Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Ich lief durch den Gang und wunderte mich, warum es an der Kasse nicht weiterging. Typisch, wenn man es eilig hat, dass irgendetwas uns entschleunigt.
In meinem Fall war es eine ältere Dame. Das Erste, was ich von ihr zu sehen bekam, waren knallrote Fingernägel. Sie legte ihre Ware seelenruhig auf das Laufband. Ich versuchte einen Blick auf sie zu erhaschen und bekam das weiße Haar, dass akkurat frisiert war, zu sehen.
Die Kassiererin starrte auf die knochigen alten Hände und wartete auf jedes weitere Produkt, um es über die Kasse zu ziehen. Und so kam es, dass es nach einigen Augenblicken wiederholt piepte.
„Geht das etwas schneller?“, rief einer der Kunden hinter ihr. Plötzlich hielt sie inne und sah zurück in die Schlange, die sich durch sie gebildet hatte. Ich sah ihre funkelnden blauen Augen. Sie waren so wach, dass ich nicht glauben konnte, dass sie zu dieser alten Dame gehörten. Außen war sie ein Frack, innen jedoch brodelte ein Vulkan. Ich spürte die Energie, die aus ihren Augen sprühte.
„Junger Mann, wenn sie keine Zeit zum Leben haben, dann sind sie falsch auf dieser Welt.“ Sie drehte sich weg und ich bemerkte ein Loch in ihrer Strumpfhose. Erst jetzt sah ich, dass ihr Kleid schmutzig war und ihre Schuhe kaputt waren.
Plötzlich hörte ich durch den Lautsprecher, dass die zweite Kasse geöffnet wurde, und die Leute stürmten hin. Ich blieb stehen und plötzlich stand sie in voller Größe vor mir. Sie war dabei das letzte Produkt auf das Band zulegen, als sie bemerkte, dass ich noch hinter ihr stand. Die alte Dame sah mich an. Ihr Gesichtsausdruck wurde weich und gütig.
„Weise Entscheidung“, flüsterte sie. Ich lächelte sie an und nickte.
Es dauerte einige Zeit, bis sie fertig war mit einkaufen.
Als ich dann dran war, drehte ich mich zu der Dame um. Sie schlürfte mit den kaputten Schuhen und ihrer Tasche auf Rädern, die sie hinter sich herzog, zum Ausgang.
Unsere Blicke trafen sich und mit einem Schnalzen der Zunge durch ihre Zahnlücke verabschiedete sie sich.

Mein bester Freund

Du bist schon ganz schön alt.
Nicht ganz so alt wie ich, aber man sieht dir an, was du alles erlebt hast.
Du hast mich begleitet, Jahr um Jahr. Hast alles mit mir zusammen ertragen.
So viele Tränen sind in dein Fell geflossen, dass es grau und nicht mehr weiß ist. So eng habe ich dich an mich gedrückt, dass dein einst runder Bauch ganz platt ist. Einmal habe ich es zu wild getrieben. Dein Bein hat einen Verband. Sogar der Verband sieht schon alt aus. Ich wollte dich immer nähen. Jetzt habe ich Angst, dass ich den Verband nie wieder ab bekomme.
Deine dicke Nase, die schwarzen Knopfaugen, dieser allseits glückliche Gesichtsausdruck geben mir Hoffnung. Du machst mich glücklich, wenn ich dich ansehe. Der Tag ist besser, wenn ich dich im Arm habe. Ich habe das Gefühl, alle Liebe, die in dich geflossen ist, ist noch da.
Deine dürren Ärmchen und Beine geben Grund zum Lachen. Mein Mann lacht dich aus. Aber wenn er deine kleinen, runden Öhrchen ein bisschen knetet, siehst du aus wie eine dicke Maus. Dann bringst du mich zum Lachen.
Dein Bommel hat ganz schön gelitten. Daran hochgehoben wirst du zum Hubschraubär.
Doch dein Schal trotzt der Zeit. Immer noch bunt trägst du ihn mit stolz und wirkst glücklich wie ein König.
Deine Füllung ist so schwach, du kannst kaum noch sitzen.
Aber du passt perfekt an mein Herz.
Es ist mir egal, was andere denken. Ich gebe nichts darauf. Du bist mein bester Freund. Ich liebe dich, als wärst du real. Wenns stürmisch ist, gibst du mir Ruhe. Wenn ich einsam bin, leistest du mir Gesellschaft.
Und jeder weiß: Erst durch Liebe wird ein Kuscheltier lebendig. So wie du.

Zerrissen

»Ich will das nicht mehr.«

Über dem grau-seelenlosen Bürotisch zwischen uns hallen seine Worte still nach.

Ich sehe gut aus heute, gekleidet in ein schwarzes Kleid und roten Lippenstift. Aber ich fühle mich nicht gut, denn stickige Luft verstopft meine Lunge und Schweiß klebt unangenehm auf jedem Zentimeter meiner Haut. Im Büro nebenan klackern die Tasten einer Tastatur. Die Wände hier sind dünn, zu dünn, um ungestört zu denken. Und seine Worte stehen in der Luft.

Ich will das nicht mehr.

Er sitzt zurückgelehnt in seinem Stuhl, die Schultern hängen, die Beine hat er von sich gestreckt. Seine Hände liegen gefaltet knapp oberhalb seines gelösten Gürtels. Der drückt sonst so unangenehm in die frisch verheilten Wunden nach seiner Leisten-OP vor zwei Wochen. Das hatte er vorhin zumindest gesagt, ganz verlegen, als ich hereingekommen und mein Blick auf seine Körpermitte gefallen war.

Eine ganze Welt lag zwischen dem Jetzt und meinem Hereintreten. Zwischen Resignation und aufleuchtenden Augen, tiefer werdenden Lachfältchen und dem zärtlichen Jazz in seiner Stimme als er zur Begrüßung »Oh, Engel!« hauchte.

Jetzt saß er da, zurückgelehnt, und sah mich nicht an. Erschöpfung im Gesicht und Trauer in den sonst so sanften Augen blickt er erst ins Nichts und dann zu mir. Ein Wimpernschlag dann sind die von Enttäuschung gebauten Mauern wieder da, sein Kampf versteckt unter der Oberfläche. Und seine Worte in der Luft.

Ich will das nicht mehr.

Ich hole Luft, versuche es zumindest, wenn auch gefühlt vergeblich. Er ist viel zu weit weg und ich verstehe immer noch nicht.

»Was meinst du? Du willst das nicht mehr? Das mit uns?«

.

Am Rande

Sitzend auf einer alten karierten Wolldecke, zieht das Leben der Gesellschaft an ihm vorbei. In einem Parka gehüllt, die Jeans schmutzig und kaputt. Er trägt Stiefel, die schon bessere Zeiten erlebt haben müssen, jedoch bestimmt viel erzählen könnten. Die Kapuze des Parkas über den Kopf gezogen, so das nur ein Teil seines strähnigen grauen Haars hervorlugt. Die Fältchen, die um seine Augen verteilt sind, zeugen von einem harten Leben. Ebenso das Fehlen der Freude auf seinen Lippen, die umrahmt sind von einem wildgewachsenen Bart. Ein starker Husten entringt seiner Kehle, man kann die Anstrengung seines Körpers dahinter deutlich spüren. Als sich der Husten gelegt hat, nimmt er eine Hand aus der Tasche und führt sie zu einem Pappbecher, der vor ihm steht. Ungewaschene Hände mit gelbverfärbten Fingern und ebenso gelben, brüchigen Nägeln, verzieren seine Hand. Skeptisch kontrolliert er den Inhalt des Bechers, sein ernüchternder Blick, zeigt deutlich, dass die Leute die heute an ihm vorüberzogen, wohl nicht gerade großzügig waren.

Jonny Dessler sah aus wie ein Schrat. Ein schmaler Kopf auf dünnen Beinen. Der Körper unsichtbar in einem Mantel, der auch schon mal bessere Tage gesehen hatte. Gebeugt in der hinteren Reihe, hätte man meinen können, Kommissar Columbo sei auf Observierungstour. Ein kleiner, hagerer Mann, ein Lauernder dem nichts entging. Nicht einmal hier auf dem Friedhof.
Der Pfarrer in weißem Ornat und festen Wanderschuhen hielt mit salbungsvollen Worten gegen das Prasseln des Regens an, wohl wissend, dass alle Anwesenden nur eines wollten. So schnell wie möglich hier weg. Aber was sein musste, musste sein.
Das einzig Lebendige in dieser Versammlung waren Jonnys kurzsichtige Augen, die wie immer und mit Hilfe einiger Gläser Cognac, Blitze schossen. Jonny sah nicht nur aus wie ein Schrat, er war auch einer. Niemand, selbst er ahnten nicht, welche Untiefen sich durch Dr. Bergers Tod für ihn auftun würden.
Jonny linste erneut auf die Uhr. Er gab dem Pfarrer noch fünf Minuten. Sein Handy gab einen Signalton von sich. „Dr. Dressler, bitte in den Kreißsaal kommen. Dr. Dressler bitte in den Kreißsaal.“
Jonny wischte sich die stränigen Haare aus der Stirn, fixierte Kollegin Bundschuh und nickte kurz. Gott sei Dank, es gab Arbeit. Nichts war ihm mehr zuwider als Beerdigungen und mehr als fünf Menschen in verlogenem Schweigen nebeneinander.

Bis auf einen einzigen Jungen war der gegenüberliegende Bahnsteig völlig leer. Mit einer Zigarette in der einen und seinem Telefon in der anderen Hand saß er direkt am Rand des Bahnsteigs, seine Füße baumelten lässig über den Schienen. Es war die fünfte Zigarette in Folge, die er zwar anzündete und zwischen seinen Fingern hielt, jedoch nie zu seinen Lippen führte. Zwischen den Zigaretten fuhr er sich entweder durch seine braunen Locken oder gestikulierte wild durch die Luft und ich fragte mich, mit wem er telefonierte.
Vor einigen Minuten hatte er sogar geweint, zumindest hatte es so ausgesehen, als er sich mit dem Ärmel seiner Lederjacke über die Augen gewischt hatte.

Vielleicht sollte ich zu ihm gehen, ihn trösten. Wäre das übergriffig? Was würde ich überhaupt sagen? „Hey wir kennen uns nicht aber du hast vorhin geweint, magst du reden?“ Ich schnaufte. Wohl kaum. In ein paar Minuten würde die Bahn auf meinem Gleis kommen, die nächste aber erst in fast einer Stunde. Ich könnte unmöglich den Bahnsteig wechseln, ihn ansprechen, und rechtzeitig wieder hier sein, um die Bahn zu bekommen. Was wenn er mich nur entgeistert anstarren würde?

  1. Schreibthema

Nur eine alte Fußgängerbrücke

Träge zieht das aufgewühlte, schmutzige Wasser unter der Fußgängerbrücke hindurch. Herabgefallene Herbstblätter bedecken fast die ganze Oberfläche des Entlastungskanals. Es riecht nach Herbst, faulem Blattwerk und sumpfigem Wasser. Wenige Enten suchen sich eine Furt durch die Blätterdecke, die auf dem Wasser schwimmt. Ab und an piepst eine Stockente, wenn sie den Anschluss zu ihrer Familie sucht. Am Rande steht, kaum erkennbar, unbeweglich, ein grauer Fischreiher und wartet auf eine Mahlzeit. Biberratten haben sich in die Böschung eingegraben und einen Baum zum Umstürzen gebracht. Einige Radfahrer auf der Brücke, finden die nasstriefenden Tiere spaßig und füttern sie. Eifrig kommen sie herangeschwommen, um einen Happen zu ergattern.
Auf der Brücke steht ein einsamer Angler, in tarnfarbiger Bekleidung mit seiner Angelrute und sonstigem Equipment. Sein Fischkorb ist noch leer. Mein wissbegieriges Fragen ermutigt ihn zu erzählen, dass er Barsche fangen will und wie viel ein Angelschein kostet. Ich sage: “Dafür kann ich ein Jahr lang, ohne viel Mühe, sehr viele Fische im Supermarkt kaufen.“ Doch das empfindet er nicht als Kritik an seinem Angelsport, denn die Freude daran motiviere ihn, auch stundenlang auf einen Fang zu warten.
Vom nahe gelegenen Seniorenheim finden sich einige Rentner ein. Manche zu Fuß, meist jedoch im Rollstuhl oder mit einem Gehwagen. Genüsslich genießen sie auf der Brücke die Herbstsonne, die durch die blattleer gewordenen Baumwipfel scheint. Ein kleiner Plausch mit anderen Senioren fällt in dieser Umgebung leicht.
Eine Brücke zur Natur und zu unbekannten Menschen ermöglicht in dieser Umgebung, was sonst schwerer fällt. Eine alte Fußgängerbrücke wird wertvoll.

Straßencafé, Arusha, Tansania

Am Nachbartisch saß eine lebhafte Gruppe junger Leute mit Rucksäcken. Auf ihren Sweatshirts standen Namen wie Connecticut College, Harvard University und MIT und sie unterhielten sich in einem wilden Sprachengemisch, meist Englisch, aber auch Französisch und Japanisch. Eins von den Mädchen, zierlich, mit nachlässig hochgesteckten Haaren schmiegte sich entspannt in den Arm von ihrem hochgewachsenen Freund (der Größenunterschied ließ sie noch winziger erscheinen) und warf nur ab und zu eine Bemerkung in die Runde, die allerdings in drei verschiedenen Sprachen. Doch dann stand sie unvermittelt auf. Ein magerer, wild gefleckter Hund kroch vorsichtig unter einem Busch hervor und peilte ein paar Essensreste an, die unter einem Tisch lagen. Das Mädchen griff sich den Teller mit den Resten von ihrem Mittagessen und setzte sich auf den staubigen Boden. Mit leiser Stimme und den Pommes Frites lockte sie den ausgehungerten Straßenhund zu sich. Während er fraß, kraulte sie ihm das verfilzte Fell hinter den Ohren und legte ihm dann vorsichtig ihr Bandana um. Dem Kellner, der wild scheuchend gestikulierte, um ihn zu vertreiben, erklärte sie in klaren Worten, dass sei ihr Hund, und ob er etwas Wasser bringen könnte. Alles um sich herum vergessend saß sie da und murmelte kaum hörbaren Unsinn zu dem kleinen Streuner, der sich inzwischen auf ihrem Schoß zusammengerollt hatte. Ihre helle Hose unterschied sich inzwischen nur noch unwesentlich von dem Straßenstaub.

Ihr Freund gab ihr die Wasserschüssel, die der Kellner gebracht hatte und hockte sich zu ihr.

„Na Süße, hast du einen neuen Freund gefunden?“, fragte er sie und lachte.

Sie strahlte zu ihm hoch. „Zu dem Internship in der Auffangstation kann ich ihn sicher mitbringen. Und um den Rückflug nach Deutschland kümmere ich mich dann später. Schau mal, er hat zwei verschiedenfarbige Augen, ein blaues, so wie meine, und ein dunkelbraunes, so wie deine.“

Mit anderen Augen sehen

Ihre Schritte sind gross, lang und selbstbewusst. In ihren Gedanken stellt sie etwas dar, zielstrebig, stark. Die perfekt sitzende, beige Flanellhose. Die taillierte Jacke aus feinem Nappaleder. Den klaren, bewussten Gang. Die schwarzen Lackschuhe, die mit hohen Schuhsolen im Takt auf den Boden trommeln und sie vorwärts treiben.
Ihre Seele schreit. Doch man hört sie nicht. Erst als man einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhascht, sieht man die Unsicherheit, die Sehnsucht, die unterdrückten Tränen. Die Sehnsucht, geliebt zu sein ohne etwas geben zu müssen, ohne etwas zu sein, dass sie nicht will oder kann.
Ein dreijähriger Junge tappt ihr in den Weg.
Sie lächelt.
Einen kleinen, kurzen, kostbaren Moment lang dringt die Sonne bis in ihr Herz, ist sie das unbeschwerte Mädchen, die Träumerin, die fürsorgliche Frau, die sich verschenken will weil sie angenommen ist. Einen Augenblick lang versprüht sie die Schönheit und Freude, die zu ihr gehört, die das Leben lebenswert macht, dem Himmel Farbe verleiht.
Gerne würde ich aufstehen, zu ihr rennen und mich bedanken. Doch ich trau mich nicht, und sie marschiert weiter.

Sperrmüll

Morgen ist Sperrmülltag, und wie jeden Monat ist schon heute ein Müllsammler unterwegs. Einer, den man erst auf den zweiten Blick als solchen erkennt. Er rollt in seinem dunklen Skoda, hochglanzpoliert, in mein Blickfeld. Wird langsamer. Hält an. Sein prüfender Gesichtsausdruck macht mich neugierig. Er gehört nicht hierher. Ob er das auch spürt? Während seine Frau – ich bin mir sicher, dass es seine Frau ist, weil sie ihn auf so eine bestimmte, vertraute Art kurz am Unterarm festhält – im Wagen sitzenbleibt, steigt er aus und geht mit zittrigen Schritten zum Bürgersteig. Kritisch begutachtet er die alten Möbel und die gebrauchten Dinge, streicht mit seinen weißen Handschuhen über ein Regalbrett. So als wären es Waren. An der Straße zum Verkauf angeboten. Der Mann hat die 60 schon weit hinter sich gelassen. Er trägt einen braunen Anzug, der ihm ein klein wenig zu weit ist, und Schuhe, die einmal teuer gewesen sein müssen. Die Gitarre hat seine Aufmerksamkeit erregt. Die Gitarre, die ich mir auch schon angesehen hatte, weil sie durch den Bruch mitten im Klangkörper seltsam verzerrt aussieht. Ihre Saiten ragen mahnend in die warme Herbstluft, als wolle sie erzählen, wie übel ihr mitgespielt worden ist. Ich habe da so eine Ahnung, denn ich sehe oft aus dem Fenster und weiß, was in der näheren Umgebung vor sich geht.
Aber dieser alte Mann ist mir unbekannt. Er überlegt. Neigt seinen Oberkörper leicht zur Seite. Schüttelt den Kopf. Schüttelt die Schultern mit. Überlegt es sich noch einmal anders. Auf einmal spannt sich seine Körperhaltung an. Er hat sich entschieden. Sein Kopf wackelt ein bisschen, als er ihn Richtung Auto dreht. Er scheint etwas zu sagen. Dann lässt er sich von seiner Frau zwei blaue Müllsäcke aus dem Fenster reichen und verstaut die Reste des Instruments umständlich im Kofferraum. Er muss in der mutwillig zerstörten Gitarre noch etwas von Wert erkannt haben.
Die weißen Handschuhe bleiben mir im Gedächtnis.

Es ist nicht ungewöhnlich, dass jemand meine kleine Hündin streicheln will. Sie ist nun mal unwiderstehlich zauberhaft. Fast ausnahmslos sind es Frauen, die sich teils quietschend vor Entzückung zu ihr hinunter beugen, und jedes Mal muss ich dabei lächeln. Meistens ergibt sich ein kurzes Gespräch, manchmal auch ein längeres, immer angenehm und positiv.

Die Frau, die mir nun entgegenkommt, kenne ich vom Sehen. Sie wohnt seit ein paar Jahren in einem der alten Häuser an der Hauptstraße und hat einen kleinen Rüden, der sich mit meiner Fellnase überhaupt nicht versteht. Deshalb machten wir bisher hier auf den Wegen zwischen den Feldern immer einen Bogen umeinander, um unseren eigenen Stress und den der Vierbeiner zu vermeiden. Und ich bin ehrlich: So oder so ist mir das recht. Etwas ist seltsam mit dieser Frau.

Sie kommt näher, hat ihren Hund nicht dabei. Ihr Gang wirkt angestrengt und unsicher. Schleppend irgendwie. Mir fällt auf, dass ich sie seit einigen Monaten nicht mehr gesehen habe und etwas anders an ihr ist als sonst. Wie üblich trägt sie Jeans, Sneakers und einen langärmligen Hoodie, dessen Kapuze sie sogar im Hochsommer aufsetzt. Sie scheint stark abgenommen zu haben. Ihre Hände stecken in weißen Baumwollhandschuhen.

Nun steht sie vor mir, grüßt mich mit einem kurzen, aber freundlichen „Hallo“. Ein feines, sympathisches Lächeln ist es, das sie mir schenkt.

„Hallo“, murmele ich. Was will sie von mir und warum? Ich mustere sie aufmerksam. Da ist diese tiefe, steile Falte auf der Stirn. Ihre intensiv blauen Augen sind gerötet, die geschwollenen Lider ebenso, als hätte sie geweint. Wie alt ist sie überhaupt? Fünfzig? Mag sein. Vielleicht auch älter. Ihre langen Haare sind grau, naturgrau, schön eigentlich, wäre da nicht ihre müde, fleckige Gesichtshaut, die sie alt aussehen lässt. Krank wirkt sie, ja. Mein Blick wandert nach unten, zu einer Art Manschette an ihrem linken Unterschenkel.

Sie geht in die Hocke, zieht die Handschuhe aus, krault meine Hündin hinter den Ohren, an der Brust, im Nacken. Erschrocken bemerke ich den Zustand ihrer Hände. Pflaster an fast jedem Finger, kleine und größere Wunden, sich ablösende, vertrocknete Haut.

Sie sieht auf zu mir. „Keine Sorge, es ist nichts Ansteckendes. Neurodermitis mit Juckreiz aus der Hölle.“ Ihre Augen schimmern feucht. Sie wendet ihren Blick von mir ab, krault weiter. „Wir mussten Sammy einschläfern lassen“, sagt sie leise. „Vorige Woche. Er ist fast neunzehn Jahre alt geworden.“

Ihr kleiner Rüde. Ich schlucke.

„Es war absehbar“, ergänzt sie. „Eigentlich wollte ich keinen neuen Hund. Aber es ist unerträglich. Ganz alleine In dem Haus, den ganzen Tag. Und alleine mag ich auch nicht spazieren gehen.“

Sie richtet sich auf. „Danke, dass ich die Kleine streicheln durfte. Das fehlt mir so sehr.“

Ich bin kurz davor, sie tröstend zu umarmen, aber etwas in mir hält mich davon ab. „Mögen Sie uns begleiten? Wir sind erst losgegangen“, frage ich stattdessen.

Sie lächelt. „Wenn ich Sie nicht störe, sehr gerne. Ich gehe wohl recht langsam.“

„Das macht nichts. Ich habe Zeit. In den Wald?“

Sie nickt. Wir reden viel in der kommenden Stunde, lachen auch, machen Pausen, stellen einander Fragen, reden weiter. Sie muss viel loswerden, erzählt von Depressionen, den Medikamenten, deretwegen ihre Haut keine Sonne mehr verträgt. Die Kapuze. Die langen Ärmel. Vieles erklärt sich. Und sie sagt ein Wort: Polyneuropathie. Noch nie gehört. Was Neurologisches. Nervenschwächen und Lähmungen in den Füßen. Muskelabbau überall. Die Ärzte suchen nach Ursachen, schon lange, finden nichts, können nichts tun für sie. Da ist Angst in ihr. Vor Stürzen, Verletzungen, Brüchen. Einem Rollstuhl, vielleicht, eines Tages. Alles strengt an, ermüdet, und nun ist Sammy weg, ihr einziger Antrieb, morgens überhaupt aufzustehen.

Marion heißt sie. Ich mag Marion. Morgen gehen wir wieder gemeinsam, meine Hündin, Marion und ich.

Die Frau Schoedel

Auf dem Balkon hoch oben, da steht sie wieder. Die Frau Schoedel. Sie ist beim Wochenhausputz, wie es scheint. Ihr sonst so strähniges Haar hat sie in ein altdeutsches Kopftuch hastig eingewickelt. Jedenfalls meint man, dass der abgewetzte Fetzen jeden Moment, wie ein Vorhang im Theater, herunterfällt. Das wäre auch kein Schaden, denn ihr auswölbendes Antlitz mit den roten Apfelbäckchen erstrahlt ohnehin nicht in beachtenswertem Liebreiz. Sie steht kerzengerade und grüßt freundlich mit einem nachbarschaftlichen „Hallo“ oder „Hello“, genau war das nicht auszumachen. Ich gehe zum Postkasten draußen und schaue zu ihr hoch, um meinen Gruß mit einem „Guten Tag“ zu erwidern. „Hat sie noch den Morgenmantel an?“, frage ich mich. Vielleicht ist es auch eine Kittelschürze. Die oberen Knöpfe, wenn dort je welche waren, sind nicht bemüht worden. So sehen wir ihre ausladende Erscheinung auch noch mit einem ebensolchen Busen. Es ist also ein echtes Brustbild. Ihre Teile nach unten hin sind verdeckt, wie ich jetzt bemerke. Dort hängt über der Balkonbrüstung ein Teppich. Da fällt mir schlagartig ein: Ich habe die arme Frau bei ihrer Arbeit unterbrochen. Wollte sie nicht gerade den Teppich ausklopfen? Und ich Tollpatsch laufe ihr da geradeswegs in den Fallout? Wie anständig von ihr, dass sie wartet. Als ich meine Briefe greife, meine ich über mir, den Flügelschlag mehrerer Albatrosse zu vernehmen. Frau Schoedel hat mit beiden kräftigen Oberarmen den Teppich gepackt und schwingt das verdreckte Textil in wallenden Wellenbewegungen auf und ab. Die Flusen und Wollmäuse des bürgerlichen Wohnzimmers, die Krümel vom Katzenklo, wie die Reste der Hausstaubmilben, vom fiesen Feinstaub ganz schweigen, schweben auf mich herab.

Blass, kraftlos und müde schlurfen sie aus dem Schulgebäude.

Die Rücken krumm. Mit herabhängenden Schultern wirken sie unter dem Gewicht ihrer schweren Rucksäcke irgendwie gequält.

Ausnahmsweise hole ich heute meinen Sohn direkt von der Schule ab. Weil ich viel zu früh bin, mache ich es mir im Café gegenüber gemütlich. An einem der Hochtische am Fenster habe ich alles im Blick und kann ihn sehen wenn er dann später rauskommt. Ich bestelle mir einen Cappuccino und beobachte das Geschehen auf der anderen Seite.

Wie in einem Pulk drängen sich die Schüler aus dem Haupteingang und verteilen sich in unterschiedliche Richtungen um ihren Heimweg anzutreten. In kleinen Grüppchen, manche auch allein. Sie reden miteinander aber kaum jemand lacht. Der Tag scheint für die meisten anstrengend gewesen zu sein.

Ein Junge läuft in Gedanken versunken zielgerichtet hier rüber, zum Café. Ich schätze, dass er sechzehn oder siebzehn Jahre alt ist. Er wirkt erschöpft und

steuert den freien Tisch mir gegenüber an. Kraftlos lässt er seinen Rucksack aus der Hand auf den Boden fallen und nimmt Platz auf einem der hölzernen Hochstühle. Den linken Fuß behält er am Boden während er sich mit dem rechten an der mittleren Strebe des Stuhls abstützt und nervös auf und ab wippt. Mit hängenden Schultern sitzt er etwas nach vorne gebeugt.

An manchen Stellen leicht abgewetzt wirkt die beige Cordhose etwas zu groß für seine schmale Statur. Die ausgefransten Schnürsenkel seiner Sneakers hängen bis auf den Boden, passen aber irgendwie ins Bild.

Dunkelblonde, strubblige Haare schauen unter der schwarzen Kapuze seines Hoodies hervor. Insgesamt wirkt er unscheinbar. Typische Modetrends der Jugendlichen in seinem Alter scheinen ihn nicht zu interessieren.

Immer wieder zubbelt er seine Haare mit den Händen über die Stirn, auf der sich bei genauerem hinsehen zahlreiche Mitesser abzeichneten. Der Arme. Da haben die Hormone wohl mächtig zugeschlagen.

Unsicher schaut er auf die anderen Tische auf der Suche nach einer Karte.

Eine der Bedienungen anzusprechen traut er sich wohl nicht.

Ich stehe kurz auf und reiche ihm meine Karte. Mit einem zurückhaltenden Lächeln nimmt er sie und bedankt sich höflich. Sein Blick streift mich nur ganz kurz aber seine Augenfarbe kann ich nicht erkennen. Er ist wohl sehr schüchtern.

Mitleid macht sich in mir breit. Es macht mich traurig zu sehen, das junge Menschen schon so einsam sind. „Welcher Teenager sitzt denn völlig allein nachmittags im Café?“ schießt es mir durch den Kopf.

„Liegt es daran dass er nicht so hipp ist wie andere Gleichaltrige?

Oder ist er zu ruhig?

Hoffentlich muss mein Sohn niemals unter Einsamkeit leiden.“ Diese Gedanken versetzen mir einen Stich.

Plötzlich wechselt er den Platz und sitzt nun mit dem Rücken zu mir. Hoffentlich hat er sich nicht unwohl gefühlt unter meinen beobachtenden Blicken. Ich schäme mich und wende meinen Blick aus dem Fenster.

Eine der freundlichen Bedienungen kommt zu mir um zu sagen dass sie jetzt Pause hat und ich bei ihrer Kollegin weiter bestellen kann. Zielgerichtet läuft sie dann zu dem einsamen Jungen gegenüber. Mit einer herzlichen Umarmung und einem Küsschen auf die Wange begrüßt sie ihn, setzt sich auf den Stuhl ihm gegenüber und quasselt sofort los. Freudestrahlend. Sie bestellen sich etwas zu trinken und der scheinbar einsame, schüchterne Junge ist plötzlich wie ausgewechselt. Ein ganz normaler Teenager. Er lacht und unterhält sich angeregt. In Gesellschaft seiner charmanten Freundin scheint ihm das Herz aufzugehen.

„Wie süß“ denke ich mir und muss schmunzeln.

Da habe ich mich ganz umsonst gesorgt. Er ist nicht einsam und er ist auch nicht traurig.

Selbst wenn es außer diesem Mädchen sonst keine engen Freunde für ihn gäbe, so ist sie der Mensch der ihm augenscheinlich gut tut. Und sie ist es, die genau in diesem Moment die richtige an seiner Seite ist denn sie bringt ihn zum Lachen…hier und jetzt.

Meinen Cappuccino bezahle ich an der Theke und laufe nach draußen, meinem Sohn entgegen.

Herbst

Verknittertes Laub rieselt aus den Linden. Ihre Kronen tragen Halbglatzen. Kahle Äste recken sich über die Fußwege und Gärten der Reihenhäuser. Klinkerbauten, wie sie Vorstädte im Norden seit den 60er Jahren besiedeln. Die Straße ist verwaist, die Anwohner sind unterwegs, verdienen die Raten für Zins und Tilgung in den Bürotürmen der City. Über der Stadt strahlt der Himmel. Im Autoradio bejubelt die Moderatorin einen Herbsttag, der zum Picknick einlädt. Ich regele die Lautstärke auf null.
Ein alter Mann öffnet eine Jägerzaunpforte und schlurft auf den Bürgersteig vor der Hausnummer 7b. Die Hosenbeine der Jeans schlackern um seine Schenkel. Sie stecken in schwarzen Gummistiefeln. Der Oberkörper verschwindet in einer schlammbraunen Winterjacke. Vorn über gebeugt zieht er eine Biotonne hinter sich her. Er überragt sie um höchstens einen halben Meter. In der linken Hand hält der Alte eine Harke, die einem Kind gehören könnte. Er platziert die Tonne an der Grundstücksgrenze zum Nachbarn, gräbt seine Zähne in die Unterlippe, schiebt den Rand der Pudelmütze aus der Stirn. Graue Haare zeigen sich.
Die Harke schrabt über den Gehweg, kratzt Laub und Moos und Kieselsteine vor der Pforte zu einem Häuflein zusammen. Der Mann schleicht zur anderen Grundstücksgrenze. Er schrabt und kratzt, das Häuflein wächst. Der Greis streckt sich. Er betrachtet sein Werk so lustlos, wie er nach dem Mittagsschlaf die Tageszeitung rückwärts blättern wird.
„Bis vor fünfzehn Jahren Sachbearbeiter, Buchstabenkreis A wie Aufbruch bis H wie Herbst“, reime ich mir sein Leben zusammen. „Kinder, Kombi, Kredit, kein Hobby. Rente, Rasenmähen, Laub harken, Ende im Gelände.“ Der Herbst lastet auf mir.
Die Haustür hinter dem Alten öffnet sich. Eine weißhaarige Frau tappt heraus. Sie setzt die Füße, als balanciere sie an einem Abgrund. Die Finger einer Hand ertasten die Knopfleiste ihres Kittels. In der anderen Hand trägt sie eine Schippe. Sie lächelt den Mann an, beugt sich vor und küsst ihn auf die Wange. Er himmelt sie an und legt einen Arm um ihre Schultern. Die beiden strahlen wie junges Herbstlaub.
Ich, starte den Motor, fahre das Fenster herunter und drehe die Musik laut.

Sie trägt nicht den Schal, der Schal trägt sie. Dicke Streifen in pink, grün und gelb umkreisen ihren Hals und scheinen den Kopf oben zu halten. Gerade noch so. Alles andere strebt nach unten, das Kinn, die Schultern, die Augenlider. Der Rucksack ist ihr von den Armen geglitten, statt ihn aufzuheben, hat sie ihn mit dem Fuß zwischen ihre Beine geschoben.
Ohne dabei aufzusehen.

„No future“ prangt auf einem Aufkleber quer über die gesamte Vorderseite, wobei das „No“ dick durchgestrichen und ein Lachgesicht daneben gemalt ist. Aber scheinbar war die Zukunft nicht mehr zu schultern, jetzt liegt sie auf dem dreckigen Asphalt.
Ihr eingemummelter Oberkörper bildet einen eindrücklichen Kontrast zu den freien Knöcheln über den Sneakers. Das hat sie mit allen anderen Jugendlichen gemein, frühmorgens an der Bushaltestelle. Auf der freigehaltenen, wahrscheinlich eiskalten Haut, leuchtet ein kleines Totenkopftattoo. Es sieht aus, als wäre es gerade frisch und schwarz über ein älteres rotes Herz gestochen worden.

Ich kann mich von dieser Gestalt nicht mehr lösen. Nicht, weil ich neben ihr stehe, sondern weil sie mich seltsam berührt und sie mir Gänsehaut in die Seele webt.
Ich zwinge meine Gedanken in andere Richtungen. Überlege, wer sie ist, ob sie Kakao zum Frühstück mag und was wohl ihre Lieblingsfarbe ist. Nur so kann ich noch abschütteln, sie als Mahnmal zu sehen. Als Symbol des Stillstands und einer gefallenen Zukunft.
Und meinerseits in die Schule fahren als wäre ein ganz normaler Tag.

Yarek

Ich erinnere mich noch gut an den Moment, als ich dich zum ersten Mal sah. Zwischen all den Leuten standest du, die Menge beobachtend an die Wand gelehnt. In deiner Ruhe lag Lässigkeit, aber auch scheue Distanz. Doch dein Blick, dieser wache und aufmerksame Blick, war vollkommen klar und wanderte über den Platz.
Ich glaube, ich habe mich noch im selben Moment in dich verliebt, als du mich zum ersten Mal angesehen hast. Mir war, als würden deine Augen mir auf den Grund meiner Seele blicken. Ich hatte dich angelächelt und du, ganz verwundert darüber, dass es wirklich dir galt, hast es erwidert. Noch nie habe ich ein ehrlicheres und schöneres Lächeln gesehen. Als hätte man eine Sonne in dir angeknipst, standest du einfach nur da und wir haben uns über die Menge hinweg angelächelt. Zwei Seelen, die sich zuvor nie getroffen hatten, und doch war innerhalb der kleinen Ewigkeit, die dieser Moment andauerte, alles gesagt, alle Zweifel ausgeräumt.
Du bist mir gefolgt, weg von den Leuten. Immer wieder haben wir unsere Blicke gesucht und uns angelächelt. Ich habe uns zwei Becher zu trinken besorgt und einen Platz ausgewählt. Und du hast dich wortlos neben mich gesetzt, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Noch nie in meinem Leben habe ich es mehr genossen, neben irgendjemandem in die selbe Richtung zu blicken.
Noch immer habe ich den säuerlich-süßen Geschmack des eiskalten Tees in Erinnerung, den wir beide tranken, während wir miteinander geredet haben. Die ganze Zeit über konnte ich meinen Blick einfach nicht von dir abwenden. Dein Lächeln, bei dem sich die Fältchen um deine eisgrauen Augen mit den hübschen hellen Sprenkeln gekräuselt haben. Die Geste, mit der du dir immer wieder aus Verlegenheit dieselbe imaginäre Haarsträhne aus der Schläfe gestrichen hast, obwohl dein Haar im Nacken ordentlich zusammengebunden über deinen Rücken fiel. Der Ausdruck in deinem Gesicht, der — so wenig ich es auch fassen konnte — tatsächlich mir galt.
Als deine Hand schließlich die meine berührte, deine Haut so kühl und glatt wie Seide an einem Sommertag, fühlte ich es bis in jeden Winkel meiner Seele. Und wusste, ich hatte dich gefunden. Dich, den ich mein ganzes Leben lang gesucht und zu finden gar nicht mehr gehofft hatte.
So vieles ist passiert seit jenem Tag. Doch die Erinnerung an dich, an damals, als alles begann, trage ich in meiner Seele, bis auch für mich irgendwann die Sterne vergangen sein werden.

Im Cafe

Ihre Augen strahlen und sie lächelt über das ganze faltige Gesicht. „Hier ist es aber schön!“ Sie sieht sich um und seufzt wohlig. „Hier war ich noch nie.“ Ihre Hand, klein und voller Altersflecken, greift leicht zitternd nach der Kuchengabel. Sie sticht ein Stück von der Torte ab und führt es langsam zum Mund. Beim Kauen grinst sie vor sich hin. Dann leckt sie sich über die schmalen Lippen. „Das schmeckt aber gut. So einen Kuchen habe ich noch nie gegessen. Was ist das?“ Ich lächele freundlich, nicke ihr zu und sage: „Quarksahnetorte.“ Sie sieht sich erneut um und strahlt mich an. „Hier gefällt es mir wirklich. Der Kuchen ist lecker. Wir sollten hier öfter hingehen.“ Ich nicke wiederum und presse mühevoll heraus: „Das können wir machen.“ Dann streichle ich ihren linken Oberarm und murmele leise vor mich hin: „Ach Muttilein! In dieses Café gehen wir jeden Samstag und du isst immer Quarksahnetorte.“

Trainingsanzug

Die S-Bahn rattert ihrem Ziel entgegen. Sie bringt die Leute am Ende eines langen Tages nach Hause.
Am nächsten Halt steigt ein Mann ein. Mit seinen grauen kurzen Haaren ist er nicht mehr jung.
Seine Haut hat schon viel Sonne gesehen – mehr als hierzulande scheint – dafür sein weißer Stoppelbart eine Weile keinen Rasierapparat.
Falten führen wie kleine Rinnen zu seinen Augen hin – vom Lachen oder vom Alter?
Er kommt im Trainingsanzug herein – weil das bequem ist oder aus Mangel an Alternativen? Die Klamotten haben ihre besten Jahre hinter sich.
Im Homeoffice stelle ich ebenfalls Zweckmäßigkeit über Aussehen. Da ist mir egal, wie es aussieht. Dem Mann, der sich jetzt mir gegenüber hinsetzt, hält das genauso. Ist er mir einen Schritt voraus?
Die Papiertasche, die er bei sich trägt, stellt er auf seinen Schoß. Leichte Knitterspuren weisen auf häufige Benutzung hin. Es steht irgendwas von „Pommes“ drauf – vermutlich gehört sie zu einer Imbissbude. Er hat sie behalten. Erinnert sie ihn an eine besondere Gelegenheit? Hat er seinen Enkeln ein Fest bereitet? Er hält die dünnen Tragegriffe mit beiden Händen wie eine kostbare Erinnerung.
Mögen doch die Spießer um ihn herum schauen, wie sie wollen. Für ihn ist die Papiertüte gut. Mehr braucht er nicht.
Sein Handrücken zeigt eine Narbe. Sie ist schon alt. Hat er früher einen Arbeitsunfall gehabt? Die kräftigen Hände, die gedrungene Gestalt und der gebeugte Rücken deuten auf Plagerei hin. Oder war er im Krieg? Die Haare sind noch militärisch kurz. Wir vergessen oft, wie glücklich wir in dieser Gegend sind – ohne bewaffnete Milizen oder fremdbestimmte Kämpfer.
Kommt er aus einem solchen Land? Egal, wo man geboren wird: Jedes Kind verkörpert tausend Hoffnungen. Seine Eltern haben sich über seine Geburt gefreut. Sicher leben sie inzwischen nicht mehr. Und sie haben ihm gewiss gewünscht, dass er eines Tages in einem Anzug in der S-Bahn sitzt.
Doch er hockt hier im Trainingsanzug, in Sicherheit. Wenn er den Krieg erlebt hat, dann wird er dieses Gefühl genießen. Mit dem Ärmel wischt er sich ein paar Schweißperlen von der Stirn. Das kann man mit einem Anzug nicht.
Der nächste Halt: Er steigt aus. Sorgsam greift er seine Papiertasche, wie einen Schatz. Ich kann nicht sehen, was drin ist. Es geht mich auch nichts an. Zwei Portionen Pommes? Noch frisch und warm – für die Enkel? Macht der Alltag Pause für ein kleines Fest? Bestimmt werden sie schon beim bloßen Anblick der Tasche jubeln.
Egal, wo er hingeht: Ein Lächeln spielt um seinen Mund. Er ist unterwegs zu einem Ort, auf den er sich freut.

Nur keine Angst

Ich sehe, wie sich deine Zimmertür öffnet. Nur einen kleinen Spalt, so dass du mit einem Auge nach draußen linsen kannst. Dein Blick streift meinen, was mit einem lauten Knall endet, als die Tür wieder in den Ramen fällt.
Wer will es dir verübeln? Du bist gerade mal ein paar Stunden bei uns und dein gezwunger Aufenthalt begann ziemlich holprig. Um 3 Uhr wurdest du uns angekündigt: 94- jährige Bewohnerin aus dem Pflegeheim, demenzielle Veränderungen bekannt, wahnhaft, aggressiv. Du kamst auf einer Liege im Krankenwagen und sage und schreibe 4 Polizisten an, die links und rechts neben der Liege herliefen, als wenn du eine Schwerverbrecherin wärst. Als ich dich dann sah, eine zusammengekauerte Gestalt, ca. 1,60 groß, eher unterernährt, staunte ich nicht schlecht. Zu diesem Zeitpunkt zumindest, wirktest du nicht aggressiv. Eher wie ein geprügelter Hund. Was hatten diese Männer nur mit dir gemacht? Reichte dir ihr Anblick, jeder mindestens 190 cm groß und das 4- fache an deiner Statur, oder mussten sie handgreiflich werden, weil du gefühlt um dein Leben kämpftest.
Sei wie es sei, du wurdest vorerst ins Überwachungszimmer gelegt. Dort tigertest du wie ein eingesperrtes Tier auf und ab. Wenn ich rein kam warst du entweder Frau Burke, Lisa oder Lilli. Frau Elisabeth Burke ist schon eine älter wahnhafte Dame, zeitlich unorientiert, doch einigermaßen händelbar, da sie weiss, dass von mir keine Gefahr ausgeht. Schwierig hingegen sind Lisa, wie sie in ihrer Jugendzeit wohl genannt wurde, die etwa zum Kriegsende lebt. Und Lilli, ihr kleines „Ich“. Ich weiß jedoch nicht, wie klein sie ist, nur dass sie viel schreit und ihre Mutter ruft.
Lisa redet oft von großer Angst, von Schmerzen, Hunger, Tod… und sie wird handgreiflich, wenn sie sich bedroht fühlt.
Ich möchte mir nicht ausmalen, was dir alles geschehen ist. Ganz oft verarbeitest du mich wahnhaft; sagst du zu mir, ich wolle dich umbringen. Du bist Misstrauisch, vertraust niemanden. Es muss der Horror sein, diese Zeit wieder zu erleben; Gefahr hinter jeder Ecke zu vermuten. Ständig siehst du Gestalten und flehst um dein Leben. Dein Gesicht zeigt meistens Anspannung, wirkt zum Teil verzerrt. Dabei sehe ich, wenn du mal schläfst viele Fältchen, die von deinem Leben erzählen: Wie oft du gelacht haben musst. Kaum Falten auf der Stirn, dafür viele neben Augen und Mund, die friedlich und freundlich wirken; deine Frisur, die einer typischen älteren Dame.
Du hattest es also aus der Hölle geschafft, und nun steckst du wieder drinnen. In einer geschlossenen Psychiatrie, der Geist oft im Krieg gefangen, umgeben von Gestalten die einzig und alleine deinen Tod wollen. Heute bin ich erneut die Nachtwache und du meine Patientin. Doch die Frage ist, wer schaute gerade aus der Tür? Frau Burke? Lisa? Lilli? Es gibt nur eine Gewissheit: Eine Pflegekraft für 25 Patienten. Ich werde mein Bestes geben, doch auch heute werde ich nicht die Zeit haben dir deine Angst zu nehmen. Traurig beginne ich meinen Dienst…

Ich nehme meine Jacke von der Garderobe, greife nach meiner Tasche die immer neben meinem Schreibtisch auf dem Boden liegt, stempel ab und laufe hastig aus dem Büro. Ein Blick auf meine Armbanduhr verrät mir, dass mein Bus in… einer Stunde kommt?! Ich habe den Bus verpasst und der nächste Bus der in mein Kuhdorf führt kommt erst in einer Stunde. Mein Auto hat vor zwei Wochen den Geist aufgegeben und mein Konto lässt gerade die Anschaffung eines neuen Autos nicht zu, an Busfahren habe ich mich noch immer nicht gewöhnt.
Es ist ein schöner sonniger und mit 25 Grad ein viel zu warmer Oktobertag, also beschließe ich nicht zurück ins Büro zu gehen, sondern es mir einfach am Busbahnhof gemütlich zu machen. Meine Therapeutin riet mir ohnehin mal öfter an die frische Luft zu gehen.
Dort angekommen stelle ich enttäuscht fest, dass mal wieder keine Bank frei ist. Nach Stehen ist mir in meinen Schuhen aber auch nicht zumute also sehe ich mich um und suche nach dem geringsten übel: Ein deutlich älterer Herr der mich aus der Ferne bereits mit seinen Blicken auszuziehen versucht oder eine junge Frau, die wirkt als würde sie lieber ihre Ruhe wollen. Meine Entscheidung ist schnell gefallen.
Wenige Schritte später sitze ich bereits neben ihr und sie würdigt mich bisher keines Blickes, obwohl wir doch im selben Alter zu sein scheinen. Es ist aber auf dem ersten Blick zu sehen, dass wir optisch unterschiedlicher nicht sein könnten.
Ich, in meinem Büro Outfit, mit meinem knielangen schwarzen Bleistiftrock und einer rosa Bluse die ich in den Bund meines Rocks gestopft habe, dazu einen passenden schwarzen Blazer und schwarze Pumps. Sie dagegen in ihrer schwarzen hautengen Hose, ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo einer Band, dessen Schrift ich nicht lesen kann und ihren Weinroten Dr. Martens, dazu eine Haarfarbe die zu ihren Schuhen passt. Von den ganzen Tattoos und Piercings die ihren Körper schmücken fange ich erst gar nicht an. Der Kontrast lässt mich schon fast schmunzeln.
Sie trägt ihre Kopfhörer im Ohr und die Musik so laut, dass selbst ich jedes Wort des Sängers der Band verstehen kann. Oh Moment, ich kenne den Song sogar! Metallica – Enter Sandman. Sympathisch.
In Ihrer Hand ein Buch. Da sie es gerade offenhält und daraus liest, erkenne ich nicht welches Buch es ist. Sie scheint es aber fast fertig zu haben, wie ich aus dem Augenwinkel erkenne ist sie auf Seite 301. Verdammt, es würde mich sehr interessieren was eine Frau wie sie liest.
Ich bewundere Sie dafür, dass Sie so laut Musik hören kann und gleichzeitig lesen, während ich beschäftigt wirken möchte und zum 100. Mal mein Instagram am heutigen Tag durchscrolle. Während ich hier so neben ihr sitze und die Minuten langsam vergehen, merke ich wie ich immer wieder zu ihr rüber schiele. Sie sieht so anders aus als ich, ich merke wie ich sie dafür verurteile und nicht aufhören kann sie anzustarren. Ich hoffe, ich lasse mir dies nicht allzu sehr anmerken. So Menschen wie sie, müssen Menschen wie mich doch hassen, oder?
Als ein Bus, der leider noch immer nicht meiner ist, in den Busbahnhof einfährt, nimmt sie ihr Lesezeichen, legt es in ihr Buch und klappt es zusammen. Sie nimmt ihren grauen Rucksack in ihre Hand und steht auf, während noch immer rockige Musik aus ihren Kopfhörern hämmert, schaut zu mir hinab lächelt mich mit einem freundlichen Lächeln an, dass ihr bis zu den Augen reicht und sagt plötzlich: „Danke, dass du dich zu mir gesetzt hast.“