Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Während sie halbherzig ein paar kleine Steine den Sandhügel hinunter kickte, blickte sie verstohlen zu den anderen Kindern, die am Anger Fußball spielten. Die ersten Blätter fielen von den Bäumen und wirbelten im Wind über die Baustellenlandschaft.
Ihre blonden Zöpfe wackelten, wenn sie von Hügel zu Hügel hüpfte. Ihre Schultern hatte sie hochgezogen und die Hände in den Ärmeln versteckt. Eines der Kinder vom Anger winkte ihr zu und rief, ob sie vielleicht mitspielen wolle, aber sie schüttelte den Kopf und drehte sich weg. Ein weiterer Stein wurde beiläufig den Hügel hinunterbefördert. Sie breitete die Arme aus, ließ sich den Wind um die Stupsnase wehen, zählte lautlos bis drei und sprang. Sie landete auf dem Hosenboden, rappelte sich auf und schoss einen der größeren Steine gegen die Schaufel vom Bagger, der neben dem Hügel stand und am Wochenende frei hatte. Dann riss sie mit einem unauffälligen Seitenblick jubelnd beide Arme in die Höhe. Niemand hatte ihr Tor gesehen.

Ich hielt einen Moment inne, sah mich um und betrat durch das kleine quietschende Tor das Gelände. Heute lag dichter Nebel in den Baumreihen und im Grau des Himmels war die Sonne dahinter versteckt. Vereinzelt wirbelten herabfallende Blätter von den Bäumen auf den Weg. Die roten Kieselsteine knirschten unter meinen Schuhen.
Ich kam oft hierher. Meist um die Mittagszeit, da war es stiller.
Aus dem Nebel kommend, erkannte ich schemenhaft eine Gestalt. Schwer war der Gang des Mannes. Der Körper leicht nach vorn gebeugt, was ihn kleiner erscheinen ließ. Er kam näher und ich sah, dass er einen Strauß verwelkter Blumen in der Hand hielt. Seine dunkle Jacke trug er offen. Trotz seines hohen Alters war er sportlich gekleidet. Er kam auf mich zu, hob den Kopf und grüßte mit leiser Stimme.
Ich erwiderte den Gruß und sah in ein versteinertes, fahles Gesicht. Tiefe Furchen lagen unter den Augen, die dunkel wirkten. Er wendete sich ab und ich sah ihm nach.
Der Mann führte seinen Weg fort, den Blick wieder zum Boden gerichtet.
Ein paar Schritte trennten mich vom eigenen Ziel. Dem Stein mit dem Namen meiner Mutter.

„Auch das noch!,“ der empörte Ausruf von Tantchen, nachdem der HNO-Arzt ihr die Auswertung ihres Hörtests unterbreitet. Tante Klara ist im 85.Lebensjahr. Schon längere Zeit beobachteten wir das rapide Schwinden ihres Hörvermögens. Noch ist Tantchen rüstig. Körperlich und geistig voll auf der Höhe. Wenn wir sie auf dieses Defizit angesprochen haben, kam immer dieselbe Antwort. „Nein, nein, ich bekomme noch alles mit. Es ist alles im grünen Bereich.“

Sichtlich nervös kramt sie in den Untiefen ihrer riesigen Handtasche, bis sie schlussendlich ein Schneuztuch hervorkramt. „Nun beruhigen sie sich erst einmal. Dann gehen sie zum Hörgeräte-Akustiker. Der unten im Haus, übrigens eine sehr nette Dame, berät sie mit Sicherheit sehr kompetent. Sie werden sehen; Alles halb so schlimm!“
„Auch das noch!“

Für wenige Tage später bekamen wir den Termin bei dieser „Hör-Tante“ im Untergeschoss des Ärztehauses. Ein Meisterbetrieb. Wirklich. Die Chefin selbst nimmt sich Tante Klara an. „Es gibt heute so unauffällige Geräte, die man kaum mehr erkennt…“
„Dann muss ich mir jetzt noch die Haare wachsen lassen.“
So eine Art Zugeständnis. Ein OK, ich werde in Zukunft ein Hörgerät tragen?
„Weshalb denn Tantchen?“
„Was, weshalb?“
„Na, warum musst du dir die Haare wachsen lassen?“
„Ja meinst du, ich laufe wie ein Monster durch die Gegend? Ich bin zwar schon alt, aber ich lege immer noch großen Wert auf mein Äußeres. Schon immer!“ Mit dem letzten Nachdruck ihrer ausführlichen Meinungsäußerung, schweift ihr Blick über mich. Ein Gefühl gescannt zu werden, von der Haarwurzel, bis zur Fußsohle.

In mir läuft gleichzeitig ein Film im Hintergrund ab. Ungefähr 10 Jahre zuvor. Wie war denn das mit der Brille? Kam sie da nicht stolz wie Bolle vom Optiker und führte ihre schicke Brille vor? Kein; ‚Auch das noch!‘ Nicht die Spur; ‚Nun muss ich mir den Ponny wachsen lassen…‘ Ich schmunzelte in mich hinein.

Eine Brille hat in unserer Gesellschaft eine Lobby – den Durchblick!
Ein Hörgerät hingegen nicht. So ein Gerät, ist es noch so klein und unauffällig, löst bei denen, die es benötigen geradezu Panik aus. Panik nicht mehr dazu zu gehören in diese eitle und immer funktionieren müssende Gesellschaft.
Machen wir es uns immer wieder bewusst - keiner sollte sich über ein Mango an seiner Person schämen müssen. Wir sollten nicht von Inclusion sprechen, sondern Aufnahme und Zugehörigkeit leben. Immer!

Opa Wilhelm

Opa Wilhelm war Fischer. Braungebrannt, mit struppigem Schnauzbart und Schiffermütze. Die Arbeitshose ausgebeult und von undefinierbarer Farbe. Das kragenlose Hemd sauber und weiß, Weste und Jacke sind viel getragen. Seine Schuhe waren wie immer, staubig. Den Priem in die Backentasche geschoben und um die blauen Augen viele, kleine Lachfalten. Und immer von einer Duftwolke aus leckerem Räucherfisch umgeben.

Sein Fischerboot war ein einfaches, weißgestrichenes hölzernes Ruderboot.
Da das Boot so klein war, konnte wegen des Wetters, nicht jeden Tag gefischt werden.

Aber wenn Opa genug gefangen hatte, dann fuhr er 2 - 3 mal die Woche mit frischem und selbstgeräucherten Fisch nach Kröpelin.

Immer mit dem Pferd Hanning vor dem Leiterwagen und Dackel Fiffi neben sich, auf dem Kutschbock. Bei vielen Zwischenstopps, wo er seinen Fisch verkaufte, meist schon bestellte Ware, gab es einen Schnaps. Einen Köm.
So war es nicht verwunderlich, dass Opa am Ende der Tour in Kröpelin „duhn“ ankam.

Doch wie sollte er wieder nach Hause kommen?

Ganz leicht. Der Zügel wurde am Kutschbock angetüttert. Und dann hieß es
„Hanning na Hus“. Und Hans, das braune Pferd, trabte nach Hause. Opa schlief auf dem Kutschbock seinen Rausch aus. Die 15 km waren dann auch nicht in 2 Stunden geschafft. Denn Hans rupfte ja auch mal hier und da einen saftigen Halm ab.

Dass sich keiner am Wagen zu schaffen machte, dafür sorgte Dackel Fiffi.
Der verstand keinen Spaß und nahm seinen Wachposten mehr als ernst. Selbst wir Kinder konnten keinen Fisch vom Wagen mopsen.

Auf jeden Fall kam das Trio von seinen Fahrten immer wohlbehalten,
manchmal recht spät, zu Hause an.

Besuch in der Vergangenheit

Die Tür ist wie immer einen Spalt breit offen, als ich mit den beiden vollen Kohleeimern in den Händen im 4. Stock ankomme. Sie hat mich erwartet, wie jeden Dienstag und Freitag, wenn ich ihr nach der Schule die Kohlen aus dem Keller hole.
„Jung‘, bis‘ Vuu das?“, höre ich ihre leise Stimme aus dem Wohnzimmer kommend. Ich gehe hinein, stelle die Kohleeimer neben den schwarzen Ofen, beuge mich runter und gebe ihr einen Kuss auf die Wange, gehe dann in die Knie vor dem alten, mit braunem Stoff bezogenen und durch viele Jahre durchlebten Ohrensessel, in dem sie sitzt. So bin ich auf Augenhöhe, sie kann dann zumindest noch meine Umrisse sehen. Ich nehme sie sehr behutsam in den Arm, immer mit der Angst, ihr versehentlich etwas brechen zu können, so, wie ich heute weiß, Eltern ein Neugeborenes beim ersten Mal im Arm halten.
„Hallo Uroma, wo hast Du denn Dein Gebiss gelassen? Willst Du es nicht in den Mund tun, dann verstehe ich Dich besser?“
Während ich dies sage, entdecke ich das Gebiss auf dem Wohnzimmertisch, ein Eckzahn schaut heraus, der Rest ist zugedeckt von einer Illustrierten.
Ich ziehe das Gebiss hervor, nehme ihre rechte Hand, so dass sie danach greifen kann. Warum zeigt unser Biologielehrer uns nicht die Adern eines Menschen anhand der Hand von meiner Uroma, denke ich; die Adern sehen aus wie die mit Wasser angestauten Ausläufer eines Flussbettes, treten klar zutage, nur, dass hier ein bald einhundert Jahre altes Blut und kein Wasser zirkuliert. Uroma führt die zittrige Hand zum Mund und versucht, das Gebiss einzusetzen.
„Darf ich helfen, Uroma, dann geht es vielleicht besser?“
Ein Lächeln bahnt sich den Weg durch ihre bunte Faltenlandschaft im Gesicht, wodurch die Lesebrille weiter nach unten bis zur Nasenspitze rutscht; gleichzeitig verbleibt die Fernsehbrille dort, wo sie hingehört, sicher verankert zwischen zwei schmalen Falten auf dem Nasenrücken.
Ich drehe das Gebiss um, bitte sie, den Mund zu öffnen, blicke in eine makellos zahnfreie Öffnung und setze es ein.
„Du warst aber lange nicht da, Junge, Du besuchst mich gar nicht mehr“.
„Uroma, jetzt verstehe ich Dich wieder. Aber ich war doch am Dienstag noch hier. Heute ist Freitag. Ich komme wie jede Woche an beiden Tagen“.
„Ja? Ach Junge, das ist ja schön.“
„Jetzt bin ich ja da. Wollen wir ein bisschen von früher sprechen, Uroma? Wie war das noch, als Du im Krieg Kohlen geklaut hast, um nicht zu erfrieren? Und wann hast Du das erste Auto gesehen, als Du Dich mit anderen Kindern aus Angst vor diesem Ungeheuer schnell versteckt hast? Erzähl doch mal!“
Ich sehe, wie Ihre Pupillen in den Augäpfeln hin- und herwandern und nach der Vergangenheit suchen. Als sie diese gefunden hat und dort halt macht, beginnt sie wie bei ungezählten Besuchen zuvor zu schildern. Ich bewundere jedes Mal, wie die Vergangenheit in ihrem mit schütteren, schlohweißen Haaren bedeckten Kopf mit zum Teil minutiösen Details eingebrannt und abrufbar ist, so wie ich bedauere, dass die Gegenwart häufig in der nächsten Sekunde für ihr Gedächtnis verloren ist.
Ich sehe sie heute wie damals vor mir sitzen, höre Ihre Stimme und ihre Lebensgeschichte, auch Jahrzehnte nach ihrem Tod. Sie wurde 1883 geboren und erzählt, wie ihr Mann bereits im 1. Weltkrieg gefallen war, wie sie gemeinsam sieben Kinder hatten, von denen sie sechs überlebte. Sie selbst, so berichtet sie stolz, habe nie in einem Krankenhaus gelegen. Ich sehe, wie sie, in ihrem geliebten Ohrensessel sitzend, taub und blind geworden irgendwann nicht mehr leben wollte und höre sie singen und den „lieben Gott“ bitten, sie endlich zu holen. Dieser letzte Wunsch wurde ihr 1985 erfüllt. Ihre Vergangenheit lebt weiter.

An deinem Hofe

Du bist eine Königin auf dem Thron und dein Mann huldigt dir von früh morgens bis spät in die Nacht, hungrig nach jedem kleinsten Bröckchen deiner Gunst, das du ihm herablassend darreichst. Wann immer es ihm gelingt, deinen Blick aufzufangen, zerspringt ihm schier das Herz vor Glück. Doch du hinter deiner Maske, du weißt bereits, was du als Nächstes dafür von ihm fordern wirst. Er wird es dir geben.

Er ist dir verfallen, dir und deinem falschen Lächeln, und du lässt ihn zu deinen Gunsten tanzen, als wäre er eine Marionette. Ja, er ist eine Marionette, und du hältst die Fäden in der Hand und manipulierst und intrigierst und ziehst eine Schau ab für ihn, wann immer sich leise der Zweifel in ihm zu regen scheint. Dir in allem zu dienen, ist das armselige Glück für ihn. Er gibt sich zufrieden mit der Hungerration deiner falschen Gunst, die du ihm zuteil werden lässt.

Doch dein schwacher Günstling wird zum starken Helden und Verteidiger für dich, wo immer jemand dein falsches Spiel durchschaut. Dann lässt du ihn Heerführer sein. Du schickst ihn in einen einsamen Krieg ohne Soldaten, die ihm den Rücken stärken könnten. Du weißt ja, es wird ihn kein anderer töten. Keiner deiner Gegner möchte statt des Kampfes gegen dich sich plötzlich im Krieg mit ihm befinden. Denn seine Augen sind blind für deine Schliche. Deine Bosheit vermag er nicht zu sehen. Ihn gegen dich aufzubringen ist aussichtslos.

Er ist der wahrhaft treue Kämpfer für dich, den du mit Füßen treten kannst, ohne dass er wahrnimmt, dass die vernichtenden Schläge von dir kommen. Statt dessen schaffst du es ihm zu vermitteln, dass jene, die eigentlich hinter ihm stehen, diejenigen sind, die ihm die Schmerzen verschaffen. Das ist deine Art, deine Gegenspieler zu entmachten, und du stehst vor ihm da als diejenige, der alle Welt Unrecht tut, und die es zu verteidigen gilt. Dich verteidigen ist die Rolle seines Lebens.

Wenn er so den Kampf seines Lebens gekämpft hat, ohne je siegen zu können und ohne je selbst dabei Glück und Erfüllung gefunden zu haben, wirst du ihn verschlingen. Er opfert sich willig, denn er kann dir dann nichts anderes mehr geben.

Du aber wirst nicht lange die Schwarze Witwe bleiben. Für ihn warst du das Leben, doch er ist für dich vergessen, so schnell wie du ihn verdaut hast. Und dann suchst du dir ein anderes Opfer, eine neue Marionette, die dich anzuhimmeln hat, einen neuen Lakaien, den du vernichten kannst.

Und das möchte ich nicht sein.

Die alte Dame

Er öffnete die hintere rechte Tür seines Taxis und blieb abwartend daneben stehen. Sie kam immer sofort, kaum, dass er seine Position eingenommen hatte. Auch jetzt trat sie langsam, auf ihren Rollator gestützt aus dem Haus. Trotz der Gehilfe hielt sich die über Siebzigjährige kerzengerade.
Nachdem er sie freundlich begrüßt, und sie mit einem Kopfnicken geantwortet hatte, half er ihr beim Einsteigen. Er wartete geduldig, bis sie eine angenehme Sitzposition eingenommen und den Sicherheitsgurt angelegt hatte. Erst jetzt schloss er die Tür. Nicht zu laut. Das konnte sie nicht leiden. Er verstaute den Rollator im Kofferraum und nahm auf dem Fahrersitz Platz.
Ein Ziel brauchte die Dame nicht zu nennen. Sie war nicht das erste Mal Fahrgast des rundlichen, geduldigen Taxifahrers mit dem leicht ergrauten Haar. Anfangs hatte er noch ein paar Mal versucht, mit ihr in ein Gespräch zu kommen. Ihm war jedoch schnell klar geworden, dass er für sie nur ‚der Fahrer‘ war. Seitdem beobachtete er sie schweigend im Rückspiegel.
Sie sah stets starr aus dem Seitenfenster, ohne wirklich etwas von ihrer Umgebung wahrzunehmen. Für ihren heutigen Besuch hatte die schlanke, hochgewachsene Dame eine schwarze, eng anliegende Hose, mit weißer hochgeschlossener Bluse gewählt. Darüber trug sie ein kurzes dunkles Jäckchen. Ihr Make-up war dezent. Damit überdeckte sie gekonnt tiefe Falten. Lachfältchen ließ sie gelten. Und sie betonte stets ihre schön geschwungenen, vollen Lippen mit einem leuchtend roten Lippenstift. Das war auch das Erste, was er von ihr bei ihrem Kennenlernen vor ein paar Wochen wahrgenommen hatte. Ihre noch immer und trotz fortgeschrittenen Alters, sinnlichen Lippen.
Er parkte direkt vor dem großen Tor des Friedhofes. Sie blieb sitzen, bis er den Rollator bereitgestellt und die Wagentür geöffnet hatte. Dann half er ihr galant beim Aussteigen. Er wusste schließlich, was sich gehörte.
„Dreißig Minuten“, sagte sie mit kräftiger Stimme.
Er nickte.
Nachdem sie durch das Tor gegangen war, setzte er sich in sein Taxi. Er stellte den Wecker auf fünfundzwanzig Minuten, bevor er seine Brotzeit nebst Zeitung auspackte. Sie war stets pünktlich. Womit er noch fünf Minuten hatte, die Spuren seiner Pause zu beseitigen. Denn so etwas tolerierte sie nicht. Nicht, dass er Pause machte, während sie ihn noch bezahlte.
Sie ging zielstrebig zum Grab ihres vor Kurzem verstorbenen Mannes. Dort angekommen setzte sie sich auf die Bank ihres Rollators. Sie lächelte süffisant.
„Und? Wie geht es dir? Ich hoffe doch, du bist in der Hölle gut angekommen.“ Sie seufzte tief. „Es war deine eigene Schuld. Ich mochte dich, weißt du? Aber du musstest dich unbedingt nach deinen Vorgängern erkundigen.“

„Tischgeflüster“

„Die sind ganz nett hier, nich?“, unterbricht eine Drahtige die Stille am Nebentisch, während sie ihren letzten Bissen hinunterschluckt.

„Ja, sehr aufmerksam. Möchtest du noch Kaffee?“, antwortet eine Rundliche mit hochrotem Gesicht und fächelt sich mit der Speisekarte Luft zu. Ihre klaren Augen kommen durch die Morgensonne besonders gut zum Vorschein, als hätte ein Scheinwerfer sie bewusst eingefangen, um sie in Szene zu setzen. Die Pausbacken strahlen Gemütlichkeit aus, es ist leicht, sie sich mit geblümter Schürze in der Küche vorzustellen, wie sie ihren Enkeln Berge von Pfannkuchen kredenzt.

„Nein, lieber nicht. Tee ist gesünder. Das hat mir neulich mein Arzt gesagt.“ Die Dame im karierten Kostüm hebt ihre Serviette vom Schoß, tupft sich vorsichtig den Mund, blickt beinahe beschämt auf den Abdruck ihres Lippenstifts, der sich wie ein alarmierender Blutstreifen auf blütenweißem Untergrund hervorhebt. Ihre Stirn kräuselt sich unter den erhobenen Augenbrauen, man kann erahnen, wie sie sich fragt, welches Fleckenmittel hier zum Einsatz kommt. Sie faltet das Tuch, bedacht darauf, die Spuren für die Kellner unsichtbar zu lassen, während sie weiterspricht: „Und wenn wir schon mal dabei sind, Herr Doktor, habe ich zu ihm gesagt, welchen Tee würden Sie mir denn empfehlen? Grünen Tee, junge Dame, grüner Tee ist der Beste. Der spült mal ordentlich alles durch, wissen Sie?“

„Ach was“, erwidert die Frau in Schwarz-Weiß und löffelt die Reste ihres Latte Macchiato etwas beschämt aus dem Glas. „Grüner Tee also. So, so… und das soll gesund sein? Was es heutzutage alles gibt“, schüttelt dabei unmerklich den Kopf.

„Mein Arzt hat mir auch autogenes Training empfohlen und so ein Achtsamkeits-Dings“.

„Ach was!“

„Ja, das tut mir sehr gut. Ich mache das regelmäßig. Und man kommt so schön ins Hier und Jetzt. Du konzentrierst dich auf die Atmung und stellst dir manchmal schöne Orte vor, Phantasiereisen nennen die das, glaube ich.“

„Ach herrje“, entgegnet die Pausbäckige. „Ist das denn nicht gefährlich?“

„Aber wieso denn gefährlich, Heidelinde?“, antwortet die gemustert Zierliche und wischt mit spitzen Fingern imaginäre Krümel von der Tischdecke.

„Na, kommt man da nicht in eine andere Welt? Esoterik und so?“

„Ach woher denn?! Das ist einfach nur schön und heilsam. Das hat nichts mit Esoterik zu tun.“

„Aber dieses Hier und Jetzt – Dingenskirchen, das klingt so esoterisch.“

„Also Heidelinde, ich bitte dich! Wir sind doch auch im Hier und Jetzt. Genau jetzt sind wir im Hier und Jetzt. Du mit deinem Kaffee, ich mit meinem Brötchen HIER… und JETZT…“

„Hm“. Stehts und hängts bedeutungsschwanger in der Luft, indes Heidelinde ihren Gedanken nachschaut, die vor dem Fenster zu fliegen scheinen.

„Sag mal, hast du das von der Frau Landgraf-Zotteln gehört? Die nebenan vom Friseur Dragan ihre Boutique führt? Das Geschäft war ja nur ihr Zeitvertreib. Geld hätte die nicht gebraucht. Das hat sie nur aus Langeweile gemacht.“

„Nein, was soll ich denn gehört haben?“

„Die ist tot!“

„Ach was!“, die Augenbrauen schnellen in die Höhe, ihr Gesicht wendet sich interessiert der Freundin zu, der Scheinwerfer ist nun auf ihr graumeliertes Haar gerichtet und zeigt rücksichtslos, wie ausgedünnt es mittlerweile ist.

„Ja, sie wurde in ihrer Villa tot aufgefunden“, flüstert die Begleiterin so laut, dass Sensation und Geheimniskrämerei gepaart wie zur Hochzeit ihrer Hörerin entgegenstolzieren.

„Ja sowas aber auch!“

„In der Villa, die ihr zweiter Mann ganz nach den Wünschen der Frau von und zu Landgraf erbaut hat. Mit Whirlpool, Sauna, Fitnessbereich, einem parkähnlichen Garten und einem Ausblick sag ich dir! Davon können wir nur träumen. Kein Jahr hat sie in desem Prunkschloss gelebt und ist dann einfach tot umgefallen.“

„Nicht zu fassen!“, presst die Schwarz-weiße ungläubig hervor, die Pupillen geweitet, der Mund aufgerissen.

„Ja, nicht wahr? Sie war doch so piekfein, so stolz, so bedacht auf ihre äußere Erscheinung. Erika war oft in ihrer Boutique – kein Wunder, wie die rumläuft – und kam ab und zu mit der ins Plaudern. Sie meinte, dass die Dame - von und zugeschnürt – in den letzten Jahren viele Kurse gebucht hat. Meditation und Achtsamkeit und solche Sachen. Aber natürlich nicht in unserer miefigen Dorf-Spelunke, sondern auf Kreta, Mallorca, in der Provence und weiß-der-Geier-wo-noch! Das kann sich unsereins gar nicht leisten sowas!“

„Aber letztlich hats ihr nichts genützt. Sie ist ja trotzdem gestorben. Wer weiß, was ihr da passiert ist mit all dem Zeugs. Diesem Meditations-Dingensda. Diesem Hier und Jetzt Gedöns. Da ist sie bestimmt auf Abwege gekommen. In eine andere Welt. Ich sags ja – das ist mir nicht geheuer. Die heben irgendwie alle ab.“, erwidert die Andere selbstgefällig, lehnt sich zurück, streckt ihren Bauch und stößt die angehaltene Luft zufrieden aus.

„Ja, Heidelinde, das wird wohl so gewesen sein“, seufzt die kleinkariert-gemusterte, rollt die Augen unbemerkt zur Decke, wohingegen Heidelinde erneut ihren Tagträumen nachhängt, die zwischen den Bäumen im Nichts verschwinden.

Das Traumpaar

Ich sitze in meinem Lieblings Café und warte auf meine Verabredung. Es ist noch früh. Außer mir sitzt nur noch ein älteres Paar an einem Tisch in einer Nische.
Die Bedienung bringt mir meinen bestellten Kaffee an den Tisch. Die anderen Gäste haben sich Frühstück bestellt, das ihnen nun serviert wird.
Der ältere Herr, mit seinem grauen Haar und der dunkelblauen Hornbrille, lächelt sein Gegenüber an, als sei er zum ersten Mal verliebt. Und auch sie sieht ihn mit strahlend blauen Augen an. Ein Lächeln auf Mund, der rot geschminkt ist. Die kurzen weißen Haare scheinen erst vom Frisör frisch gelegt worden zu sein.
Ob sie ihr erstes Date haben oder ihren Hochzeitstag? Sie sind bestimmt schon weit über siebzig.
Er trägt einen dunkelblauen Anzug, der auch schon etwas in die Jahre gekommen zu sein scheint. Seine Fliege sitzt akkurat. Die schwarzen Halbschuhe hat er auf Hochglanz gebracht.
Sie hat sich mit einem roten Kostüm gekleidet. Eine schneeweiße Bluse unter der Jacke. Dazu schicke rote Schuhe mit einem kleinen Absatz. Beide sehen sehr schick aus.
Vertraut entfernt sie einen Brötchenkrümel von seiner Anzugjacke.
Okay, dann ist es bestimmt nicht ihr erstes Date. Ich muss schmunzeln. Es macht Spaß sie zu beobachten.
Die Café Türe geht auf und ein junger Mann kommt herein. Es ist mein Mann. Er kommt auf mich zu, gibt mir einen Kuss auf die Wange und setzt sich zu mir.
Ob wir in vierzig Jahren auch noch so verliebt sind?

Der Regen

Es war bereits dunkel. Die Straßen wurden nur noch von den Laternen, den Schaufenstern und den Scheinwerfern der Autos beleuchtet. Noch eine Fahrt, dann würde ich Feierabend machen.
Ich blickte durch das Seitenfenster nach draußen. Es goss in Strömen und wer nicht unbedingt hinaus musste, der blieb, wo er war. In der Wohnung, in einem Unterstand oder in einem Taxi, so wie ich gerade.
Es war mein eigenes Taxi und ich wartete auf den letzten Gast für heute. Die Menschen, die vorüberrannten, hielten sich ihre Aktentaschen über den Kopf, um sich vor dem Regen zu schützen. Einen Schirm hatten nur wenige dabei. Laut Vorhersage hätte es heute auch gar nicht Regnen sollen.
Meine Stimmung entsprach dem Wetter. Ich hatte keine Lust mehr, wollte ins Bett und wünschte mir, dass endlich der Fahrgast kam, der mir die Tageseinnahmen vollmachte. Sehen konnte ich so gut wie nichts, denn der Regen, der die Scheiben herunterrann, verhinderte dies. Auch das Radio hatte ich ausgestellt, weil die schweren Tropfen mit einer Wucht auf das Dach trommelten, dass es kaum noch möglich war, die Worte des Moderators zu verstehen.
Endlich – der Regen ließ nach. Und in diesem Moment öffnete sich auch die Tür und ein Fahrgast stieg ein. Er setzte sich rechts hinter mir auf die Rückbank.
„Puh“, seufzte er und lachte mich an, „das ist vielleicht ein Wetter heute!“
„Guten Abend“, entgegnete ich, „schön, Sie mal wiederzusehen. Den üblichen Weg wie immer?“
„Genau“, antwortete der andere und ich startete den Motor. Wenige Augenblicke später befanden wir uns auf der Hauptstraße und ich schlich mich von Ampel zu Ampel.
Durch den Rückspiegel bemerkte ich, dass mein Fahrgast durch das Seitenfenster nach draußen blickte. Er war sehr still heute, anders als sonst, wo wir uns meistens sehr lebhaft miteinander unterhalten hatten.
„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich, während die Scheibenwischer den Blick auf die Fußgänger freimachten, die vor mir über die Straße huschten. „Sie sind so nachdenklich, heute.“
Der andere blickte überrascht. „So? Ist mir gar nicht aufgefallen.“ Er schenkte mir ein Lächeln. „Ich habe nur gerade die Regentropfen auf dem Fensterglas beobachtet. Ist es nicht wunderschön, wie sie die Scheibe herunterlaufen und darauf Straßen bilden, die sich immer wieder verändern?“
Ich nickte stumm und fuhr an, da die Ampel wieder auf Grün gesprungen war.
Mein Fahrgast sprach unterdessen weiter: „Ist es nicht ein Wunder, wie das Wasser sich verhält? Es steigt, durch die Sonne erwärmt, als feiner Dunst über dem Meer in die Höhe und wird zu wunderschönen Wolken aus Eis. Und irgendwann vereinen diese Kristalle sich wieder zu Wassertropfen und fallen auf die Erde. Und hier auf der Fensterscheibe malen Sie ein wundervolles, sich stets veränderndes Bild.“
Ich nickte wieder und wagte es nicht, ihn zu unterbrechen.
„Ist diese Welt nicht wunderschön?“
„Ja“, stimmte ich leise zu.
Er blickte wieder auf das Fenster und verfolgte die Tropfen, die dort einen unentwegten Tanz miteinander vollführten und spielerisch die Wege formten, über die sie ablaufen und zu Boden fallen konnten.
Er hatte recht gehabt. Es war eine wunderschöne Welt, in der wir lebten. Und ich sah nur den Trübsinn des Regens, die fehlende Sonne und die dunkle Nacht. Der Mann hinter mir war glücklich, denn er sah das Schöne auch in dem Dunkel.
Wie leichtsinnig wir doch manchmal mit unserer Zeit umgehen, schoss es mir durch den Kopf. Und auf einmal sah ich die Tropfen, die der Scheibenwischer in der Ecke des Fensters nicht entfernen konnte. Und es war ein wundervolles Bild des Friedens und der Ruhe. Genau das Gefühl, mit dem ich dann in den Feierabend ging, nachdem mein Fahrgast das Taxi verlassen hatte.

Genervt lehnte ich mich an die Wand eines alten Fachwerkhauses, ließ meinen Blick über den Marktplatz schweifen und atmete hörbar aus. Dieser Platz war einfach zu laut und ich fragte mich, warum ich immer wieder hier her kam.

Mein Blick schweifte wie so oft über die Gesichter der vorbeilaufenden Touristen und Stadtbewohner. Mittlerweile konnte ich so gut von ihren Gesichtern lesen, dass ich bereits nur noch in Kategorien dachte: gestresst, verliebt, genervt, glücklich, traurig, desinteressiert, euphorisch, laut, leise, rebellisch, definiert sich über die Klamotten, reich, arm, wäre gern reich, neidisch und so weiter … die Liste war lang. Von bunt bis schwarz, von gepunktet bis bestreift, hier tummelte sich alles.

Nicht ein Gesicht, was mich zu einem zweiten Hingucken verführte, war dabei. Was war bloß mit den Menschen los, dachte ich resigniert. Es war, als hätten sie alle Masken auf. Wie all die unzähligen Male zuvor stieß ich mich von der Mauer, um mich wichtigeren Dingen zu widmen. Doch ich verharrte mitten in der Bewegung.

Ein blaues Augenpaar schob sich durch die Menge, genau auf mich zu. Ich schnappte nach Luft. Dunkle Haare, großgewachsen, lange Nase, weichgezeichnete Lippen, markantes Kinn. Mein Blick suchte nach weiteren Anzeichen, doch sie blieben durch das Getümmel der vorbeiziehenden verborgen. Ich sah ihm wieder in die Augen und stellte fest, dass er mich ansah.

Himmel … was für ein durchdringender Blick. Ich starrte zurück. Mein Hirn ratterte bereits los, holte alles hervor, was es sich all die Jahre eingeprägt hatte.

Dieser Mann war im Bankgeschäft, machte nebenbei Leistungssport und liebte Reisen und Champagner. Ließ es ordentlich krachen sowohl mit Partys als auch mit Frauen. Ewiger Junggeselle, der nicht in der Lage war enge Beziehungen einzugehen, auf Grund eines Muttertraumas. Er mag es sauber und liebt Musik. Essen nur mit Besteck und am liebsten Asiatisch. Snob, Snob, Snob, klingelte es in meinen Ohren.

Als er aus der Menge trat, fiel mir die Kinnlade herunter, als ich sah, was er in der rechten Hand hielt. Einen Gitarrenkasten. Seine Flipflops klatschen über die Pflastersteine und seine Jogginghose rutschte ihm halb vom Po. In der anderen Hand trug er einen Klapphocker. Unbeirrt kam er auf mich zu und ich versuchte, alles zu löschen was ich geglaubt habe von diesem Mann zu wissen.

»Dürfte ich den Platz haben, an dem du stehst?«, fragte mich eine angenehme, weiche, männliche Stimme. Ich sah in die blauen Augen und nickte.

Laudato si…

Der Refrain des kirchlichen Gassenhauers dröhnt aus vielen kleinen Kinderkehlen durch die schmale evangelische Kirche. Sie hat nur eine mittlere vollständige Sitzreihe, in die die Erst- bis Viertklässler passen. An den Seiten befinden sich nur angeschnittene, nach hinten immer kürzer werdende Bänke. Auf die vorletzte passen nur wir zwei, also perfekt.

o mi Signore…

Er ist groß und schwungvoll, füllt damit den Altarraum aus. Eine Hand ist hochgereckt, zum Lobe des Herrn, die andere umfasst das Mikrofon. Seine sonore Stimme hallt wohltönend durch den hohen Kirchenraum. Ich würde ihm allerdings auch zutrauen, sich ohne das elektrische Hilfsmittel Gehör zu verschaffen.

Laudato si…

Sein schwarzer Talar schwingt im Takt um seine Beine, mitgerissen von seinen begeisterten Dreh- und Hüpfbewegungen. Das, zusammen mit dem weißen, flatternden Beffchen um seinen Hals, erinnert mich an die Elster, die jeden Morgen auf unserem Dachfirst rumturnt und die Nachbarskatze beschimpft, die durch den Garten schleicht.

o mi Signore…

Er versucht die Schüler mit seiner Begeisterung mitzureißen. Doch obwohl sie das Lied mit Inbrunst singen, bleiben ihre Füße doch auf dem Boden kleben. Sie sind sich unsicher, was hier erlaubt ist und was nicht. Ich identifiziere den Hinterkopf meines kleinen Schützlings und kann es nicht glauben. „Er hat schon wieder die Mütze auf“, flüstere ich Alex zu. Sie grinst mir zu und steht auf. Behende gleitet sie unauffällig zur zweiten Reihe, zieht Jannis, die in einer Kirche unangemessene, Kopfbedeckung vom Haupt und deponiert sie neben ihm. Ich nicke ihr bestätigend zu, als sie wieder in unsere Zweierbank schlüpft, ahne aber, dass das grüne Strickwerk bald seinen Weg zurück auf seinen angestammten Platz finden wird.

Laudato si…

Auf dem unbedeckten Schädel des Kirchen-DJs, der weiter hüpft und singt, sind auf dem vorderen Teil die meisten Bewohner schon abgewandert. Der Rest ist kurz geschoren und von grau durchsetzt. Auch in seinen sauber gestutzten Bart haben sich silberne Strähnchen gestohlen. Sein Gesicht ist allerdings noch faltenlos. Ich kann trotz der Entfernung einen schwachen Schweißfilm auf seiner Haut erkennen, verursacht durch die rhythmische Laudato-si-Gymnastik.

Sei gepriesen…

Die zweite Strophe ist dran, begleitet durch leichtes Tänzeln, vom einen Fuß zum anderen. Auch einzelne Kinder fangen an, sich im Takt der Musik zu wiegen, preisen den Herrn und recken ihre kleinen Arme nach oben. Trotz meiner eher atheistischen Grundeinstellung, imponiert mir der Enthusiasmus, mit dem er versucht, sein junges Publikum mitzureißen.

Laudato si…

Und wieder der Refrain, begleitet von weiteren gehüpften Drehungen. Der Arm nach oben gestreckt, die Augen geschlossen. Wenn er sie jetzt nicht mitreißt! Selbst der statische Heiland, von einer Taube begleitet, in modernem Stil, aufgemalt an die kuppelförmige Altarraumwand scheint im im Licht der bunten Kirchenfenster mitzuschunkeln.

o mi Signore…

Und tatsächlich zuerst einer, dann mehr der Förderschüler fangen an mitzuhüpfen, ein paar versuchen sich sogar an der einen oder anderen Pirouette. Ich muss anerkennend lächeln, er hat es geschafft, die volle Aufmerksamkeit der Bande zu bekommen. Vielleicht sollten sich ihre Lehrer mal eine Scheibe davon abschneiden und ihnen die Rechnungen vortanzen?

Laudato si!

Das Lied ist zu Ende, der Gottesdienst auch. Die aufgekratzten Schüler verabschieden sich artig von dem Mann, der die Erstklässler um nochmal ihre Größe überragt. Jede Hand, die sich ihm entgegenstreckt, drückt er freundschaftlich und den restlichen Kindern winkt er fröhlich zu. Sein Lächeln ist ansteckend, also schicke ich ihm eines zurück. Dann reihe ich mich hinter den hinaus strömenden Kindern ein, während es in meinem Kopf weitertönt.

Laudato si…

Und wenn ihr euch fragt…natürlich saß die Mütze nach einer Minute wieder da, wo sie hingehörte. Auf dem Kopf ihres Besitzers.

o mi Signore!

Zu viel

Still, mit zum Bürgersteig gerichteten Blick, steht sie da, als lebendes Klischee trauriger Menschen. Dabei weiß ich natürlich nicht ob ihre hängenden Schultern, der nach unten gefallenem Kopf, die Arme, schlaff an der Seite hängend, ein Sinnbild der Traurigkeit für mich, wirklich traurig ist. Vielleicht ist sie nur erschöpft. Es braucht viel Kraft, um das Bein einen Schritt nach vorne zu bringen und dann noch einen, als zöge klebriger Matsch an ihren Füßen und versuchte sie fest zu halten oder mehr noch, in den Asphalt zu ziehen, damit sie ganz verschwindet. Plötzlich wendet sie ihren Kopf, langsam, zu langsam, wie eine Marionette, dessen Puppenspieler, von zu vielen Vorstellung zu müde ist um eine natürliche Bewegung entstehen zu lassen. Ihre Wangen drehen sich zu mir, eingefallen und von Falten überzogen, gleich einer vom Wind gekräuselten Wasserfläche. Drei träge Augenaufschläge treffen sich unsere Blicke. Sie hebt die Schultern, die in einem beigen Mantel, der seine besten Tage schon lange hinter sich hat, stecken. Dann geht sie weiter, ich meine etwas mehr Elan, etwas mehr Geschwindigkeit zu erkennen, aber das mag täuschen. Ich werde mir des Gewichtes meiner Einkaufstaschen bewusst, hebe die gesenkten Schultern, ein wenig aus ihren Gelenkpfannen und in Gedanken nach Hause.

Beitrag: Schreib, was Du siehst

Da ist sie. In die alte, bereits etwas fusselige, Decke des Cafés eingewickelt, um die seltenen Sonnenstrahlen dieses Spätherbstes zu genießen. Von der großen Tasse Milchkaffee in ihren Händen steigen noch dichte Dampfschwaden nach oben und verlieren sich im milden Herbstwind. Fast eilig schlürft sie mit geschürzten Lippen zuerst den Milchschaum herunter, bevor sie sich behaglich die Hände wärmt und das über den Boden raschelnde bunte Herbstlaub beobachtet. Inzwischen setze ich mich unbemerkt, um zu sehen, ohne gesehen zu werden. Ist das jetzt eigentlich Stalking?
Warum sie wohl heute hier ist? Ihr Blick wandert auf die Straße, und sie streicht sich einige ungebändigte Haare aus den Augen, die ihr vom Wind bewegt die Sicht behindern. Als sie die Augen zusammenkneift, um gegen die Sonne besser sehen zu können, zeigen sich in den Augenwinkeln die unvermeidlichen kleinen Falten eines erwachsenen Menschen, der die Sonne genossen und nicht gemieden hat. Im weichen Licht der Herbstsonne erscheinen ihre Augen heller, das Braun noch wärmer. Ein freudiges Lächeln in ihrem Gesicht gestattet mir einen Blick auf ihr Gemüt, denn es sind Lachfalten, die ihren Mund halbkreisförmig umgeben, und ich bin im Begriff aufzustehen, um einfach zu ihr zu gehen, als sie sich aufrichtet und freudig zu winken beginnt. Nicht mir galt das Lächeln, sondern der heranradelnden
Frau mit der ausgefransten Jeans.
Leider verstehe ich nicht, was sie sich zu sagen haben, aber die freudige Umarmung, kaum dass sie vom Rad gestiegen ist, sagt mehr als tausend Worte. Ohne die Umgebung zu beachten, setzen die beiden sich, und der Kellner muss zweimal fragen, ob die beiden bestellen möchten. Jetzt komme ich mir endgültig fehl am Platze vor, als würde ich ihre Zweisamkeit ausspionieren. Zwar kann ich kaum ein Wort verstehen - nur besonders begeisterte Teile ihres Gesprächs, die sie entsprechend laut wiedergeben, dringen an mein Ohr, unterstrichen durch die lebhafte Gestik der beiden. Aber ich fühle mich ausgeschlossen und störend, also zahle ich an der Theke und will gerade verschwinden, als sie mich entdeckt.
Erschrocken lese ich ihr Gesicht, aber statt einer Zornesfalte auf der Stirn bekomme ich tatsächlich ein fröhliches Blitzen in ihren Augen und die volle Pracht ihrer Lachfalten geschenkt.
„Hallo Schatz, wolltest Du nicht schreiben?“

Erinnerung

Zitternd saß der alte Mann in seinem Rollstuhl. Er war nur mehr ein Schatten seines Selbst. Nichts an ihm erinnerte noch an den großen stattlichen Mann, der er einst gewesen war. Seine Haut spannte sich wie brüchiges Pergament über die vertrocknenden Knochen. Das Zittern konnte er auch nicht mehr kontrollieren, genauso wenig wie er noch selbst aufstehen konnte. Früher war er einmal ein großer gepflegter Mann gewesen, doch von alledem war nicht mehr viel sichtbar. Stolz hatte er damals seine Uniform getragen, war mit seinen Mitgliedern mit marschiert. Die Orden die er erlangt hatte, glitzernd an seine Brust geheftet. Doch jetzt war er nur mehr ein altes zitterndes Wrack, bei dem man befürchtete, daß sein Körper bei einer stärkeren Berührung zusammenfallen würde. Dabei war alles noch gar nicht so lange her. Erst gute fünfzehn Jahre waren vergangen, nachdem ihn seine starke Gesundheit verlassen hatte. Jetzt war er hier, gefangen in seinem Körper, den er jahrzehntelang geschunden hatte und starb seinen langsamen Tod.

Miso und die Bratsche

Inzwischen hatte Miso ihren vierundzwanzigsten Geburtstag hinter sich gelassen. Ihrer großen Liebe, der Bratsche, war sie treu geblieben. Es gab keinen Tag, an dem sie sie nicht behutsam wie einen zerbrechlichen Geliebten aus ihrem Koffer genommen, zärtlich gestreichelt und noch zärtlicher gespielt hatte. Miso liebte ihre Bratsche, die Bratsche liebte Miso. Sie waren füreinander bestimmt! Für niemanden sonst gab es in dieser Beziehung einen Platz.

»Miso«, sagte Akeno, ihr Manager, »Miso, du musst auch mal an dich denken. Es gibt mehr auf dieser Welt, als deine Bratsche.«

Miso schüttelte den Kopf. Das mochte wohl wahr sein, nicht aber für sie. Tadelnd blickte sie ihn an. Dann strich sie liebevoll mit den Fingern ihrer rechten Hand über den Korpus des Instruments, als handelte es sich um den nackten Bauch des Geliebten, fasste es mit der Linken und legte es an ihren Hals. Mit der Rechten setzte sie den Bogen an und zusammen erfüllten sie die Welt mit einer bezaubernd melancholischen Melodie von unbeschreiblicher Schönheit. Intensive dunkle Töne, manchmal etwas rauchig oder näselnd, lösten sich vom Instrument und schwebten leichtfüßig wie winzige Daunen durch den Raum. Behutsame weiche Klangbilder wechselten mit wilden Rhythmen, die manchmal beinahe rau und drohend, aber immer harmonisch wirkten. Miso, Akeno und der Raum zerrannen zu Nichts, lösten sich auf wie Nebel in der Sonne – zurück blieben allein die wundervollen Klanglandschaften. Eine neue, zerbrechliche Welt war geschaffen. In ihr gab es nichts außer der Bratsche. Und ihren Tönen.

Ich treffe sie jeden Tag .Sie sieht unglücklich aus .Ihre wunderschönen blauen Augen sind vom weinen in der Nacht sehr mitgenommen.Lachfallten zieren ihre Augenränder die sie Tagsüber auf sympatische Art im Umgang mit den Kitakindern trainiert.Warum färbt sie sich ihre Haare nicht mehr?Eine blonde Haarpracht bis zur Talie und dann 20 cm dunkles , nachgewachsenes, eigenfarbiges Haar? Wir sehen uns noch nicht lange genau in die Augen , meistens erst beim 2. Blick. Die Haare sind nicht mehr geschnitten worden seid dem Tag als ER 1 sie einfach verlassen hat.Die länge ist lang und schmerzhaft. Aber noch schmerzhafter sind die 20 cm mit dunklem Ansatz die ER 2 verursacht hat.Ich finde gerade zu mir selbst …muss…und ich mach das gut… und ich schaff das…denke ich …und wische meinen Atem vom Spiegel.

Es war ihre Jacke. Gelb. Glänzend. Wattiert.

Ohne diese Jacke hätte ich sie nicht wahrgenommen.

Es war eher ein sattes Safrangelb.

Sie ging gebeugt, vorsichtig, setzte Schritt vor Schritt.

Als wäre sie einen Stock gewohnt. Sie hatte keinen Stock.

Ich ging neben ihr her, nicht schnell.

Ein paar ihrer dünnen Haare mogelten sich unter einem Tuch hervor.

Bei diesem Wetter trug sie ein Tuch. Es war viel zu warm für Oktober.

Die Haut über ihrem Gesicht wirkte dünn, blass, fast durchsichtig.

Für Falten schien es keinen Platz zu geben.

Ihre Augen konnte ich nicht sehen, dafür ihre Lippen. Knallrot geschminkt.

Das Chanel-Kostüm umspielte lässig ihre Figur.

Ein goldenes Armband zierte ihr rechtes Handgelenk. Eine Uhr trug sie nicht.

Sie setzte sich langsam auf die Eisenbank, die Obdachlose im Winter daran hindern sollte, sich zum Schlafen darauf zu legen.

Ich war stehen geblieben, überlegte, ob ich in dem gegenüberliegenden Café etwas trinken wollte.

Erst jetzt bemerkte ich ihre Schuhe. Passend zur Jacke. Safrangelb.

Sie hob den Kopf, sah mich an. Dann lächelte sie.

Oma.
Ich schaue dich an. Du schnarchst.
Deine Zahnprothese befindet sich im Wasserglas im Badezimmer.
Die schmale Oberlippe ist in Richtung Mundhöhle eingefallen. Dein Mund ist leicht geöffnet, dein Kinn nach unten abgesackt. Deine Zunge vibriert leicht, sie ist matt rosafarben und viele weiße Punkte haben sich auf ihr angesammelt. Weißer Belag denke ich, mir fällt meine Zungenzahnbürste ein, die du niemals benutzen würdest. Ein tiefer Atemzug fährt zwischen deinen Lippen in dich hinein. Leichtes Röcheln im Halsbereich, ein Räuspern. Dein Lippen blasen die CO2 angereicherte Luft mit einem lauten Pusten wieder aus, sie flattern in deinem weichendem Körperwind.
Stille. Atemstille.
Dein Mund öffnet sich leicht, tief hinten im Gaumen, am Übergang zum Hals entsteht ein grummelndes Schnarchen , du atmest ein.
Wieder Stille.
Dann ein leises Auspusten, Deine Oberlippe deutet den Hauch einer Bewegung an.
Ein kleiner Tropfen Speichel sammelt sich in deinem Mundwinkel. Glänzend liegt er da und wartet darauf, in eine deiner tiefen Falten hinab zu gleiten. Dein Kinn ist Falten frei, nur leicht rot gefärbt, ansonsten bist du blass. Du hast so viele Falten. Jede einzelne liebe ich. Du bist meine Oma, angefüllt mit Lebensgeschichten, die ich immer wieder hören will. An deiner Wange steht ein weißes Haar heraus, einen Zentimeter ist es lang. Wenn du wach bist, darf ich es dir herauszupfen, mit der Pinzette. Aber jetzt schaue ich es mir an. Es ist leicht gewellt und ich frage mich, warum aus deinem Gesicht immer wieder einzelne Haare wachsen.
Deine Ohren sind groß, zu groß für eine feine Dame, die du nie warst. Du bist eine Frau, die mit beiden Füßen in der Realität gestanden hat. Wer erlebt schon zwei Weltkriege? Deine Ohrläppchen sind etwas dicker und weich, am liebsten würde ich sie jetzt anfassen, aber dann wachst du auf. Deine Nase ist auch weich, klein und doch breit. Deine Nasenlöcher sind oval und überproportional groß. Warum sind deine Nasenhaare dunkelbraun? Deine weißen, dünnen, langen Haare sind wie immer zu einem Knoten nach hinten gebunden. Deine Augen liegen tief in ihren Höhlen, Wimpern hast du kaum noch. Blond und einsam stehen einige wenige nebeneinander. Deine Augenbrauen tun es ihnen gleich. Das allerbeste an deinem wunderbaren Gesicht ist die Warze über deinem rechten Auge. Eigentlich liegt sie fast mittig auf der Stirn, aber doch irgendwie ein wenig nach rechts verschoben. Sie ist rund, erhaben und wenn mein Zeigefinger darauf drücken darf, klingelt sie. Ich weiß, sie klingelt nicht wirklich. Das Geräusch machst du, aber das ist egal. Ich bin stolz darauf, eine Oma mit Klingelwarze zu haben.
All das erinnere ich, während ich jetzt auf dein Foto schaue, das neben mir auf dem Tisch steht. Auf dem Bild schläfst du nicht. Du schaust mich mit deinen grau-blauen Augen an, deine Pupillen sind schwarz und klein, dein Mund ist leicht geöffnet, du lachst und ich kann deine Zahnprothese sehen. Ich lächle zurück.
Oma.

Sie

Ich treffe sie in ihrem Zimmer in der Embryonalstellung liegend an. Ihre rauen trockenen Knie, sind bereits gerötet und verleiten mich ein Kissen dazwischen zu schieben. Doch zuerst ist es Zeit für ihre Medikamente, welche ich in einem durchsichtigen Becher auf den Nachttisch bereit gestellt habe.

„Guten Abend, es ist wieder so weit, ich habe wieder einen kleinen Nachtisch für sie“

Ihre zuvor geschlossenen stahlblauen Augen sehen mich verloren an. " Wann kam es wohl zum ersten Mal zu diesem Blick?" Die gesamte Gestalt wirkt vom Leben gezeichnet, verlassen jeglicher Orientierung. „Ob sie weiß wo sie ist?“

Nach meiner Aufforderung setzt sie sich auf und grinst verschmitzt. Zähne hat sie schon lange keine mehr.
Zitternd streckte sie mir ihre kalten pergamentartigen Hände entgegen. " Ob sie heute genug getrunken hat?" wandert mein Blick zum halbvollen Krug neben dem Bett.

Ihre Nägel sind lang und in den Zwischenräumen klebt Schokolade. Ich drehe mich zum kleinen Esstisch des Zimmers. Dort liegen noch die Überreste ihrer süßen Versuchung. „Ob sie ihren Mann sehr vermisst?“

"Haben sie wieder Proviant bekommen? „Lächle ich sie an.
" Jo, jo“,erwiedert sie.
Jetzt nehme ich auch die Blumen in einer Vase auf dem Fensterbrett wahr. Die Schwerkraft fordert ihren Tribut und zieht die Blüten der Pflanzen nach unten.Der stechende Geruch, an welchen ich mich wohl schon gewöhnt habe, erfüllt den Raum. Sie hatten wohl schon bessere Tage hinter sich.

Und wende mich wieder den Händen zu. „Ob sie viel arbeiten musste?“
Vorsichtig lege ich eine Tabletten nach der anderen hinein. Sie sieht sie nur kurz an, hinterfragt die Menge jedoch nicht. „Ob sie ihre Medikamente kennt?“ Mit einem Satz schiebt sie die bunten Pillen in ihren zahnlosen Mund um sie mit einem gefühlten Minischluck mühelos aufzunehmen.

Mit diesem Akt geht ihre Geduld auch langsam dem Ende zu. Ohne Vorwarnung lässt sie sich wieder in ihr Bett fallen. Und kneift bewusst ihre Augen zu. Das ist wohl das Stichwort für mich, mich zurück zu ziehen. Ich befriedige mein Bedürfnis und schiebe ihr einen Polster unter die Knie.
Mit einem „Klick“ schalte ich den lichtspendenden Fernseher aus und wünsche eine Gute nacht.

Den schließlich komme ich morgen wieder. Um mir wie jeden Abend die selben fragen zu stellen.