Über den Schatten springen
Es war laut, stickig und der dumpfe, vibrierende Bass der Musik massierte unaufhörlich mein Herz, während ich an dem auf Hochglanz polierten Tresen stand und auf meinen Wodka Energy wartete.
„Ist der Hammer hier, oder?“
Tina, meine beste Freundin und selbst ernannte Partyqueen, stand neben mir und genoss jede Sekunde dieses fürchterlichen Lärms. Ich antwortete nicht, machte mir gar nicht erst die Mühe durch diesen Wirrwarr aus Stimmen, Musik und sich aneinander reibender Körper zu schreien, sondern stand einfach nur da und starrte zu dem Mann am anderen Ende der Tanzfläche.
Dieses eine Gesicht hob sich konkurrenzlos von den vielen hunderten anderen ab und ließ mir keine Ruhe. Er war jung und schön, so schön, dass sich jeder Clubbetreiber glücklich schätzen konnte, solch eine Klientel anzulocken. Hübsche Menschen hatten es in Clubs immer leichter. Sie zogen andere Besucher an und steigerten somit den Umsatz und ich war mir sicher, dass man ihn am Einlass nicht einmal kontrolliert hatte.
„Mach dir bloß keine Hoffnungen“ Tina hatte mein nicht besonders unauffälliges Starren bemerkt und sah ebenfalls hinüber zu dem jungen, schwarzhaarigen Gott, der sich amüsiert mit seinen Freunden unterhielt. Ihre belehrende Bemerkung traf mich, doch ich war zu neugierig, zu angefixt von ihren Worten, um sie einfach unkommentiert stehenzulassen.
„Was meinst du damit?“
Tina sah mich schon fast bemitleidenswert an „Das ist Kai und Kai ist überall wo es gute Musik gibt. Und würdest du etwas öfter rausgehen, wüsstest du das auch.“
Da war es. Ich hatte den ganzen Abend darauf gewartet und musste genervt schmunzeln, als sie es aussprach. Ich war kein Mensch der gerne feierte oder sich unter anderen, fremden Menschen wohlfühlte. Tina versuchte mich an jedem verdammten Wochenende dazu zu überreden, die neusten und angesagtesten Clubs der Stadt unsicher zu machen, doch ich hasste jeden Gedanken daran. Einmal im Quartal ließ ich mich jedoch dazu hinreißen, sie zu begleiten, in der Hoffnung, dass sie mich dann wieder in Ruhe lassen würde. Der Plan ging nie auf, aber so es gelang mir immerhin sie zu besänftigen. Doch dieser Abend schien einen kleinen Lichtblick zu haben. Kai.
Kleine Strähnen seines dunklen, mittellangen Haares hingen in seiner Stirn, wie die Fäden eines schwarzen Vorhangs, der etwas Geheimnisvolles zu verbergen versuchte. Ob es Schweiß von der Hitze, oder gekonnt eingearbeitetes Haargel war, konnte ich nicht erkennen, aber beide Optionen ließen ihn attraktiver wirken als alle anderen Männer im Raum.
Er war zu weit entfernt, um genaue Einzelheiten seines Gesichts erfassen zu können, doch wenn er aus der Nähe genauso gut aussah wie von hier, dann musste ich es wissen.
„Hallooooo, jemand zu Hause?“
Stimmt, da war was. Tina hielt mir wütend den Wodka Energy vor die Nase.
„Geht auf mich.“
Sie tat mir leid, wie sie dastand und ihre etwas zu kurze Nase rümpfte, sodass sich ihre schmal gezupften Augenbrauen wie eine sich dahinschleppende Raupe verschoben. Ich zuckte entschuldigend mit meinen Schultern, ehe ich mich wieder Kai widmete.
Meine Füße bewegten sich wie von selbst in seine Richtung, fast, als hätte er ein eigenes Gravitationsfeld, eine Anziehung, deren Kraft ich hoffnungslos unterlegen war.
„Warte!“ Ihre kalte Hand hielt mich am Oberarm fest und fast fühlte es sich an wie ein Anker, den man aus einem schnellen Auto geworfen hatte und welcher mich schlagartig ausbremste.
„Er ist …“, sie zögerte, bevor sie ihre nächsten Worte theatralisch ausposaunte „Er steht auf Männer.“
Da war also der berühmte Haken an der Sache. Ich sah ihn an, wie er in seinen perfekt sitzenden Jeans und dem einfachen Shirt an einer Wand lehnte. Irgendetwas in mir wollte sich nicht mit Tinas Worten zufriedengeben.
Eine Ausstrahlung wie diese musste gewürdigt, erforscht und kategorisiert werden. Wenn ich es heute nicht tat, würde ich mich ewig darüber ärgern und meinen Enkelkindern am Sterbebett nicht von dem schönsten Mann erzählen können, welchen meine Augen je erblickt hatten.
Ich riss mich los und spürte Tinas manikürte Fingernägel, die sich tief in meine Haut bohrten, bevor sie endlich von mir abließen, während ich mich langsam und konzentriert auf den Weg machte.
So mussten sich Forscher fühlen, die in den unbekannten Dschungeln dieser Welt auf eine unerforschte Art trafen. Herzrasen vor Aufregung und Neugier.
Kais Blick fiel auf mich, kein Wunder, ich schlich wie eine Besessene auf ihn zu. Je näher ich kam, desto interessierter wirkte er jedoch.
Seine wohlgeformten, weder zu dünnen noch zu dicken Lippen schoben sich auf einer Seite nach oben und seine blauen Augen, die von dichten schwarzen Wimpern eingerahmt waren, fixierten jeden meiner Schritte. Seine rechte Augenbraue hob sich genau an der Stelle, an welcher ein kleiner Schnitt rasiert war. Er war sich seines Äußeren bewusst, das merkte man ihm an. Die lässige Haltung, der klare Blick und der erwartungsvolle Ausdruck in seinen Augen wussten um seine Anziehung und doch war da etwas Überraschung zu sehen, als er bemerkte, dass ich nicht ausweichen, sondern direkt vor ihm stehen bleiben würde.
Er legte seinen Kopf leicht schräg und der runde Ausschnitt seinen Shirts verzog sich etwas, sodass ich einen Blick auf eine Tätowierung erhaschen konnte, welche unter dem grauen Stoff hervorblitzte.
An seinem rechten Ohrläppchen funkelte zwischen dem dichten Haar ein silberner Ohrring hervor, gegen den er allergisch zu sein schien, denn die Haut um das Ohrloch war leicht gerötet.
„Schau an, ein neues Gesicht.“ Seine Stimme war angenehm und klang so, wie ich es erwartete hatte. Weder zu dunkel, noch zu hell.
„Du bist also Kai?“
Ich verhielt mich seltsam anders und auf eine neue und gruselige Art selbstbewusst, fast, als würde eine andere Person durch mich sprechen. Sein Grinsen legte ein zartes, einseitiges Grübchen frei, welches die sonst so perfekte Symmetrie seines Gesichts durchbrach.
„Sieh an, du hast also schon von mir gehört?“
„Ich kenne lediglich deinen Namen, weiß das du gerne feierst und auf Männer stehst“, die Worte schossen so selbstverständlich aus mir heraus, dass ich selbst überrascht darüber war und hinterließen einen Moment der Schockstarre. Hatte ich das wirklich ausgesprochen?
Sein schallendes Gelächter und die plötzliche Aufmerksamkeit seiner Freunde um ihn herum gab mir die Bestätigung. Ich hatte es ausgesprochen und konnte beobachten, wie mein neu gewonnenes Selbstbewusstsein winkend aus mir herausschoss und wabernd in dem dichten Nebel unter der Decke verschwand.
„Bitte entschuldige mein Lachen“, mit seiner Hand, dessen Handgelenk ein Armband mit dunklen, runden Lavasteinen zierte, rieb er sich über die Augen.
„Ich möchte mich gerne richtig vorstellen.“ Er räusperte sich, legte den Kopf in den Nacken und kreiste mit seinen Schultern, die mit jeder Umdrehung die Muskeln an seiner Brust anspannen und sein Shirt enger werden ließen.
„Mein Name ist Kai, ich gehe gerne feiern und in der Tat hält sich das Gerücht über meine sexuelle Orientierung hartnäckig. Bist du bereit, seltsame Fremde, dir ein eigenes Bild von mir zu machen?“
Sein Blick wandelte sich von freundlich zu herausfordernd und ließ mir keine andere Wahl als seiner Frage nickend zuzustimmen.
„Ich kann es kaum erwarten.“