Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Funkelnder Stern

Alle Menschen sind interessant. Und doch gibt es nur wenige, die mir für immer in Erinnerung bleiben werden. Du bist so ein funkelnder Stern. Du bist anders als die Anderen. Nicht besser, nicht schlechter, aber anders.

Während des Unterrichts sitzt du stets in der ersten Reihe – ganz allein. Du trägst abgelaufene No-Name-Turnschuhe, eine aus der Mode gekommene Jeans und einen Pullover, der vermutlich mal einem Jungen gehört hat. Vielleicht deinem Bruder. Der Reißverschluss deines Rucksacks mit dem großen Loch an der Unterseite ist kaputt.

Deine Unterlagen sind makellos. Sie sind akkurat parallel zur Tischkante angeordnet. Du hast eintausend kleine bunte Klebezettelchen in deinem Ordner, die dich daran erinnern sollen, mich in der Pause das zu fragen, was du nicht zu einhundert Prozent verstanden hast. In deinem abgeranzten Mäppchen sind die Stifte farblich sortiert. Du hast sogar einen Spitzer, ein Geodreieck und einen Zirkel dabei. Alles parat. Immer.

Wenn du dich verschreibst, machst du daraus kein Gekrakel, so wie die meisten Jugendlichen. Du verwendest eine Tipp-Ex-Maus, weil ich das empfohlen habe. Deine Augen saugen die Formeln an der Tafel förmlich auf. Du meldest dich bei jeder Frage, weißt beinahe jedes Mal die perfekte Antwort. Du willst gut sein, das sagtest du mir. Du willst etwas aus deinem Leben machen. Du willst später Geld verdienen. Nicht reich werden, aber genug haben, um dir endlich mal was leisten zu können.

In meiner Hand halte ich deine Klassenarbeit. Ich freue mich unendlich darauf, sie dir zu geben. Du hast eine Eins geschrieben, schon wieder.

Du bist auf dem richtigen Weg. Leuchte weiter, funkelnder Stern.

Der Tod ist hinterhältig. Er lauert im Vergessen.

Ein Mann hatte vergessen, sich anzuschnallen als er ins Auto stieg. Ein Kind hatte vor dem Überqueren der Straße vergessen, auf den Verkehr zu achten. Eine Frau hatte die Anweisung des Arztes vergessen, die Tabletten keinesfalls zusammen mit Alkohol einzunehmen. Die Regierungen hatten das Elend der Kriege vergessen, als sie sich erneut ihre Panzer auf den Hals hetzten. Das Vergessen ist ein lohnendes Geschäft für den Tod. Aber er kann auch anders, subtiler, aber genauso hinterhältig.

„Magst du noch Kaffee?“, fragte ich zu laut. Sie zuckte zusammen und schaute mich erschrocken an, wie ein Schulkind, das vom Lehrer beim Träumen erwischt wurde. Sie war zwar schwerhörig, aber ich hatte vergessen, dass laute und verärgerte Stimmen ähnlich klingen. Lächelnd schenkte ich eine Tasse nach. Die dünnen Lippen des neunundsiebzigjährigen Kindes lächelten zurück, doch ihre Augen ruhten abwesend unter schweren Lidern in trauergeränderten Höhlen. Ihr Blick suchte erneut die Ferne hinter dem Fenster, vor dem wir beide saßen. Der Kaffee in unseren Tassen wurde kalt, der Kuchen warm.

Solange ich denken konnte, war sie regelmäßig zum Friseur gegangen, um mit flotten wassergewellten Locken und zwei prall gefüllten Einkaufstaschen zurückzukehren. Sowohl die Farbe als auch die Dichte ihres Haares hatte sich über die Jahre verändert. Anfangs war es unbezähmbar und glänzend wie frisch gesammelte Kastanien, dann webten sich erste staubgraue Fäden hinein, die sich ausbreiteten und später zu dünnem Silbergrau wurden. Jetzt hatte es die Farbe flüssigen Platins angenommen, das der reisende Friseur im Pflegeheim zum praktischen Bob geschnitten hatte.

Wie erster Winterfrost in Fallobst war das Alter tiefer in ihren Körper gekrochen und kristallisierte in jeder Zelle scharfkantig und spitz. Jeden Tag fror und bebte sie unter der Last. Es waren schmerzhafte Erschütterungen, die tief aus dem Inneren nach außen drängten. Dass sie ihre Arme oft wärmend, vielleicht auch haltend um ihren Oberkörper schlang, half dagegen genauso wenig wie der dicke Pullover. Sie hatte sich schick gemacht für ihren – ich ahnte es nicht – letzten Besuch bei mir. Dezent, aber immer gepflegt. Harmonisch abgestimmter Rock, Bluse, Schuhe, alles in pudrigem Grau. Doch dann dieser hässliche Pullover. Himmel, dieses marineblaue Monster aus grobem Patentstrick mit den gestopften Ellenbogen und dem V-Ausschnitt! V wie Verfall, V wie Vergessen. V wie verloren. V wie Verlust. V wie Vater – mein Vater, ihr Mann. Es war sein Lieblingspullover gewesen. Er hatte den Pullover nicht einfach getragen, nein, sie waren eine symbiotische Beziehung eingegangen und er war nur zum Waschen oder wenn er öffentlich unterwegs war, aus dieser Unmöglichkeit herauszureden. Deshalb trug meine Mutter ihn jetzt, als wäre er der Brustpanzer einer Rüstung. Legte sie ihn ab, wäre sie auf der Stelle verloren gewesen und ihr Weg am Ende.

Sie nippte an der Kaffeetasse und sagte: „Weißt du, ich mache gerade Urlaub mit dem Hausfrauenverein in einem tollen Hotel. Aber …“, sie stutzte und in die gewittergrauen, matten Augen trat Tränenglanz, „ich glaube, ich kann das schöne Zimmer gar nicht bezahlen. Ich habe doch überhaupt kein Geld mehr!“ Tränen ergossen sich plötzlich wie Sturzbäche über ihre plissierten Wangen. Jedes Fältchen ein Schmiss aus dem Kampf des Lebens. Woher bezog ihr Körper nur so viel Flüssigkeit? Ich nahm sie behutsam in den Arm, versuchte zu trösten, redete zu, schwieg und strich sanft über ihren Rücken, unter dem jeder Wirbel fühlbar war, und erwartete dabei das Geräusch von knisterndem Papier.

Sie aß und trank so wenig wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, mit Vogel-V, und sogar daran musste sie ständig erinnert werden. Bis zu jenem letzten Tag kurz nach diesem Besuch, an dem ihr Körper zu leben vergaß und man ihr den Pullover ausziehen musste.

Am Fenster

Sie saß am Fenster zum Hof, das Strickzeug lag auf ihrem Schoß, ihre Augen waren geschlossen. Sie hatte geweint. Er merkte beim Eintreten sofort, dass etwas nicht stimmte. Gut ging es ihr schon lange nicht mehr. Sie saß seit Jahrzehnten im Rollstuhl, brauchte bei fast allem Hilfe, selbst bei den einfachsten Verrichtungen und kam sich nutzlos vor.

Nachdenklich, gestützt auf seinen Stock, blieb er an ihrer Seite stehen. Sein Blick schweifte von ihrem grauen Haar, dünn und strähnig war es geworden, auf die Falten in ihrem Gesicht, das er so liebte.
Ihr Leben war mühsam geworden. Es fiel ihm nicht mehr leicht, sie morgens zu waschen und anzuziehen. Die Kraft verließ auch ihn. Dennoch gab er sich Mühe, sie gut aussehen zu lassen. Heute hatte er ihr die schwarze Hose mit den breiten Aufschlägen angezogen und die blaue Bluse mit ausladendem Kragen und stoffbezogenen Knöpfen, die sie so gern hatte.

Jetzt am Nachmittag saß sie still am Fenster, das Gesicht zum herbstlichen Garten gewandt und mit flachem Atem. Sie war eingeschlafen und er sah ihre angetrockneten Tränen deutlich. Sie wusste genau wie er, dass ihre gemeinsame Zeit bald zu Ende gehen würde.

Hoffentlich, dachte er, müsse er sie nicht allein lassen. Ohne ihn konnte sie es nicht schaffen. Leise setzte er sich auf den Sessel neben ihr und lächelte ihr zu. Sie hatte sich immer geweigert, fremde Hilfe zuzulassen. Nur du sollst für mich sorgen, hatte sie beharrlich betont. Ganz still war es geworden, die Blaumeisen im Garten verließen ihren Futterplatz vor der Tür, und allmählich wurde es dunkel. Kaum hörte er ihren Atem. Er traute sich nicht, sie zu berühren, obwohl er sie gern gestreichelt hätte. Bald schlief auch er.

Ich sehe was, was Du nicht siehst!

Kennt ihr auch Leute, die nur das hören, was sie hören wollen? Unangenehm, oder? Unterhaltungen mit solchen Leuten sind mühsam bis unmöglich und kann man solchen Leuten nicht aus dem Weg gehen, weil man „Job bedingt“ mit ihnen zu tun hat, dann wird’s schwierig.
Nun gibt es aber auch Leute, die sehen nur das, was sie sehen wollen, oder sogar noch mehr, als man eigentlich sehen kann! Nein, Nein, ich meine jetzt nicht irgend welche zugedröhnten oder besoffenen Zeitgenossen. Das sind Leute wie du und ich.
So jemand habe ich vor Jahren getroffen. Ich saß am Airport in der Wartezone. Stinkesauer war ich, weil ich wegen einer Verspätung meinen Anschlussflug verpasst hatte.
Neben mir saß ein älterer Herr, den ich schon vorher im Flieger gesehen hatte. Auch er wartete wohl auf seinen Anschlussflug, allerdings mit wesentlich besserer Laune als es meiner. Immer wieder lächelte er verschmitzt. Manchmal kicherte er auch leise. Neugierig geworden, was ihn den so erheitere, hab ich ihn dann einfach mal gefragt.
Ja, er wartet auch auf den Anschlussflieger. Ärgerlich? Ja, aber warum sich über etwas ärgern, was man doch nicht ändern kann. In solchen Situationen vertreibt er sich die Zeit mit seinem „Wartespiel“.
Wie meinen? Wartespiel? Ja genau. Ein Zeitvertreib, der die Laune hebt.
Ok und wie funktioniert dieses „Wartespiel“? Ich könnte gerade so einen Stimmungsaufheller gut gebrauchen.
Ganz einfach. Man muss nur genau hin sehen und dann noch mehr sehen. Ganz einfach? Nein, nichts verstanden, bitte ein Beispiel.
Aber gerne. Hier laufen tausende Menschen herum und die sehen alle anders aus. Groß, klein, hübsch, häßlich, dick, dünn, blond, braun, rot, gut gekleidet oder weniger gut oder schmuddelig, usw. und so fort.
Man sucht sich aus dieser riesen Masse Leute raus, die einem auffallen. Ob das nun körperliche Merkmale, Kleidung oder das mit geschleppte Gepäck ist, oder ihr Verhalten, egal, es muss einem nur auffallen. Such dir einen „Point of interest“ und mach was draus!
Äh, wie, „mach was draus?“ Na, schau dir genau an, was dich interessiert und verändere es in Gedanken zu etwas, was dir gerade einfällt.
Der da vorne mit dem teueren Anzug, dem nähst du Flicken auf Sakko und Hose.
Die Dame da drüben, die sich dauern im kleinen Schminkspiegel betrachtet, die lässt du von jemand anrempeln, wenn sie gerade wieder den Lippenstift benutzt.
Da, der da mit der Nase, die wie ein Schnabel aussieht. Dem lässt Du einen Hahnenkamm wachsen.
Lass dem Mädel mit dem traurigen Blick da von einem uniformierten Pagen einen großen bunten Blumenstrauß bringen.
Dort der Koffewagen fällt um und verteilt die Gepäckstücke in der Halle.
Eine Blaskapelle mit Pauken und Trompeten marschiert hier durch und und und…
Kein Grenzen, alles ist erlaubt! Ich sehe was, was du nicht siehst!
Die Zeit war um. Der Anschlußflug wurde aufgerufen.
Gerne hätte ich mich mich noch für den Tip zum Zeitvertreib bedankt, aber der nette Herr war bereits verschwunden.
Seit dem verbrachte ich auf diese Weise immer wieder meine Wartezeiten. Es gab so viel zu sehen, was andere nicht sahen und ich hatte viel Spass damit, auch ohne ständig auf den kleinen Bildschirm zu schauen und immer wieder einen panischen Blick auf die Akkuanzeige zu werfen.
Ich sehe was, was du nicht siehst! ;o)

BEITRAG

Mein Gott, sie ist so jung. Das war das Erste, was ich dachte, als sich sie sah.
Obwohl es draußen mild war, trug sie eine dicke Strickjacke, die sie fest um ihre schmale Gestalt gezogen hatte. Um den Kopf hatte sie ein Tuch geschlungen.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen«, sagte sie.
Der Anhänger ihres Schlüssels war ein Beißring für Babys und als sie ihn in der Tasche verstaute, konnte ich den oberen Teil einer hellrosa Rassel sehen. Sie lächelte, aber ihre Augen verrieten, wie unendlich müde sie war. Sie zeigte mir, wie man den Ausweis scannte, den uns die Klinik gegeben hatte. Nun wussten sie, dass wir zu unserem Termin erschienen waren.
»Wird schon«, sagte die junge Frau und wir beide versuchten wegzulachen, dass da unter ihrem Kopftuch keine Haare mehr waren.

Die Getriebene

Energisch und zielgerichtet querte sie den Platz und bannte damit meine Aufmerksamkeit. Unweigerlich zog ich beim Anblick ihrer rechten, bloßen Schulter meine Wolljacke dichter um meinen Körper.
Mein Blick folgte der Frau, die kerzengerade und mit erhobenem Haupt einen Laden betrat. Die Füße in kurzen Gummistiefeln, war sie ansonsten mit einer weiten Hose und dem nur halbseitig ihren Körper bedeckenden grauen Oberteil bekleidet. Ein zerknitterter Strohhut vervollständigte die skurril anmutende Erscheinung. Die Bewegungen erinnerten an ein junges Mädchen, dem die Wahl ihrer Kleidung nicht recht geglückt war.
Es war die stolze Stringenz mit der sich die Frau bewegte, die meine Blicke auf sie zog. An diesem ruhigen Herbsttag genossen die Menschen die letzten Sonnenstrahlen, wohlwissend, dass die Tage gezählt waren, um draußen zu flanieren. Der Marktplatz war gut gefüllt, die Cafés hatten noch ein paar Tische aufgestellt, an denen sich die Hartgesottenen niedergelassen hatten. Sie jedoch hatte es eilig.
Immer wieder entschwand sie in den Geschäften oder zwischen den Menschen, war aber unweigerlich präsent, sobald sie sich in meinem Blickfeld bewegte.

Auf den Moment, in dem sie neben mir stand, etwas Unverständliches nuschelnd, war ich nicht vorbereitet. Ihre ausgestreckte Hand war eine unzweifelhafte Geste. Doch ich war angesichts der Erscheinung zu entsetzt, um angemessen zu reagieren.
Die Frau vor mir war vom Leben gezeichnet. Tiefe Furchen zogen sich durch ihr Gesicht, das unter dem Strohhut von grauen Haarsträhnen eingerahmt war. Nur für einen flüchtigen Augenblick zeigte sich eine devote Gebärde, unterstrichen von dem „Bitte“, das aus der zahnlosen, deformierten Mundpartie geformt wurde. Der fixierende Blick aus den in tiefen Höhlen liegenden grauen Augen und die stolze Körpersprache konterkarierten diesen Moment.

Ich starrte, wo ich nicht starren sollte. Mit Krallenfingern umschloss die linke Hand ein Beutelchen mit bunten Bonbons und eine Plastiktüte.
Mein „Nein“ kam schneller als ich denken konnte, überfordert von ihrer Erscheinung: der halb bloßliegenden, schlaffen Brust, dem überraschenden Alter, dem schneidenden Geruch.
Wie eine Biene von Blüte zu Blüte fliegt, um ihren Ertrag zu sammeln, setzte sie ihren Weg fort, von Mensch zu Mensch.
Mich hat sie beschämt zurückgelassen.

Zwei Tische weiter sitzt sie inmitten ihrer Freundinnen. Sie lachen, scherzen und tauschen Teenagernews aus. Das Übliche eben, welche Band ist angesagt, welcher Song übertrifft alle anderen. Doch sie hebt sich ab, wirkt reifer. Ich frage mich, warum?

Am Alter liegt es nicht. Ich schätze die Mädchengruppe auf 15 oder 16 Jahre. Auch sie. Ich betrachte sie. Sie trägt kein Make up. Ihre langen braunen Haare sind zu einem Pferdeschwanz gebunden. Der Brauenbogen verläuft etwas zu linear und ist zu buschig, um perfekt zu sein. Soeben zeigt sie mir ihr Profil und ich bemerke ihre kleine, abgeflachte Nase. Nein, ihr Gesicht weist nicht den Goldenen Schnitt auf.

Das Gesprächsthema der Gruppe hat sich verlagert. Sie nehmen die Burschen unter die Lupe. Wer steht auf wen. Ich lächle. Wie unbeschwert und frei die Mädchen sind. Da fällt es mir auf. Sie hält sich plötzlich zurück, beteiligt sich nicht an der Diskussion. In ihren grünen Augen liegt ein Funke Traurigkeit. Ihr schön geschwungener Mund zeigt ein Lächeln, das ihre Augen nicht mehr erreicht.

Bisher hatte sie als einzige der Freundinnen eine aufrechte Körperhaltung. Jetzt lehnt sie sich langsam in ihrem Sessel zurück. Mit ihren langen Fingern streicht sie über ihre Stirn. Ob sie Schmerzen hat? Die Freundin rechts neben ihr bemerkt die Geste ebenfalls und legt ihr den Arm um die Schulter. Ein kurzer Blick, wie eine wortlose Verständigung, dann nimmt sie ihre Tasche vom Boden auf. Sie winkt der Bedienung, bezahlt und verabschiedet sich von den anderen.

Wie in Zeitlupe beobachte ich, wie sie sich erhebt. Sie wendet sich in meine Richtung, um das Cafe zu verlassen. Nicht mehr verdeckt von Tisch und Freundinnen erkenne ich, warum sie reifer wirkt. Ich sehe es. Ich sehe ihn. Ihren runden Babybauch.

Klassenfahrt

Du schaust aufmerksam auf das Spielfeld vor dir. Manchmal lächelst du, wenn dein Freund neben dir die Spielregeln übersetzt. Und hin und wieder blickst du nachdenklich und stirnrunzelnd zu den anderen Kindern deiner Klasse. Dann kreuzen sich manchmal unsere Blicke. Ich bin nicht sicher, ob du die Zeit hier genießt. Hast du Spaß? Wächst das Gefühl, dazuzugehören? Du und deine beiden Freunde, die die selbe Sprache sprechen wie du und ähliche Erfahrungen gemacht haben, sitzen oft ein bisschen abseits. Aber heute Morgen habt ihr gespielt und gelacht, wie alle anderen. Am Anfang hast du auf der Bank gesessen und mit ernstem Gesicht alles beobachtet. Heimlich. Als ob du nicht sicher warst, ob du mir, den anderen Kindern, den Lehrerinnen und Lehrern oder dem Spiel trauen könntest. Aber dann bist du dabei gewesen. Hast gejubelt und gelacht, und hast dich sogar mit deinen Freunden unterhalten.
Jetzt siehst du tatsächich so aus, als ob deine Neugier geweckt wurde. Das Spielfeld vor dir ist mit bunten Fabeltieren bemalt und die Spielfiguren sind kleine Gespenster. Dein Team wird das Gespenst mit der blauen Zipfelmützenspitze ins Ziel bringen. Du hast dich gefreut, du magst die Farbe Blau. Ich habe bemerkt, wie du grinsend deinen Freund angestupst hast.
Ein bisschen müde siehst du aus, denn so eine Klassenfahrt ist anstrengend. So viele neue Eindrücke, so schwer ist es, abends Schlaf zu finden. Und Mama ist ziemlich weit weg. In der vierten Klasse ist das sehr aufregend. Viele Kinder aus deiner Klasse sind noch nie über Nacht von zu Hause weg gewesen. Während der Pandemie war das ja sogar gefählich. Die meisten können das nicht so leicht vergessen. Weg von zu Hause sein - das kennen nur wenige. Du schon. Dein Zuhause ist weit weg. Wenn du Heimweh hast, kannst du das gut verstecken. Jetzt lächelst du. Du wirkst entpannt. Heute Nachmittag vertraust du dem Spiel und mir schon ein bisschen mehr. Sehe ich etwa ein bisschen Vorfreude?
Mein letzter Satz geht in einem fernen Grollen unter. Schon wieder. Seit ein paar Monaten passiert das wieder häufiger. Widerwillig mache ich eine Pause und sehe mich um.
dann sehe ich dein Gesicht. Deine braunen Augen sind geweitet. Du hältst den Atem an. Dein Mund ist nur noch ein schmaler Strich. Und dann füllt sich dein Blick mit Tränen. Du erstarrst. Das Kampfflugzeug ist jetzt direkt über uns. Das Grollen des Antriebs bringt die Luft zum Vibrieren.
Deine Panik kann jeder fühlen. MAnche weinen mit. Deine Freunde, die wie du aus der Ukraine geflüchtet sind, haben auch Tränen in den Augen. Ihr drei haltet euch im Arm. Hilflos versuche ich, versuchen die Kinder neben euch, euch Trost zu schenken. Meine Hand liegt auf deiner Schulter. „Alles gut. Alles gut, es passiert nichts. Nur Übung. Freunde. Du bist sicher!“. Dein Freund übersetzt. Ihr schaut euch an. Ich spüre, wie du zitterst.
Endlich ist es wieder still. Du bewegst dich ein bisschen, wischst dir die Tränen aus den Augen. Du bist verschwitzt.
Ich erinnere mich: Vor ein paar Jahren habe ich das schon einmal erlebt. Die Kinder damals sprachen nicht ukrainisch, sondern syrisch. Sie waren vor den gleichen Bomben geflüchtet. Sie hatten die selben Wunden in ihrer Seele. Geht es ihnen heute ein bisschen besser? Konnten die Wunden in ihren Seelen vernarben? Und wird die Zeit bei dir den Schmerz und die Angst heilen können?
Die meisten Kinder sind das erste Mal von zu Hause weg. Sie vermissen ihre Eltern, ihre vertraute Umgebung. Alle kämpfen gegen das Heimweh. Dein Zuhause gibt es nicht mehr. Ich hoffe, dass es deine Eltern noch gibt. Und wage es nicht, darüber nachzudenken.

Der Rucksack

Er sitzt neben mir auf einem dieser neumodischen, aber furchtbar unbequemen Schwingstühlen, wippt nervös herum und klammert sich fast panisch an seinen halb zerschlissenen Rucksack, dessen Reißverschluss nicht mehr ganz schließt und nur durch eine Sicherheitsnadel von einem weiteren Aufreißen abgehalten wird. Ich frage mich schon die ganze Zeit, was darin sein mag, das derart gut behütet werden will und offenbar ein deutliches Gewicht hat.
Wir warten.
Es dauert eine halbe Ewigkeit.
Ich versuche immer wieder, ein Gespräch mit ihm anzufangen, aber seine dunkelbraunen Augen, die in tiefen Höhlen liegen, schleudern mir geradezu hunderte Fragezeichen entgegen. Er will mich mit einem Lächeln und einer Menge Händegefuchtel davon überzeugen, dass er den Sinn meiner Worte versteht, doch seine hoffnungslose Mimik, die fragend hochgezogenen Augenbrauen und die hängenden Schultern bezeugen das Gegenteil. Er versteht mich nicht.
Wieder kehrt Stille ein.
Ein Raum weiter quietscht ein Drucker, woraufhin ein leises Fluchen zu vernehmen ist. Es wird also noch etwas länger dauern.
Ich betrachte den Mann neben mir, der nur unter sich schaut, sich an seinen Rucksack klammert und mit den Gedanken weit, sehr weit weg zu sein scheint. Ich sehe die schmutzigen Kleider, die er trägt, die abgewetzten Turnschuhe, eine dilettantisch geflickte Naht am Taschensaum der hellblauen Jeans, die nicht aus modischen Gründen extra ausgeblichen aussehen soll, sondern es wirklich ist, weil sie wahrscheinlich schon lange den Zenit des vom Herstellers beabsichtigten Lebensalters überschritten hat. Und obwohl es auf den ersten Blick so erscheinen mag, dass der Mann neben mir, absolut heruntergekommen ist, erkenne ich, dass er sich Mühe gibt, aus seinen bescheidenen Verhältnissen, das Beste zu machen. Bei genauerem Hinsehen ist es eben nicht nur die eine Naht an der Jeans und die eine Sicherheitsnadel am Rucksack, sondern eine Vielzahl an kleineren Reparaturen, die darauf schließen lassen, dass er sehr am weiteren Bestand seiner wenigen Habseligkeiten interessiert ist.
Ich überlege, wie ich ihm am besten seine schwierige Situation verständlich erklären soll, so dass er es auch versteht, und welche weiteren Schritte sinnvoll wären.
Gerade, als ich zu einem neuen Gespräch mit Händen und Füßen ansetze, kommt der Bankberater zu uns zurück und händigt mir die Kopien der Kontoeröffnung des Mannes neben mir aus. Das Konto, mit dem der Mann aus einem fremden Land, ein kleines Stück Selbstbestimmtheit zurückerlangt. Ein breites, vor allem aber ehrliches Lächeln, huscht über sein Gesicht. Doch so schnell es da war, so schnell wurde es von der Hoffnungslosigkeit hinfortgeweht. Denn er wird wissen, dass das Konto alleine nicht seine nahezu ausweglose Situation beenden wird. Was nutzt ihm das Konto, wenn dort kein Geld eingeht. Ich kann ihm an seinen tiefen Stirnfalten ablesen, dass er sich gerade Gedanken darüber macht, wie er schnellstmöglich seinen neuen Arbeitgeber davon überzeugen kann, ihm einen Vorschuss auszuzahlen.
Ich spreche ihn an und deute mit gespreiztem Daumen und kleinem Finger, die ich an mein Ohr halte, an, dass ich seinen Chef anrufe und ein gutes Wort für ihn einlege, in der Hoffnung, dass dieser nicht noch zwei Wochen, bis zum regulären Zahltermin, wartet. Diese Geste und das Wort Chef scheint er dieses Mal wirklich verstanden zu haben. Erleichtert sackt er ein wenig im Schwingstuhl zusammen, um sich kurz später wieder aufzurichten. Denn trotz seiner sorgenvollen Situation hat er seinen Stolz nicht verloren. Ich kenne nur wenige in seiner Situation, die es trotz dieser Umstände immer wieder schaffen, einen Job zu finden, egal was es auch sein mag.
Der Bankberater versucht, höflich zu sein, doch ich sehe ihm an, was er denkt. Er schaut immer wieder mitleidig zu mir, eher er einen noch mitleidigeren Blick meinem Stuhlnachbarn zuwirft. Der Bankberater wird nicht verstehen, was in diesem Mann vorgeht. Das muss er auch nicht. So lange der Mann, der sein Bestes versucht, die Hoffnung nicht aufgibt und weiterhin an sich glaubt.
Es sind noch einige kleinere Formalitäten zu klären, die ich mit dem Bankberater abwickele, bevor ich dem Mann neben mir erkläre, dass er es jetzt geschafft hat und wir gehen können.
Dankbar reicht er mir die Hand, die danach schnell wieder an den Rucksack fasst, sodass er nicht weiter aufreißt.
Meine Neugier muss mir ins Gesicht geschrieben stehen, den er schaut mich an, dann auf den Rucksack und wieder zurück zu mir. Der Mann presst seine Lippen zusammen, sodass sie weiß werden. Dann hockt er sich hin, öffnet den Rucksack, greift mit einer Hand hinein und überreicht mir eine Hand voller Walnüsse.
Dankend nehme ich sie an und frage ihn dennoch leicht irritiert, was er mit einem Rucksack voller Walnüsse macht und wo er diese her hat. Mit einem Wirrwarr aus Arabisch, Englisch und Deutsch antwortet er, dass er die Nüsse gesammelt habe, damit er diese Woche noch etwas zu essen hat, bis das Geld kommt.

Erstes Date

Er ist kleiner, als ich erwartet habe. Mit dem Blick auf die S-Bahn-Gleise gerichtet, lehnt er locker an dem eisernen Geländer der Überführung. Ich bin nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, da wendet er sich mir zu und lächelt mich fragend an.
Seine braunen Augen strahlen eine unergründliche Tiefe aus. Diese Augen, gerahmt von dunklen langen Wimpern, können nicht lügen. Sie zeigen unmittelbar, wie es der Seele des Menschen geht, dessen attraktives Gesicht sie so vollkommen machen. Ein Mann, der schon viel erlebt hat. Viel Schönes, aber auch Schmerzliches und Enttäuschendes. Der dunkle Bart steht in starkem Kontrast zu den glänzend weißen Zähnen, die sich, als das Lächeln des Mannes breiter wird, entblößen.
Wir umarmen uns ein wenig unbeholfen. Versuchen, vermutlich beide, unsere Unsicherheiten zu überspielen, indem wir lässiger tun, als wir sind. Er ist auffällig muskulös und er riecht gut. Ein Geruch, in den ich am liebsten hineinschlüpfen würde. Ein Duft, aufregend und Geborgenheit versprechend zugleich.
Wir lösen uns voneinander, wenden uns in Richtung des Parks, indem wir uns zum Spazierengehen verabredet haben. Er ergreift das Wort. Seine Stimme klingt angenehm. Sie verspricht Offenheit und Wärme: „Hatte nicht damit gerechnet, dass du so groß bist.“

Die Frau vor mir ist unscheinbar, nur eine Gestalt in der Menge. Nichts, dass sie auf Anhieb von den anderen abhebt. Eine Mittvierzigerin in schwarzer Hose, grauem Pulli und einer braunen Kunstlederjacke. In der Hand eine schwarze Handtasche. Sie wäre jemand, der mir als farblose Gestalt ohne Gesicht in Erinnerung bleiben würde. Ich tue mich schwer, mir Menschen zu merken. Gesichter sind für mich nur ein grauer Schleier, der verblasst, sobald der Mensch aus meinem Blickfeld verschwunden ist. Doch diese Aufgabe verlangt meine volle Konzentration, sie verlangt, dass ich genauer hinschaue, und so tue ich es, während die Frau vor mir an der Kasse ihre Einkäufe bezahlt. Ich registriere die Schlammspritzer am Saum ihres Hosenbundes und die Naht an der Handtasche, die sich auflöst. Kleine Unperfektheiten, die sie ausmachen.
Mir fällt auf, dass ich nicht einmal ihre Haare wahrgenommen habe. Aschblond, durchzogen von ein paar hellgefärbten Strähnen. Und ihre Augen? Graublau, stählern und ein bisschen überschminkt für meinen Geschmack, aber ich selbst bin auch kein Meister des Makeups, wer bin ich also darüber zu urteilen. Die Augen blicken nachdenklich, während sie das Geld abzählt. Sie kramt im Kleingeldfach auf der Suche nach den passenden Münzen. Was diese Augen schon alles gesehen haben, in ihren über vierzig Jahren? Freude, Trauer, Schicksalsschläge, Hoffnung?
Ich gebe mir Mühe, nicht zu starren, während ich ihr Gesicht mustere. Die Lippen sind schmal. Sie hat versucht, sie etwas breiter zu schminken, doch ohne viel Erfolg. Dünne Falten haben sich um Mund und Nase eingegraben. Lachfalten, stelle ich fest, und mit einem Mal ist mir die Frau sympathisch. Ich mag Menschen, die viel Lachen. Ich würde sie gerne näher kennenlernen, erfahren, was ihr Leben ausmacht, was sie zum Lachen bringt. Sie hat bestimmt viel zu erzählen, hat viele Abenteuer erlebt und Weisheiten zu teilen. Doch die Frau bezahlt und geht. Ich werde sie vermutlich nie wieder sehen.
Die Menschen in der Menge sind wie Statisten in meinem Leben und dabei vergesse ich oft, dass hinter jeder einzelnen Gestalt ein ganzes Leben steht. Und in deren Leben bin ich selbst nur ein Statist in der Menge, mit einem grauen Schleier als Gesicht.

Wie gelähmt starrte er auf seinen Monitor. Zu keiner Regung fähig. Zu fast keiner. Scrollen konnte er noch. Und wie. Mit jeder Umdrehung des kleinen Rädchens seiner Mouse wurde ihm schwindeliger. Gerade einmal zweiundvierzig Minuten war der Aufruf zum neuen Schreibimpuls online, da stapelten sich bereits gut vierzig Antworten. Er hatte in dieser Zeit noch nicht einmal die Aufgabe verstanden. Nur schwer gelang es ihm, das Gesehene zu verdauen. Lesen? Lieber Himmel. So also sah die Büchse der Pandora aus. Einen Moment zögerte er noch. Dann verfasste er seinen Beitrag. Widerstrebend aber artig, wie es sich gehörte. Was er schrieb? Völlig egal. Würde eh niemand lesen. War schließlich ein Schreibforum.

Schreiben ohne Fantasie?

Wort für Wort taste ich mich vorwärts. Satz für Satz entsteht, während die Tinte aus dem Füller fließt.

„Hallo!“

Ein Junge kommt herein, legt einen zerknitterten Geldschein auf die Theke, sucht sich etwas aus und verlässt die Bäckerei mit einer Tüte in der Hand.

Ist es schon so weit gekommen, dass ich aufschreibe, was ich sehe?

Dass keine Geschichten mehr aus meiner Fantasie sprießen, so wie früher die Krokusse, die im Februar unsere Schrebergartenwiese tupften?

Vor mir strecken helle Baguette-Stangen ihre knorrigen Hälse aus einem Flechtkorb. Moderne Bäckereien halten wieder mehr auf „Traditionelles“: Weidenkörbe statt Edelstahl-Wannen, schrundige Roggenkruste statt flaumweichem Kastentoastbrot.

Nur der Kompressor der Thekenkühlung gibt hartnäckig Laut, dass in unserem Taunusdörfchen die Elektrizität Einzug gehalten und auch die Dorfbäckerei nicht verschont hat.

Die Bäckersfrau telefoniert. Sonst ist nicht viel los um diese Tageszeit. Außerdem rütteln die Baumaschinen draußen auf der Straße jedes Gespräch durcheinander.

So kann ‑ und muss - die Bäckersfrau sich Zeit nehmen, einzelne Wörter aus der Bestellung nachzufragen. Dann hängt sie auf, notiert die Anzahl der zurück zu legenden Körnerbrötchen und wirft noch einen prüfenden Blick auf die Lampe über meinem Tisch.

Sie erzählt mir, dass Frühstücksgäste gerne die Glühbirne herausdrehen, weil sie früh am Tag noch nicht viel Licht vertragen. Gut, der Lichtschalter an der Wand ist ein bisschen verborgen unter dem Reklameplakat für knusprige Sirtakistangen, lecker mit Kümmel und Salz – ein Stück Butter dazu und ich bin im siebten Bäckereicaféhimmel.

Und Frühstücksgäste fragen wohl nicht gern. Oder ihnen fehlt die Geduld zu warten, während die Bäckersfrau einem Kunden nach dem anderen die Frühstücksbrötchen eintütet.

Oder man will sie dabei vielleicht einfach nicht stören, also lieber ohne großes Tamtam die Glühbirne selbst raus drehen. Da muss dann die Bäckersfrau mittags doch noch mal ran, sie wieder rein drehen, wenn der Schriftsteller kommt.

„Der Schriftsteller“, das bin ich.

Mir ist das ziemlich egal, denn um die Mittagszeit kommt genug Tageslicht durchs große Schaufenster herein, so dass meine Tinte ohne Probleme aufs Papier findet.

Andererseits empfinde ich Dankbarkeit für diesen Erzählfaden, an dem ich mittlerweile 47 Normzeilen aufreihen kann, obwohl ich mich zu Beginn eher wortweise vorwärts tastete.

Geht Schreiben also doch ohne Fantasie?

Ohne das Schöpfen aus dem Unterbewussten, ohne Erinnerungen anzuzapfen, ohne mir etwas vorzustellen – Schreiben einfach so, aus der Welt durch die Augen, die Ohren, Mund, Nase, direkt über die Hand und den Füller aufs Papier?

Na ja, als Trockenübung vielleicht … aber die Vorstellung dazu, wie sich ein übereifriger Frühstücksgast beim Glühbirne herausdrehen die Finger verbrennt, lässt mich ziemlich breit grinsen.

Berufung

Ich sitze unruhig in meiner kleinen Nische der Bar, er mir gegenüber. Eigentlich fehlt mir die Zeit. Eigentlich fehlt es doch immer an Zeit. Aber da war diese Ebay-Anzeige. „Syrischer Arzt sucht neue Bekanntschaften, um die Sprache besser zu lernen.“ Und jetzt sitzt er vor mir. Weißes Hemd, dunkles Sakko. Seine Körpersprache ist ambivalent. Da ist Ruhe in seinen intelligenten, dunklen Augen, Ruhe und Willensstärke. Aber ich sehe auch die gleiche Unrast, die mich umtreibt. Ungeduld, Zeitnot, Angst vor der Zukunft, die sich in schwierigen Zeiten an die Seele haften und sich in Mimik und Gestik manifestieren. Diese Unrast ist immer dann zu sehen, wenn ihm wirklich mal die Worte fehlen, was nicht häufig vorkommt; wenn er die Hände zur Hilfe nimmt, um sie kurz darauf wieder in den Schoß fallen zu lassen. Sie flackert dann kurz in seinen Augen auf. Der gebildete Mann, Chirurg, der erst dann eine allgemeine Arbeitserlaubnis bekommt, wenn er den Deutschtest vor der Ärztekammer besteht, auch wenn ihm auch Arbeit unter seiner Qualifikation gerade helfen würde, nur um von deutscher Sprache umgeben zu sein. Man versteht ihn bereits nach zwei Jahren hervorragend, die Ärztekammer will sprachlich mehr. Wir lachen gemeinsam über den deutschen Hang zum Zertifikat, während er am Cappuccino nippt. Er möchte korrigiert werden, hört zu, wenn ich ihm Grammatik erkläre und erzählt mir im Gegenzug von seinem Leben in Syrien, dem Studium in der Ukraine, der Arbeit als Assistenzarzt in Saudi Arabien. „In drei Monaten geht es erneut in die Berufung“, sagt er und ich muss das einzige Mal etwas erklären. Den Unterschied zwischen Beruf, Berufung und Prüfung. Das sei ein typisches Problem der arabischen Sprache, „B“ und „P“ nicht sauber auseinanderhalten zu können. Er schaut auf seine Hände, die ruhigen Hände eines Chirurgen. Nichts an ihm verrät Arbeitslosigkeit und das Ringen um Normalität. „Es ist schwer“, sagt er einmal. Das ist alles. Er meint nicht nur die Sprache, er meint das Leben an sich. Am Ende des Abends habe ich dennoch das Gefühl, mehr gelernt zu haben als er.

Theo

Sein kurzes, kräftiges Haar war silbrig weiß und akkurat geschnitten. Die Morgensonne lies es leicht roséfarben schimmern ähnlich einem Heiligenschein. Doch der Rest seiner Erscheinung hatte nichts zartes, weiches. Muskulös und sehnig war sein Körper, ohne jedes Gramm Fett. Seine Haut, im Gegensatz zu vielen anderen seines betagten Alters, wirkte etwas trocken aber immer noch straff. Jetzt, während er seine hundert Liegestütze auf der Terrasse absolvierte, traten die Sehnen an den Unterarmen wie Drahtseile unter der hellen, vom Wetter gegerbten und mit weißen Haaren besetzten Haut hervor. Die Sommersprossen auf den Oberarmen, Schultern und im Nacken, tanzten im Rhythmus seiner ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen auf und nieder als würden sie schon für die bevorstehenden Kniebeugen üben. Die grüngraue Jagdhose trug er, wie gewohnt, mit grauer Koppel. An den riesigen Füßen glänzten die schwarzen Stahlkappenschuhe, die ihn tagein, tagaus durch Feld und Flur, auf den Acker und in die Berge trugen. Sie hatte einige Zeit gebraucht, um sich an den täglichen Anblick zu gewöhnen. Früher hatte sie sie allein mit Marschbefehlen und Auslandseinsätzen verbunden. Sein Shirt, in passendem Grünton, lag, noch Kante auf Kante gefaltet, auf dem alten Korbsessel, in den er Elfi Tag für Tag gesetzt hatte, bevor sie darin für immer eingeschlafen war. Lottes Blick glitt zurück zu ihrem Schwiegervater, zu dem schlichten, goldenen Ehering, der ihn immer noch mit Elfie verband und der immer etwas zu schmal, fast zerbrechlich, an seiner großen, kräftigen Hand wirkte, die sich für keine Arbeit zu schade war.

Langsam und ruhig, kein bisschen aus der Puste, setzte er jetzt ein Bein unter seinen Körper, nahm die Hände vom Steinboden und streckte sich zu seiner vollen Größe als wäre er erst Mitte Vierzig. In seinen Bewegungen lag nichts Hecktisches, seiner Person nichts Gebeugtes. Nichts schien er von seiner respekteinflößenden Haltung durch die Ereignisse und Jahre verloren zu haben. Im Gegenteil, auf sie wirkte er auf fast übermenschliche Art größer und stärker denn je. Eine Brise frische Morgenluft mischte sich mit seinem Geruch nach frischgeschnittenen Nadelholz und kitzelte ihre Nase. Er schwitzte noch nicht einmal. Allein seine warmen, braunen Augen, die von unzähligen Lachfältchen umrahmt wurden, sprachen von Pein, Verlust und Erkenntnis, von zu viel Leid, Tod und Sinnlosigkeit. Doch gleichzeitig hatten sie etwas Forschendes, Lebendiges, Herausforderndes, sprachen von Zuversicht und Freude am Leben. Um seine geschwungenen Lippen lag wie immer dieser Zug von Entschlossenheit, den sie bewunderte. Keiner verbitterten, sondern einer positiven, welche seinen Mund stets zu einem breiten Lächeln verzog, wie in diesem Augenblick, da er sie direkt ansah. Links und rechts der Mundwinkel warfen seine Wangen Falten wie die Vorhänge am Fenster und das Grübchen in seinem kantigen Kinn vertiefte sich fast zu einem senkrechten Strich.

Alles an ihrem Schwiegervater strahlte die Würde eines stolzen, alten, aber sehr warmherzigen Keltenkriegers aus, selbst jetzt, da er nur halb bekleidet war. Er war Herr und Herrscher über jeden Muskel, jede Sehne, aber vor allem über seinen Geist und sein gewaltig großes Herz, dass seine hünenhafte Gestalt und seinen Stolz bei weitem übertraf.

Sie wusste, dass er alles für sie und Matts Kinder tun würde, ihre Kinder, seine Enkel. Dankbarkeit, tiefe Dankbarkeit für diesen Mann flutete ihr Herz.

„Guten Morgen, Theo. Möchtest du auch einen Kaffee?“, fragte sie ihn, obwohl sie die Antwort schon kannte.

Im Supermarkt

Die Frau ist mir schon im Verkaufsraum aufgefallen, bevor sie ihren üppigen Busen an der Kasse erschöpft auf dem Handlauf des Einkaufswagens ablegte. Es war ihr zackiger Schritt, der meine Aufmerksamkeit erregte; das schnelle KLACK-KLACK-KLACK ihrer Absätze. Eine unpassend hektische Störung zwischen vermummten und geräuschlos schleichenden Gestalten.

Ich lege die Rahm-Mandel-Schokolade in meinen Korb und warte, bis sie an mir vorbeigestöckelt ist. Jetzt sehe ich sie zum ersten Mal. Eine zierliche Person, verpackt in einem dunkelgrauen Anzug aus mattem, hochwertigen Stoff. Sie trägt schwarze, hochhackige Stiefeletten, die ihre Größe auf geschätzt einen Meter sechzig verlängern. Nach diesem Anblick interpretiere ich das anhaltende KLACK-KLACK-KLACK als schreiende Ankündigungen: Aus dem Weg! Hier komm ich!

Die hellbraunen Haare fallen ihr dabei in leichten Wellen über die Schultern und wippen bei jedem Schritt auf und ab. Es wirkt verspielt und passt überhaupt nicht zu ihren stakkatoartigen Bewegungen. Zielstrebig und nur im Vorübergehen greift sie mit einer Hand ins Regal nach dem Salat – einer Fertigpackung, inklusive Dressing. Wie vorhersehbar.

Ich schaue auf meine Tafel Schokolade, hm.

Das Klacken wird langsamer – dann Stille. Ich schiele zu ihr herüber. Sie hat sich um neunzig Grad nach links gedreht, beugt sich zu dem Joghurt. In meinen Augenwinkeln verwandelt sich die grazile Gestalt in einen Felsblock. Ich drehe den Kopf und starre sie jetzt regelrecht an. Der imposante Busen unter dem zugeknöpften Blazer passt so gar nicht zu ihrem rückwärtigen Anblick. KLACK-KLACK-KLACK.

Irritiert verfolge ich, wie sie zum Kassenbereich spurtet, trete sogar aus dem Gang heraus, um sie nicht zu verlieren. Sie rauscht an einem jungen Azubi vorbei, dem in genau diesem Moment etwas aus der Hand fällt. Staunend beobachte ich, wie die Frau sich in einer geschmeidigen Bewegung umdreht, bückt, es aufhebt und dem Jungen lächelnd übergibt. Und bevor dieser überhaupt reagieren kann, hallen ihre sich entfernenden Schritte wieder durch die Gänge. Er ist genauso verwirrt wie ich von dieser freundlichen Geste, stiert ihr mit offenem Mund hinterher.

Begegnung in der Abenddämmerung

Die alte Frau beugt sich langsam über einen der grünen Müllbehälter, die rundum der inzwischen menschenleeren Liegewiese im Stadtparkt aufgestellt sind. Sie fängt an, den Inhalt mit Ihren Händen zu durchwühlen. Ihr schäbiger Mantel wird nur von zwei großen Knöpfen zugehalten. Darunter trägt sie einen fleckigen Wollpullover mit mehreren Löchern, die den Blick auf eine bunte Bluse zulassen.

Ein schwarzer Herrenhut, den sie auf dem Kopf trägt, ist staubig und die Krempe hängt vorne weit in ihr Gesicht. Einige graue Haarsträhnen trotzen dem böigen Wind und flattern unter dem Hut hervor. Um den Hals hat die Frau einen dicken, gestrickten Schal gewunden, der auffallend neu und sauber aussieht.

Irgendwas scheint sie jetzt gefunden zu haben, denn sie richtet sich plötzlich auf und ein Lächeln huscht über ihr faltenzerfurchtes Gesicht. In ihren Händen hält sie zwei leere Plastikflaschen. Offensichtlich gibt es dafür Pfand, denn die Flaschen verschwinden augenblicklich in einer blauen Plastiktüte, die sie während des Suchens zwischen ihre dünnen Beine geklemmt hatte.

In leicht zerschlissenen Schuhen schlurft die Frau zum nächten Abfallkorb. Dabei wird eine graue Jogginghose unter dem langen, schäbigen Mantel sichtbar. An einem der Hosenbeine scheinen Grasflecken zu sein.

Ich frage mich, ob sie obdachlos ist und wie und wo sie lebt. Flaschen sammeln ja auch Menschen, die nicht obdachlos sind. Aber ihre ärmliche Erscheinung bestärkt mich in der Annahme, dass sie keine feste Wohnung hat.

Einige Minuten und zwei erfolglose Suchen in weiteren Behältern später dreht sie sich zu mir hin und sagt mit zitternder Stimme: „Was willst Du, warum beobachtest Du mich?“ „Verzeihung …“, sage ich leise, „Ich will nichts von Ihnen. Ich frage mich aber, warum Sie Flaschen sammeln und ob Sie obdachlos sind.“

Sie steht nun ganz aufgerichtet und schaut mich mit leicht zugekniffenen Augen an. Die knochige Hand, mit der sie ihre blaue Tüte festhält, zittert ein wenig. Auf dem Handrücken erkenne ich bläuliche Äderungen und mehrere dunkle Flecken.

„Was geht es Dich an, mach Dich weg!“, antwortet sie mir mit etwas festerer Stimme. „Du bekommst nichts von meinen Flaschen ab. Das ist mein Revier, die ganze Wiese und alle Abfallbehälter!“ Ihren Worten verleiht Sie weiteren Ausdruck, indem Sie mit Ihrem freien Arm hin und her zeigt.

„Nein, ich möchte nichts von Ihnen“, sage ich nun auch etwas lauter. „Ich habe nur gesehen, wie Sie die Behälter durchsuchen und frage mich, wie es Ihnen geht.“

Ihr Mund wird zu einer schmalen Linie, als Sie den Blick senkt. „Wie soll es mir gehen? Das siehst Du doch?“ - „Verschwinde, lass’ mich in Ruhe, ich habe zu tun!“ Sie wendet sich wieder den Mülleimern zu und kramt weiter.

Ich sehe ihr noch eine Weile zu und frage mich, ob meine Neugier unangemessen war, vielleicht sogar ein wenig übergriffig. Dann schlendere ich in Richtung des nächsten Papierkorbes, den sie gleich durchsuchen wird, und lasse einen Geldschein reinfallen, den ich auf dem Weg dorthin aus meinem Geldbeutel genestelt habe. Auch damit bin ich unsicher, ob das nicht auf eine andere Art übergriffig sei. Aber den Gedanken verwerfe ich schnell wieder, als hinter mir ein leises „Juhuuu!“ zu hören ist.

Mit versteinerter Miene stehst du da und lässt den Blick über den kleinen Platz schweifen. Dein Gesicht ist grimmig, zerfurcht, als wärest du viel zu lange draußen gewesen.
Reglos stehst du da, neben der Haustür an der Wand. Ich mustere dich unauffällig. Dein Körper ist kräftig, die Muskeln treten unter der Haut klar definiert hervor. Obwohl du nicht viel anhast, scheint dir das Wetter nichts auszumachen. Nicht einmal als ein kalter Windhauch dich trifft, ist eine Bewegung auszumachen.
Mein Blick kehrt zurück zu deinem Gesicht. Du hast es verzogen, als laste ein schweres Gewicht auf dir.
Ich mache einen Schritt auf dich zu, unter das Vordach, das du auf deinen Händen trägst und lese die Tafel, die neben dir an der Hauswand angebracht ist. „Statue des Atlas“.

Dünne Lippen stülpen sich nach vorn. Die Konturen zu ihrer blassen Gesichtshaut fast nicht zu erkennen.
KLACK.
Sie kräuselt ihre Nase, so wie sie es immer macht, bevor sie etwas sagt.
„Poseidon“, ruft sie und nimmt ihren Arm wieder runter. Herr Overkamp nickt. Nicht nur heute ist sie die Einzige, die unentwegt ihren Finger nach oben zeigt. Manchmal nervt mich schon diese immergleiche Bewegung. Dieses immer wiederkehrende Reiben an meiner Jacke, an der ihr Ellenbogen entlang schleift.
KLACK.
„Streberin“, tuscheln die anderen. „Die ist komisch“, „ihre Haare sind eklig, überall hängen sie“, erzählen sie. „Sie hat immer die gleiche Hose an“, lachen sie und würgen. Husten.
Ich schäme mich.
Meine Sitznachbarin bleibt sitzen. Rührt sich nicht. Ihr Arm hebt sich wieder. Ich schaue auf ihre hellblaue Jeans, die ihre Beine wie Stelzen umhüllt. In den Kniekehlen bündeln sich dicke Falten mit weißem Schleier. Solche, die sich nicht mehr glätten, wenn man aufsteht. Ja, die Hose ist fast jeden Tag in Gebrauch.
KLACK.
Das Geräusch ähnelt dem Quietschen von Kreide an der Tafel. Ich zucke zusammen und stoße sie an. „Lass das“, flüster ich ihr zu. Sie reibt ihre Fingernägel aneinander, pult den Schmutz darunter hervor. Ein kleiner, grauer Punkt fällt runter.
KLACK.
Ich räusper mich. Endlich hört sie auf. Kichern hinter mir. Keiner akzeptiert sie. Jede Pause verbringt sie allein auf dem einen Stein auf dem Schulhof. Manchmal rede ich mit ihr. In letzter Zeit sogar öfter. Sie ist sonderbar. Sie schmeißt ihre blonden Haare hinter ihre Schultern.
„Sie benutzt sie bestimmt als Zahnseide“, lästern die anderen. „Oder putzt ihren Po damit ab. Hängen die nicht im Klo, wenn sie sitzt?“

Ich weiß, dass sie alles hört. Eine unmerkliche Bewegung nach rechts, die sachte Neigung ihres Kinns nach unten und ihr Blick ins Leere verraten es mir. Sie tut mir leid. Es ist erstaunlich, wie selbstbewusst sie sich gibt. Immer mehr Zeit verbringe ich mit ihr, und an einigen Tagen höre ich sogar ein Lachen aus ihrem Mund. Gefolgt vom Kräuseln der Nase und des Zurechtrückens der Brille. Sie weiss viel von der Welt. Politik, Geschichte, Sprachen. Ich fühle mich ungebildet neben ihr. Wenn sie mit jemandem nicht reden mag, dreht sie sich um. So kenne ich es nur von autistischen Menschen. Aber das ist sie nicht. Oder doch?

Eines Tages fahr ich zu ihr nach Hause. Wir wollen zusammen zeichnen, denn ihre Bilder, die sie nebenbei herumkritzelt, faszinieren mich. Ich stelle mein Fahrrad vor dem Wohngebäude ab. Ich drücke die Tür auf und gehe durch einen Flur die Treppe hinauf. Es ist dunkel hier. Die Wohnungstür knarrt, sie steht da. Mit ihrer hellblauen Jeans.
„Komm rein“, sagt sie. Ich folge ihr und stolpere über Schuhe, Kartons und Bürsten. Die Energiesparlampe wird nicht heller. Ihr Zimmer ist frei von den Kisten. Beige Möbel stehen hier, die vielleicht einmal weiß waren.
„Ist keiner hier?“ Frage ich.
Sie schüttelt den Kopf und kräuselt die Nase.
Ein Stöhnen erklingt. Sie macht kehrt und läuft in ein anderes Zimmer. Ich gehe in den Flur und spähe hinein. Graue Laken und Kissen behindern die Sicht. Eine Person, bedeckt mit Stoffen, liegt dort. Leise Stimmen dringen in mein Ohr. Sie kommt wieder.
„Ist alles in Ordnung?“, Frage ich.
„Meine Mama nur“, sagt sie. „Sie ist sehr krank.“
Ihre Finger graben sich ineinander fest.
KLACK.
„Lass uns zeichnen“, sagt sie und ich setze mich.

Seit beinahe zwanzig Tagen liegst du hier im Bett. Tag um Tag, Schicht um Schicht kümmert sich jemand anderes um dich. Je nachdem, ob die Zeit es zulässt, so würdevoll wie es dir zusteht oder nicht.

Deine Operation war kompliziert. Wenige Stunden, nachdem du deinen Bettplatz bezogen hattest, traten abermals Komplikationen auf. Dein Herz begann zu rasen, während dein Blutdruck abfiel. Für kurze Momente konnten wir dich stabilisieren. So lang, bis die Ärzte den Grund gefunden hatten.

Von all dem hast du scheinbar nichts mitbekommen. Warst du doch tief narkotisiert. Mit friedlichem Gesichtsausdruck lagst du da, als die Menschen um dich herum alles taten, um deinen Kreislauf des Lebens zu erhalten.

Nach einer weiteren Operation kamst du mit einem weiteren Gerät zurück. Dein Herz war zu schwach, um das rote Elixier selbst in die kleinsten Fasern deines Körpers zu pumpen. Zwei Schläuche, so dick wie zwei meiner Finger zusammen, zierten deine Leisten. Auf jeder Seite einer. Eine künstliche Einbahnstraße und in der Mitte ein Gerät, welches nicht nur dein Blut mit Sauerstoff bereicherte, sondern auch dein Herz unterstützte. Zum Glück brauchte dein Herz nicht lang, bis es sich berappelte. Wenige Tage nach dem Einbau, konnten die Ärzte das Gerät samt der Schläuche entfernen.

Die gesamte Zeit über sahst du so aus, als ob du schliefst, während dein Körper tat, was von ihm verlangt wurde.

Weitere Tiefs blieben nicht aus. Als die Entzündungswerte stiegen, versagte dein Klärwerk als erstes seinen Dienst. Ein neuer Schlauch wurde gelegt. Viel dünner als die letzten, aber dick genug für einen weiteren externen Stoffaustausch an einem Gerät, um dein Blut von Abfallstoffen zu reinigen.

Jeden Tag kam der Mensch, den du entschieden hast zu heiraten. In Gesprächen wird schnell klar, wie lang ihr euer Leben schon teilt. Dein Mensch schwankt mehrmals täglich zwischen Hoffen und Bangen. Sucht in jedem Wortwechsel mit den Ärzten oder Pflegekräften den rettenden Strohhalm. Sah es den einen Tag gut für dich aus, kam der Wind plötzlich aus einer anderen Richtung und riss alle Hoffnung mit sich.

Zwischendurch schlichen wir die Schlafmittel aus. Die Ärzte wollten wissen, ob du noch da warst. Wir warteten auf Reaktionen, doch nichts geschah. Es folgten weitere Untersuchungen. Dieses Mal betrafen sie deinen Kopf. Auf den Bildern war kein Grund für deine Abwesenheit erkennbar. Wir entschieden zu warteten und hofften, dass du deinen Weg zurückfinden würdest.

Dein Lieblingsmensch wurde reflektierter. Sah, trotz des atemnehmenden Schmerzes, von Besuch zu Besuch objektiver. Weiß, dass der Aufenthalt bei uns euch für immer trennen kann.

Gerne wollten die Ärzte dir einen Luftröhrenschnitt machen und um dort eine Kanüle einzulegen. Der Tubus musste entfernt werden und die kurze Kanüle würde angenehmer für dich sein. Dein Mensch willigte ein, in der Hand das richterliche Schreiben, welches die Liebe deines Lebens als offiziellen Betreuer bestimmte.

Dann kam die Nacht, in der sich alles änderte. Der Kollege erkannte eine Pupillendifferenz. Sofort wurde dein Kopf abermals untersucht. An diesem Tag sah deine Prognose nicht gut aus. Blut verdrängte dein Gehirn. Drückte es ab. Auch die konsularischen Ärzte der Fachklinik sahen keine Möglichkeit mehr dir zu helfen. Zu groß war das Ausmaß, zu schwer wog deine Erkrankung.

Wir alle schluckten schwer. Hatten wir doch bis zuletzt gehofft, dass du einen anderen Weg einschlagen würdest.

Dein Lieblingsmensch kam. Dieses Mal nicht allein. Menschen, die dich geliebt und lange begleitet hatten, sind dabei. Die einen waren gefasst, die anderen in Tränen aufgelöst. Das ist in Ordnung. Jeder ging mit seiner Trauer anders um. Und doch vereinte sie in dem Moment eine Sache: Keiner von ihnen wollte dich, im schwärzesten Tief deines Lebens, alleine lassen.