Ich hasse dich!
Vom ersten Augenblick an, an dem du ohne Vorwarnung so plötzlich in mein Leben gekommen bist. Was sollte an dir auch schon liebenswert sein, schön, anziehend, attraktiv? Die dichten Haare vielleicht, die endlos langen Beine? Die lasziven Bewegungen mit den langen Pausen dazwischen, in denen du mich provokativ anstarrst?
Ja, wenn du eine schöne Frau wärst, dann würde ich wohl sicher genauer hinsehen. Auf den dunklen, weichen Pelz, deine runden Augen, die merkliche, kräftige Körperspannung nach jeder kleinen Bewegung, die ein unvermitteltes Anspringen und anschließendes lustvolles Vernaschen erahnen lassen.
Aber im Moment bin ich voller Ekel, und meine eigene Körperspannung in diesem Moment des Erschreckens neigt dazu, nach dem nächstbesten Gegenstand zu greifen und sie dir über deinen kleinen Kopf zu schlagen.
Ja, ich hasse dich! Denn du bist keine schöne Frau. Jedenfalls keine richtige. Falls du überhaupt ein Weibchen bist. Unter Deinesgleichen bist du vielleicht schön, anziehend und attraktiv. Da ist es für ein weibliches Exemplar deiner Gattung gewiss mindestens normal und vielleicht auch irgendwie schön, acht lange, dünne Beine und genauso viele kleine, runde Äugelchen zu haben. Achten die Männchen in deiner Umgebung überhaupt auf sowas? Sehen die nicht genauso aus? Unglaublich, was für Gedanken einem bei deinem Anblick so durch den Kopf schießen…
Egal. Bei euch ist es vielleicht sogar ein Heidenspaß (falls du dir der für dich gefährlichen, für mich mindestens unangenehmen Situation überhaupt bewusst sein solltest), ohne Warnung unter dem hochgehaltenen Sofa hervor zu krabbeln und fleißig putzende Menschen zu Tode zu erschrecken.
Ich hasse dich dafür!
Aber ich kenne dich auch. Eine gemeine Hausspinne bis du. Und mit „gemein“ meine ich nicht dein Verhalten. Vielleicht bin es ja auch ich, der gemein ist, der dich gerade aus deiner Ruhe aufgeschreckt hat und der dich jetzt dazu gebracht hat, angespannt stehen zu bleiben, sämtliche Beine leicht angewinkelt in Sprung- (oder Flucht-?) Haltung zu spreizen und womöglich mit sämtlichen acht weit aufgerissenen Augen (haben Spinnen eigentlich Augenlider?) ängstlich zu sehen, was jetzt passiert. Ja, vielleicht hast du genau so große Angst wie ich jetzt gerade vor dir. Vielleicht bin ich es ja, der als für dich riesiges Ungetüm unerwartet in deinen Lebensraum eingedrungen ist, als ich unter dem Zweisitzer mit dem Besen herumgefuchtelt habe. Alles eine Frage der Perspektive.
Ok, ich mag dich nicht, und du mich vermutlich auch nicht. Kein Grund, sich gegenseitig etwas anzutun. Also nutze ich meine eigene, noch immer wirkende Körperspannung dazu, mich zielstrebig, aber dennoch ziemlich vorsichtig umzudrehen. Ich will dich nicht verscheuchen. Ich gehe jetzt ein paar Schritte zum Besenschrank hinter mir und hole dort den Spinnenfänger. Keine Panik (sage ich zu mir und dir gleichzeitig). Der lange Stiel, das kleine Netz an einem Ende davon und der durchsichtige Plastikdeckel darüber sind nach einer schnellen Bewegung meinerseits für ein paar Sekunden deine Heimat. Ich schaue dich kurz durch die sichere Abdeckung hindurch an.
Du liegst auf dem Rücken, die Beine anscheinend panisch bewegend, zitterst am ganzen zweigeteilten Leib. Sicher nicht allzu angenehm für dich, aber besser als die tödliche Alternative. Du willst raus aus dieser Situation. Ich verstehe es, auch wenn ich dich als Wesen, das so ganz anders ist als ich selbst, nicht mag - nein, vielleicht nur nicht richtig verstehen kann. Erst recht kein Grund, dir weh zu tun. Du sollst leben, so wie ich es in deiner Situation auch wollte. Früher war das anders, und ja, wenn du so plötzlich aus dem Dunkel auf mich zukrabbelst, erschrecke ich auch heute noch bis ins Mark, gerate noch immer in Panik, ekle mich, hasse dich sogar für ein paar Augenblicke für dein Aussehen, dein Auftreten, deine Existenz. So wie eben gerade.
Aber man wird älter und manchmal auch einsichtiger. So wie ich, der ich nun nicht mehr der Jüngste bin. Jedenfalls mindestens in diesem einen Spinnen-Punkt ist das so. Der früher oft genutzte Staubsauger bleibt einmal mehr an seinem Platz neben dem Haken für den Spinnenfänger, der seit einiger Zeit dort hängt und schon so manchen deiner Art relativ vorsichtig ins saftige Grün hinaus befördert hat.
Draußen im Garten klammerst du dich an ein Rosenblatt, scheinst dich zu schütteln wie ein nasser Hund nach dem Bad im See (zumindest sah es für einen Augenblick ein wenig danach aus) - und trollst dich gemächlich, aber zielgerichtet und ohne Pause auf allen acht Beinen in Richtung Zaun. Bald bist zu nicht mehr zu sehen, bist jetzt versteckt zwischen den ungezählten Halmen.
Ich lächle. Und bin froh, dass das Größenverhältnis und die Situation nicht umgekehrt gewesen war: ich klein, ängstlich und mit dünnen Armen, Freund Spinne riesengroß und panisch…