaum sein. Die wenigen Haare, die sie hat, sind so hell, dass man sie erst beim ganz genauen Hinsehen bemerkt. Ihre Augen sind eisblau und stehen ein bisschen zu nahe zusammen. Vielleicht ist das dem langen, sehr schmalen Gesicht verschuldet. Sie würden sonst nicht mehr draufpassen. Obwohl die Mutter einen dunklen Teint hat, wirkt sie fahl. Sie fummelt hektisch an ihrem dunkelblauen mit Blumen verziertem Stillshirt, bekommt den Haken des Stil-BHs nicht schnell genug auf. Das Baby fängt an zu schreien. Sie kneift die Augen zusammen und brüllt mit weit geöffneten zahnlosen Mund. Es bildet sich eine Falte über der Nase, die sich zu beiden Seiten symmetrisch bis zu den Mundwinkeln zieht. Das Babygesicht sieht aus wie ein zerquetschter Knautschball, der gerade seine Form wieder annimmt. Die Mutter versucht das Kind mit Lauten zu beruhigen. Bei jedem „Tsch“ spannen sich die Bachmuskeln an und die gelben Lilien des etwas zu engen Shirts ziehen sich hoch. Die Nervosität der Mutter steigt sekündlich. Daumen und Zeigefinger rotieren gegengleich an der Stirn und zeichnen tiefe Falten über der Nase. Ein Arm fällt resigniert zu Boden, der Blick geht zur Decke. Es ist ihr anzusehen, dass sie kapitulieren möchte. Sie seufzt es klappe einfach nicht. Die Antwort der Kursleiterin lässt nicht auf sich warten, nur bei vier Prozent der Frauen ginge es wirklich nicht, sie solle einfach entspannen.

Endlich haben es Mutter und Kind geschafft. Die kleine schnaubt und zieht schubweise die Luft beim Einatmen ein. Die Mutter bläst erleichtert Luft aus den aufgepusteten Backen. Dann presst sie kurz die Augen zusammen, die dunklen buschigen Augenbrauen zucken. Eine Bewegung am hinteren Kiefer, sie beißt die Zähne zusammen. Der Ansaugschmerz. Die Kursleiterin ist verzückt: „Ach jetzt klappt es, siehst du! Hach stillen ist doch etwas tolles, es gibt keine bessere Verbindung zwischen Mutter und Kind“. Die Mutter lächelt, durch die ausgeprägten Grübchen wirkt es sogar echt. Trotzdem gehe ich in Deckung, es scheint mir, die Kackwindel könnten auch aus einer anderen Richtung geflogen kommen.

Der kann bestimmt übers Wasser gehen. Bei der Auferstehung des Fleisches bleibt der liegen. Sprüche wie diese waren keine Seltenheit. Ebenso waren sie unbegründet. Ein Mann, ein Bild. Zumindest in der westlichen Welt.

Da drüben läuft die Inkarnation meines Traumes. Nichtsahnend begibt er sich in Richtung Ufer, blaue Badehose, Haare bis weit unter die Schultern. Ich versuche, mich zu wehren. Es gelingt nicht. Immer wieder muss ich hinsehen. Peinlich, finden meine Freundinnen, aber was soll ich machen?

Es ist wieder Wochenende. Fahrrad raus, weißen Sommerrock an und los. Eine Gruppe Jungs fährt ein paar Meter weiter die Landstraße entlang. Alle sehen gleich aus, kurze Jeansjacken, verwaschene Hosen, weiße Turnschuhe. Aus den Radfahrern vor uns sticht einer heraus. Seine blonde Mähne weht im Wind. Jedes Mädchen würde ihn um solche Haare beneiden. Heute spreche ich ihn an. Das nehme ich mir fest vor. Egal, was passiert.

Übers Wasser gehen könnte er längst nicht mehr. Die Sache mit der Auferstehung hat sich ebenfalls erledigt. Das Bild ist anders, nicht schlechter, doch anders. Die Umstände haben sich verändert, nicht zum Schlechten, doch verändert.
Mein Mann und ich, wir sitzen oft zusammen, bei einem Glas Wein. Niemals vergessen wir die wunderbaren Sommertage am Baggerloch.

Der Knoten

Er richtete die Krawatte das dritte Mal in Folge, ohne sichtbare Veränderung.
Vielleicht ging es darum, weltmännisch zu wirken. Was auch immer das wirklich bedeutete. Weltmännisch. Das Wort hatte ich nie verstanden, benutzte es aber seit Jahren unwidersprochen für alle Arten von vornehmem Gehabe – oder dem, was ich dafür hielt.
Wie man das Wort wohl bald gendern würde? Vermutlich würde es einfach aus unserer Sprache verschwinden. Es war unpassend für diese neue, junge Gesellschaft, der weder der Krawattenmann noch ich angehören würden.
Wir waren beide alt, grau und sicher stur. Wir konnten Krawatten binden – und wir taten nur so, als würden wir an dem perfekten Knoten etwas ändern wollen.
Er stand auf, nickte mir zu und setzte einen Panamahut auf sein Löwenzahnhaar. Ich hatte nichts anderes erwartet. Was sonst würde man mit einem beigefarbenen Anzug kombinieren?
Mit dem Gewicht vieler Jahre im Gang schlenderte er die Straße hinunter, die heute aus Stein war.

Tabak und Krokodile
Ich arbeite im Weltladen. Wir verkaufen fair produzierte und gehandelte Dinge aus aller Welt. Krimskrams, Kaffee, Tee, Schokolade, Seidenschals und warme Mützen, und Topfuntersetzer aus bunten Wollfilzbällchen. Es ist es bei uns ein bisschen wie im Kinderkaufladen. Die Kunden sind freundlich, sie sind selten in Eile, und wir freuen uns mit ihnen, wenn sie etwas schönes in unserem Sortiment gefunden haben.
Neulich kam ein Mann herein. So auf den ersten Blick und ohne Brille hätte man ihn mit Peter Maffay verwechseln können: nicht mehr jung, etwas zerknitterte Gesichtszüge, abgeschabte Lederklamotten, Cowboystiefel, Cowboyhut. Er schaute sich suchend um und kam dann auf den Verkaufstresen zu. Vertrauensvoll wandte er sich mir zu, hüllte mich ein in eine Wolke aus Zigarettenrauch, Straßenstaub und Ledergeruch und fragte:
„Habt ihr Bio-Tabak?”
Nein, tut mir leid, Tabakwaren haben wir überhaupt nicht, und ich wüsste auch nicht…
„Oh Mann, kein Biotabak. Aber Alkohol habt ihr?”
Dort hinten unser Sortiment fair gehandelter Rotwein aus Kleinbauerninitiative……
„Das ist so typisch! Alkohol gibt es überall, dabei macht der die Menschen krank und unsere Gesellschaft kaputt, aber überall kannste ihn kaufen. Überall gibts Wein und Bier, aber Biotabak, den gibts nirgends.”
Ich nickte vorsichtig, gab ihm recht, und er, vertrauensvoll:
„Weisste, der Biotabak, das ist was ganz besonderes. Reine Natur! Mein Freund der Karl-Heinz der wohnt in Thailand und der baut den in seinem Garten an. Da war ich mal. Das ist so ne richtige Plantage, lauter Tabakpflanzen, und der Karl-Heinz, der züchtet die, alles nur reine Natur, voll bio, Und dann wird das getrocknet und zackzackzack und fertig, einfach so, zackzackzack.”
Er machte es mir vor, Handkante auf Theke, zackzackzack
„Ja, ja, der Karl-Heinz, das ist mein Freund, der hat mir jetzt wieder ein Paket geschickt. Biotabak und Krokodilleder.”
Er lehnte sich leicht zurück, mit verklärtem Lächeln, man konnte die Rauchkringel förmlich sehen, die er in seiner Erinnerung formte.
Aber, Moment, Krokodilleder? In meiner Vorstellung sah ich Karlheinz, wie er in seiner Tabakplantage herumstapft, nebendran das Krokodilbecken, und ab und zu, so zackzackzack……
Mein neuer Freund, wir waren ja inzwischen irgendwie Freunde geworden, erzählte schon weiter.
„Der Karl-Heinz, der ist in so ner Sekte, und weißte, was die glauben? Die glauben, dass es erst seit 5000 Jahren Menschen gibt. Und dass die Mensch in Afrika entstanden sind. Weisste was das heißt? Wir sind alle Afrikaner! Alle Afrikaner! Wenn die das wüssten!”
Er holte weit aus mit seinem Arm, Richtung Tartuffi, fair gehandelt, aber ich wusste, wen er in Wirklichkeit meinte und freute mich mit ihm bei dem Gedanken.
„Die sind dann aus Afrika rübergekommen, hier zu uns. Und die Sprache, weisste wo die Sprache entstanden ist? Die Sprache wurde in Albanien entwickelt. Die ersten Menschen haben albanisch gesprochen! Albanisch! Und die Albanier wissen das noch nicht mal.”
Es fiel mir da keine Antwort ein, albanisch oder nicht, was wirklich kluges oder nur small getalkt, aber es war auch nicht so wichtig.
„Also Biotabak habt ihr nicht? Na dann, schönen Tag noch.”, und er ging davon.
Ein anderer Kunde war inzwischen in den Laden gekommen. Der hat noch einen Witz erzählt, aber den hätte er sich auch schenken können.
Der Freund von Karl-Heinz ist nicht wieder aufgetaucht. Schade eigentlich. Manchmal stelle ich mir vor, wie die beiden in Thailand auf der Tabakranch sitzen. Der tropische Regen prasselt auf das Dach, die Krokodile grunzen zufrieden in ihrem Tümpel. Karl-Heinz und sein Freund fachsimpeln über Evolutionsthemen, und nebenbei rauchen sie selbst angebauten Biotabak. Aber ob da auch Krokodilleder untergemischt ist, werde ich wahrscheinlich nie erfahren. Schade.

Beitrag:

Tante Inges Schwiegermutter, die seit Jahren sterben Wollende, war indes fünfundneunzig. Und immer noch hockte sie täglich ab dreizehn Uhr im antiken Ohrensessel am Fenster neben dem handgeschnitzten Tischchen im Salon. Manchmal streichelte sie es gedankenverloren, während sie das Treiben der Jahreszeiten im Vorgarten beobachtete. Dabei rauchte sie genüsslicher Zigarre als mein seebäriger Onkel Heinz von der Küste. Zuerst sog sie etwas vom Rauch ein und hielt kurz inne. Dann öffnete sie langsam den Mund, formte mit den Lippen ein O und pustete Rauchringe aus.
… Sie war immerfort behangen mit Ketten und Broschen an den Seidenblusen und verlangte, mit „Gnädige Frau“ angesprochen zu werden.
… Wir hatten uns noch nie berührt. Wohl darum nahm ich bislang an, dass ihre knochigen Hände kalt und ledrig wären. Das Gegenteil überraschte mich. Vorschnell streichelte ich sie. Weiß der Teufel, was ich damit in ihr auslöste. Sie begann zu weinen.
… „Du bist ein so liebes Kind, so herzig und folgsam“, überraschte sie mich in lebendigem Ton. Jedwede Schattierung der sonst klagend ersterbenden Stimme war verschwunden.
… „Vortreffliche Buchwahl. Vortrefflich. Es geht um Liebe und Treue. Storms Worte erreichen immer meine Seele. Die versetzen mich zurück in meine Jugend. Ach, wie schnell die Zeit vergeht.“ Sie seufzte. „Lies, Kindchen, lies“, forderte sie, nahm eine entspannte Position ein, rollte mit einem zweiten genüsslichen Seufzer die Zigarre zwischen den Fingern. Dann zack, Spitze weg, Tabak angezündet, zwei Mal gepafft … Die Rauchwolke erfüllte den Raum.
… Aus dem Augenwinkel nahm ich beim Lesen wahr, wie die Gnädige Frau mehrmals die Zigarre ablegte und nach und nach Rum aus einer Phiole in die Teetasse gab. Schließlich war die Teekanne leer. Jetzt trank sie den Schnaps pur, seufzte und steckte sich ihre Glimme erneut an. Beim Zuhören schloss sie die Augen.

Helmut

Deine Stimme höre ich nur noch selten. Die Worte sind dir abhandengekommen, als die Windungen verkalkten. Wenn du mir antwortest, dann nicht auf meine Frage, sondern mit Worten, die sich aneinanderreihen wie die Wolken am Himmel, die der Wind verbläst und neu formiert.

Du nimmst den Löffel in die runzelige Hand, siehst ihn an, um ihn wieder auf den Tisch zu legen. Dein Blick aus wässrig blauen Augen, die Farbe verblasst, wie deine Erinnerungen. Sie sehen mich nicht. Nicht eine Wimper bewegst du. Ich nehme dir den Löffel sanft aus der Hand. Fülle ihn mit Suppe und führe ihn an deine Lippen. Du öffnest den Mund und schluckst. Mit der Serviette wische ich dir die schmalen Lippen und das stoppelige Kinn ab. Beim nächsten Suppenlöffel kommt kurz Leben in deine Augen. Die Fältchen darum herum vertiefen sich und ein Lächeln zieht über dein Gesicht. Das sind die Momente, die mir Kraft geben. Ich räume das Geschirr ab und lege eine saubere Serviette vor dich auf den Tisch. Sanft streichst du darüber, immer wieder. Deine Hände, gewohnt Holz zu bearbeiten und den Garten umzugraben, wollen nicht still halten. So sitzt du am Tisch und reißt die Papierserviette fein säuberlich zuerst in Streifen und dann in akkurate Quadrate. Setzt sie, wie ein Puzzle, wieder vor dir zusammen. Die Finger machen eine Pause. Deine Handflächen sonnengebräunt und runzelig mit versprengten Altersflecken legen sich auf sehnige Oberschenkel. Die durch jahrzehntelanges Leichtathletiktraining gestärkt sind.

„Die Sonne scheint. Komm, wir machen einen Spaziergang.“ Ich ziehe dir die Halbschuhe an und helfe dir beim Aufstehen. Beim Spaziergang nehme ich dich an die Hand, denn ohne diese stehst du stumm. Vergessen, was du vor Minuten tun wolltest, wissen deine Beine nicht wohin.

Wieder zu Haus führe ich dich zum Sofa, du legst dich auf den Rücken und ich bette deine Beine auf das Sofa und wickle sie in eine Decke. Bin wohl eingenickt und erwache erst, als deine ängstliche Stimme meinen Namen ruft.

Funkelnder Stern

Alle Menschen sind interessant. Und doch gibt es nur wenige, die mir für immer in Erinnerung bleiben werden. Du bist so ein funkelnder Stern. Du bist anders als die Anderen. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders.

Während des Unterrichts sitzt du stets in der ersten Reihe – ganz allein. Du trägst abgelaufene No-Name-Turnschuhe, eine aus der Mode gekommene Jeans und einen Pullover, der vermutlich mal einem Jungen gehört hat. Vielleicht deinem Bruder. Der Reißverschluss deines Rucksacks mit dem großen Loch an der Unterseite ist kaputt.

Deine Unterlagen sind makellos. Sie sind akkurat parallel zur Tischkante angeordnet. Du hast eintausend kleine bunte Klebezettelchen in deinem Ordner, die dich daran erinnern sollen, mich in der Pause das zu fragen, was du nicht zu einhundert Prozent verstanden hast. In deinem abgeranzten Mäppchen sind die Stifte farblich sortiert. Du hast sogar einen Spitzer, ein Geodreieck und einen Zirkel dabei. Alles parat. Immer.

Wenn du dich verschreibst, machst du daraus kein Gekrakel, so wie die meisten Jugendlichen. Du verwendest eine Tipp-Ex-Maus, weil ich das empfohlen habe. Deine Augen saugen die Formeln an der Tafel förmlich auf. Du meldest dich bei jeder Frage, weißt beinahe jedes Mal die perfekte Antwort. Du willst gut sein, das sagtest du mir. Du willst etwas aus deinem Leben machen. Du willst später Geld verdienen. Nicht reich werden, aber genug haben, um dir endlich mal was leisten zu können.

In meiner Hand halte ich deine Klassenarbeit. Ich freue mich unendlich darauf, sie dir zu geben. Du hast eine Eins geschrieben, schon wieder.

Du bist auf dem richtigen Weg. Leuchte weiter, funkelnder Stern.

Der Tod ist hinterhältig. Er lauert im Vergessen.

Ein Mann hatte vergessen, sich anzuschnallen als er ins Auto stieg. Ein Kind hatte vor dem Überqueren der Straße vergessen, auf den Verkehr zu achten. Eine Frau hatte die Anweisung des Arztes vergessen, die Tabletten keinesfalls zusammen mit Alkohol einzunehmen. Die Regierungen hatten das Elend der Kriege vergessen, als sie sich erneut ihre Panzer auf den Hals hetzten. Das Vergessen ist ein lohnendes Geschäft für den Tod. Aber er kann auch anders, subtiler, aber genauso hinterhältig.

„Magst du noch Kaffee?“, fragte ich zu laut. Sie zuckte zusammen und schaute mich erschrocken an, wie ein Schulkind, das vom Lehrer beim Träumen erwischt wurde. Sie war zwar schwerhörig, aber ich hatte vergessen, dass laute und verärgerte Stimmen ähnlich klingen. Lächelnd schenkte ich eine Tasse nach. Die dünnen Lippen des neunundsiebzigjährigen Kindes lächelten zurück, doch ihre Augen ruhten abwesend unter schweren Lidern in trauergeränderten Höhlen. Ihr Blick suchte erneut die Ferne hinter dem Fenster, vor dem wir beide saßen. Der Kaffee in unseren Tassen wurde kalt, der Kuchen warm.

Solange ich denken konnte, war sie regelmäßig zum Friseur gegangen, um mit flotten wassergewellten Locken und zwei prall gefüllten Einkaufstaschen zurückzukehren. Sowohl die Farbe als auch die Dichte ihres Haares hatte sich über die Jahre verändert. Anfangs war es unbezähmbar und glänzend wie frisch gesammelte Kastanien, dann webten sich erste staubgraue Fäden hinein, die sich ausbreiteten und später zu dünnem Silbergrau wurden. Jetzt hatte es die Farbe flüssigen Platins angenommen, das der reisende Friseur im Pflegeheim zum praktischen Bob geschnitten hatte.

Wie erster Winterfrost in Fallobst war das Alter tiefer in ihren Körper gekrochen und kristallisierte in jeder Zelle scharfkantig und spitz. Jeden Tag fror und bebte sie unter der Last. Es waren schmerzhafte Erschütterungen, die tief aus dem Inneren nach außen drängten. Dass sie ihre Arme oft wärmend, vielleicht auch haltend um ihren Oberkörper schlang, half dagegen genauso wenig wie der dicke Pullover. Sie hatte sich schick gemacht für ihren – ich ahnte es nicht – letzten Besuch bei mir. Dezent, aber immer gepflegt. Harmonisch abgestimmter Rock, Bluse, Schuhe, alles in pudrigem Grau. Doch dann dieser hässliche Pullover. Himmel, dieses marineblaue Monster aus grobem Patentstrick mit den gestopften Ellenbogen und dem V-Ausschnitt! V wie Verfall, V wie Vergessen. V wie verloren. V wie Verlust. V wie Vater – mein Vater, ihr Mann. Es war sein Lieblingspullover gewesen. Er hatte den Pullover nicht einfach getragen, nein, sie waren eine symbiotische Beziehung eingegangen und er war nur zum Waschen oder wenn er öffentlich unterwegs war, aus dieser Unmöglichkeit herauszureden. Deshalb trug meine Mutter ihn jetzt, als wäre er der Brustpanzer einer Rüstung. Legte sie ihn ab, wäre sie auf der Stelle verloren gewesen und ihr Weg am Ende.

Sie nippte an der Kaffeetasse und sagte: „Weißt du, ich mache gerade Urlaub mit dem Hausfrauenverein in einem tollen Hotel. Aber …“, sie stutzte und in die gewittergrauen, matten Augen trat Tränenglanz, „ich glaube, ich kann das schöne Zimmer gar nicht bezahlen. Ich habe doch überhaupt kein Geld mehr!“ Tränen ergossen sich plötzlich wie Sturzbäche über ihre plissierten Wangen. Jedes Fältchen ein Schmiss aus dem Kampf des Lebens. Woher bezog ihr Körper nur so viel Flüssigkeit? Ich nahm sie behutsam in den Arm, versuchte zu trösten, redete zu, schwieg und strich sanft über ihren Rücken, unter dem jeder Wirbel fühlbar war, und erwartete dabei das Geräusch von knisterndem Papier.

Sie aß und trank so wenig wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, mit Vogel-V, und sogar daran musste sie ständig erinnert werden. Bis zu jenem letzten Tag kurz nach diesem Besuch, an dem ihr Körper zu leben vergaß und man ihr den Pullover ausziehen musste.

Am Fenster

Sie saß am Fenster zum Hof, das Strickzeug lag auf ihrem Schoß, ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte geweint. Er merkte beim Eintreten sofort, dass etwas nicht stimmte. Gut ging es ihr schon lange nicht mehr. Sie saß seit Jahrzehnten im Rollstuhl, brauchte bei fast allem Hilfe, selbst bei den einfachsten Verrichtungen und kam sich nutzlos vor.

Nachdenklich, gestützt auf seinen Stock, blieb er an ihrer Seite stehen. Sein Blick schweifte von ihrem grauen Haar, dünn und strähnig war es geworden, auf die Falten in ihrem Gesicht, das er so liebte.
Ihr Leben war mühsam geworden. Es fiel ihm nicht mehr leicht, sie morgens zu waschen und anzuziehen. Die Kraft verließ auch ihn. Dennoch gab er sich Mühe, sie gut aussehen zu lassen. Heute hatte er ihr die schwarze Hose mit den breiten Aufschlägen angezogen und die blaue Bluse mit ausladendem Kragen und stoffbezogenen Knöpfen, die sie so gern hatte.

Jetzt am Nachmittag saß sie still am Fenster, das Gesicht zum herbstlichen Garten gewandt und mit flachem Atem. Sie war eingeschlafen und er sah ihre angetrockneten Tränen deutlich. Sie wusste genau wie er, dass ihre gemeinsame Zeit bald zu Ende gehen würde.

Hoffentlich, dachte er, müsse er sie nicht allein lassen. Ohne ihn konnte sie es nicht schaffen. Leise setzte er sich auf den Sessel neben ihr und lächelte ihr zu. Sie hatte sich immer geweigert, fremde Hilfe zuzulassen. Nur du sollst für mich sorgen, hatte sie beharrlich betont. Ganz still war es geworden, die Blaumeisen im Garten verließen ihren Futterplatz vor der Tür, und allmählich wurde es dunkel. Kaum hörte er ihren Atem. Er traute sich nicht, sie zu berühren, obwohl er sie gern gestreichelt hätte. Bald schlief auch er.

Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Kennt ihr auch Leute, die nur das hören, was sie hören wollen? Unangenehm, oder? Unterhaltungen mit solchen Leuten sind mühsam bis unmöglich und kann man solchen Leuten nicht aus dem Weg gehen, weil man „Job bedingt“ mit ihnen zu tun hat, dann wird’s schwierig.
Nun gibt es aber auch Leute, die sehen nur das, was sie sehen wollen, oder sogar noch mehr, als man eigentlich sehen kann! Nein, Nein, ich meine jetzt nicht irgend welche zugedröhnten oder besoffenen Zeitgenossen. Das sind Leute wie du und ich.
So jemand habe ich vor Jahren getroffen. Ich saß am Airport in der Wartezone. Stinkesauer war ich, weil ich wegen einer Verspätung meinen Anschlussflug verpasst hatte.
Neben mir saß ein älterer Herr, den ich schon vorher im Flieger gesehen hatte. Auch er wartete wohl auf seinen Anschlussflug, allerdings mit wesentlich besserer Laune als es meiner. Immer wieder lächelte er verschmitzt. Manchmal kicherte er auch leise. Neugierig geworden, was ihn den so erheitere, hab ich ihn dann einfach mal gefragt.
Ja, er wartet auch auf den Anschlussflieger. Ärgerlich? Ja, aber warum sich über etwas ärgern, was man doch nicht ändern kann. In solchen Situationen vertreibt er sich die Zeit mit seinem „Wartespiel“.
Wie meinen? Wartespiel? Ja genau. Ein Zeitvertreib, der die Laune hebt.
Ok und wie funktioniert dieses „Wartespiel“? Ich könnte gerade so einen Stimmungsaufheller gut gebrauchen.
Ganz einfach. Man muss nur genau hin sehen und dann noch mehr sehen. Ganz einfach? Nein, nichts verstanden, bitte ein Beispiel.
Aber gerne. Hier laufen tausende Menschen herum und die sehen alle anders aus. Groß, klein, hübsch, häßlich, dick, dünn, blond, braun, rot, gut gekleidet oder weniger gut oder schmuddelig, usw. und so fort.
Man sucht sich aus dieser riesen Masse Leute raus, die einem auffallen. Ob das nun körperliche Merkmale, Kleidung oder das mit geschleppte Gepäck ist, oder ihr Verhalten, egal, es muss einem nur auffallen. Such dir einen „Point of interest“ und mach was draus!
Äh, wie, „mach was draus?“ Na, schau dir genau an, was dich interessiert und verändere es in Gedanken zu etwas, was dir gerade einfällt.
Der da vorne mit dem teueren Anzug, dem nähst du Flicken auf Sakko und Hose.
Die Dame da drüben, die sich dauern im kleinen Schminkspiegel betrachtet, die lässt du von jemand anrempeln, wenn sie gerade wieder den Lippenstift benutzt.
Da, der da mit der Nase, die wie ein Schnabel aussieht. Dem lässt Du einen Hahnenkamm wachsen.
Lass dem Mädel mit dem traurigen Blick da von einem uniformierten Pagen einen großen bunten Blumenstrauß bringen.
Dort der Koffewagen fällt um und verteilt die Gepäckstücke in der Halle.
Eine Blaskapelle mit Pauken und Trompeten marschiert hier durch und und und…
Kein Grenzen, alles ist erlaubt! Ich sehe was, was du nicht siehst!
Die Zeit war um. Der Anschlußflug wurde aufgerufen.
Gerne hätte ich mich mich noch für den Tip zum Zeitvertreib bedankt, aber der nette Herr war bereits verschwunden.
Seit dem verbrachte ich auf diese Weise immer wieder meine Wartezeiten. Es gab so viel zu sehen, was andere nicht sahen und ich hatte viel Spass damit, auch ohne ständig auf den kleinen Bildschirm zu schauen und immer wieder einen panischen Blick auf die Akkuanzeige zu werfen.
Ich sehe was, was du nicht siehst! ;o)