Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Reflexion

Ich hatte sie mir größer und muskulöser vorgestellt. Es war die Aura ihrer Erfolge, die sie von ihrer Umgebung abheben ließ. Von Neugier getrieben suchte ich in ihrem Gesicht nach Spuren und Hinweisen, warum und wie sie es geschafft hatte, was vielen anderen trotz jahrelangem hartem Training nicht gelungen war. Sie schien diese sensationssaugenden Blicke zu kennen, beim Aufeinandertreffen unserer Augenpaare verengten sich ihre dunkelgrüngrau ummalten Pupillen zu zwei tiefen schwarzen Höhlen, vor denen ich zurückwich. Kein Leuchten oder kontaktaufnehmender Lidaufschlag. Ihre kühle Abwehr wurde durch liniengerade Lippen unterstrichen. Wie ein quer liegender Riegel eines hohen Holztores, über das man nicht hinwegsehen kann, verschlossen sie das Gesicht. Verärgerung kroch in mir hoch. Die ovale Kopfform stand ihrer Unnahbarkeit etwas im Weg, es wirkte durch seine Rundungen freundlich und sanft. Durch Wikipedia wusste ich, dass uns das Geburtsjahr verband. Auch unter diesem Aspekt setzte ich die Analyse fort, so unauffällig wie möglich: Sah sie oder ich älter aus? Durchzogen meine Stirn auch bereits grabenförmige Falten und sah mein Gesicht genauso ungleichmäßig und abgelebt aus? Ich fühlte mich deutlich jünger als das Altersspiegelbild, in das ich schaute und hoffte, dass das keine trügerische Selbstblendung war. Die Nase und ihre zu einem Zopf gebundenen schulterlangen dunkelblonden glatten dichten Haare mit dem durcheinander liegenden Pony waren so gewöhnlich wie ihre ganze Erscheinung. Das war in gleichem Maße enttäuschend wie erleichternd. Auch ein Olympiasieg führt nicht zum göttlichen von Alltagsproblemen befreiten Leben. Unerwartet kam sie auf mich zu und gab neutral Informationen zum Trainingsprogram meines Kindes. Es entwickelten sich weitere Themen, die wir wie die Perlen einer Kette zunächst mit äußerster Sorgfalt dann sicherer und vertrauter aneinanderreihten. Mit jedem Satz entspannte sich ihr Gesicht und ihre Augen füllten sich nach und nach mit Leben. Als sie schließlich lachte, schrieb ich meine Beurteilung so zügig um, wie sie entstanden war. Aus arrogant und unnahbar wurde vorsichtig, freundlich und zugewandt. Vorgealtert wandelte sich in jung geblieben.
Am Abend spürte ich der Wärme des Gesprächs nach und versuchte, mir vorzustellen, wie mein Gesicht in ihren Augen ausgesehen haben muss. Die entstehenden Bilder lösten etwas Unbehagen aus.

Abschied

Wir stehen am Grab meine Großmutter. Sie starb vor einer Woche. Darmkrebs. Sie hat nicht mehr viel mitbekommen, dem Morphium sei Dank. Verdammt viele Menschen sind gekommen. Die meisten schauen aus wie auf einer Grillparty. Zuerst komme ich mir mit meinem Anzug overdressed vor, aber scheiß drauf. Hat für mich was mir Respekt zu tun.

Tante Nr 1. hält gerade eine kleine Ansprache wie sie in einsamer Stille am Totenbett ihrer Mutter gewacht und ihr im letzten Moment beigestanden hat. Aus dem Augenwinkel sehe ich wie meine Mutter sich verkrampft und mit den Zähnen knirscht. Mein Vater stützt sie. Oder hält er sie fest? Vermutlich beides. Sie war natürlich ebenfalls da, wird im selbstbezogenen Vortrag ihrer Schwester aber natürlich nicht mit einer Silbe erwähnt. Ich habe ihr geraten, vor der Beerdigung eine Beruhigungspille mit einem Schuss Wodka runterzuspülen. Sie hat verzichtet, meinte, sie will klar sein für die Veranstaltung. Bestimmt bereut sie das jetzt.

Tante Nr 2., seit Jahren zu fett, um ein paar Minuten zu stehen, sitzt auf einem Klappstuhl und weint so laut, das es auch jeder hört. Wie passend. Die eine lügt, die andere heuchelt. Als ich sie angerufen habe um ihr mitzuteilen das ihre Mutter morgen früh nicht mehr lebt meinte sie, sie würde lieber nicht kommen, das Ganze wäre ihr unangenehm.

Einzig Tante Nr. 3 steht mit versteinerter Miene da und gibt keinen Ton von sich. Ich weiß nicht, ob das ihre Art zu trauern oder ihre latent soziopathische Ader ist. Für gewöhnlich ist sie noch die erträglichste von den dreien. In ihrer Gleichgültigkeit ist sie stets am ehrlichsten.

Otto von Bismarck soll mal gesagt haben „Es wird niemals so viel gelogen wie vor der Wahl, während des Krieges und nach der Jagd.“ Den Teil mit den Beerdigungen muss er übersehen haben.

Er wäre mir vermutlich gar nicht aufgefallen, wenn er nicht so unbeweglich dagestanden hätte. Um ihn herum wogten die Köpfe von Reisenden mit Taschen, kleine Grüppchen jüngerer lebhafter Menschen oder ältere, eher etwas verloren wirkende Paare. In alle Richtungen flossen sie um ihn herum, wie ein Fels in der Brandung verharrte er an seinem Platz, den Blick geradeaus gerichtet, jedoch ohne zu starren. Dadurch, dass er ein Stück größer war als der Durchschnitt, gelang es ihm, seine Aufmerksamkeit auf die Umgebung zu richten, während um ihn herum die Menschen meist nicht mehr sahen als den Rücken ihres Vordermannes, wenn sie überhaupt aufblickten und nicht in ihr Mobiltelefon vertieft waren.

Mir drängte sich der Gedanke an einen Indianer auf, der am Ende eines Tages den Blick über die Ebene schweifen ließ. Verärgert und fast schon über mich selbst lachend musste ich mir eingestehen, dass es kaum einen weniger passenden Vergleich gab als diesen. Aber dennoch war es genau das, was ihm im Blick lag, eine Mischung aus Sorge und Ruhe, Vertrauen und Schmerz, völlig eins mit sich selbst und bewusst im Augenblick verharrend wirkte er… einfach lebendig.

Auch ich wurde ruhiger, mein Rucksack weniger schwer, meine Haltung etwas gerader, als ich ihn beobachtete. Da ich ein merkliches Stück kleiner bin als die Umstehenden, entstanden immer wieder kurze Momente, in denen ich ihn nicht sehen konnte, wenn sich eine Gruppe zwischen ihn und mich schob. Ich wurde angerempelt und musste mich neu positionieren, fast schon rechnete ich damit, dass ich ihn danach nicht mehr ausmachen können würde. Aber er war weiterhin da, unbewegt und in sich selbst ruhend.

Bis zu dem Moment, als er den Kopf drehte, und mir direkt in die Augen sah. Nein, direkt in die Seele blickte. Er fand mich nicht durch Zufall in der Menge, er wusste genau, wo ich war und dass ich ihn beobachtet hatte. Sein Blick war fühlbar, fast greifbar, hielt mich gefangen, forschte nach meinen Absichten. Er hatte sein Urteil über mich noch nicht gefällt, aber ich fühlte mich entsetzlich ertappt und wusste, dass es vernichtend sein musste. Ich war ein Eindringling in seiner Welt, kein Teil davon. Ich konnte weder wegschauen, noch blinzeln, war zutiefst erschüttert über meine Dreistigkeit und wollte ihm nur vermitteln, dass ich wusste, das ich Unrecht getan hatte und es gerne ungeschehen machen würde.

Noch während mich diese Gedanken marterten, nahm ich eine erneute Bewegung seines Kopfes wahr. Ein fast unmerkliches Nicken, nein, kein Beugen des Kopfes, nur eine federleichte Bewegung als Antwort auf meine stumme Abbitte. Er akzeptierte mein Sein, meine Tat, meine Entschuldigung. Und wandte seinen Blick wieder zurück in die Ferne, auf sein Land, auf seine ureigensten Angelegenheiten, und ließ mich einsam in der Menge zurück.

Unordnung im Kopf

„Wenn du aufräumst, geht es dir auf jeden Fall besser! Stört dich das nicht selbst?“

Ein Blick in den Raum. Er bleibt stumm. Sie redet weiter auf ihn ein, doch er presst nur die Lippen aufeinander. Sagt nichts. Endlich geht sie und er lässt sich auf sein Bett fallen. Zwischen gebrauchte Taschentücher, leere Coladosen und Chipstüten. Auf dem Boden liegen Schokoladenpapiere, Wasserflaschen, die gebrauchte und irgendwann mal sauber gewesene Wäsche wild durcheinander. Es müffelt nach altem Bett, dem Essen von letzter Woche, nicht gelüftet.

Nicht gelüftet. Er könnte wenigstens das Fenster aufmachen, denkt er. Aber selbst der Weg dorthin ist zu weit, tut in der Seele weh. Unüberwindlich.

Draußen scheint die Sonne, aber drinnen ist es dunkel. Als würde die Sonne ihr Licht an den Fensterscheiben abgeben und nach drinnen nur noch als graue Suppe reinkommen. Draußen: fröhliche Kinder, Vögel, bunte Herbstfarben. Drinnen: alles fake, die gute Laune, gestopfte Gefühle, das dunkle Zimmer.

„Wenn du aufräumst …“ – kratzt an ihm wie ein Pullover aus alter Wolle.

Wenn er aufräumt, was wäre dann noch übrig von ihm außer Leere?

Das Leben leicht nehmen

Man sah ihn schon von weitem. Die knallrote Hose und das indigoblaue Hemd leuchteten einem förmlich entgegen, als ich in die Einfahrt fuhr. Um seinen Mund bildeten sich lauter Fältchen, als er lachte. An ihnen und dem kaum vorhandenen Haar konnte man sein Alter trotz der ausgefallenen Kleidung erahnen. Jetzt blickte er zu mir rüber und umarmte mich kurz, als ich aus dem Auto stieg.
„Na, Mädchen“, sagte er.
„Hallo Opa“, erwiderte ich und stellte mich zu ihm und Mama.
„Was hast du schon wieder mit deinem Arm gemacht?“, wollte sie von ihm wissen.
„Nur ein kleiner Fahrradsturz. Macht doch nichts“, wiegelte er ab. Wie so oft war einer seiner Unterarme dunkelblau, aber ihn kümmerte es nicht. Für ihn zählten nur sein Fahrrad und die Leidenschaft, welche sich dahinter verbarg.
Dass es möglicherweise zu alt dafür wurde, davon wollte er nichts hören. Wir setzten uns im Garten zu einer Tasse Kaffee hin und er erzählte davon.
„Irgendwie bin ich auf die Wiese des Seitenstreifens gekommen und konnte nicht mehr bremsen. Ist doch alles noch dran.“ Er spielte es runter, denn sein Gang in den Garten war noch schwerfälliger als sonst gewesen. Eine Weile sprachen wir über dies und das. In lud ihn zum kommenden Wochenende zum Grillen bei uns ein und wie sollte es auch anders sein, drückte er mir zum Abschied einen Schein in die Hand.
„Für die Wurst“, sagte er und zwinkerte.
„Aber ich habe dich doch eingeladen“, widersprach ich.
„Na und? Ist doch egal.“ Genauso hatte er vorhin reagiert, als wir vom Fahrradfahren und seinen Stürzen sprachen. Oder von der Tatsache, dass er mit seinem Diabetes weniger Kuchen zum Kaffee nachmittags essen sollte.
„Dann ist der Zuckerwert halt etwas höher. Ist doch egal, ich bin schon 80. Ich hab mein Leben gelebt. Jetzt will ich nicht noch verzichten.“ Das war einer seiner Standardsätze: Ist doch egal, dann ist das so und macht doch nichts. So wie gerade eben. Er verabschiedete sich bis zum nächsten Samstag. Als ich die Hand öffnete, befanden sich darin 50 €. Für eine Wurst.

Sie will immer gewinnen.

Sie ist meine Gegnerin, die es zu besiegen gilt. Wir haben keinen Krieg, trotzdem ist sie mein Feind. Aber sie ist auch eine liebe Kollegin, und es macht mir nichts aus, sollte sie gewinnen. Es ist ein Spiel, ein absolut friedlicher Krieg mit Karten.
Sie ist immer ein bisschen verbissen, will immer gewinnen. Das ist schon die letzten vierzig Jahre so. Seit wir uns kennen, seit wir spielen. So wie sie die Karten in den Händen hält. Ihr Blick wandert von den Handkarten zu den schon paar wenigen Karten die auf dem Tisch liegen, über die Runde Mitspieler und wieder zurück. Jetzt jammert sie dann nächstens wieder, weil die Anderen im Moment besser sind. Das ist immer so. Es gehört zu ihr.
Ihre freie Hand greift nach ein paar Nüsschen aus der Schale vor ihr. Die Nägel sind frisch rot lackiert. Nervös ist sie nur, wann sie ein Verliererkart auf der Hand hat. Das Lächeln fehlt im Moment, Sie hat schlechte Karten. Sie ist durchschaubar, keine Pokerin. Eine Nuss fällt ihr auf ihr herbstliches Kleid. Ich schaue vom Kleid auf ihr Haar. Auch die gepflegt und in herbstlich gefärbter Farbe. Ich vermute sie wären grau. Sie schaut auf ihr Äußeres. Ihr Mann, links von mir, legt die letzte Karte ab und gewinnt diese Runde. Sie zedert mit ihren Karten. Sie waren diesmal schlecht. Sie hat verloren, Sie will immer gewinnen.

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Ein wunder schöner Herbsttag, für Oktober ist es viel zu warm, das Thermometer steigt über zwanzig Grad. Ich sitze im Stadtkaffee, um diesen letzten warmen Tag zu genießen. Die Sonne versucht, die Herbstnebel zu durchdringen. Mein Cappuccino wird von einem Kellner vor mich gestellt, genau wie an den Nachbartisch.

Dort sitzt ein Herr, der scheinbar ebenso wie ich die letzten warmen Sonnenstrahlen für dieses Jahr genießt.
Er schaut, ohne Interesse auf die Menschen, die mit hast oder schlendernd am Kaffee vorbeiziehen.
Dieser Mann wirkt deplatziert in seinem karierten, schwarz - dunkel – grauem Anzug, der schon bessere Tage gesehen hat. Neben dem Stuhl lehnt ein Spazierstock mit aufgesetztem Silberkopf, ein undefinierbares Tierporträt, Drache, Schlange, Vogel. Die Saphire, die die Augen darstellen dürften, glitzern in der Sonne, azurblau wie lebendig. Der schwarze Lackstock endet in einer silbernen Spitze. Daneben stehen Füße, in Stricksocken und Gamaschenschuhen, eine Übergroße, so wie die Hose, etwas zu kurz zusein scheint.
Neben der Kaffeetasse liegt eine dicke Tageszeitung, vielleicht die Welt oder die Frankfurter Allgemeine, achtlos aber ordentlich zusammen gelegt. Seine langgliedrigen Finger rühren mit dem Löffel, gleichmäßig im Schaum des Cappuccinos, den Zucker ein. Er schaut nicht auf seine Hände, sondern sinniert scheinbar über die Häuser und Straßenschluchten.
Er trägt Bart. Dieser changiert in einem rotbraun, gepflegt, in der Sonne. Sein Haupthaar, in pechschwarz, etwas lichter, bildet einen starken Kontrast, auch gepflegt, aber es sieht wie gefärbt aus, in seinem Alter. Dieses schwarze Haar, wie der Lackstock wirken zum rötlichen Bart künstlich. Eine Perücke wäre schwer so licht herzustellen.
Die Krähenfüße um seine Augen lassen ihn freundlich erscheinen, trotz allem wirkt er aus der Zeit gefallen. Obwohl diese Aufmachung, mit dem petrol farbenem Seidenschal wieder modern sein könnte „English style“.

Junges Fräulein, findest du es nicht etwas unverschämt, mich mit offenem Mund anzustarren? Du glotzt mich seit einigen Minuten an, genau vier Minuten und zweiunddreißig Sekunden. Hast du keine Erziehung?
Ich schau verlegen auf die Straße, es ist mir peinlich. Hab ich wirklich gestarrt? Meine Wangen brennen, hoffentlich belässt er es dabei.
Was stört dich an mir?
Sein Akzent ist eigenwillig, ich kann ihn nicht zuordnen. Wie ich aufschaue, blitzen seine schwarzen Augen, durch eine silberne Nickelbrille mich an. Durchdringend, fragend, wissend, freundlich ist sein Blick. Unsicher lenke ich meine Aufmerksamkeit auf meine Tasse, die noch unberührt vor mir steht.
Fräulein ich habe dich etwas gefragt! Wenn du schon so unhöflich bist, mich anzustarren, bist du mir eine Erklärung schuldig.
Ich schlucke.
Sie sind ungewöhnlich, gebe ich zur Antwort. Laut, um meine Unsicherheit zu verbergen.
Was meinst du?
Ich, ich finde … Alles!
Mademoiselle, ich finde hier auch so ziemlich alles besonders.
Mein Name Saro, Herr Saro, um wenigstens etwas Höflichkeit durchscheinen zulassen. Wie darf ich dich ansprechen?
Er duzt mich, schon das geht ja sehr weit. Wenn ich jetzt meinen Namen sage, er wird mir unheimlich.
Susa fällt mir ein.
Seine Augen sind stechend.
Ich hätte immer noch gern eine Antwort, Susa.
Ihr Anzug stotter ich, aber die Bart- und Haarfarbe gehören einfach, natürlich nicht zusammen, platzt es aus mir heraus.
So, so er fingert eine Taschenuhr aus seiner zu kleinen Anzugjacke.
Die menschlichen Pigmente darzustellen ist schwierig. Beim nächsten Treffen werde ich mich nochmal damit auseinandersetzen. Jetzt wirst du mich entschuldigen. Bis bald.
Er nimmt seine Zeitung, den Silberknauf in die Hand. Handschuhe zieht er aus der zerbeulten Hosentasche und ist in Sekunden in den Menschen vor dem Kaffee verschwunden.

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Mein kleiner Held

Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und ließ die raue Oberfläche des Sees wie tausend kleine Diamanten schimmern. Die heiße Luft, die der Wind mit sich brachte, erschwerte das Atmen ungemein und ich glaubte, es gab keine Körperstelle an mir, an der ich nicht schwitzte. Meine Kleidung klebte bereits an mir, wie eine zweite Haut. Trotz allem genoss ich die Stille, das zwitschern der Vögel und den Wind, der jedes einzelne Blatt der Bäume in Bewegung setzte. Ich atmete tief den betörenden Duft, der verschiedenen Blumensorten ein, der wie ein Parfüm die Umgebung einhüllte, und blickte zu dem Jungen herüber, der fast genauso strahlte wie die Sonne.
Mein kleiner Enkel wollte mir unbedingt zeigen, dass er jetzt Fische mit den bloßen Händen fangen konnte. Also schnappte er meine Hand und zog mich mit sich an den See. Auch wenn ich zuerst keine große Lust dazu verspürte, so entschädigten mich doch seine leuchtend blauen Augen, in denen kleine smaragdgrüne Punkte vor Vorfreude tanzten, als er in das seichte Wasser stürmte. Sie strahlten genauso hell wie der klare blaue Himmel über uns, der die angrenzenden Berge bereits zu küssen schien. Blonde nasse Strähnen tanzten bei jeder Bewegung, die er machte und ein heiteres Lachen erfüllte die Umgebung, während er im See gierig nach Fischen Ausschau hielt. Dabei sprang er aufgeregt von einer Stelle zur nächsten, spritze das Wasser bis hoch hinauf zu seinem Hosenbund. Durch das warme Wasser verfärbte sich die erstmals hellblaue Jeans, stellenweise in ein Heidelbeerblau, was ihn jedoch nur noch antrieb, durch das seichte Wasser zu hüpfen. Vergessen waren die Fische, als er mir mit einem breiten Lachen seine süßen Grübchen präsentierte und die leichte Zahnlücke, die zwischen den schneeweißen Schneidezähnen herausstach. Unbekümmert, strahlend vor Glück mit dem Lachen eines Engels. Wehmütig sah ich auf den unschuldigen und dennoch lebhaften Jungen, um den seine Mutter mit einem Löwenherz und dem Mut eines Drachen kämpfte, bis sie ihn sicher in unserer Familie begrüßen konnte. Ein kleiner blonder Junge, der dem Leben einen Sinn gibt. Ein Engel ohne Flügel.

Eckhart Tolle und die Erleuchtung

Da sitzt er nun vor uns. Ein eher kleiner Mann mit schmächtiger Statur und einem freundlichen und offenen Gesicht. Sehr sympathisch empfinde ich seine Erscheinung. Er trägt ein weißes Hemd, darüber ein besches Sakko, eine hellgraue Hose und schwarze Schuhe. Sieht alles sehr bequem aus. Links und rechts von ihm stehen auf kleinen Beistelltischen bunte Blumensträuße. Nicht zu klein, aber auch nicht zu protzig. Er blickt auf und lächelt in den Saal. Dann fängt er an zu sprechen. Langsam und bedächtig. Manchmal mit einem spitzbübischen Lächeln. Humor hat er ja. Es geht um BewusstSein und das Ego. Die Klassiker bei spirituellen Veranstaltungen. Die Erwartungen des Publikums werden augenscheinlich erfüllt. Es wird viel gelacht, gelegentlich applaudiert, konzentriert zugehört, nachdenklich genickt und manche Zuhörer machen sich Notizen. Der knapp zweistündige Vortrag vergeht wie im Fluge. Der Meister - er fand nach eigener Darstellung mit 29 Jahren die Erleuchtung – erhebt sich, deutet eine Verbeugung an und das Publikum antwortet mit Standing Ovation. Das war´s.

Ich fand´s interessant, aber nicht umwerfend. Für Freunde von einer „wir-haben-uns-alle-lieb-Stimmung“ sicher genau das Richtige. Mir fehlte ein wenig die Herausforderung des Egos. Ich hätte das Publikum mehr mit einbezogen. Beispielsweise zwischendurch mit großer Lautstärke „Sing Hallelujah von Dr. Alban“ und anschließend „It´s my Life von Bon Jovi“ abgespielt. Die Standard-Mucke in Selbsterfahrungsgruppen. „Stehe ich auf und tanze, wenn ja, wie wild? Macht es mir Spaß? Warum eventuell nicht? Traue ich mich doch nicht und bleibe sitzen? Bin ich bockig? Muss ja nicht das machen, was andere vormachen. Was macht es mit mir? Fühle ich mich von anderen beobachtet? Beobachte ich selber heimlich mein Umfeld?

Aber mich fragt ja keiner.

Er kommt herein und stellt sich ans Ende der langen Schlange, die einmal längs durch die Tankstelle verläuft. Auf den ersten Blick sieht man lange zottelige, fast weiße Haare. Nur hier und da sind einzelne dunkle Haare auszumachen. Ein Vollbart ziert sein Gesicht. Lange Stoppeln, mehr weiße als schwarze, die ungepflegt aussehen.

Gerade öffnet er seinen Mund und fährt sich mit der Zunge über die Unterlippe. Im Oberkiefer ist neben einer großen Lücke nur ein Zahnstumpf zu sehen. Schwarz und abgefault.

Die Hände sehen aus als ob sie ordentlich zupacken können. Groß, mit langen Fingern unter breiten Dreckrändern unter den Fingernägeln.

Auf den zweiten Blick sieht man das die dunkle, unscheinbare Hose und den gleichfarbigen Pullover. Auf beiden ist ein Firmenemblem zu sehen. Dieser Mann trägt Arbeitskleidung. Seine Hosentaschen sind ausgebeult. Eine Ecke von einem Portemonnaie kann man in der einen Hosentasche sehen. In der anderen scheint ein Handy zu stecken. Ein dicker Schlüsselbund hängt halb aus der Tasche heraus. Daran ein Autoschlüssel.

Als der Mann an der Reihe ist bestellt er nur einen Kaffee mit Milch. Während der Mitarbeiter den Kaffee einschenkt verwickelt der Kunde ihn schon in ein Gespräch. An der Wortwahl erkennt man, das dieser Mann gebildet sein muss. Er bezahlt den Kaffee mit ein paar Münzen und den Worten passt schon. Wünsche dir noch einen angenehmen Tag.

Wie sehr doch der erste Eindruck täuschen kann. Es ist verkehrt Menschen nur nach ihrem Äußeren zu beurteilen.

Der Morgen danach

An einem überraschend warmen Novemberfreitag fuhr die Straßenbahn, die vor langer Zeit noch „rote Sechs“ genannt wurde, morgens früh gegen halb Acht an der Kopernikusstrasse mit Schwung nach rechts und verblüffte auf diese Weise einen der Insassen, der damit gerechnet hatte, es würde geradeaus weiter gehen.
Die gerade aufgehende Sonne machte sich sanft bemerkbar, wenige Wolken standen am Himmel und spiegelten sich schwach in den Pfützen, die vom nächtlichen Regen übrig geblieben waren. Leo Palasser blickte einen Moment lang erstaunt durch die Scheibe der Niederflurbahn. Die Front einer riesigen Autowaschanlage zog an ihm vorbei, dann hielt die Straßenbahn an - zu kurz für Leo, der es erst an der Redinghovenstraße schaffte einen klaren Gedanken zu fassen und auszusteigen; die ungeplante Übernachtung in fremder Wohnung hatte es ziemlich in sich gehabt.
Er war froh an der frischen Luft zu sein und endlich den Duft der Brünetten aus der Nase zu kriegen, die auf den schönen Namen Michaela hörte und darauf bestanden hatte „Micki“ genannt zu werden. Langsam ging er den Hennekamp wieder Richtung Mecumstraße zurück. Leichter Wind fuhr durch sein ungekämmtes Haar, es roch nach Rheinluft und gewischter Treppe, als er an einer offenen Haustür vorbeiging, in der wohl gerade jemand einen Aufnehmer ausgewrungen hatte.
Leo strich mit der Hand über sein Kinn und fragte sich, welchen Eindruck er wohl mit den Stoppeln und seinem Strubbelkopf auf die Leute machte, die gerade an ihm auf dem Weg zur Arbeit vorbeistrebten oder entgegen kamen. Da fiel ihm sein vor gar nicht so langer Zeit gefasster Vorsatz ein, solche Abenteuer von nun an sein zu lassen und sich auf freundliche Flirts zu beschränken, allenfalls Telefonnummern auszutauschen, jedoch nicht jedem Ansinnen eines bestimmten Typs Frau nachzugeben, auf den er manchmal eine geradezu magnetische Anziehungskraft auszuüben schien.
Er hatte es nicht einmal drauf angelegt, es war eine Tresenbekanntschaft wie so viele, doch Leos Talent fremden Menschen aufmerksam zuhören zu können ohne sich deren Probleme gleich zu eigen zu machen hatte dann und wann Folgen, die ihm nicht ungelegen kamen, denn er liebte die Frauen und war gerne Mann. Darüber hinaus glaubte er körperliche und emotionale Bedürfnisse trennen zu können, dieser Irrtum wurde ihm spätestens jedes Mal mit dem Schließen der fremden Wohnungstür bewusst und rüttelte sein Inneres manchmal derart durch, dass er anschließend in die falsche Bahn stieg oder vergaß an der richtigen Haltestelle auszusteigen.

Ihre Augen sind ein verwaschenes Kastanienbraun. Düster, jedoch nicht schwarz, wie kleine Rosinen. Ihr Gesicht verzieht sich zu einem gemeinen Lächeln, wenn sie mal wieder denkt, sie sei die Größte. Wenn sie denkt, die ganze Welt würde ihr gehören. Genauso läuft sie auch herum, mit vor Stolz gereckter Brust. Sie scheint gar aufgeblasen zu sein, wie das Sprichwort es sagt: „mit vor Stolz geschwellter Brust“. Jedoch ist das nur ihre dicke Daunenjacke, in den grellsten und unpassendsten Farben. Immer halb offen. Aber auch nur halb. Schließlich ist sie zu cool, um sie bis nach oben zuzuziehen und zu intellektuell, um sie offen stehen zu lassen. Ihre kleine, hubbelige Nase. Sie wirkt frech, wie ihre Sommersprossen. Und sie kräuselt sich, wann immer sie ihre unpassenden Kommentare um sich wirft. Und manchmal würde ich am liebsten draufhauen. Ihre Stimme, ihre Art – das alles kotzt mich an. Weil sie mich dazu gebracht hat, sie zu hassen. Mit ihren Sprüchen. Ihrem besserwisserischen Grinsen, das ihre auseinanderstehenden Zähne entblößt. Mit ihrer Art, jeden zu behandeln, als wäre er schlechter als sie.

Ich denke, jeder von uns hat einen Menschen, der ihn in den Wahnsinn treibt. Jemanden, der von sich denkt, er wäre der Beste der Welt. Aber wir wissen nie, das dahinter steckt. Hinter der Daunenjacke und den braunen Augen könnte alles mögliche stecken. Wer weiß.

Klein und Niedlich

Es ist zwar bereits einige Wochen her, doch in meinen Erinnerungen sind diese Bilder ganz präsent. Erst 50 cm klein und 3 Kg leicht, und schon verändert dieser kleine Mensch seit der Geburt meinen kompletten Alltag. Er kann noch nicht sprechen, gibt ab und zu einige Laute von sich und beobachtet alles um ihn herum mit wachen Augen. Es ist relativ schwierig, ihm die passende Kleidung anzuziehen. Hab‘ ich es aber geschafft, steht ihm die Kleidung perfekt. Ich versuche hier Wörter zu finden, um ihn näher zu beschreiben. Und das ist nicht leicht. Es ist leichter, die Reaktionen der Mitmenschen zu beschreiben, wenn sie den Kleinen sehen. Diese sind so natürlich und voller Freude, dass ich jedes Mal selber anfangen muss zu grinsen. In diesen Momenten stelle ich mir keine Fragen und genieße einfach den Augenblick und bin dankbar.

Wortgewandt kann sie dir auf jede Frage und sei sie noch so schwierig, eine plausible Antwort geben. Sie scheint vor nichts und niemanden Angst zu haben. Wenn sie einen Raum betritt, wird es ganz ruhig. Jeder Blick auf sie gerichtet. Gekleidet wie ein Model wild und verführerisch zu gleich. Ein schwarzes eng anliegendes Kleid was ihre Figur umschmeichelt. Die lockigen Haare wild nach oben gesteckt. Schauen dir zwei unbeschreibliche Augen entgegen. Sie strahlt wie die Sonne am höchsten Punkt der Erde. Nur die Wärme, ja die fehlt gänzlich. Sie weiß, wie schön sie ist und das kostet sie voll aus. Ja unbestritten ist sie nicht dumm. Doch ist Intelligenz wirklich das Wichtigste? Sie geht weiter und ich beobachte sie eindringlich. Was für eine zierliche und dennoch imposante Gestalt sie hat. Kaum zu glauben, dass sie gerade erst zarte 19 ist. Bewundere ich sie, oder ist es, ehr Misstrauen, was mich den Blick nicht loslösen lässt. Sie geht zielstrebig auf ihre Oma zu, die heute ihren 60 zigsten Geburtstag feiert. Nimmt sie liebevoll in den Arm, als ihre Augen plötzlich anfangen zu glänzen und eine Träne die Wangen herunterfließt.
Nun jetzt muss ich mir eingestehen, dass ich mich doch von Äußerlichkeiten habe täuschen lassen.

Aus fünf Metern Entfernung

Ich stand auf dem Balkon des Vereinsheims und blickte über den mit Bänken und Tischen übersäten Hof, auf dem sich allerlei Menschen tummelten. Dazwischen die Jungs die das Geschirr abräumten und die Bedienungen, die Getränke und Essen herbeibrachten. Eine Verschnaufpause tat echt gut, nach dem riesigen Ansturm, auf unser Kuchenbuffet. Alle plauderten, lachten und tranken genussvoll. Doch nur ein Tisch, zog wie ein schwarzes Loch, nach meiner Aufmerksamkeit und ich konnte den Blick nicht mehr abwenden.
Dort saß Jonathan, zu mir gewandt und ihm gegenüber sein Vater, der mit all seinen Gliedmaßen, etwas Aufregendes zu erzählen versuchte. Doch irgendetwas war an diesem Bild falsch, denn tief in mir drin schmerzte es, als ich in Jonathans Augen sah.

Er saß vorbildlich, mit den Händen im Schoß versteckt, in seinem weißen leicht ausgewaschenen Hoodie, vor seinem Vater und hörte ihm augenscheinlich, aufmerksam zu. Doch wieso stimmte mich dieses Bild so traurig? Womöglich lag es an seinem leicht nach unten geneigtem Kopf, den einzelnen dunklen Strähnchen seines Deckhaares, die ihm über die Stirn fielen und dadurch meinen Blick auf seine walnussbraunen Augen lenkten.

So leblos und starr, ohne jegliches Leuchten oder den Hauch eines Glanzes. Sie wirkten trüb und verbraucht, leichte Augenränder rahmten diesen trostlosen Ausdruck, in ein düsteres Bild. Selbst das lauthalse Lachen seines Vaters, entlockte ihm weder eine Regung in seinen Brauen, noch seinen Lippen. Selbst das kleine flüchtige Zucken seiner Mundwinkel, wirkte aufgesetzt und verlangte ihm wohl alles ab, da man es kaum wahrnahm, so schnell war der Augenblick auch schon wieder verflogen. Wenn sein Vater ihn mit einbezog, in dem er ihn etwas fragte, gab es eine reglose Geste durch Kopfnicken oder ein, durch dünne schmale Lippen, gepresstes „Ja“ oder „Nein“. Er wirkte steif, schon fast erstarrt und blickte nur hin und wieder, zwischen dem abgenutzten Tisch und seinem Vater hin und her.

Es schmerzte mich mit anzusehen, wie dieser Junge von nicht mal sechzehn Jahren, sich in seinem Hier und Jetzt, so teilnahmslos auslieferte und es scheinbar nicht einmal sein direkter, Gegenüber bemerkte. War ich etwa die Einzigste die sehen konnte, wie er innerlich zerbrach und dass selbst, aus einer Höhe von knapp fünf Metern Entfernung!? Was nur, ist diesem Jungen widerfahren, dass er eine Maske aufsetzt, die ihn vor jedweder Gefühlsregung abschirmt?

„Gibt es hier, den leckeren Kuchen?“, ertönte es von drinnen, woraufhin ich den Rest meiner Zigarette ausdrückte und auf dem Weg zur Tür antwortete „Ich komme schon, einen Moment bitte.“

Lisa

Mein Stammplatz in meiner Stammkneipe Café Stresemann in Berlin Kreuzberg ist ein Fensterplatz. Ein schwarzer Thonetstuhl vor einem gusseisernen einbeinigen kleinen schwarzen Marmorplattentischchen. Gleich links neben der Eingangstür auf einem kleinen Podest in einer schmalen Fensternische neben dem Tresen und der Zeitschriftenablage. Von dort aus überblicke ich fast den kompletten Gastraum, den Tresen und nach außen durch das Fenster den Askanischen Platz bis zur Ruine des Anhalter Bahnhofes. Das Gebäude, in dem sich das Café Stresemann befindet, ist ein altes Gebäude aus den dreißiger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts. Es scheint durch seinen Bauhausstil fast wie neu, wie erst vor wenigen Jahren gebaut. Neben den Geräuschen des Cafés nimmt man durch das Fenster ganz schwach den Straßensound wahr. Je nach der Ampelschaltung gibt es höhere Töne zu hören, wenn die Stresemannstraße auf Grün geschaltet ist. Tiefer brummt es, wenn die Anhalterstraße grün hat. Auf dem zweiten Stuhl mir gegenüber sitzt Lisa, eine junge Frau, eine Journalistin, die ein goldglänzendes eingeschaltetes Diktiergerät langsam und sorgsam auf die ein wenig zerkratzte schwarze Marmorplatte stellt. Es ist später Nachmittag und die tiefstehende Spätsommerabendsonne scheint ihr seitlich in’s Gesicht und blendet sie. „Na dann legen sie mal los Herr Haller“, meint sie ganz locker mit linkem zugekniffenen Auge und nimmt die eben von der Kellnerin gebrachte bauchige große weiße Milchkaffeetasse zwischen ihre schlanken sorgsam manikürten Hände und führt sie vorsichtig zum schönen Mund. Ich muss lachen, denn sie hat jetzt einen grauweißen Schnauzbart vom Milchschaum über der Oberlippe. Sie hat jetzt einen Bart, so wie ich, nur meinen kann ich nicht einfach so wie sie weg lecken. „Meinen Bart habe ich mir das letzte mal vor zwanzig Jahren innerhalb meiner vierundsechzig Jahre ab rasiert und war sehr erschrocken, als ich ab dem Tag einen fremden Menschen im Spiegel gesehen hatte. Also habe ich ihn wieder wachsen lassen. Warum soll ich mit einer alten Tradition brechen. Mein Urgroßvater hatte einen Schnauzbart und mein Großvater auch“.

„Und Ihr Vater hatte, der keinen?“ „Nein, der hatte nie einen Bart, warum habe ich ihn net gefragt.“ „Der Ausdruck >>net gefragt<< Sie sind kein Berliner, wo sind ihre Wurzeln?“ Ich nehme den Salzstreuer in die rechte Hand und halte ihn Ihr vor die Augen. „Thüringen, westliches Werratal, dort wo sich die südwestliche Terrasse des Thüringer Waldes und die nordöstlichen Vorberge der Rhön im Flusstal treffen, da kommt seit undenklichen Zeiten salziges Wasser, Sole aus der Erde und erzeugte wohlhabende Bürger. Um das salzige Wasser aus der Erde entstand eine kleine Stadt an einem sehr kleinem See, aus dessen Tiefen noch heute Salzwasser sprudelt und auch in kältesten Wintern diesen See nicht vollständig zufrieren lässt. Die Stadt am See und an der Werra heißt Salzzungen, Bad Salzzungen. Da komme ich her! Da bin ich aufgewachsen, da habe ich gelebt und ein Teil meiner Familie stammte aus dieser Gegend.“

„Keine Ahnung, wo das ist, wo ist diese Gegend?“ fragt sie, und grabscht in die kleine Schüssel mit den gesalzenen Erdnüssen.

„Na, in der Nähe von Eisenach, Gotha, Erfurt, halt auf der anderen Seite des Thüringer Waldes vom Osten aus betrachtet“.

„Und von da sind auch alle verrückten Geschichten, die sie erlebt haben?“

"Nein, nicht ganz, einige Geschichten sind auch in anderen Regionen erlebt“.

Dann klingelt ihr Telefon. Sie hört eine halbe Minute zu, klappt das Handy zusammen und steht auf. „Ich muss dringend weg! Entschuldigung!“ Zwei Tage später ruft sie noch einmal an. Sie unterdrückt Weinen beim Sprechen. Brustkrebs mit Metastasen im Körper bis zu den Zehen. Zwei Monate später ist sie eingeäschert und liegt neben dem Mausoleum des Schuhkreme Fabrikanten Lemm auf dem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Friedhof in Berlin-Charlottenburg, Fürstenbrunnerweg. Sie sah aus, wie die Trauernde mit Lyra von Hans Dammann für das Erbbegräbnis des Bankiers Ferdinand Warburg hundert Meter nördlich ihres Grabes. Sie sah aus wie meine zweite große Liebe, Traudl, deren Liebe sich an mir verschlissen hatte, lange bevor auch ihr Leben verschliss.

Lisa mit den schönen vollen Lippen, den seltenen grünen Augen kann nun nicht mehr meine Geschichte aufschreiben, die sie eh nur in vier Spalten auf einer Seite einer Wochenzeitschrift gequetscht hätte. Ein Jahr später, also heute, schreibt das jemand anders auf. Und packt es in ein Magazin, reduziert auf wenige EDV Abenteuer, die nur für EDV-affine Menschen abenteuerlich erscheinen. Im Resumé der Story meint er, er könnte eigentlich einen ganzen Roman um meine Geschichten herum backen, aber besser wäre, ich mach das.

Was macht man da? Man setzt sich selber hin und schreibt das auf. Jahrelang, fast wie Walter Kempowski in linierte Stenografenkladden, in txt Daten verschiedenster Laptops, in ein olles Nokia Handy, in odt und doc Dateien unterschiedlichster Personalcomputer:

„Mich dürstet. Mich dürstet nach dem Salz des Lebens. Mich dürstet nach Salz auf meiner Zunge. Mich dürstet nach dem Salz auf meiner Seele. Mich dürstet nach Schönheit, nach Wärme nach Schmerz. Mich dürstetet nach Leben, ehe mich etwas wie die Lisa mit den grünen Augen ungefragt abschaltet.“

Mich dürstet es immer noch! Ich hab gerade Durst auf ein mittelherbes Bier. Sitze im Stresemann. Der Platz vor mir, wo Lisa saß, ist leer. Die Buchstaben der txt-Datei im uralten Laptop sind auf vierzehn Punkt gestellt. Der Hintergrund ist grau. Meine Gedanken sind bunt. Das Bier kommt, es ist ein Berliner Pilsner!

Hingesehen.

Es hat mir nichts ausgemacht hinzusehen. Dazu hatte ich viel zu viel Routine. In meinem Leben hatte ich schon so viel gesehen, dass mich der Anblick nicht schocken konnte. Das hieß nicht, dass ich nicht empathisch war, im Gegenteil. Außerhalb meines Jobs war ich eher sensibel. Da war ich der mitfühlende Typ, der ich in meinem Beruf nicht sein durfte.

Gefühle hätten mich daran gehindert, dem verunglückten Motorradfahrer zu helfen.

Als Notarzt durfte ich in einer Unfallsituation wie dieser nicht den Menschen sehen, der vor mir auf dem Boden lag, sondern nur den zertrümmerten Schädel. Selbst die unnatürlich verrenkten und gebrochenen Arme und Beine waren erstmal unwichtig. Um die konnten sich die Rettungssanitäter kümmern. Auch die waren Profis und wussten, was sie zu tun hatten. Und was ich im Blick hatte.

In Bruchteilen von Sekunden musst ich das Richtige entscheiden. Weil niemand außer mir da war, um es zu entscheiden. Der Mann war bewusstlos, was erstmal gut war. Sein Schädel hinter dem rechten Ohr war deutlich sichtbar aufgeplatzt. Zum Glück hatte der Mann eine Glatze, was es mir leicht machte, das Ausmaß der Verletzung zu erkennen. Nur der Zustand der linken Seite des Schädels war nicht auf Anhieb zu bestimmen, weil sie nach unten zeigte und auf dem Asphalt auflag. So einfach mal eben umdrehen und nachschauen ging aber nicht. Das hätte das sofortige Aus für den Mann bedeuten können.

Es war eh ein Glück, dass der aufgeplatzte rechte Bereich seines Kopfes nach oben zeigte. Dadurch hatte sich der Blutverlust in Grenzen gehalten und die Sanis konnten sich darauf konzentrieren, die Blutungen an den Extremitäten zu stillen. Um den Kreislauf zu stabilisieren, hatten sie eine Infusion gesetzt und Adrenalin nach meinen Anweisungen bereits gespritzt.

Die weißlichen Ränder um die aufgeplatzte Stelle deuteten darauf hin, dass kurzzeitig etwas Hirnwasser ausgetreten war. Hirnmasse war jedoch keine zu sehen. Was sich jedoch mit jedem falschen Handgriff schlagartig ändern konnte. Der Druck im Gehirn dürfte durch das Trauma schnell angestiegen sein, sodass die Hirnmasse von innen wie ein Pfropf unter der Verletzung lag. Würde sich die Spalte auch nur einen Millimeter weit öffnen, könnte das fatale Folgen haben.

Um die Beschädigungen an der linken Schädelseite einschätzen zu können, musste ich dem Verletzten in die Augen sehen.

Aus der rechten Augenhöhle trat Blut aus. Nicht viel, aber genug, um ein kleines Rinnsal zu bilden. Ähnlich, wie es auch aus dem rechten Ohr lief. Beides passte zu der Verletzung am hinteren Schädel. Aber als Ursachen kamen auch Verletzungen durch Splitter seines zerborstenen Helms infrage. Das linke Auge zeigte diese Spuren nicht. Im Auge waren zwar viele Äderchen geplatzt, aber es trat kein Blut aus der Augenhöhle aus. Was zumindest schon mal ein gutes Zeichen dafür war, dass der Schädel links weniger in Mitleidenschaft gezogen wurde. Aber mehr als ein Indiz war es nicht und keinesfalls sicher.

Ich sah mir den Schädel noch genauer von hinten an. Die Symmetrien schienen stimmig zu sein, was ebenfalls für eine geringere Verletzung links sprach. Womit meine Sichtanalyse abgeschlossen war. Sie dauerte nur wenige Sekunden, obwohl ich keinerlei Eile an den Tag gelegt hatte. Maßnahmen und der Einsatz von Instrumenten folgten erst danach. Weil der Erfolg von allem, was man in solch einer Situation tut, davon abhängt, wie gut man zu Anfang hingesehen hat.

Den Mann konnten wir retten. Er lebt heute mit einer Stahlplatte im Schädel, fährt wieder Motorrad und erfreut sich ansonsten bester Gesundheit. Nach meinem Einsatz habe ich ihn noch einmal getroffen. Er hat mich besucht und war dabei sehr angefasst. Die Worte, nach denen er suchte, hatte er nicht gefunden, aber in seinen Augen konnte ich lesen, was er mir sagen wollte. Danke.

(c) Jos Balo

Margret

Aufgestützt auf das Fußende des Pflegebettes betrachtete Karl seine bewusstlose Frau. Viel war nicht mehr von ihr übrig, von der einst gefeierten Konzertpianistin. Aus der zierlichen, mädchenhaften Schönheit die bis vor ein paar Jahren noch aussah wie Schneewittchen aus dem Märchenbuch war ein dürrer Ast geworden, dessen Knochen nur noch von beinahe durchscheinender Haut bedeckt waren, mit grotesk geschwollenen Gelenken und tief in den Höhlen liegenden Augen. Die Perücke, die den haarlosen Kopf bedeckte war leicht verrutscht. Alt sah sie aus, älter, als sie sowieso schon war. Aber in ihrem Inneren war sie immer noch jung, war sie noch die gleiche. Ihren Mut, ihr Lachen und ihre bedingungslose Liebe zu ihm hatte der Krebs nicht zerstören können. Er lächelte und streichelte die Bettdecke, die ihre Füße bedeckte.

Ich werde den Schmerz nicht los.
Wieder öffne ich die Fotogalerie auf dem Handy und suche dieses Bild:

Zu sehen sind wir. Die Familie der Braut. Wir stehen beieinander, die Jüngste in der Mitte. Sie trägt ein weissen Kleid, das ihren dicken Bauch betont.
Drumherum wir drei Geschwister, alle festlich gekleidet. Auch uns ist anzusehen, wie sehr wir uns freuen.
Und die Mutter steht da. …Wann hatte sie je ein Kleid getragen? Ganz ungewohnt, dieser Anblick. Ich mag, wie sie lächelt. Es wirkt zwar etwas gekünstelt, aber wer kann das schon, auf Kommando lächlen?

Dann ist da noch Papa. Direkt neben der Braut steht er, der Mutter untergehakt.
Mit seiner dunklen Brille und dem ernsten Gesicht wirkt er etwas fehl am Platz. Er hat sich auch zu weit abgedreht und blickt nun neben der Linse vorbei irgendwo an den Rand des Fotos.
… Fast wirkt es so, als bekomme er nicht mit, was da um in herum passiert.

Der Vater, er ist seit ein paar Wocheb blind.
Nach einer misslungenen Augenoperation bleibt für ihn nun für immer alles dunkel.
Und da, in all dieser freudigen Aufregung, als wir uns um die Frischvermählte drappierten, lachten und uns als Familie einander so nah fühlten, da haben wir den Vater vergessen.
Niemand hatte dafür geschaut, dass er richtig steht und den Moment des Fotoshootings klar mitbekommt.

Papa steht da, mitten unter uns, aber alleine.

Immer wieder muss ich das Foto anschauen.
Und ich werde den Schmerz nicht los.

Robert

Es waren die Augen. Das fliehende Kinn, die ekelhaft brave Frisur, der graue Anzug und das nichtssagende Lächeln hätten einen ganz leicht dazu verleitet, ihn für einen seelenlosen Versicherungs- oder Bankbeamten zu halten. Aber seine Augen sprachen eine ganz andere Sprache, sie flüsterten von Abenteuer und Romantik, von Gefahr und der Wucht der Gefühle. Und wer seinen Beruf kannte, wusste, dass diese Augen die Wahrheit sprachen. Wenn auch nicht so, wie es die meisten erwartet hätten. Das war es ja, was mein Interesse geweckt hatte. Und das war es auch, weshalb ich später… Aber halt, fangen wir erst mal ganz am Anfang an!