Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Die karamellfarbenen Locken schmiegen sich Federleicht an ihr wunderschönes Gesicht. Ihre blauen Augen leuchten, während sie sich tänzelnd im Spiegel betrachtet. Ein Mädchentraum aus Tüll, mit Stickereien, Spitze und kleinen, im Licht regenbogenfarben glitzernden Steinchen besetzt,umhüllen ihren sehr zarten und fast noch kindlichen Körper.

Sie leuchtet vor Glück, so sehr, dass man das Bedürfnis verspürt, mit ihr zusammen vor Freude zu tanzen und zu rufen: „DAS IST DEIN KLEID“

Immer wieder verkündet sie lachend und sich drehend, dass sie den heutigen Tag seit Wochen geplant hat, und wie glücklich sie ist, dass das Kleid im Budget liegt, dieses eine Kleid, mit dem sie schon so oft durch ihre Träume schwebte.

Die anderen Kunden im kleinen Laden sind verzückt von dieser Person und freuen sich ehrlich mit ihr. Angesteckt durch so liebevolle Freude, bestärken sie das Mädchen in ihrer Wahl.

Sonnenstrahlen kitzeln durch das Fenster, scheinen zustimmend den Raum in eine Bühne zu verwandeln, eigens für diese kindliche Frohnatur.

Lebenswende, der große Schritt in Richtung Erwachsen sein, oh wie sie sich darauf freut, Erwachsen sein, endlich Erwachsen sein.

Plötzlich schneidet eine messerscharfe Stimme die Glückseligkeit.

Ihre Mutter war bislang nur eine auf einem Sofa sitzende Gafferin, die es genoss, wie die Kunden und Verkäuferinnen ihre wunderschöne Tochter in den Mittelpunkt rückten.

Doch jetzt scheint ihre Zeit gekommen zu sein. Wie ein Tsunami vergräbt sie die warme, gefühlvolle Stimmung, unter purer, eiskalter, erstickender Präsenz.

Augenblicklich bleibt die zarte Elfe stehen und fokussiert ihre Mutter, die sich vehement zu schlichteren Modellen ausspricht. Lächelnd, immer noch wunderschön, jedoch kleiner und noch zerbrechlicher wirkend, stimmt sie ihrer Mutter leise zu.

Die junge Aushilfe trägt etwas irritiert mehrere Modelle zur Ansicht, aus denen die Frau Mama eine Auswahl trifft.

Langsam macht sich in allen anwesenden GesichternUnverständnis breit, denn die Kleider sind zwar schlichter im Design, jedoch recht aufreizend.

Das Mädchen füllt mit ihrer zarten Gestalt keines dieser Modelle aus, aber ihre Mutter beharrt auf weitere Optionen, schlichte Stoffe und möglichst in Rot.

Dunkle Wolken saugen die Sonnenstrahlen ein und hinterlassen eine drückende Düsterheit im Raum.

Auch die Elfe scheint sich wie ein Sonnenstrahl tief in einen Kokon zurückzuziehen. Jedoch und merkwürdigerweise führt sie ihr Lächeln und zustimmendes Kopfnicken weiter, fast schon mechanisch und einstudiert aus.

Ein Verhalten, das die Aushilfe beirrt. Vorsichtig tritt sie an die Kabine, um sich zu versichern, dass das Mädchen wirklich diese Art von Kleidern wünscht. Ihr blicken zwei wässrige Himmelsaugen entgegen. Ein Tränentropfen verweilt an ihrem Kinn. Lächelnd versucht sie eine Antwort zu formen, dadonnert der bestimmende Mutterton durch den Raum, an den Wänden abprallend und als immer wiederkehrendes, kaltes Echo in die Ladenmitte katapultierend. “Rot, unbedingt Rot“

Endlich verlassen zarte, flüsternde Worte den Elfenmund. „Bitte kein Rot“.

Die Mandoline

Um es gleich zu sagen: Es war keine Mandoline. So sehr dieses Etwas – ein Gebilde aus kaum zu definierenden Materialien – darauf aus zu sein versuchte, es konnte ihm nicht gelingen. Bleiben wir der Einfachheit halber bei dem Begriff Mandoline. Sie muss schon zum Zeitpunkt ihres Entstehens wie mehrere hundert Jahre alt ausgesehen haben, so alt jedenfalls, dass ein weiteres Altern kaum möglich zu sein scheint.
Bevor wir ihrer ansichtig wurden, kam zuerst unser Sänger – ich nenne ihn Don Pedro – in die Bar ›Pino de la Virgen‹, einem gastlichen Ort mit einem lauschigen Innenhof in dem Dorfe Puntagorda im nordwestlichen Teile der Insel La Palma. Es war der Tag nach der großen Fiesta von Pfingsten. Die Gitarre, die Don Pedro mitbrachte, sah aus, als hätte er die letzten Jahre im Steinbruch gespielt. Ebenso hatte seine Stimme einen staubig-rauen Anklang, dem sowohl die ausgiebige Fiesta als auch das sich verflüssigende Blau seiner Augen, aus denen das Übermaß des Weines Ausflucht suchte, Erklärung bot. Don Pedro war kontaktfreudig, um nicht zu sagen, bedürftig, setzte sich zu uns, seine gedämpfte Redseligkeit immer wieder entschuldigend: »Mas vino …« Er griff, nachdem er einen Krug Wein bestellt hatte, in die staubigen Seiten, und sang mit seiner trotz aller Strapazen immer noch schönen Stimme.
Dann tauchte Manolo auf – ich nenne ihn so seines Instrumentes wegen – und setzte sich in Begleitung seiner Mandoline, und einer zu ihr in starkem Kontraste stehenden schönen Dame, zu uns.
Nun war sie da, diese Mandoline, dieses Gebilde, das jedem Bild eines Instrumentes, dem Musik einmal nahegekommen war, spottete, dem aber, wie sich bald herausstellte, eine solche Absicht innewohnte. Auffallend an dem Korpus – man möchte fast sagen: delikti – über den schräg und chaotisch eine Handvoll Drähte verliefen, die Saiten imitierend, bis zu einem krummen Halse herauf laufend und an dessen Ende untertauchend – war eine große Klappe.
Die meisten Klappen, besonders die großen, sind dazu angetan, mehr zu offenbaren, als allseits gewünscht ist, diese hingegen sollte verbergen. Denn dem scharfen Beobachter entging nicht, dass hinter dieser Klappe ein Innenleben verborgen war. So begann dieses Instrument, kurz nachdem Manolo unauffällig die Klappe geschlossen hatte (die Klappe der Mandoline), sich in virtuosen Akkorden zu ergehen, eine ansehnliche Begleitung, zu der Manolo, emsig die Finger über die besagten Drähte bewegend, seinerseits ohne eine weitere Klappe zu benötigen, aus vollem Munde mit schöner Stimme sang. Don Pedro stimmte mit ein. Seine Finger griffen voll in die Saiten, und wann immer die Lider seiner feuchten Augen ihrem Gewicht nachgaben, und seine Stimme Morpheus Nähe zu spüren schien, gab er sich einen Ruck, schwang sich zu einem neuen Forte auf, unterstrichen von dem markanten Vibrato italienischer Tenöre. Ein solcher Ruck war es wohl, der den Stein ins Rollen brachte, oder besser gesagt, eine gewisse Umschichtung seines Körperinhaltes auslöste, wobei die, durch welche Umstände auch immer, irrtümlich in ihn hineingelangte Luft, sich eruptiv durch seine Kehle die Freiheit zurückeroberte, dabei laut mit den Tönen des Gesanges konkurrierend. Es wäre fehl am Platze, hier von einem profanen Rülpser zu sprechen angesichts einer solchen Stimmgewalt. Diese unvorhergesehene Modulation in der Melodieführung brach den harmonischen Bann der Musik, und alle brachen in schallendes Gelächter aus. Mit Ausnahme von Don Pedro, dessen Augenlider an Hand dieser spontanen Entspannung ihrem Gewicht nachgaben, und den sich darunter befindlichen Körper in Ruhe hüllten, nachdem der Kopf, eine langsame Verbeugung beschreibend, den Tisch erreicht hatte. Das war dann Schlussakkord und Zugabe in einem, und was zu singen übrig blieb, das sollte ein andermal gesungen werden.

Du

Manchmal höre ich es gar nicht mehr. Das Geräusch blendet sich nahtlos in das Alltagsrauschen ein.
Dann wiederum macht es mich wahnsinnig. Ich würde dich gerne schütteln und anschreien. „Hör‘ verdammt nochmal damit auf“, würde ich brüllen. Einmal habe ich es versucht. Es hat nichts genutzt.
Seit ich dich kenne, tust du es. Das Knibbeln an deinen Fingern. Oft bis das Blut kommt.
Jetzt sitzen wir vor dem Fernseher. Ich gebe zu, bei dem heutigen Tatort schlafen mir auch die Füße ein. Aus dem Augenwinkel beobachte ich dich. Wie du mit den Fingernägeln über die rauen Stellen schabst. Und akribisch jedes Fitzelchen Haut abziehst. Allein das Zusehen tut mir schon weh.
Ich berühre deinen Arm. „Tut mir leid, ich habe es gar nicht bemerkt.“ Das schiefe Grinsen, das ich so gut kenne.
Du hast alles: Die Karriere, die Frau, die Kinder und das Haus. Dein Leben ist picture-perfect. Dennoch bist du ein Getriebener. Ich wüsste so gerne, was es ist, das dich verfolgt.

Die Verwandlung

Das große Geschäft, das älter war als ich, sollte heute sterben. Sterben, weil es kaputt gewirtschaftet worden ist und das nach über 50 Jahren. Der letzte Verkaufstag nach fast einem Menschenleben.
Überall waren Schilder angebracht mit Sale, letzte Gelegenheit, alles muss raus oder anderen Sprüchen, die die Waren preiswert anboten.
Der Verkaufsraum sah aus wie ein Schlachtfeld. Überall lagen Waren herum, zerwühlt, einfach fallen gelassen. Das Chaos herrschte überall.
Eine junge Verkäuferin sortierte Kleidung vor der Umkleidekabine der Damen. Müde sah sie aus, obwohl es erst Mittag war. Ihr Gang war schleppend und sie ließ die Schultern hängen. Ein liegen gelassenes grünes Kleid lag vor ihren Füßen. Sie hob es auf und betrachtete es. Die Farbe ihrer Augen und die des Kleides unterschieden sich nicht. Statt es aufzuräumen, nahm sie es und verschwand in der Umkleide. Es dauerte nur wenige Minuten und der fast heruntergerissene Vorhang, öffnete sich und sie trat in dem Kleid heraus. Ich schaute sie wie verzaubert an. Aus dem heruntergekommenen Kaufhaus war ein Schloß entstanden, mit einer wunderschönen Prinzessin. Sie hatte die Haare geöffnet. Lang vielen sie gelockt über ihre Schultern und mir schien es, als würde es leuchten, viel heller als die Deckenlampen. Das Kleid saß perfekt und betonte Kurven, die ich vorher nicht erahnen konnte. Sie schien gewachsen zu sein. Vorher war die Haltung ihres Körpers spannungslos. Das hatte mich in meiner Wahrnehmung getäuscht. Sie schaute in den Spiegel und ihr fein geschnittenes Gesicht erstrahlte. Ein Lächeln huschte ihr über die Lippen und entblößte dabei eine Reihe gerader, schneeweißer Zähne. Fasziniert von sich selbst, drehte sie sich vor dem Spiegel. Aus dem Entlein hatte sie sich, mit Hilfe des Kleides, in einen wunderschönen Schwan verwandelt. Kleider machen eben doch Leute.

Zurück

Das Radio läuft leise im Hintergrund. Nachrichten.

Als er das Wohnzimmer betritt, wirkt er müde. Erschöpft. Die Augenringe unterstreichen das ohnehin durch sein Alter gezeichnete Gesicht. Was ihn normalerweise klüger, weiser und intelligenter wirken lässt, wirkt jetzt ausgelaugt. Verheizt. Seine Falten wirken heute tiefer, seine Wangen eingefallener als sonst. Zur Begrüßung hebt er kaum seinen Blick und sinkt kraftlos auf den Esszimmerstuhl.

Während seine Frau und seine Tochter weiter über die Geschehnisse der vergangenen Tage plaudern, spricht seine gesamte Körpersprache Bände.

Seinen Kopf weiterhin gesenkt, fischt er sein Handy aus seiner Hosentasche und beginnt, planlos und abwesend darauf herum zu drücken. Wischt nach links. Wischt nach rechts. Hoch. Runter. Er nimmt scheinbar nichts um sicher herum wahr, bis er in seiner Bewegung innehält.

„Hagen. Die Polizei bittet um Ihre Mithilfe. Gesucht wird ein Mann mittleren Alters zwischen 1,75 und 1,85 groß. Mittelblondes Haar.“

Er greift neben sich, und stellt das Radio leiser. Sein Gesicht zu Stein erstarrt.

Was hatte er nur getan?

Heinz Müller

Heinz Müller war vierundvierzigeinhalb Jahre alt. Mit seinen Einmeterachtzig, dunkelblonden Haaren und braune Augen, war er genau so unscheinbar und durchschnittlich, wie es sein Name vermuten ließ. Er war schon in der Schule oder im Sport nie der Schlechteste, aber auch nie der Beste. Heinz lief in seiner Gewöhnlichkeit immer ganz selbstverständlich und unscheinbar mit.
Heinz stand jeden Morgen exakt um 6:30 Uhr auf, wusch sich, putzte die Zähne, rasierte sich und scheitelte sein Haar äußerst akkurat, zog seinen grau-weiß-gestreiften Bademantel an und begab sich Punkt 7:00 Uhr an den Frühstückstisch. Er aß wochentags zwei belegte Brote. Eines mit Leberwurst und eines mit Käse. Für die Arbeit schmierte er sich nochmal dieselbe Kombination. Nur sonntags gab es zur Abwechslung eines mit Marmelade und zusätzlich ein Ei. Nach dem Frühstück zog sich Heinz Müller den hellgrauen Anzug und ein weißes Hemd mit einer passenden grauen Krawatte an. Er band sich die schwarzen Lederschuhe und klemmte sich eine schwarze Aktentasche mit dem Frühstück unter den Arm, so dass er um 7:30 Uhr seine Wohnung in der Hauptstraße 6 verlassen konnte. Heinz war der fleischgewordene 3-er im Lotto. Belanglos, farblos und würde es ihn nicht geben, niemand hätte ihn vermisst. Er war nicht verheiratet; wäre er es, so hätte er sicherlich 1,53 Kinder. Nicht, dass das möglich wäre, aber 1,53 Kinder sind der Durchschnitt und Heinz Müller war Durchschnitt. Der Traum jeder Schwiegermutter, aber in seiner Belanglosigkeit unsichtbar für die Frauen in Heinz‘ Welt.
Heute war Mittwoch und wäre nicht Mittwoch gewesen, so fühlte sich doch jeder Tag in Heinz‘ kleinem Kosmos wie ein Mittwoch an. Sein Leben war ein Schwarzweißfilm und dieser tägliche Film führte ihn als nächstes zur Bushaltestelle, wo er genau zwei Minuten auf den Bus wartete. Dieser würde ihn zur Arbeit bringen. Zur Hausener Zahnradfabrik.

Bitte nicht schon wieder. Sie klappte die Augen auf und starrte eine Weile an die dunkle Zimmerdecke, während auf ihrem Nachttisch das Babyfon schrie. Sie drehte ihren Kopf zu dem uralten Digital-Wecker, spürte, wie sich dabei das Haargummi aus ihrem Dutt löste. 3:55 Uhr. Die Zahlen leuchteten blassrot. Es war das vierte Mal, dass Leon nach ihr rief. Erst vor 55 Minuten war sie bei ihm gewesen. Seine Schnupfennase quälte ihn, eigentlich sollte sie Verständnis haben. Er konnte nichts dafür. Doch jede Faser ihres Körpers sehnte sich nach Erholung.
Aufstehen, dachte sie. Aus dem Babyfon hörte sie Leon wimmern und husten. Sie würde ihn zu sich holen, ihn neben sich legen. Doch sie konnte nicht. Ihre Beine, ihre Arme, alles war schwer wie Blei. Einen Zweijährigen anzuheben, erschien ihr unmöglich. Sie hob ihren linken Arm und rüttelte leicht an Tomas‘ Schulter. „Kannst du gehen?“
Er grunzte, sein Atem roch nach Knoblauch und Bier. Sie verzog das Gesicht. Dann drehte er sich von ihr weg. „Er will doch eh nur Mama“, murmelte Tomas und war sofort wieder eingeschlafen.
Etwas in ihr begann zu brodeln. Sie richtete sich auf und stand ruckartig auf. Den leichten Schwindel ignorierte sie. Sie stapfte durch den Raum, öffnete so laut wie möglich die Schlafzimmertür und schaltete das Licht im Flur an. Im Augenwinkel nahm sie ihr Spiegelbild in dem kleinen Wandspiegel wahr. Die fettigen, braunen Haare, die graue Haut, die müden Augen. Scheiße, ey. Scheiße. Sie war ein Klischee. Die Tür ließ sie weit offenstehen, sodass der Lichtschein genau auf Tomas‘ Gesicht fiel. Sie sah, wie sich um seine Augen herum kleine Fältchen bildeten, als er sie fester zusammenkniff. Gut so.
Dann ging sie zu Leon ins Kinderzimmer.
„Sch-sch-schhh.“ Mit einer Hand strich sie über sein Gesicht. Die andere hatte sie zur Faust geballt.

Beitrag:

Sie schweigt. Den Blick nach innen gerichtet, ist sie offenbar weit in ihrer Vergangenheit und nimmt mich momentan kaum wahr. So habe ich die Muse, sie zu eingehend zu betrachten.
Klein scheint sie mir. Eher zierlich. Die Hände schmal und hell, stellenweise stark gerötet. Man sieht, sie haben viel gearbeitet. Als einziger Schmuck der Ehering. Ein schmaler Reif in Gold, recht abgerieben, hier und da zerkratzt. Offenbar ist er aus Vorkriegszeiten. Er steht für Jugend, Liebe, Hoffnungen und Leben.
Mit der zitternden Linken hält sie eine vergilbte Photographie. Der Rand ist gezackt und das Bild in schwarz-weiß, eindeutig von lange vor meiner Zeit. Zärtlich streicht sie mit der Rechten darüber. »Mein Bruder«, sagt sie mit einem kleinen melancholischen Lächeln.
Ihre Lippe lässt den einstmals schönen Schwung immer noch erahnen. Die leichte Mulde in der Mitte, die sich rechts und links zu kleinen Spitzen hebt, um dann in erstaunlicher Symmetrie zu den Mundwinkeln zu sinken. Die Unterlippe noch immer voll, wenn auch schon längst von vielen kleinen Fältchen umgeben.
Ihre Wangen wirken eingefallen, das Gesicht ist blass. Irgendwie erscheint sie mir müde. Erschöpft. Vielleicht vom langen Leben? Zu vielen Abschieden, zu vielen Verlusten? Keine Kraft mehr für Gefühle?
Doch der Blick auf ihren Bruder scheint lebendig. So voller Zuneigung, Liebe, Verbundenheit und gemeinsamen Erlebnissen. Mich sieht sie nie so an. Ich gehöre nicht dazu, bin generationenweit von ihr entfernt. Schade eigentlich. Ich hätte sie gerne als junge Frau gekannt.
Welche Farbe wohl ihr Haar hatte? Sicher irgendeine Abstufung von Braun. Mausig. Ähnlich meinem, immerhin. Jetzt ist es grau und dünn. Trotzdem trägt sie es weiterhin lang, im Nacken zum Knoten gebunden, so wie seit ewigen Zeiten.
Ich kenne sie nicht anders, habe kaum eine andere Erinnerung an sie. Eine alte Frau, unaufdringlich, anwesend, aber nicht präsent, der Vergangenheit verhaftet. Eltern, Brüder, Freunde, Mann und Sohn schon längst verloren, den Schritt zur nächsten Generation nicht mehr geschafft.
Sie dreht den Kopf in meine Richtung. Ihre grau-blauen Augen bleiben an mir hängen. Von weit weg kehrt sie zurück und fragt ganz leise »Meinst du, es gibt noch eine Tasse Kaffee?«

Bearbeitet: doppeltes Wort entfernt

Was siehst du, wenn du nachts aus dem Fenster eines fahrenden Zuges blickst?
Ich kann es dir erzählen.
Du siehst: Immer. Nur. Dich.
Zugbeleuchtung ist hell, Zugbeleuchtung ist grell. Wenn du die Augen schließt und dann nach einer Weile blinzelst, blitzt es, und du denkst, du bist auf irgendeinem beschissenen Fußballplatz mit Fluchtlichtscheinwerfern. Aber sobald du dich wieder dran gewöhnt hast – an diese Lampen, die weder weiß noch gelb leuchten – kannst du den Kopf drehen, hin zum Fenster, nach links oder rechts, wo auch immer du sitzt, und dort bist dann du. Du in gemütlicher Reisekleidung. Du mit verstrubbelten Haaren, weil du deinen Anschlusszug verpasst hast wegen einer Verspätung, die keiner hat kommen sehen, oder bei der jeder so getan hat, als hätte er sie gar nicht kommen sehen. Wie wenn sie im Winter auf den Anzeigen über den Nasen der frierenden Fahrgäste die berühmten Buchstaben wild herumtanzen lassen, die sich zusammenfügen zu einem Satz, bei dem sich wirklich jeder denkt, auch die die kein Englisch können: No fucking shit, Sherlock?!

Aufgrund starker Schneefälle kommt es zu Verspätungen. Wir bitten um Entschuldigung.

Schnee, da rechnet ja keiner mit im Winter.
Jedenfalls hast du da eine Stunde gehockt, und der Wind hat gepfiffen, und du hast drauf gepfiffen. Was anderes bleibt einem da ja nicht übrig, denkst du. Du guckst aus dem Fenster, aber es geht nicht. Wie immer nachts im Zug. Keine Ahnung, worauf du diesmal wieder gehofft hast. Sterne gibt’s nicht zu bestaunen um 20:57 Uhr, ah, doch, guck mal, der Gürtel des Ori-
Hör doch auf zu lügen. Nachts sind alle Katzen grau. Nachts spiegeln alle Zugfenster immer, nur, dich.
Also beschließt du, dass du dich ja schon kennst, und, dass es irgendwie gar keinen Sinn ergibt, wie ein Kleinkind von beiden Seiten mit deinen beiden Händen deine beiden Augen abzuschirmen, weil dich ALLE für bescheuert halten würden. Aber ob der Tp mit der Bierflasche anwesend ist, der das andere Viererabteil genauso allein besetzt wie du? Der guckt eigentlich immer nur dann rüber, wenn du wie eine Bekloppte auf deine Tastatur einhämmerst, weil die y-Taste mal wieder den Geist aufgegeben hat.
Drauf gepfiffen. Künstlerische Freiheit.
Was siehst du, wenn du nichts siehst? Ich sehe was, was du nicht siehst, und das bist du oder ich. Oder ein einsamer Tp mit einer Bierflasche auf dem Weg nach Berlin, der lieber ein Typ wäre. Mit y.
Du siehst keine Katzen, weil du durchs „Fledermausland Brandenburg“ bretterst, und keiner seine Mieze mit’m Regio mit in den Urlaub nimmt. Auch noch nach Berlin. Keiner macht das. Außerdem sind die nachts eh alle grau, und dann könnte die auch keiner mehr von diesem w u n d e r s c h ö n e n Boden in den Bahnen unterscheiden. Der ist nämlich auch so grau. W u n d e r s c h ö n grau und texturiert. Ach, die x-Taste geht! Na immerhin, x ist ja fast y.
Fazit: Wenn du nachts aus einem Zugfenster guckst, siehst du immer; nur; dich. Und dann siehst du dich dahinter nochmal kleiner. In der Spiegelung der Scheibe von der Spiegelung der Scheibe nämlich. Und dann siehst du in der Spiegelung der Scheibe von der Spiegelung der Scheibe von der Spiegelung der Scheibe – den Bahnhof Beitz, ach, halt: Baitz natürlich. Mit „ai“, behauptet die Anzeige, die weder orange noch gelb leuchtet. Immerhin nicht mit y. Wobei das ja jetzt auch nicht mehr schlimm wäre, jetzt wo sich die y-Taste wieder eingekriegt hat, hmpf.
Und dann bemerkst du, dass du aus Baitz wieder rausgefahren bist. Und in Mark gibt’s auch nur so zwölf leuchtende Straßenlaternen vor dem Bahnübergang, aber kein Licht auf dem Bahnsteig, und wenn du also aus dem Zugfenster guckst, siehst du -

Frühstücksbegegnung

Gemütlich, bei einem Cappuccino und einer Brioche, saß ich an einem Tischchen im Freien vor einer Frühstücksbar mit Sicht auf die Hafenmole von Camogli. Salzige Meerluft füllte meine Lungen und wohlige Sonnenstrahlen bräunten mein Gesicht. Sanft schaukelte das dunkelgrüne Hafenwasser seine Boote. Müde Seeleute reinigten das Deck von den Überresten ihres nächtlichen Fischfangs oder flickten zerrissene Netze. In der Ferne der sonore Horn-Basston eines Kreuzfahrtschiffes.

Weißgraue Wolkenstreifen zeigten sich plötzlich am sonst azurblauen Himmel und legten meine Stirn kurz in bedenkliche Falten.
»Kein Grund zur Sorge, das Wetter hält sich«, mischte sich ein kleiner stämmiger, etwa siebzigjähriger Mann in meine Gedanken. Sein kurzärmliges, weiß-blau gestreiftes Seemannshemd und seine Bluejeans, deren Überlänge einen großen Umschlag über den Holzpantinen erzeugten, wiesen ihn als einen der hiesigen Seebären aus.
»Und darauf kann ich mich verlassen?«, überprüfte ich seine Aussage.
»Wenn es nicht so wäre, würde ich es nicht gesagt haben«, erwiderte der Alte bestimmt, aber mit einem sympathischen Lächeln.
Ich nickte. Sicher ein erfahrener Seefahrer, ging es mir durch den Kopf.
»Darf ich Ihnen vielleicht einen Kaffee anbieten?«, lud ich ihn ein.

Er setzte sich zu mir an den Tisch, bekundete aber mit seinem fast lippenlosen Mund einen wählerischen Ausdruck.
»Lieber ein Glas Rotwein,« forderte er.
Ich bestellte den Wein, und während er mir von seinen Reisen auf den Weltmeeren erzählte, betrachtete ich ihn mir etwas genauer.

Ein seltsamer Kauz saß mir da gegenüber. Eigentlich hätte ich den gewohnheitsmäßigen Trinker sofort an seiner rötlichen Knollennase, die von feinen, violett-bläulichen Gefäßen durchzogen war, erkennen sollen. Zudem bildete seine enormes Riechorgan ein wirkungsvolles Pendant zur roten Bommel auf seiner dunkelblauen Strickmütze, die der Alte wie ein Militärbarett auf seinen silberweißen Haaren trug. Kleine, aufmerksame Augen, deren Pupillen eine leichte Trübung aufwiesen, standen wie zwei Wachmatrosen unter der kurzen Stirn des Seemanns. Seine wettergegerbte Haut war dunkel gebräunt. Ein Meer von Fältchen verteilte sich darauf, gleich der gekräuselten Wasseroberfläche, wenn ein lauer Wind darüber fährt. Tiefe, vertikale Falten, wie enorme Ozeanwellen, zeigten sich hingegen links und rechts seines Mundes, unterhalb der ausgeprägt hervortretenden Wangenknochen. Die Navigationskarte eines langen, harten Lebens an Bord hatte sich hier in ein menschliches Antlitz geschrieben.

Der Inhalt seines Glases war schnell geleert. Für einen zusätzlichen Becher Wein wollte er gerne sein Seemannsgarn noch weiter spinnen. Ich vertagte ihn aber auf ein anderes Mal, denn auf mich wartete jetzt eine Bootstour nach San Fruttuoso di Camogli.

Die Schöne ist gekommen (lösch die Zeile wenn du keinen hast)

Die Ambulanz ist wieder voll. Die meisten hier haben einen Infusionsständer als Begleiter an ihrer Seite, mit dem sie durch einen dünnen Schlauch verbunden sind, ihre Nabelschnur zum Leben. Es ist sehr ruhig in dem großen Raum, viele wirken abwesend, scheinen kaum Notiz zu nehmen von ihrer Umgebung.
Eine Frau betritt den Raum. Auch sie hängt an einer Nabelschnur, aber das scheint sie nicht weiter zu stören. Die Art, wie sie den langen Schlauch über ihrem Arm trägt, erinnert mehr an einen eleganten Schal als an ein medizinisches Utensil.
Sie geht sehr aufrecht, so, als wolle sie sagen, " Seht her, ich bin immer noch da".
Ihre sorgfältig geschminkten grünen Augen sind nicht gesenkt wie bei den Meisten hier im Raum. Sie nimmt ihre Mitstreiter bewusst wahr und grüßt manche von ihnen mit der Andeutung eines Lächelns, ein Lächeln, das in dieser Umgebung so rar geworden ist.
Sie trägt den Kopf sehr hoch, einen völlig kahlen Kopf. So, wie sie ihn hält, erinnert sie an eine altägyptische Herrscherin, die ihr Gefolge grüßt.
Ich nenne sie ‚Nofretete‘ ‚Die Schöne ist gekommen‘.
Sie versteckt sich nicht unter einer Perücke. Sie sieht ihrem Schicksal ins Gesicht.

Der kleine Bruder

Aus Richtung Wohnzimmer fiel ein Streifen schmutziges Mondlicht in den Flur. Fahles Blau vermischt mit dem Schwefelgelb der Plastikplane, die seit dem letzten Beschuss die zerborstenen Fensterscheiben ersetzte.
Anja kauerte auf ihrer Matratze am Boden, die viel zu weite Wolljacke über die angewinkelten Knie gezogen. Ein wacher, einsamer Berg am Ende einer Hügelkette aus buntgeblümten Kissen und Decken, unter denen die anderen im sicheren Gang schliefen. Ihre beiden Kinder, die Schwiegermutter, die Nachbarin und irgendwo zwei Katzen. Den gefährlichsten Schlafplatz nahe dem Wohnzimmer hatte wieder, wie selbstverständlich, der junge Mann gewählt, der vor drei Tagen an die Türe geklopft und sich noch in ihrer Umarmung entschuldigt hatte: „Irgendwo habe ich meinen Wohnungsschlüssel verloren.“ Kleinlaut, in einem kindlichen Tonfall, der so gar nicht zu dem kratzigen Wildwuchs in seinem Gesicht und dem Oliv der harten Soldatenmontur passen wollte.
Wie um sich nochmal, zum ungezählten Mal, zu vergewissern, dass sie nach einem halben Jahr ihren kleinen Bruder zurückhatte, glitt ihr Blick zu dem zusammengerollten Juri – und kehrte auf halben Weg um.
Sie atmete tief ein, presste die blassen Lippen zwischen die Zähne, als ließen sich so die Fragen einsperren, die er ihr verboten hatte zu stellen. Und die seither in ihrem Kopf immer schlimmere Antworten erzeugten.
Mit dem Ausatmen, langsam, steif vom Klammern, löste sie die Arme von den spitzen Knien, zog die Rechte mit dem Handy aus dem Unterschlupf des Jackenärmels. Schon eingewachsen schien es zwischen ihren langen Porzellanfingern, seit Monaten wichtiger als Essen und Schlafen. Jetzt ignorierte sie die neuen Posts, die Warnungen, die Lebenszeichen, die Fragen der Freunde, wischte sich zu dem Video durch, das sie wie eine Nabelschnur am Leben hielt. Das Letzte bevor …
Ein Kontrollblick, ja, das Lautsprechersymbol war durchgestrichen, dann der Fingertipp auf das weiße Dreieck. Ein Schwenk über flache Landschaft begann. Schnee auf dem Rückzug, gescheckt mit altem, müden Grün, das frische noch verschlafen in der nassen Erde. Im Hintergrund dunkle Nadelbäume, weiß gezuckert unter einem gleißenden Februarhimmel. Plötzlich platzt ein rundes, lachendes Männergesicht in das Bild, mit kälteroter Nase und gelber Pudelmütze. Der Ausschnitt wackelt.
„Juri du Idiot, du versaust mir das Video!“, ersetzt Anja leise den fehlenden Ton.
Ihr Bruder tanzt ein paar Schritte zurück, winkt und schneidet Grimassen. Mit 21 noch immer die Nervensäge aus Kindertagen. Seine Lippen formen Worte.
Anja flüstert sie: „Langweilerin, na los, komm schon!“
Ihr Bruder bückt sich, streicht Schnee zusammen, rollt einen Ball und droht zu werfen. Wieder zittert das Bild, etwas fliegt unscharf vorbei. Ende.
Ein Fingertipp auf das weiße Dreieck. Nochmal Schnee, Lachen ohne Ton, hell in ihren Ohren, als wäre es gerade eben.
Sie hörte das schwere Schnaufen neben ihr. Wollte es nicht hören.
Ein Fingertipp. Nochmal Schnee. Eine Minute Vergangenheit voller Glücksglut.
Juri warf sich herum, stöhnte.
Sie musste nicht hinsehen, wusste, dass seine Augen unter den Liedern wie kleine Bälle hin und her flogen, während er einen Kampf austrug, der ihn jede Nacht tiefer in einen bodenlosen Schlund zu ziehen drohte.
Ein kehliger Laut. Immer die letzte Warnung.
Sie zog die Knie dicht an die Brust, vergrub den Kopf zwischen den Armen, drückte sie gegen die Ohren. Jeder Muskel Stein in Erwartung des Einschlags.
Juri schrie. Schrie und schrie die Unerträglichkeit des Erlebten in die Nacht.

Er sah aus wie ein obdachloser Assassine. In der Stuttgarter Königstraße, angelehnt an der Kirchenwand sitzend, zerrissene ausgewaschene Jeans, ausgewaschener dreckiger dunkler Pullover mit im Gesicht hängender Kapuze, ebenfalls befleckte Boots, alles in schwarz. Er hatte leicht verfilzte Haare und einen längeren grauen Bart, ebenso gräuliche, intelligente Augen und wettervernarbte Haut. Er wirkte verlebt, aber schien mit dem streng gezogenen Mund eine Art Bauernschläue auszustrahlen. Kalkül war seine Aura, gerade durch seinen berechnenden Blick nach vorne aus und durch dem, was er mit der Faust hielt. Er weckte dadurch erst richtig meine Aufmerksamkeit und auch die einiger Kinder, die mit dem Finger darauf zeigten und neugierig näherkamen: Drei kleine braune Welpen, mit Kulleraugen und den Vorderbeinen strampelnd, herzerweichend in Bewegung und jauchzenden Lauten, wurden von ihm am Nacken gepackt und leicht über den Boden gehalten. Sein eisiger Scharfblick und seine Erscheinung, die mit ihrer Härte im Kontrast zu den kleinen Hunden standen, machten klar, dass er die Hunde dazu ausnutzte, um Geld zu bekommen. Mehr noch – er strahlte so viel Verschlagenheit aus, dass ich ihm unweigerlich Schreckliches zutraute, gerade auch durch seinen für die Tierchen nicht gerade angenehmen Gripp um deren Nacken. Mir kam es nämlich vor - und das verstärkte bei mir die Vorstellung von einem Assassinen -, als ob er jederzeit bereit wäre, ihnen den Nacken zu brechen, wenn er dafür Geld bekommen würde. Seine Finger könnten es mit ihrem Sitz an deren Nacken augenblicklich tun. Natürlich könnte es sein, dass er so wirkte, weil er müde war und hungrig, und er nutzte die Hunde vermutlich als Geldquelle, liebte sie aber dennoch, denn immerhin musste er sie ja mitdurchfüttern. Wenn er das denn tat. Und selbst wenn ich Recht haben und seine Ernsthaftigkeit richtig einschätzen sollte, die so ein Gegensatz zu den süßen strampelnden Hunden und den interessierten näherkommenden Kindern war, als wäre er eine Statue und die Hunde und Kinder aus einem anderen Jahrhundert als seiner Fertigstellung, kam mir ein Gedanke, der mich nicht losließ: wer wäre unmenschlicher, ein Mensch, der süße kleine Tiere ausnutzt um zu überleben und sogar bereit wäre ihnen was anzutun – oder ich, der das Leben dieser süßen kleinen Tiere über das Überleben eines Menschen stellt, weil ich sein Verhalten verurteile?

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»Soll ich dir verraten, was mich am meisten an diesem Mädchen nervt? Ihr ganzes überhebliches Gehabe. Sie sitzt nur in Kuschelwarm herum, was übrigens ein saudämlicher Name für eine Gastwirtschaft mitten im Nirgendwo ist. Also, sie trinkt den ganzen Tag nur ihren Tee, während wir die Arbeit machen müssen. Ich weiß nicht, was schlimmer stinkt, das ekelhafte nach Spinat riechende Gebräu oder ihr Verwesungsgeruch. Ständig diese Geschichten, dass sie eine 700 Jahre alte Prinzessin sei, 700-mal schöner und mächtiger als alle anderen Prinzessinnen zusammen, wurde aber von Meuchelmörder vergiftet und anstatt zu sterben, wurde sie irgendwie verjüngt und blabla - wie soll sowas funktionieren. Was ein Schwachsinn. Ich muss mir diesen Mist wöchentlich anhören und es nervt. Es nervt unglaublich – habe ich etwa herumgeheult, als ich in diese Welt gestoßen wurde? Nein, ich versuche, das Beste aus der Situation zu machen. Und dann ständig diese anzüglichen Andeutungen und Anspielungen, wenn sie sich herablässt, mit uns zu reden – was relativ selten passiert – zugegeben, aber ist dir das nicht auch schon aufgefallen? Das ist einfach nur geschmacklos. Ich sehe ein stinkendes, kleines untotes Mädchen mit grünen Haaren, allein der Gedanke, dass irgendjemand ihre bleiche, verwesende Haut berühren könnte, lässt mein Essen wieder hochkommen. Soll ich dir ein Geheimnis anvertrauen? Also, gestern habe ich sie nachts heimlich belauscht und soll ich dir verraten, was sie auf der Toilette gemacht hat? Schau mich nicht so an, die Situation hat sich einfach so ergeben, als ich zufällig das Geräusch gehört hatte – also, sie hat dort geweint. Ist das nicht merkwürdig? Gerade sie, die sich immer unantastbar gibt, versteckt sich auf der Toilette, um heimlich zu weinen. Klar ist das traurig, da hast du schon recht, aber habe ich etwa herumgeheult, als ich damals hier gelandet bin? Und sie trägt immer dasselbe zerrissene Kleid. Welche Prinzessin läuft in kaputten Kleidern herum. Ich habe ihr letztens angeboten – ganz höflich und nett – ihr neue Kleidung zu kaufen und weißt du, wie sie reagiert hat? Sie hat mir eine Ohrfeige verpasst und irgendwas von, wie unverschämt ich sei, geredet. Pah. Dann eben nicht, was für eine verzogene Göre. Und wenn sie denkt, dass sie ihre verwesende Beine durch kniehohe Stiefel verstecken könne, dann liegt sie einfach nur falsch. Wenigstens der Rest sieht halbwegs normal aus. Wen will sie damit täuschen? Aber dann im kürzestem und knappsten Kleid herumlaufen, das sie finden konnte. Einfach nur bizarr. Mich hatte sie damals keine Sekunde lang damit getäuscht. Und dann wie sie herumläuft, als würde das Gasthaus ihr gehören und wir wären ihre Diener. Ständig mit erhobenem Haupt herumstolzieren und von unten auf uns herab sehen. Vielleicht klingt es verrückt, aber ich habe manchmal den Verdacht, dass sie weiß, was wir über sie denken. Ich mein, was wir wirklich im Kopf denken. Ist das eine Spezialkraft von ihr, Gedankenlesen? Ich habe schon selber gesehen, wie sie im Kampf ihre Beschwörungsmagie angewandt hat, und scheint damit ein hohes Level erreicht zu haben. Ach ja, mir ist immer noch schleierhaft, warum es unanständig ist, jemanden nach seinem Level zu fragen, sie will mir ihr Level übrigens auch nicht verraten. Ich kann nicht mit dem Finger darauf deuten, aber mein Gefühl sagt mir, dass sie weit aus mehr Fähigkeiten besitzt, als sie uns bisher gezeigt hat. Psst, sie kommt gerade in unsere Richtung. Na toll, und wir sind gerade beim Essen. Hoffentlich kann ich lange genug die Luft anhalten, bis sie vorbeigegangen ist.«

Blind unterwegs

Unterwegs:

Ich mache mich auf den Weg, um ein paar Einkäufe zu erledigen. Die Sonne scheint bei klarer Luft, für Ende Oktober ist es angenehm warm und ich genieße die Sonnenstrahlen. Mir kommt ein Pärchen entgegen, sie wirken etwas jünger als ich. Beide tragen bequeme dunklere Kleidung und halten sich an den Händen. Während sie sich unterhalten, lachen sie, ihre Worte kann ich nicht verstehen. Sie wirken gut gelaunt und vertraut miteinander, ihr Schritt ist zügig und schwungvoll. Genauso schwungvoll biegen sie nach links ab, in Richtung einiger Geschäfte. Beide halten in ihrer jeweilig freien Hand einen Blindenstock, an dessen Ende eine Art Ball befestigt ist. Denn die beiden sind blind oder haben zumindest eine starke Sichtbeeinträchtigung. Sie bewegen sich selbstsicher voran, wäre der Blindenstock nicht, würde man kaum merken, dass sie blind sind. Ich bleibe noch einen Moment stehen und verfolge sie mit meinen Blicken. Von den anderen Passanten werden sie kaum beachtet. Jeder ist mit sich selbst beschäftigt. Dann gehe ich weiter, während meine Gedanken sich mit den beiden auseinandersetzen. Da ich selbst ebenfalls eine Sehbeeinträchtigung habe, kommt die Frage in mir auf ob ich auch so gut zurechtkommen würde. Schnell verwerfe ich den Gedanken und sage mir: „Ach, das wird schon alles.“ Deshalb ist mir so wichtig, dass ich alles was ich sehen kann, mit den Augen, dem Gehirn und der Seele einfange und irgendwie abspeichere. Die Bilder, die ich in der Erinnerung habe, kann mir nichts und niemand nehmen.

Schotter knirscht unter den glänzenden, schwarzen Stiefeln, als die junge Frau unsicheren Schrittes dem Weg durch den Park folgt. Sie ist schlank und trägt eine eng anliegende, dunkle Strumpfhose. Ein karierter Rock lugt unter ihrem schwarzen Mantel hervor.
Die abendliche Sonne taucht den Park in ein goldenes Licht und die spiegelglatte Oberfläche des Sees reflektiert einen makellosen Himmel. Eine einzelne Ente gleitet vom Ufer in das kühle Nass.
Die junge Frau hält den Kopf gesenkt und scheint ihre Umgebung überhaupt nicht wahrzunehmen. Das lange blonde Haar erstrahlt in den letzten Sonnenstrahlen.
Einen Arm hält sie angewinkelt vor ihrer Brust, die Hand bildet eine glatte Fläche auf der ein glänzender Gegenstand ruht. Ihr Gesicht wirkt blass im blauen Schein des Displays und sie scheint mit sich selbst zu sprechen.

Wolf im Tofumantel

Die Personalchefin, der Verkaufsleiter und die Vorsitzende des Betriebsrates blickten ihm lächelnd nach, als er das Büro verließ und mit langen Schritten die Fabrikhalle durchpflügte. Der Prototyp eines Abteilungsleiters, prädestiniert dafür, ein angenehmes Klima zu verbreiten.
Er würde nicht nur daran interessiert sein, die Wogen zu glätten, sondern gleich jegliche Wasserbewegung vermeiden, überlegte die Personalchefin, ohne selber einen Gedanken daran zu verschwenden, dass Brackwasser stinkt. Ja, er würde seine Sache gut machen.
Und genauso kam es. Wie ein Klumpen Tofu das Aroma seiner Beilagen annahm, fügte sich Ingo Lehmann in den Betrieb ein. Mit seiner dunklen Jeans, dem anthrazitfarbenen Jackett und den Nikes schien er sich in den Büros der leitenden Angestellten ebenso zu Hause zu fühlen wie in den Produktionshallen. Nur, dass sowohl das Jackett als auch sein Sozialleben von der Stange waren und die Familie secondhand. Aber das sah man ihnen nicht an.
Seinen Worten fehlte jeglicher Eigengeschmack. Wohlwollend, ohne Kommentar, spiegelte er die Gefühle seiner Gesprächspartner, sodass diese schlimmstenfalls glaubten, sie säßen im Wartesaal, während sie längst im Hospiz dahindämmerten.
Er versprach nichts, gab ausschließlich Anweisungen weiter und war für keinen Missstand verantwortlich.
Wenn, was äußerst selten geschah, eine Äußerung oder gar eine Meinung zu ihm durchdrang, so spülte er sie mit einem Schluck stillen Mineralwasser hinunter.
Und doch, oder gerade deswegen, war er bei allen Kollegen gleichermaßen beliebt.

Sie hat sich eingerichtet in der Welt des öffentlichen Dienstes.
Frisch angekommen in der Abteilung war sie noch die Nette, die Wissbegierige, die ab und zu zaghaft Erlerntes aus der Ausbildung in die Runde warf.
Diese Phase reichte auch nur bis kurz vor der Verbeamtung. Ihr Gewicht war ein Problem, dass sie sich runterhungerte. Die Urkunde zur Beamtin auf Lebenszeit und das ungesunde Fastfoodessen machten das wieder zunichte. Die Körperfülle wird täglich mit Schwarz kaschiert. Die schwarzen Haare, die ihr teigiges Gesicht einrahmen, tun ein Übriges.
Das fröhlich geflötete „Guten Morgen“ ist nicht echt. Es gehört zur Show. Sie weiß über jeden und alles Bescheid und nutzt das bei Gelegenheit auch gern. Ein Klatschmaul, wie es im Buche steht. Es grenzt an ein Wunder, dass überhaupt noch jemand mit ihr spricht. Aber anscheinend ist sie nicht die Einzige mit dieser Passion. Eine Kollegin, die man ungern als solche bezeichnet und eigentlich links liegen lassen würde.
Wenn man da nicht wüsste, dass sie mit der Familie gebrochen, allein zu Hause mit dem Kater vor sich hinlebt und ihr einziger Kontakt nach draußen die Arbeitswelt ist.

Im Zug

Wenngleich sie frisch gewaschen sind, fallen ihr die Haare strähnig ins Gesicht. Mit einer fahrigen Bewegung wischt sie die fettig wirkenden blonden Wellen zurück. Ihr Mundwinkel zuckt leicht und sie drückt sich den linken AirPod etwas fester ins Ohr.

„Ja, ich habe durchaus verstanden, aber …“

Von ihrem Gesprächspartner unterbrochen, verstummt sie und verzieht den Mund nun sichtlich ungehalten. Während er redet, betrachtet sie sich ihre perfekt gefeilten, blau lackierten Nägel, überprüft, ob jedes einzelne Strasssteinchen darauf auch noch gut hält.

Der Zug ruckelt bei einer Weiche. Ihre Tasche rutscht leicht vom Sitz, sie rückt sie beiläufg zurecht.

Die streitenden Kinder im Abteil gegenüber ignoriert sie gekonnt, wirft der gestressten Mutter aber einen bösen Blick zu, als der Junge das Mädchen an den Haaren zieht – und das Mädchen laut zu schreien beginnt.

„Wenn Sie meinen“, gibt sie schliesslich mit genervtem Unterton klein bei, unterdrückt ein tiefes Seufzen und unterbricht die Verbindung.

Sie tippt eine Nachricht auf ihrem Smartphone – oder eine Notiz, scheint damit noch nicht fertig zu sein, als der nächste Anruf eingeht.

„Ja bitte?"

Border Force
Zentimeter für Zentimeter rückt die Menschenschlange voran. Ich sehe rote, blaue oder schwarze Heftchen in jeder Faust und ahne, dass es nicht funktionieren wird. Noch fünf Personen, noch vier noch, drei … noch zwei. Ich stehe vor der fleckigen Scheibe und betrachte die Speckfalten eines etwa fünfzigjährigen Nackens. Die bleistiftgrauen Stoppeln lassen einen billigen Friseurbesuch erahnen, der vor allerhöchstens fünf Tagen erfolgt sein muss. Oder der Mann hat selbst Hand angelegt. Wahrscheinlich mit einem Barttrimmer. Als er endlich aufblickt bin ich wie hypnotisiert von diesen farblosen Echsenaugen. Keine Wimpern. Oder so blass, dass sie sich von seinem gelblichen Teint kaum abheben. Ich sehe, dass der kleine Mund sich bewegt, aber das Klopfen meines Herzens ist zu laut, als dass ich verstehen könnte, was er sagt.

Ich lese von den schmalen, blutarmen Lippen: PASSPORT!

Zitternd schiebe ich den Personalausweis in den Durchlass. Seine überraschend gepflegten Fingernägel glänzen wie lackiert im unbarmherzigen Neonlicht. Er zieht die Karte in wenig näher, studiert die Aufschrift. Sorgfältig. Lange. Ich schöpfe Hoffnung. Kleine, graue Zähne werden sichtbar. Er hat etwas gesagt.

Ich beuge mich vor: „Excuse me, Sir?

„PASSPORT.“ Kein Fragezeichen in der Stimme, nur eine neutrale Feststellung. Eine eher gelangweilte. Ohne jeglichen Vorwurf. Ich schüttele den Kopf.

„No passport.“

Jetzt studiert er mich. Mir wird eiskalt. So muss ein Hai seine Beute betrachten. Ich halte verzweifelt den Blick auf dem gestickten Schild seiner Uniformjacke: Border Force.

„Two options.“ Die steilen Beaglefalten unter der tiefsitzenden Kappe vertiefen sich. Seine Schultern straffen die eng sitzende Uniform.

„You book a flight to any destination immidiately. Or …“, die Mundwinkel mit Spuren seiner letzten Mahlzeit heben sich dezent: „Fingerprinting and border force escort to your homecountry on your own cost.“

Ich glaube er lächelt jetzt, bin mir aber nicht ganz sicher.

„You do not want that. Trust me.“