Nebelschwaden waberten um ihre Beine. Sie saß auf der verwitterten Bank im Park. Auf einem verwitterten Schild der Name eines Unbekannten, der diese Bank irgendwann einmal gesponsert hatte. Ihre dünnen Beine baumelten in der Luft, fanden keinen Kontakt zum Boden. Sie war schmächtig. Jahre hatten ihre Furchen nicht nur in ihrem Gesicht, sondern auch auf ihrer Seele hinterlassen. An ihrem Tweed Mantel fehlten zwei Knöpfe. Der, der verhinderte, dass die Kälte über ihren Körper kriechen konnte, saß direkt an ihrem faltigen Hals. Sie lächelte. Sie lächelte trotz der Kälte. Der Winter 1945 war viel kälter, dachte sie und blickte auf ihre Handfläche. Sie lächelte, weil sie mit den Körnern in ihrer zerbrechlichen Hand, die kleinen Spatzen fütterte. Unscheinbare Federknäuel, die über vereiste Grünflächen hüpften, um Nahrung zu finden. Der Boden, gefroren. Milchig weiß hatte die Kälte sich zwischen die Grashalmen gelegt. Mit spitzen Fingern ihrer knochigen Hand warf sie zwei Körner in die Richtung der winzigen Vögel. Immer nur zwei, weil die Freude sonst zu schnell vorbeiging. Ihre Füße, getragen von zwei Schnürschuhen aus dem Discounter, wippten, als wenn von irgendwo Musik her wehte. Sie summte diese Melodie, die vor mehr als 50 Jahren ein Hit gewesen war. „Wunder gibt es immer wieder“. Sie hoffte auf ein Wunder, hoffte, dass sie bald nicht mehr frieren musste, ihre Heizung irgendwann wieder angestellt würde. Das der Strom nicht mehr funktionierte, war nicht wichtig. Sie hatte von der Nachbarin Kerzen geschenkt bekommen, die sie hütete wie einen Schatz. Ihr Magen knurrte. Sie rieb mit der Hand darüber und überlegte nach Hause zu gehen. Aber dort war niemand. Hier erfreute sie sich an den kleinen Gesellen, die über das Gefrorene hüpften und auf die mitgebrachten Körner warteten. „Nur zwei“, flüsterte sie und warf sie zu Boden. Dann war ihre magere Handfläche leer. Sie seufzte, zog den Kragen enger um ihren Hals und die Mütze tiefer ins Gesicht. Sie hatte sie gestrickt, als sie noch in der Küche der Schulküche beschäftigt war. Immer, wenn sie ihre kurze Pause hatte, griff sie zu den Nadeln und verwob dicke Wolle. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie erinnerte sich an die Zeit. Sie hatte nach dem Krieg immer genug zu essen und eine warme Stube. Ein Seufzen entrang ihrer Kehle und sie steckte die kalten Hände in ihre Jackentasche. Sie ertastete ein winziges Loch am unteren Saum, zog die Finger zurück, damit es sich nicht vergrößerte. „Warum hast du mich allein gelassen“, flüsterte sie und blickte gen Himmel. Ob er mich wohl hören kann, überlegte sie, zuckte die Schultern und rutschte von der Bank. Alles war gut, solange du da warst, dachte sie und machte sich auf den Weg. Die Wohnung würde noch immer kalt sein, die Dosensuppe geschlossen bleiben. Aber sie hatte noch ein wenig Brot und … morgen wäre ein neuer Tag.
Heike Meckelmann