Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Das Sofa war teuer gewesen. Nicht hochwertig. Aber der nette Verkäufer hatte die Vorteile des neuen Microfaserstoffs in den höchsten Tönen gelobt und gezeigt, wie einfach sich alle Arten von Flecken entfernen lassen. Schon nach kurzer Zeit hatte sich der Bezug an den viel genutzten Stellen so abgerieben, dass von dieser Eigenschaft nichts mehr übrig geblieben war. Nun lagen Decken straff gespannt über den Sitzflächen und waren in die Ritzen gestopft worden. So viel Ordnung musste sein. Unmengen geschmackloser Kissen konnten nicht verbergen, dass es einen Lieblingsplatz gab, denn die Rückenlehne war dort speckig geworden. Aber es es gab nur eine solche Stelle und die sah man eigentlich nie.

Der Tisch vor der Couch war groß genug, um allem Platz zu bieten, was gerne in Reichweite gehalten wurde. Alle Fernbedienungen, das wöchentlichen TV-Blättchen, Festnetztelefon und Handy zusammen mit dem alten Adressbüchlein, dessen Design schon in den Achtzigern altbacken gewesen war. Stifte und Zettel lagen auf dem Sudokuheft für Anfänger. Wenn man nicht explizit hinsah, fiel die Staubschicht gar nicht auf. Ein unbenutztes Glas und eine ungeöffnete Flasche Wasser standen etwas weiter hinten, ebenso der Teller mit einem kaum angebissenem Marmeladenbrot. Der leere Kaffeebecher war ein Mitbringsel von einem Urlaub auf den Kanaren und als Aschenbecher funktionierte eine große, flache Muschel. Das Menthol in den Zigaretten mochte den Geschmack angenehmer machen, aber der Geruch des Rauches war eigentümlich bissig.

Der Schrank, in dem der Fernseher stand, limitierte dessen Größe. Um noch einen Zoll mehr hineinzubekommen, war das Gerät ein wenig schräg hineingestellt worden. So musste der Kopf auch nicht ständig gedreht werden. Das hätte man eigentlich schon viel früher so machen sollen. Das Mittagsmagazin lief, wenn auch stumm. Die Katastrophen all überall auf der Welt lieferten neue Gesprächsthemen, nachdem Krankheiten und Tratsch erschöpft waren. Sobald die Soap anfing, wurde laut gemacht und alles andere vergessen.

Die dunklen Latschen wirkten wie aus der Zeit gefallen. Auch der blau-schwarz gestreifte Bademantel hatte schon bessere Tage gesehen, nur widerwillig spannte er sich über den runden Bauch seines Besitzers. Der Mann blieb zögerlich vor den Duschen stehen, dann entschied er sich für eine kurze Brause. Er hängte den Mantel an einen Haken und schob sich in die Zelle. Ein lautes Fluchen entrang sich ihm, als der kalte Wasserstrahl auf ihn niederging. Die wenigen grauen Haare, die ihm verblieben waren, klebten wie nasse Spagetti auf seinem Hinterkopf.
„Früher war alles besser! Da war das Wasser warm und das Hallenbad hat nur 1,50 gekostet“, grummelte er und schüttelte die Tropfen von sich.

Ich wache davon auf, dass sich jemand neben mich in den U-Bahnsitz quetscht. Müde blinzele ich und nehme sofort den aufdringlichen Duft eines Parfums wahr, viel zu viel und viel zu süßlich. Ist das etwa Kokosnuss? Egal, denke ich und lehne meinen Kopf gegen die Scheibe. Sind ja sowieso nur noch zwei Stationen.
Trotzdem betrachte ich die Spiegelung im zerkratzten Glas. Eine junge Frau, wahrscheinlich viel jünger als man zuerst annehmen würde, mit dem ganzen Make-up. Das Haar ist perfekt geglättet und ebenmäßig gefärbt, bestimmt kommt sie gerade vom Frisör. Oder vom Nagelstudio. Ihre schmalen Finger sind mit langen, lilafarbenen Glitzergelnägeln bewaffnet und spielen mit dem Markenhandtäschchen auf ihrem Schoß.
Meine Güte, denke ich und rolle mit den Augen. Als ob es nichts Wichtigeres im Leben gäbe als diesen ganzen Schönheitskram. Gut, ich müsste eigentlich auch mal wieder zum Frisör, aber dafür fehlt mir im Moment echt die Zeit. Muss schließlich arbeiten und mich dann noch um die Kinder kümmern. Vor allem Letzteres, damit sie nicht irgendwann glauben, sie müssten der Welt etwas mit gefärbten Haaren und Glitzernägeln beweisen.
Ich gähne und schließe die Augen. Hab genug gesehen.
Plötzlich spüre ich, wie die junge Frau unruhig wird, sie fängt an, auf dem Sitz herumzurutschen. Genervt öffne ich die Augen und sehe, was sie sieht. Eine Gruppe halbstarker Typen, die sich auf der Suche nach Sitzplätzen durch den Gang pöbeln. Sie kommen auf uns zu. Ist da vielleicht ihr Exfreund dabei? Möglicherweise hat er ja mit ihr Schluss gemacht, weil er in ihren Terminkalender voller Schönheitspflege nicht mehr reingepasst hat, denke ich und hebe einen Mundwinkel.
Dann sind die Typen da und tatsächlich fixiert einer von ihnen die junge Frau und grinst. Ich mache mich für einen Schlagabtausch in übelstem Jugendsprech bereit und hole Luft für einen entnervten Seufzer.
»Hey!«, ruft er und deutet auf sie. »Dich kenn ich doch! Du warst doch mal ein Typ!«

Haxe

Er steht drei Mann vor mir in der Schlange. Groß und breitschultrig, weißes Haar oder was davon übrig ist, mit leichtem Bauchansatz, die besten Zeiten hinter sich.

„Eine Haxe“, hör ich ihn sagen. Über dem Thresen hängt ein Schild: Bayernwoche.

Prompt liegt der Brocken auf dem Teller, so groß, die Beilage nehme ich gar nicht wahr. Wir sind in der Bank, denk ich mir, und nicht auf dem Bau. Wie kann jemand in Anzug und Krawatte zu Mittag solch eine Portion verdrücken und dann noch g‘scheit denken? Ich entscheide mich für die Weißwurst mit Brezel und Senf und tröste mich mit dem Gedanken, dass es das Oktoberfest nur einmal im Jahr gibt.

„Kennst du den?“, frage ich meinen Kollegen am Tisch und winke mit dem Kopf zwei Tische weiter, wo die Haxe sitzt.

„Ja“, sagt er, „hab‘ mich mit ihm angelegt. Hat früher auf’m Bau gearbeitet und ist jetzt Führungskraft. Frag‘ mich nicht, wie er das geschafft hat.“

Ablenkungsmanöver

Da sitze ich nun, ausgeschlafen mit Kaffee gerüstet, vor mir mein aktuelles Dokument. Die Schatten werden länger, die Bedrohung rückt näher, wie werden meine Helden sich der Herausforderung stellen, spielen alle so mit wie ich es mir vorgestellt habe? Ich kaue an einem Bleistift für spontane Notizen, den ich eigentlich gar nicht brauche, und trinke einen Schluck Kaffee. Schwarz natürlich. Draußen, auf der anderen Seite von dem Fenster ist alles in Grün, Gold Gelb und Braun. Der Herbst zeigt sich in seinen schönsten Farben. Ich mag den Herbst. Aber nur wenn er trocken und so goldig warm ist wie jetzt. Als Hamburger bin ich ja nässe gewohnt, das heißt aber noch lange nicht, dass ich es mögen muss. Im Vogelhaus vor dem Fenster tummeln sich Rotkehlchen, Finken, die fetten Tauben schauen auch vorbei. Die passen da kaum rein. Vielleicht traut sich das Eichhörnchen ja gleich wieder vorbei, wenn die fetten Luftratten endlich weg sind. Ich gehe kurz raus die Viecher verscheuchen. Es ist angenehm warm und der Geruch von welkem Herbstlaub liegt in der Luft. Das Laub auf dem Rasen, eigentlich wollte ich das schon weggeharkt haben. Egal, die Schatten rufen. Also wieder an den Rechner, wo die Schatten lauern. Wo lauern die eigentlich? Überall. Nichts ist sicher. Bloß keine Fackel anmachen, bist du irre? Wo Licht ist, sind auch Schatten. Dann wird man doch erst recht paranoid, wenn die so im Fackelschein rumzucken, was ist das? Ach das Eichhörnchen ist da, wie niedlich es die Walnüsse dreht, um zu hören, ob die Nuss noch gut ist. Fünfzehn Nüsse später gebe ich auf. Zu viel Ablenkung, ich gehe in den Keller und schreibe da weiter, da habe ich keine Fenster, nur Bücher. Oh die müsste ich auch dringend neu sortieren. Alphabetisch? Nach Genre? Zwei Sachen weiß ich auf jeden Fall. Nicht nach Farbe und ich sollte an meiner Konzentration arbeiten.

Oma Fina.

Oder ihre Art, sich zu fürchten.

Oma betete bei Gewitter. Sie zündete eine Kerze an, es musste eine weiße, eine unschuldige Kerze sein. Sie stellte diese vor sich auf den Küchentisch, senkte den Kopf und faltete die Hände. Sie betete murmelnd. Sie war der Überzeugung, dass Singen oder lautes reden, das Gewitter anlockt. Radio hören, war ebenfalls untersagt. Etwas essen, absolutes Tabu. Beten. Nur beten. Und Oma Fina betete.
Omas grauer Dutt lag jeden Tag gleich. Es war, als hätte sie ihn nie gelöst. Niemand war in der Lage jedes Haar so unverwechselbar zu stecken.
Passend zu allem die graue Schürze, die wie das Kleid einer vornehmen Persönlichkeit an ihr klebte. Jedes Mal wenn sie aus ihrem Korbsessel aufstand, strich sie über ihre Schürze, bis diese wieder gepflegt anlag.
Oma hatte eine Freundin, die vom Blitz erschlagen wurde. Sie wurde auf der Straße getroffen und war auf der Stelle tot.
Als ich älter wurde, dachte ich, es sei eine wunderliche Angewohnheit von ihr. So eine Art Vorstellung, die sie anderen bot. Ich stellte mir die Frage, ob sie sich eine Kerze auf den Tisch stellte, wenn sie alleine war. Wenn sie kein Publikum hatte. Die Frage wird niemand beantworten können. Oma war da eigen. Verschlossen. Stur.
Oma hatte schlimme Beine. Sie waren offen. Sie hatte offene schlimme Beine. Zuckerkrank. Die Beine waren umwickelt. Ich kann mich nicht erinnern, Oma Fina Beine jemals ohne Verband gesehen zu haben.
Nur wenn der Arzt da war. Dann hatte er die Beine abgewickelt. Es war ein blutverschmierter Anblick. Ich hatte es gesehen. Ich lungerte unter dem Küchentisch.
Oma saß in ihrem Korbsessel und bewegte sich nicht. Cotard-Syndrom. So sagte man mir später. Ich hielt Oma für tot. Für mich war sie gestorben. Und sie war ebenfalls der Meinung, dass sie tot sei. Das war der Höhepunkt ihrer Darbietungen. Bis uns ein Arzt sagte, dass sie schwer zuckerkrank ist und unter eben diesem Cotard-Syndrom leidet. Nichts von allem war gespielt. Vielleich die Prozeduren während eines Gewitters. Das könnte Theater gewesen sein. Vielleicht.
Immer wieder war Oma tot. Es schien so eine Art Übung für den Ernstfall zu sein. Training ist wichtig. Wie sonst sollte man diesen fatalen Schritt bewältigen.
Dann war es ein Oberschenkelhalsbruch. Ruhig liegen im Krankenhaus. Ein paar Tage. Ohne Angst. Dann war Oma Fina tot. Sie starb an einer Lungenentzündung. Sie wurde nicht mobilisiert. Damals. 1965 war das eine andere Vorgehensweise mit Patienten. In einem katholischen Krankenhaus. Irgendwo im Ruhrpott. Oma Fina kam 1889 zur Welt.

Ihr Kopf hing völlig entspannt bis auf das abgemagerte Brustbein herunter, als sie aus dem Krankentransporter getragen wurde. Kurz hob sie ihn, den müden, verwirrten Kopf. Wie ein verlorener Vogel, dünn und zu früh zum sterben, schaute sie sich kurz um. Ob sie wusste wo sie war, konnte ich nicht erkennen. Mich erkannte sie schon lange nicht mehr.

Mein Weihnachtsmann

Manchmal sieht es aus, als würde er tanzen. Er springt und stampft. Zwei-, nein - dreimal. Dann steht er nur da. Er springt ein viertes Mal. Ein getanztes Stampfen. Ein gestampftes Tanzen. Er schaut auf seine Füße, oder auf irgendetwas darunter. Im nächsten Moment blickt er hoch. Er schreit. Die Laute, die irgendwo aus seinem Bart kommen, verstehe ich nicht. Ein Ruf? Ich kann ihn nicht verstehen und schaue ihn nur an.
Am Bahnhof herrscht reges Treiben. Viele kommen, viele gehen. Nur er - er bleibt.
Ich bin auch hier. Jeden Tag gehe ich - an jedem Tag komme ich zurück. Er ist immer da. Ich sehe ihn. Ich muss ihn sehen. Ich schaue ihm beim Tanzen zu. Schaue, wie er geht und hüpft, und ich lausche seinen Rufen - aus sicherer Entfernung von Gleis 1.

Ein Tag im Frühling, Sommer, Herbst oder Winter. Vor dem Bahnhof ist es wieder laut. Er springt und stampft. Der Bart brüllt etwas. Reisende strecken ihre Hälse, um zu sehen, wer da ruft. Kinder starren ihn an. Sie fahren zur Schule und kommen zurück. Ein Schüler sagt etwas und zeigt auf den lauten Tänzer. Alle lachen und gehen fort. Neben mir schüttelt ein Mann mit dem Kopf und wendet sich ab. Er sieht mich an. Ich zucke mit den Schultern und gehe zum Gleis. Der Zug fährt ein.

Ein weiterer Tag im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Mit einem Kaffee in der Hand lehne ich mich an das Geländer von Gleis 1. Ich schaue zum Eingang. Da ist er – bei den Fahrrädern. Er lächelt und redet, aber es ist niemand da, der seine Worte hört, niemand da, der den Blick erwidert. Im nächsten Moment springt er, tanzt er, macht einen Sprung, einen stampfenden Schritt. Ein Tänzer mit Bart. Ein Weihnachtsmann im Unterhemd, darüber ein rotes Gewand – nein – ein zerfetzter Pullover, sehe ich im nächsten Moment. Er steht ihm gut. Sein ehemals blonder Bart ist bald weiß. Ein Weihnachtsmann im Frühling, im Sommer, im Herbst und im Winter.
Neben mir steht eine alte Frau – vielleicht in meinem Alter. Sie schaut in seine Richtung, dann in meine. Ich spüre und erwidere ihren Blick. Sie schüttelt den Kopf und wendet sich ab. Sie sagt etwas – nicht zu mir, also höre ich es nicht. Ich schaue wieder zu ihm. Er schreit und redet. Ich schaue mich um. Reges Treiben. Menschen kommen und Menschen gehen – aber, es ist niemand da.

Eine Tasche steht neben der gläsernen Schiebetür. Eine Reisetasche für einen, der bleibt. Jeden Tag sehe ich auch sie – im Frühling, im Sommer, im Herbst und auch im Winter. Scheinbar alt - ausgeblichen ist das Blau. Es ist ein falsches Blau, fast grau. Die braunen ledernen Griffe glänzen speckig. Die Tasche ist groß. Sie gehört ihm. Darin befindet sich ein Leben. Ich bin mir sicher. Oder Geschenke? Eine Flasche steht daneben. Cola - immer ist es Cola. Das rot-weiße Etikett. Ich habe ihn nie trinken sehen, nur springen und stampfen.
Da geht er. Der rote Fransenpulli steht ihm gut. Auch die Schuhe. Ich habe ein ähnliches Paar Zuhause. Bei meinem fehlt das Klebeband.

Manchmal schreit er Menschen an. Er schreit, doch es ist niemand da. Was er ruft - ich weiß es nicht. Ich verstehe ihn nicht. „Ho Ho Ho…“ versuche ich zu hören.
Manchmal schaut er nur. Wohin?
Ich folgte einmal seinem Blick und sah nur eine Wand. Ich schaute genauer hin – nichts, nur ein Gemäuer. Als ich wieder zu ihm blickte, erschrak ich. Er schaute in meine Richtung – NEIN – er starrte sogar. Hat er mich gesehen? Ich hob eine Hand zu einem zaghaften Gruß. Nichts – er starrte weiter. Mir wurde heiß. Ich drehte mich um und ging zu Abschnitt G, an jenem Tag im Sommer. Der Zug kam pünktlich. Das war nicht das Einzige, was komisch war, an diesem Tag.

Jeden Tag gehe ich und an jedem Tag komme ich zurück. Er ist immer da, genau wie ich. Ich erwarte ihn – jeden Tag. Er enttäuscht mich nicht.

Erwartet er auch mich?

Die Tritte zweier schwerer Stiefel stampfen auf der Veranda, ein Mann und der Hund kommen herein. „Ach, die Neue!“, brummt er und reicht mir seine raue, große Hand. Es scheint, als habe sich die körperliche, ländliche Arbeit hier vor allem in der Veränderung der Hände niedergeschlagen, so wie ich es auch an meinen Händen gespürt habe: Nachdem sich zuerst Blasen gebildet haben, die herauf schmerzhaft aufgebrochen sind, die Finger und Handflächen unzählige Spreißel eingesammelt und irgendwann auch wieder abgesondert haben, sind sie inzwischen derb und hornhautig geworden. „Alfred“, stellt er sich vor. Er brüht sich und auch mir einen Kaffee auf, die Tassen randvoll gefüllt, als könne der Gedanke an das Dekorieren dieses Heißgetränkes mit Milch und Zucker nur ein Abwegiger sein. In seiner mit Lehmbatzen besprenkelten Hose setzt er sich zu mir, während der Hund ein liegengebliebenes Käsebrot vom Tisch stiehlt und sich wieder nach draußen trollt. Durch ein faustgroßes Loch in seinem T-Shirt ringeln sich schwarze Haare, die auf seinem Haupt jedoch nur noch wie ein fleckiger Bewurf vorhanden sind. Er schlägt die Beine übereinander, kramt ein verkrumpeltes Päckchen Tabak aus der Hosentasche und beginnt zu erzählen, während er in routiniert-schlampiger Bastelarbeit eine Zigarette dreht, sie entzündet und sich lautstark mit der Handfläche über die Kopfhaut streicht.

Unvergesslich

(In dieser Woche soll ich schreiben, was ich sehe. Jetzt bin ich ganz schön im Dilemma! Ich habe es mir zur Auflage gemacht, nur über Lökk und Igelkott zu schreiben. Diese sind jedoch nicht real, sondern nur wahrhaftig in meiner Vorstellung beheimatet. Als einzige Lösung sehe ich, meine inneren Augen ganz scharf zu stellen.)

Wir befinden uns im Wald vor Igelkott und Lökks Höhle. Sie sind leider nicht zu Hause. Folgendes sehen wir:
Igelkotts Höhle liegt tiefer als der Waldboden darum. Herbstblätter rutschen die Rampe hinunter, die sein wippender, weicher Igelhintern festgedatscht hat. Da ist eine Rinne, die durch Regen und Lökks einzigartige Fortbewegungsart geschaffen wurde. Sie kurvt um die Wurzeln herum, die sich wie ein erstarrter Vorhang über dem Eingang wölben. Es sieht aus, als hebe die Buche den Saum ihres Rindenkleides. Jedoch trügt der Eindruck, es handle sich um weichen Stoff, wie bei näherer Betrachtung erkennbar wird: Ein fettiger Fleck zeugt davon, wie Igelkotts Stirn regelmäßig am Eintritt seiner Behausung schabt, wenn er ins Dunkle watschelt. Ein kreisrunder Fleck, der, sollte man daran riechen, ein leichtes Zwiebelaroma in sich trägt, erinnert Lökk jedes Mal an eine denkwürdige Kollision. Igelkott im vollen Galopp und Lökk auf seinem Stammplatz zwischen den Ohren, eine solche Kopfnuss vergisst man nicht. Ich würde abschweifen, wenn ich ausführen würde, dass Lökk ein Vergessen schon allein deshalb nicht vergönnt ist, weil Igelkott ihn oft fragt, woher nur dieser Fleck stammt und warum Lökk denn wohl eine Delle hat? Igelkotts Vergesslichkeit zeigt sich in einer Flut an Denkzetteln, die überall um den Baum verteilt liegen. So betrachten wir also die Höhle noch einmal zusammenfassend: Waldboden gegen vier Uhr nachmittags bei bewölktem Himmel, darin und darauf eine Buche, die zwischen ihren Wurzeln wie unter den Armen eines Oktopus‘ einen geschützten Raum birgt. Ein von losem, getrampeltem Sand bedeckter abfallender Eingang zu jener Höhle, und darauf eine Herbstblätterflut, die erst vor Kurzem wütend zu einer Seite gedrückt wurde. Um den Baum verteilt liegen lose welke grüne Blätter einer nahen Stechpalme, von denen manche zur Gedächtnisstütze zerrissen, angebissen oder abgeknickt wurden. Sie alle sind voller kleiner Löcher, wie Igelstacheln sie hinterlassen. Ausschweifend könnte ich noch auf die Eicheln eingehen, die ein schusseliger Nachbar, ein Eichhörnchen namens Ekorre, ohne Vorwarnung fallen zu lassen pflegt, und die den Boden zieren wie Schokodrops ein Cookie.

Den Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn gelangweilt auf der linken Hand ruhend, rührte dieser Mann mit dem Löffel in der rechten in einer Tasse. Tiefe furchen durchzogen seine Stirn, auf welcher seine zotteligen, grauen Haare klebten. Seine schwarze Lederjacke zierten funkelnde Nieten und Dornen. An den Handgelenken trug er Panzerketten und Lederarmbänder mit Thors Hammer. Dass neben ihm zwei Halbstarke meinten, ihre Männlichkeit in Promille messen zu müssen, schien ihn nicht zu interessieren. Nichts vermochte, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sein starrer Blick war stumm auf seine Tasse gerichtet. Flüsterte er etwas? Seine Lippen bewegten sich, als würde er einen Flaschengeist – oder in dem Falle einen Tassengeist – beschwören wollen. Unverständlich waren die Worte, doch nachfragen wollte ich auch nicht. Seine Springerstiefel hatten auch schon bessere Tage gesehen. Oder brutalere? Zusammengeknotete Schnürsenkel unterschiedlicher Farben waren nur noch durch wenige ganze Ösen gezogen und mehrfach um den Schaft gewickelt. Ob dieser Kerl eine extreme politische Meinung vertrat, fragte ich mich in diesem Moment. Doch auch diese Frage wagte ich, ihm nicht zu stellen. Wer weiß, was er alles in den aufgeblähten Taschen seiner Cargohose trug – Messer, Schlagringe. Es war, als würden die Taschen an seinen Oberschenkeln nur noch halten, da er diese mit Sicherheitsnadeln am Hosenbein fixierte. Nach einer Weile legte er den Löffel beiseite, lehnte sich zurück und trank den letzten Rest aus seiner Tasse mit nur einem Schluck. Er setzte die Tasse wieder ab und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Seine grauen Augen blieben bei mir stehen. Unsicher wich ich ihnen aus. Ich spürte, wie sein Blick mich durchbohrte. Zaghaft sah ich ihn wieder in sein ausdrucksloses Gesicht. Ein Lächeln? Der Kerl hob seine Tasse und wank mich zu sich herüber. Schüchtern folgte ich seiner Bitte.
Dies war der Anfang einer wunderbaren Freundschaft.

Ich stehe an der Kasse im Discounter und gebe mir Mühe, die anderen Leute in der Schlange nicht wahrzunehmen. Gerade spielt der Supermarkt-Dudelfunk „Throwing it all away“ von Genesis.
Und der Typ vor mir sagt: „Fuck!“.
Das Wort kommt aus seinem Mund herausgebrodelt wie Erbrochenes.
Während ich noch darüber nachsinne, ob der Kommentar wohl der Musik geschuldet war, verwendet er eine der Bierflaschen, die er gleich aufs Band stellen wird, um eine andere zu öffnen, und nimmt einen tiefen Schluck. Selbstverständlich handelt es sich um das Billigbier des Marktes und selbstverständlich schäumt es nach dem ersten Schluck über den Rand und läuft sowohl auf die Hand des Trinkers als auch auf den Boden.
Ich beginne mich fremdzuschämen, habe nun jedoch keine Kontrolle mehr über meine Wahrnehmung und beobachte gebannt den vermeintlichen Genesishasser.
Grob umfasst er die Bierflasche, harte Arbeit und viel frische Luft könnten für die Risse und das lederartige Aussehen seiner Hand verantwortlich sein. Die Haare sind kurz geschoren, so wie es mit einem Langhaarschneider auf der 15mm Einstellung wird. In einem Ohrläppchen stecken mehrere Ohrringe, Tätowierungen sehe ich keine. Er trägt einen zu weiten, ausgefransten Pullover und eine alte, weite Funktionshose mit vielen Taschen, dazu dreckige Sportschuhe. Als die Wartenden und er langsam vorwärts gehen, schlenkern seine Arme unkontrolliert, als hätte er eine Nervenkrankheit.
Endlich an der Kasse angekommen, weist die Verkäuferin ihn zurecht, dass er das Bier nicht vor dem Bezahlen öffnen darf. Er sagt nichts dazu, sondern bezahlt in bar und schiebt sich die anderen Flaschen in die Taschen seiner Hose. Beim Verlassen des Marktes erinnern seine Bewegungen an die eines schlecht programmierten Roboters.

Zögerlich waren ihre Schritte. Die Hausschuhe gaben ihr wenig Halt, als sie auf das blätterbedeckte Gras des Parks trat. Fester schlossen sich die stützenden Hände um ihre Arme, als ihre Begleitpersonen die alte Frau zu einer Parkbank führten. Es war einer der letzten wenige Tage des Jahres, an denen die Sonne das Holz der Bank wärmte und einen Parkbesuch ermöglichte. Längere Spaziergänge waren der erschöpften Frau nicht mehr möglich. Als sie sich setzte, strich sie nervös über den blauen, dünnen Stoff ihres Schlafanzuges. Viel zu groß war er der zierlichen Frau. Ihr Blick wirkte fahrig, als versuchte sie sich Orientierung zu verschaffen.
»Wenn dir zu kalt wird sagst du Bescheid, Oma.«
»Ja… nein. Ist eh warm.«
»Warte kurz.«
Die junge Frau, welche sie Oma genannt hatte, zupfte ihr vorsichtig ein verfärbtes Blatt aus den krausen, grauen Haaren. Für eine Kurzhaarfrisur war es eine Spur zu lang. Dabei ging sie doch seit Jahren alle zwei Wochen zum Friseur. Vielleicht wuchsen ihre Haare schneller ohne, dass sie es bemerkt hatte.
»Das muss dir auf den Kopf gefallen sein.«
»Oh, ist mir gar nicht aufgefallen.«
Sie nahm ihr das Blatt aus der Hand und betrachtete es eingängig.
»Ist schon wieder so viel Zeit vergangen?«
»Ja, der Sommer ist vorbei.«
»Es ist schon wieder Herbst.«
Das trockene Blatt begann unter den knochigen Fingern der Frau zu brechen. Kleine, orange Stückchen fielen dabei auf die blaue Schlafhose.
»Herbst… ja…«
Die alte Frau runzelte die Stirn. Die Falten in ihrem Gesicht wirkten so noch tiefer.
»Aber welches Jahr?«

Ein Neujahrsbote in Schwarz

Er fesselte meinen Blick, kaum, dass ich ihn sah. Meine ganze Aufmerksamkeit gehörte nur ihm. Ich erblickte ihn nur beiläufig, als ich gedankenverloren von meiner Kaffeetasse aufsah. Ich war müde, es war eine lange Nacht gewesen und eigentlich hatte ich an diesem Morgen nur eines im Sinn: Kaffee austrinken, Aspirin nehmen, Augen schließen und bis zum nächsten Morgen durchschlafen. Aber er hatte es geschafft, er hatte mein Interesse geweckt, wie er so dasaß in seinem schwarzen Anzug, so friedlich an seinem Platz verweilte, völlig mit sich im Reinen - unbekümmert. Er genoss die Ruhe nach der lauten Silvesternacht, der Moment der Stille gehörte nur ihm. So unbeobachtet wie er sich fühlte, ließ er seinen Blick umher schweifen, schaute mal nach links, mal nach rechts und schloss zwischendurch die Augen, um diesen seinen Augenblick, der nach Stillstand schrie, auszukosten. Den Blick von ihm abzuwenden, sei es auch nur für ein paar wenige Sekunden, getraute ich mich nicht, aus Angst, ihn - den Achtsamen - aus dem Blick zu verlieren und diesen Bann, in dem ich mich zweifelsfrei befand, zu brechen. Ich wünschte mir den Moment einfrieren zu können, um dieses friedliche Wohlgefühl immer dann aufrufen zu können, wenn ich es am nötigsten bräuchte…Was führte ihn hierher? Verweilte er rein zufällig hier an diesem Ort, unterwegs auf einer viel längeren Reise? Wartete er vielleicht auf jemanden? Oder … war er am Ende gar dazu bestimmt, sich an Ort und Stelle niederzulassen, um mir gleich am ersten Tag des neuen Jahres einen Augenblick der vollkommenen Ruhe zu bescheren und mir ein Lächeln zu entziehen - sozusagen als Einstimmung auf 365 vor mir liegende Tage, die harmonischer, ruhiger, als die vergangener gelebt werden wollten, ja sogar mussten? Was auch immer seine Präsenz zu bedeuten hatte, ich kostete sie vollends aus, den Stress, den Ärger und den Lärm der vergangenen Monate mal kurz ausblendend.

Ein arbeitsreiches Jahr lag hinter mehr, ein Jahr voller Überstunden, kurzen Nächten und genau so kurzen Urlaubstagen. Die Beförderung forderte ihren Tribut. Was sich Anfang des alten Jahres noch als absoluter Volltreffer anfühlte, als „time of my life“ - ich war schließlich erst 28 - erwies sich am Ende als Wegbereiter in ein nimmer enden wollenden Zustand des völligen Ausgebranntseins… Die wenige Freizeit, die mir neben meinem Job als Juniorpartnerin einer renommierten Anwaltskanzlei blieb, verbrachte ich nach gerade mal sechs Monaten schon in diversen Arztpraxen und dem hoffnungslosen Versuch, im Gefriermodus befindliche Freundschaften wieder auftauen zu lassen: Soviel zur Kehrseite eines Lebens auf der Überholspur - mit 28. Noch immer ruhte mein Blick auf ihm, auf seinem friedlichen, unbekümmerten Antlitz, gekleidet in diesem tiefschwarzen Anzug mit einem Klecks aus Orange und mir wurde klarer denn je, dass ich die Spur wechseln, den Blinker setzen und aussteigen musste, wollte ich wieder leben, statt nur zu überleben… Zutiefst dankbar für seinen Besuch und die damit einhergehende Erkenntnis, stand ich vorsichtig auf und trat ans Fenster. So als hätte er gerade seinen Auftrag erledigt, klapperte er kurz, wie zum Abschied, mit seinem kleinen orangen Schnabel, machte auf dem Ast des Baumes kehrt, breitete seine schwarzen Flügel aus und flog davon…

Über den Schatten springen

Es war laut, stickig und der dumpfe, vibrierende Bass der Musik massierte unaufhörlich mein Herz, während ich an dem auf Hochglanz polierten Tresen stand und auf meinen Wodka Energy wartete.
„Ist der Hammer hier, oder?“
Tina, meine beste Freundin und selbst ernannte Partyqueen, stand neben mir und genoss jede Sekunde dieses fürchterlichen Lärms. Ich antwortete nicht, machte mir gar nicht erst die Mühe durch diesen Wirrwarr aus Stimmen, Musik und sich aneinander reibender Körper zu schreien, sondern stand einfach nur da und starrte zu dem Mann am anderen Ende der Tanzfläche.
Dieses eine Gesicht hob sich konkurrenzlos von den vielen hunderten anderen ab und ließ mir keine Ruhe. Er war jung und schön, so schön, dass sich jeder Clubbetreiber glücklich schätzen konnte, solch eine Klientel anzulocken. Hübsche Menschen hatten es in Clubs immer leichter. Sie zogen andere Besucher an und steigerten somit den Umsatz und ich war mir sicher, dass man ihn am Einlass nicht einmal kontrolliert hatte.

„Mach dir bloß keine Hoffnungen“ Tina hatte mein nicht besonders unauffälliges Starren bemerkt und sah ebenfalls hinüber zu dem jungen, schwarzhaarigen Gott, der sich amüsiert mit seinen Freunden unterhielt. Ihre belehrende Bemerkung traf mich, doch ich war zu neugierig, zu angefixt von ihren Worten, um sie einfach unkommentiert stehenzulassen.
„Was meinst du damit?“
Tina sah mich schon fast bemitleidenswert an „Das ist Kai und Kai ist überall wo es gute Musik gibt. Und würdest du etwas öfter rausgehen, wüsstest du das auch.“
Da war es. Ich hatte den ganzen Abend darauf gewartet und musste genervt schmunzeln, als sie es aussprach. Ich war kein Mensch der gerne feierte oder sich unter anderen, fremden Menschen wohlfühlte. Tina versuchte mich an jedem verdammten Wochenende dazu zu überreden, die neusten und angesagtesten Clubs der Stadt unsicher zu machen, doch ich hasste jeden Gedanken daran. Einmal im Quartal ließ ich mich jedoch dazu hinreißen, sie zu begleiten, in der Hoffnung, dass sie mich dann wieder in Ruhe lassen würde. Der Plan ging nie auf, aber so es gelang mir immerhin sie zu besänftigen. Doch dieser Abend schien einen kleinen Lichtblick zu haben. Kai.

Kleine Strähnen seines dunklen, mittellangen Haares hingen in seiner Stirn, wie die Fäden eines schwarzen Vorhangs, der etwas Geheimnisvolles zu verbergen versuchte. Ob es Schweiß von der Hitze, oder gekonnt eingearbeitetes Haargel war, konnte ich nicht erkennen, aber beide Optionen ließen ihn attraktiver wirken als alle anderen Männer im Raum.

Er war zu weit entfernt, um genaue Einzelheiten seines Gesichts erfassen zu können, doch wenn er aus der Nähe genauso gut aussah wie von hier, dann musste ich es wissen.
„Hallooooo, jemand zu Hause?“
Stimmt, da war was. Tina hielt mir wütend den Wodka Energy vor die Nase.
„Geht auf mich.“

Sie tat mir leid, wie sie dastand und ihre etwas zu kurze Nase rümpfte, sodass sich ihre schmal gezupften Augenbrauen wie eine sich dahinschleppende Raupe verschoben. Ich zuckte entschuldigend mit meinen Schultern, ehe ich mich wieder Kai widmete.
Meine Füße bewegten sich wie von selbst in seine Richtung, fast, als hätte er ein eigenes Gravitationsfeld, eine Anziehung, deren Kraft ich hoffnungslos unterlegen war.
„Warte!“ Ihre kalte Hand hielt mich am Oberarm fest und fast fühlte es sich an wie ein Anker, den man aus einem schnellen Auto geworfen hatte und welcher mich schlagartig ausbremste.
„Er ist …“, sie zögerte, bevor sie ihre nächsten Worte theatralisch ausposaunte „Er steht auf Männer.“
Da war also der berühmte Haken an der Sache. Ich sah ihn an, wie er in seinen perfekt sitzenden Jeans und dem einfachen Shirt an einer Wand lehnte. Irgendetwas in mir wollte sich nicht mit Tinas Worten zufriedengeben.
Eine Ausstrahlung wie diese musste gewürdigt, erforscht und kategorisiert werden. Wenn ich es heute nicht tat, würde ich mich ewig darüber ärgern und meinen Enkelkindern am Sterbebett nicht von dem schönsten Mann erzählen können, welchen meine Augen je erblickt hatten.
Ich riss mich los und spürte Tinas manikürte Fingernägel, die sich tief in meine Haut bohrten, bevor sie endlich von mir abließen, während ich mich langsam und konzentriert auf den Weg machte.
So mussten sich Forscher fühlen, die in den unbekannten Dschungeln dieser Welt auf eine unerforschte Art trafen. Herzrasen vor Aufregung und Neugier.
Kais Blick fiel auf mich, kein Wunder, ich schlich wie eine Besessene auf ihn zu. Je näher ich kam, desto interessierter wirkte er jedoch.

Seine wohlgeformten, weder zu dünnen noch zu dicken Lippen schoben sich auf einer Seite nach oben und seine blauen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern eingerahmt waren, fixierten jeden meiner Schritte. Seine rechte Augenbraue hob sich genau an der Stelle, an welcher ein kleiner Schnitt rasiert war. Er war sich seines Äußeren bewusst, das merkte man ihm an. Die lässige Haltung, der klare Blick und der erwartungsvolle Ausdruck in seinen Augen wussten um seine Anziehung und doch war da etwas Überraschung zu sehen, als er bemerkte, dass ich nicht ausweichen, sondern direkt vor ihm stehen bleiben würde.

Er legte seinen Kopf leicht schräg und der runde Ausschnitt seinen Shirts verzog sich etwas, sodass ich einen Blick auf eine Tätowierung erhaschen konnte, welche unter dem grauen Stoff hervorblitzte.
An seinem rechten Ohrläppchen funkelte zwischen dem dichten Haar ein silberner Ohrring hervor, gegen den er allergisch zu sein schien, denn die Haut um das Ohrloch war leicht gerötet.
„Schau an, ein neues Gesicht.“ Seine Stimme war angenehm und klang so, wie ich es erwartete hatte. Weder zu dunkel, noch zu hell.
„Du bist also Kai?“
Ich verhielt mich seltsam anders und auf eine neue und gruselige Art selbstbewusst, fast, als würde eine andere Person durch mich sprechen. Sein Grinsen legte ein zartes, einseitiges Grübchen frei, welches die sonst so perfekte Symmetrie seines Gesichts durchbrach.
„Sieh an, du hast also schon von mir gehört?“
„Ich kenne lediglich deinen Namen, weiß das du gerne feierst und auf Männer stehst“, die Worte schossen so selbstverständlich aus mir heraus, dass ich selbst überrascht darüber war und hinterließen einen Moment der Schockstarre. Hatte ich das wirklich ausgesprochen?
Sein schallendes Gelächter und die plötzliche Aufmerksamkeit seiner Freunde um ihn herum gab mir die Bestätigung. Ich hatte es ausgesprochen und konnte beobachten, wie mein neu gewonnenes Selbstbewusstsein winkend aus mir herausschoss und wabernd in dem dichten Nebel unter der Decke verschwand.
„Bitte entschuldige mein Lachen“, mit seiner Hand, dessen Handgelenk ein Armband mit dunklen, runden Lavasteinen zierte, rieb er sich über die Augen.
„Ich möchte mich gerne richtig vorstellen.“ Er räusperte sich, legte den Kopf in den Nacken und kreiste mit seinen Schultern, die mit jeder Umdrehung die Muskeln an seiner Brust anspannen und sein Shirt enger werden ließen.
„Mein Name ist Kai, ich gehe gerne feiern und in der Tat hält sich das Gerücht über meine sexuelle Orientierung hartnäckig. Bist du bereit, seltsame Fremde, dir ein eigenes Bild von mir zu machen?“
Sein Blick wandelte sich von freundlich zu herausfordernd und ließ mir keine andere Wahl als seiner Frage nickend zuzustimmen.
„Ich kann es kaum erwarten.“

Der Mann mit dem sehnsüchtigen Blick

Akkurate Bügelfalten. Das ist das Erste, was mir auffällt, als der ältere Herr das kleine schnuckelige Café betritt, das ich erstmals besuche. Schon die Atmosphäre hat mich begeistert: Elegant-ländliche Möblierung vor piniengrünen Wänden, an denen moderne Kunstdrucke hängen, die den Landhausstil gekonnt durchbrechen und heimelige Gemütlichkeit versprühen.
Mit jeder Sekunde spüre ich, wie sich meine innere Unruhe verflüchtigt. Doch das charmante Klingeln der Türglocke hat mich aus meinen Betrachtungen gerissen und so habe ich den Neuankömmling ins Visier genommen. Der ältere Mann im Anzug bahnt sich in diesem Moment seinen Weg durch die Tischchen und Besucher, während er der Servicekraft freundlich zulächelt.
Sein komplettes Gesicht verzieht sich dabei zu einer sympathischen Grimasse, seine dunklen Augen werden zu Schlitzen und funkeln. Ich bemerkte, wie die Bedienung ein „Reserviert“-Schildchen vom Tisch in der Ecke direkt am großen Fenster entfernt und mein Blick bleibt an dem roten Einsteckblümchen hängen, das aus der Brusttasche des dunkelblauen Sakkos des Herrn blitzt. Auf seltsame Weise rührt mich der Anblick.
Sofort nachdem er seine Bestellung aufgegeben und die Servicekraft sich zurückgezogen hat, lenkt er seinen Blick aus dem Fenster. Seine Hände legt er vor sich auf den Tisch und lässt sie dort ruhen. Sie sind – sofern ich das aus etwa zwei Metern Entfernung erkennen kann – gepflegt und sein graues, schütteres Haar wirkt, als hätte er es sorgfältig gescheitelt. Waren seine Runzeln beim Betreten noch ein Abbild von Freundlichkeit, graben sie sich nun tiefer in sein Gesicht, verdunkeln seine Ausstrahlung.
Verwirrenderweise ist sein Rücken weiterhin durchgestreckt und gerade. Auf seinem Sakko, das er über dem hellen Hemd trägt, ist kein Fussel zu entdecken. Dennoch zieht sich meine Brust schmerzhaft zusammen, als ich den Blick bemerke, der ins Leere zu sehen scheint und dabei pure Sehnsucht ausdrückt. Woran denkt er? Eine verlorene Liebe aus vergangenen Zeiten? Sinnt er über sein Leben nach? Wartet er auf jemanden? Hat er sich deswegen so schick gemacht und so eine akkurate Falte in seine Hose gebügelt, dass man Papier damit schneiden könnte?
Meine Fantasie malt ihm eine Geschichte und ich frage mich, ob sie stimmen könnte, während er nun gedankenverloren in seinen Kaffee stiert und bedächtig Zucker hinein rührt.

Er streckt sich. Dieses Mal hebt er sogar die Arme zur Decke des Badezimmers. Dabei knackt es verdächtig in seinem Brustbein. Aus dem unteren Rücken folgt, von einem Zwicken begleitet, das Echo eines Lendenwirbels. Ein Orthopäde hätte den verantwortlichen Knochen anatomisch korrekt benannt, möglicherweise L2 oder L3, und noch die Ursache für das Geräusch geliefert. Daumen und Zeigefinger der rechten Hand prüfen kritisch die Konsistenz des linken Trizeps. Straffer war der mal. Sport kommt zu kurz.

Die Arme sinken herab, mit ihnen die Schultern. Sie sind ein wenig gekrümmt von zu vielen Stunden am Schreibtisch und zu wenigen auf dem Rudergerät. Er lässt sie kreisen, auch da knirscht es im Gebälk. Das ist alles kein Grund zur Resignation, vor allem nicht an diesem Morgen.

Sein kurzes Haar ist längst silbern. Begonnen hat das schon mit dreißig, ein Erbe, das er von seinem Vater erhalten hat. Von seinem Opa hat er die Geheimratsecken, die jedoch nur langsam die Stirn hochmarschieren. Er schätzt sich glücklich: Vielen seiner Freunde sind schon mehr Haare ausgegangen.

Die von Sommersonne und Gartenarbeit gebräunten Hände stützen sich auf den Rand des Waschbeckens. Der Oberkörper neigt sich dem Spiegel entgegen. Zeit für die Inspektion der Visage. Unwillkürlich muss er grinsen. Die Zähne sind noch alle da, bis auf einen Weisheitszahn und einen unten links, für den bestimmt auch eine medizinische Bezeichnung existiert.

Sogar für die etwas zu große Nase fand einmal jemand aus seiner Familie das schmeichelhafte Adjektiv „römisch“. Ob diese Kategorisierung einer wissenschaftlichen Prüfung standhält, weiß er nicht. Den Mund umringen die ebenfalls grauen Haare eines Barts. Nur die Wangen muss er kurzhalten, der Bewuchs ist dort so spärlich wie auf einem Bahndamm. Erst vor sechs Jahren hat er den Rest stehenlassen, ein bisschen aus Bequemlichkeit, zum anderen, um mit dem drahtigen Gebüsch seine kranke Mutter zu necken, wenn er sie in den Arm nahm. Sie konnte sich da schon nicht mehr bewegen und sprechen, verfiel aber bei der Berührung stets in haltloses Kichern.

Sein Lächeln wankt bei dem Gedanken kurz. Dann findet es seine Fortsetzung in zahlreichen Falten rund um die Augen. Die blassen Tiefen, in welche die Sonnenstrahlen nicht so oft vorgedrungen sind, werden auf diese Weise verborgen und zeugen davon, dass er oft auf diese Weise lächelt. Er ist glücklich.

„Alles Gute zum Fünfzigsten!“, murmle ich meinem Spiegelbild zu.

Wir sehen uns spiegelverkehrt. Während unsere Augen sich dort, im Spiegel, treffen, teilt sie mit beiden Händen meine Haare in zwei gleiche Teile und legt sie mir über die Schultern. Sie drückt mir die Rückseite des Kamms an eine Stelle zwischen Halskuhle und Schlüsselbein. Bis hierhin will sie schneiden. Ich nicke. Eine gute Länge, ein Mittelmaß. Das passt zu mir. Ich kann ihre Jugend noch sehen, auch wenn ihre Haut von zu viel Sonne und gelebten Jahren erzählt. Die Unregelmäßigkeiten in ihrem Gesicht können das Mädchenhafte nicht völlig verdecken, die junge Frau, die sie einmal gewesen ist. Sie selbst kann diese Frau auch noch sehen, das spüre ich. Ihr Blick gleitet manchmal im Spiegel an meinem vorbei und trifft sie selbst. Es ist ein prüfender, aber auch koketter Blick. Eine kleine Korrektur der eigenen Frisur mit einer ruckelnden Kopfbewegung. Ein Zusammenbeißen der Lippen. Ein unbewusstes Ritual, das sie aus ihrer Rolle nimmt, den Smalltalk, das routinierte Schneiden fast unmerklich unterbricht. Sie klemmt Strähnen meines Haares zwischen Mittel- und Zeigefinger, streicht sie straff nach oben, schneidet zwei, drei mal an den fransigen, feuchten Spitzen entlang und entlässt sie wieder. Mehrmals prüft sie konzentriert die Haarlängen auf beiden Seiten meiner Schultern, zieht die Haare dort glatt und arbeitetet millimeterweise auf einer Seite nach. Ich sehe ganz nah im Spiegel die Flecken und Falten auf ihren Handrücken, das trotzige Babyrosa auf ihren Fingernägeln. Es riecht nach Chemie. Haarfarben, Spray, Shampoos, Nagellackentferner mischen sich zu einem schläfrig machenden Dunst. Sie trägt Birkenstock, Hallux valgus an beiden Seiten. Die bequemen Schuhe sind Fremdkörper, sie sollte High Heels tragen, denke ich. Oder wenigstens Stiefel mit Absätzen. Nach dem Föhnen lächelt sie mir ihr Mädchenlächeln entgegen. Als ich zahle, geht ihr Blick kurz an mir vorbei und trifft sie selbst im Spiegel gegenüber.

Beitrag 3

Eine Gestalt

Da steht sie schräg vor mir,

schaut an mir vorbei in eine Leere,

in die ich ihr nicht folgen mag.

Eine Gestalt, deren Gesicht und Hände

an geknautschtes Pergamentpapier erinnern.

Sogar der Farbton passt in etwa, milchig, durchscheinend,

mit einem haudünnen Schuss Beige darin.

Wie ein knorriger Baum sich vor dem Wind verbeugt,

stützt sie sich auf einen Stock,

der aus dem gleichen Baum geschnitten scheint.

Soll ich sie ansprechen und fragend bitten,

mir von sich und dem Weg zu erzählen,

den sie geschritten?

Ehrlich gesagt, ich traue mich nicht.

Der lange Weg zum Fischbrötchen

Der Sommer denkt noch lange nicht ans Aufhören. Die ein oder andere warme Jacke, die vorsorglich trotzdem angezogen wurde, landet über dem Arm des Trägers oder im Netz des Kinderwagens, während der dazugehörige Mensch stoisch in der Warteschlange steht. Manch ein Passant, männlich, weiblich oder divers, geht mit bewundernden und bisweilen amüsierten Blicken an dieser Szenerie entlang.

Die schiere Menge der wartenden Menschen veranlasst so manchen Zeitgenossen zu vielerlei Vermutungen. Gibt es hier etwas gratis, umsonst oder gar kostenlos? Die vielen Menschen hier werden wohl kaum ausschließlich die historischen Schiffe bewundern.

In weiter Ferne, am Ende der Menschentraube von 20 Metern Länge, ist ein gellender Ruf vernehmbar:

„Zweimal Backfisch, einmal Sild, einmal Räucherlachs!“ Aus einer separaten, kleineren Menschenmasse lösen sich ein oder zwei Bestandteile, um die Objekte der Begierde entgegen zu nehmen. Es geht weiter, wieder einen halben Meter vorwärts. Bei den Urlaubern mit schwäbischem Akzent kommt ein kurzer Anflug von Hektik auf, als eine stattliche Silbermöwe über ihren Köpfen zum Landeanflug übergeht. Glücklicherweise liegt ihr Ziel dann doch in einigen Metern respektvoller Entfernung.

„Das hier gehört sicher zu den Dingen, die man in dieser Stadt als Urlauber gemacht haben muss“, mutmaßt ein Herr mittleren Alters mit Spiegelreflexkamera um den Hals und einem Stadtplan in der Hand. „Wenn dir das hier zu lange dauert, können wir gerne wo anders hingehen“, sagt ein anderer zu seiner Begleitung.

Die Karawane zieht wieder ein kleines Stück weiter, die Hälfte ist geschafft. Vermehrt kommen mir nun Spekulationen zu Ohren, wer welchen Fang machen möchte. Räucherlachs, Matjes, Bismark oder Makrele? Geräuchert oder sauer eingelegt?

Eine geschlagene Stunde später ist dieses Meisterwerk norddeutscher Geduld und Disziplin vollbracht. Du hast bestellt, bezahlt und dir dein Wechselgeld aus der Steingutschüssel auf dem hölzernen Tresen der kleinen roten Fischhütte genommen. Keiner hier käme auf den Gedanken zu stehlen oder zu betrügen. Die Möglichkeit zur Kartenzahlung sucht man hier vergeblich.

Das Warten und auch dein Hunger haben ein Ende, als du den Aufruf hörst:

„Einmal Stremellachs ist fertig!“ Das war der lange Weg zum Fischbrötchen. Dem besten weit und breit. Darum, nur darum ist die Menschentraube hier so lang wie nirgendwo sonst. Guten Appetit.