Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Nebelschweben

Der Wind rauscht über die Fassade, dringt durch die Dämmung in die Holzdielen und hinterlässt einen Hauch von Kälte auf der Haut. Kaum wahrnehmbar. Vielleicht sogar eingebildet durch den Anblick des Nebels, der die Baumfront der Schrebergärten vor dem Schlafzimmerfenster in schlafende Ruhe hüllt. Durch ihn blitzt der Himmel durch, schnuppert nach Lavendel, Gemüse, Gülle und Pferdemist. Begleitet vom Krähen der zwei Hähne, die sich ihr morgendliches Duell des Stärksten liefern, löst er sich über Stunden hinweg in gruseliger Gemütlichkeit. Bis die Baumwipfel deutlich zu erkennen und kürbisorangene und zitronenkuchengelbe Blätter in ihr nächstes Abenteuer fallen.
Zu beruhigend der Anblick. Zu einladend, um aufzustehen und im Trubel des Alltags zu versinken. Wo die Natur mir doch klar macht: Bleib liegen und genieße den Moment. Ignoriere die zwei Wäscheberge auf dem Ständer, die den Blick aus einem der zwei Fenster blockieren. Dafür ist den Tag noch Zeit. Denn der Nebel schenkt beruhigende Schwere, während die Pfoten meiner Hündin träumend zuckend über die Baumwipfel jagen. Hinüber ins Feld, wo die Pferde warten. Eingekringelt liegt sie wie die Königin im Bett, weigert sich auf zustehen, den Tag zu beginnen. Genießt das Dämmerlicht im Raum und glaubt es kaum, dass sie aus zugedecktem Leben urplötzlich die Welt vor sich sieht und der Nebel ganz frech bei sich daheim im eigenen Bettchen seinen Rausch ausschläft.

Kaffeeklatsch

Mittwoch, in einem kleinen Cafe im vorderen Odenwald: „Hey Mädels!“, grüßt sie lauthals lachend in die Damenrunde am großen, ovalen Esstisch. „I’m so sorry, i’m a little bit late!“, entschuldigt sie sich nicht weniger leise, so dass auch der Gast in der hintersten Ecke Bescheid weiß. Dabei lehnt sie lässig im Türrahmen, krumm wie eine Banane, den Ellbogen gegen das Holz gestützt, den Kopf in der Hand, die Beine gekreuzt, in den wide-leg-oversized blue Jeans und grinst.
Dann stürzt sie kurzerhand zur Gratulation mit Geschenken, die sie hinter der Tür hervor klaubt: „Happy Birthday meine Liebe!“ mit einem dicken Drücker. „Ich habe hier für jeden Tag im Dezember bis Weihnachten etwas Süßes, damit du auch nur oft genug an mich denkst!“ Strahlend überreicht sie einen Adventskalender in buntem Pappkarton, mit den üblichen 24 Türchen, gefüllt mit den besagten Naschereien. In der anderen Hand wedelt sie freudig mit einem bunten Blumenstrauss, in rot und orange Tönen, hauptsächlich Gerberas, mit ein wenig grün und Schleierkraut und einer großen Papierkrempe drum herum. Sie organisiert kurzerhand eine Vase und trapiert den Strauss auf dem Tisch, zwischen Kuchen und Kaffeetassen.
Obwohl sie sich im Alter nicht von der Damenrunde zu unterscheiden scheint, macht sie einen völlig anderen Eindruck. Ihr Gesicht ist von Lachfältchen gezeichnet. Während alle anderen Damen ausnahmslos den gleichen, welligen Haarschnitt und Perlenohrringe tragen, wie Frau das um die 70 eben oft tut, ziert ein kurzer silberner Pixie Style ihr Haupt. Auf Schmuck verzichtet sie komplett, Make up ist nicht erkennbar. Was unter der weiten Jeans an Schuhen hervorblitzt, sieht nach einer Mischung aus Wanderschuh und Sneaker aus, ausgetreten, keine Frage.
Sie tänzelt beschwingt zum letzten freien Stuhl am unteren Tischende, streift die viel zu große, graue Strickjacke ab und hängt sie zusammen mit der schlichten, hellen Lederhandtasche über die Stuhllehne. Das hellblaue, lässige Baumwollshirt darunter ist eben so unspektakulär.
Sie lässt sich auf den Stuhl plumpsen und schmunzelt: „So Mädels, lange nicht gesehen aber direkt wieder erkannt! Was habe ich verpasst?“

Existenzkampf

Langsam, ganz langsam fallen diese tief mitternachtschwarzen, fast pupillenlosen Äuglein zu. Noch läuft der Kampf gegen das wohl unvermeidbare, aber lange kann es nicht mehr dauern. Sie hatte dieses seltsame, extrem beängstigende Gefühl, das ihr sagte, dass ganz schnell etwas passieren müsse, weil es sonst das Ende der Existenz sein könnte. Konnte sie so etwas wie Existenz denn überhaupt schon erkennen? Auf alle Fälle kam die Rettung gerade noch rechtzeitig. Sie hatte es wieder irgendwie geschafft, dieses seltsame Ding zwischen den Lippen festzuhalten und dann daran zu saugen. Es war äußerst mühsam und anstrengend, aber die einzige Möglichkeit, diese Angst, dieses so seltsam beklemmende Gefühl von Angst und fast schon Panik los zu werden.
Ja, sie hatte es geschafft und jetzt war da dieses angenehm warme, wohlige Gefühl, das den ganzen Körper erfüllte, aber jetzt die Augen dazu zwang, sich zu schließen, sodass sie nicht mehr sehen konnte, wie es jetzt weiterging.
Sie gab sich geschlagen, ließ es zu, dass sich die Augenlieder ganz schlossen. Alles war jetzt so wohlig warm und einfach nur schön. Sie seufzte noch einmal, streckte ihre Beinchen weit von sich und ließ sich in diese angenehme Ruhe abgleiten.
Noch ist das Leben zwar mühsam und anstrengend, aber doch schön, und es hält noch so unendlich viel Neues bereit, das man entdecken und erkunden muss. Aber nicht jetzt, jetzt bleiben die Augen mal zu - sich einfach treiben lassen ist jetzt angesagt.
Ich bin ja erst zehn Tage alt, und Mama schaut schon, dass alles gut wird.
Sie ist satt und rundum zufrieden mit der Welt und dem Leben.

Beim Staudentausch
Oktober 2022

An dem Nachmittag saß ich schläfrig an einem Tisch, trank Kaffee und wartete auf einen Kumpel, der auf dem Pick-up junge Walnussbäume, Ebereschen und richtig fleischig-saftige Moosbetten verladen hatte. Wir waren auf der Staudentauschbörse und ich stierte auf ein Schild: Helianthus, Rittersporn, Lupinen zu verschenken.
„Manche sagen, es soll einen Gnadenwinter geben…“
Die Stimme dieser Besucherin, diese Intensität und die dramatische Betonung mit dem Respekt vor Kälte und Frost gingen mir durch Mark und Bein.
Unwillkürlich drehte ich meinen Kopf zum Eingang, der wie ein riesiges Scheunentor gestaltet war und als Hingucker diente, um von den grauen Betonwänden abzulenken.
Die Frau war eine blasse Erscheinung, vielleicht war sie Mitte fünfzig, ihr fülliges, kurzes, schwarzes Haar und die ebenmäßigen Gesichtszüge, mit wieselflinken Augen ließen sie jünger und sehr dynamisch wirken. Die Krähenfüße, die sich weit bis zu den Schläfen eingegraben hatten, deuteten schon an, dass sie gerne lachte, und sicher über Humor verfügte.
Sie spazierte eher abwartend durch die Reihen von Pflanzen und konnte sich von ihrer Bekannten keinen Zuspruch erwarten, denn die schaute grimmig zum gegenüberliegenden Fenster, durch das das gelbe Oktoberlicht die Menschen mit Freundlichkeit anstrahlte.
Nach kurzem Schweigen seufzte sie: „Guck hier, die schöne Vase!“ Sie hob sie hoch, um sie direkt vor ihren Augen zu prüfen. Ihr Rücken war durchgedrückt und die zu weite Jacke schob sich an der Brust so hoch, dass sie die Arme wieder senkte, um noch was sehen zu können.
„Scheurich!“ Ihr Ton war zunächst voller Begeisterung, aber mit flach werdender Stimme ließ sie erkennen, dass sie ja wegen der Stauden gekommen war.
„Da würde ich ja bei mir Zuhause was erleben“, hob sie dann wieder voller Emotionen an. Dort wäre niemand damit einverstanden, wenn sie noch mehr Krimskrams ran schleppte.
Mit der freien Hand wischte sie durch die Luft, was vielleicht ihrer Begleitung versichern sollte, dass sie sich längst mit allen Widrigkeiten abgefunden hatte.
Sie gab die Vase zurück, steckte ihre Hände in die Jackentaschen und ich stellte meine Lauscher auf, denn sie begann zu flüstern, außer Unterwäsche hätte sie sich nie erlaubt, irgendetwas mitzubringen. „Kostet ja alles!“
Mit sehnsüchtig-nostalgischen Blick machte sie für andere Interessenten Platz, während sie jetzt befreit aufatmend zum Fenster hochschaute, durch das die Sonne die Kunden und Verkäufer anstrahlte: „Wenn es sich wenigstens bis Mitte November so hält“, säuselte sie mit einer gewissen Vorfreude und ohne die Lippen zu bewegen, „dann kann man mir ruhig die Heizung abstellen!“

Das Hippiemonster

Geschockt bleibe ich auf der Schwelle zum Garten stehen. Mist! Ich habe vergessen, dass für heute Themen-Party angesagt war. Ehrlich zugegeben: Ich hatte es verdrängt, nicht bloß vergessen! So, wie man ein traumatisches Ereignis verdrängt. Ja, Ich LIEBE Geburtstagspartys, aus ganzem Herzen – aber ich hasse Themenpartys. Warum muss meine beste Freundin ausgerechnet heute beides miteinander kombinieren? Zum Weglaufen ist es zu spät und zum mich Verkleiden wohl auch.

„Miriiiiiiiiiiiiii!“ – Oh nein, wer verbirgt sich hinter diesem verrückten Hippieauftritt? Eine Frau (?) im langen grünen Kleid, kommt, überladen mit langen Ketten und Blümchenringen an den Fingern auf mich zugerannt. Ihre überdimensionale rote Sternchenbrille verhindert, dass ich ihre Augen sehe. Während sie weiter stolpernd vorwärtsjagt, weichen die Partygäste so elegant nach links und rechts aus, als hätte Moses das Meer geteilt. Ich schätze mal, die Verrückte rast heute nicht zum ersten Mal hysterisch kreischend durch den mit leuchtenden Lampions geschmückten Garten Richtung Pforte.

Nur wenige Meter vor mir greift sie zum Hörer. Ja, Richtig gesehen. Sie hält sich einen riesigen, mintgrünen Telefonhörer ans Ohr, mit Schnur, welche an ihrem Gürtel befestigt ist. Das Gekreische klettert noch eine Oktave höher: „Miriii, ist das schööön, dass du endlich da bist. Leute, hört her, das ist Miri.“ Eine theatralische Pause erfolgt. „Miri, meine beste und verrückteste Freundin von allen hier!“
Bedröppelt lasse ich mich von ihr herzen und abknutschen. Klar bin ich verrückt. Schließlich bin ich die einzige Person, die es sich getraut hat, unverkleidet zur 60`er-Party zu erscheinen. Silke kichert schrill. „Wie geil ist das denn? Mal ehrlich, wer kommt denn auf soo eine abgefahrene Idee, sich als sich selbst zu verkleiden?“ Okay, tief durchatmen Miriam. Silke trinkt nicht. Keinen Tropfen. Nie. Benimmt sich aber rekordverdächtig besoffen. Sie greift meine Hand und zieht mich mit sich. Warum taumelt sie so? Ich glotze irritiert auf ihre Füße, besser gesagt, auf knallgrüne Strümpfe, welche in roten hohen Plateauschuhen mit Goldschnallen stecken. „Was ist los?“, versuche ich in Erfahrung zu bringen. Statt einer Antwort reicht sie mir einen Hörer. Einen himmelblauen. Ebenfalls in XXL-Format. Eigentlich passend, zu meiner blauen Jeans und dem roten T-Shirt mit der Aufschrift „crazy woman“.
„Hier, du musst hier reinsprechen, wenn ich dich verstehen soll.“
„Aber die Russen, hören die dann nicht mit?“
Alles grölt vor Lachen.
Darf man über Putin überhaupt noch Witze machen?
Klar, warum nicht, beantworte ich mir selbst. Humor ist, wenn man trotzdem lacht. Humor stirbt als letztes. Immer. Ohne Humor werde ich diesen Abend nur schwer überleben.
„Silke, warum bist du so gut drauf?“, erkundige ich mich jetzt ein wenig konkreter. Ihr Geburtstag alleine erscheint mir nicht Grund genug. Sie grinst, und zeigt auf ein paar winziges Kuchenkrümmel, auf einem ansonsten leeren Teller, rechts neben mir auf dem Tisch. „Kuchen!“ Oha, das war wohl kein handelsüblicher Kuchen, schnalle ich sofort. Sie verbindet meine Telefonschnur mit der ihren. „So, jetzt haben wir beide eine Standleitung. Da kommt kein Russe mehr rein“, setzt sie mich in Kenntnis. Alles lacht. Erneut. Ergeben greife ich zu meinem Hörer und schreie: „Also gut, Silke. Happy Birthday! Schön, dass ich hier sein darf.“. Sie strahlt mich an und setzt mich darüber in Kenntnis, dass wir nun den ganzen Abend als „siamantische Zwillinge, oder wie heißt das noch gleich?“ zusammenbleiben werden. Damit die Russen keine Chance haben, sich in unsere Freundschaft einzumischen. Sie grinst breit, von einem Ohr zum anderen. Wer verarscht hier eigentlich wen, frage ich mich, nicht zum letzten Mal an diesem Abend, und lasse mich einfach fallen, in meine Rolle, als siamantischer Zwilling.

Die letzte Fahrt
Der Rhein hat mittlerweile wieder den Pegelstand, der den Passagier und Frachtschiffen erlaubt, volle Fahrt auf zu nehmen. Ich freue mich auf eine kleinen Ausflug über den Rhein und gehe mit einem älteren Paar an Board. Die Frau scheint gebrechlich. Sie hält sich an dem Arm ihres Mannes fest und schlurft langsam über den Boden des Schiffes. An der Ausgabetheke bleiben die beide kurz stehen und schauen sich die Auswahl an Gebäck und Kuchen an. Dann gehen sie langsam zum Oberdeck weiter.
Das Wetter ist sehr schön. Noch 22 Grad im Oktober, die Sonne schein und wenn man aufs Wasser schaut, spiegelt die Sonne darauf. In den kleinen Wellen spiegeln sich kleine Kristalle, wie es schein. Das Paar nimmt an einen kleinen Tisch Platz und die Frau schaut über das Wasser in die Ferne.
Die Fahrt geht los und die Kellner/innen bewirten die Gäste.
„Für meine Frau einen frisch aufgebrühten Früchtetee und ich bekomme eine Tasse Kaffee“, bestellt der Mann. Der Kellner nickt und fragt: „Möchten Sie was zu Essen dazu haben?“ „Elfi, willst du ein Stück Kuchen?“ Die Frau sieht ihren Mann verträumt an. „Ja“, sagt sie. „Den Apfelkuchen, den sie in der Auslage stehen haben, mit Sahne bitte.“
Wieder nickt der Kellner. „Und der Herr?“ „Ich möchte was Herzhaftes. Was können Sie mir empfehlen?“ „Wir haben eine kleine Auswahl an frisch belegten Brötchen, Bockwurst mit Kartoffelsalat und eine Tomatensuppe mit Croutons in Angebot“. Da die Schiffsfahrten gerade erst wieder losgegangen sind, hat man sich auf ein paar kleinere Speiseangebote geeinigt, erklärt der Kellner hinzufügend. Der Mann bestellt Bockwurst mit einem Brötchen und Senf, das würde ihm ausreichen.
Ich habe mir ebenfalls einen kleinen Tisch ausgesucht und kann die 2 älteren Herrschaften hören und beobachten. Normal genieße ich die Fahrten immer ohne großes Interesse an den anderen Passagieren, aber irgendwas hat meine Aufmerksamkeit auf die zweit gezogen.
Der Mann spricht leise auf die Frau ein. Sie nickt hin und wieder und sieht weiter auf das Wasser. Sie wirkt so abwesend, als wäre ihr bewusst, dass dieser Ausflug ihr letzter sein könnte.
Die Bestellungen kommen nach und nach an die Tische und ich bekomme mit, wie der Mann seiner Frau, zum Schutz ihrer Kleidung ein Handtuch umhängt und sie liebevoll mit Kuchen und kleinen Schlucken Tee umsorgt. Sie kann die Tasse nicht selbst halten und das greifen nach der Gabel fällt ihr schwer. Sie kann sich die Stücke nicht mehr selbst an den Mund führen.

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Tante Trude

Ich betrat die Kneipe kurz vor zehn. Es roch nach dieser seltsamen Mischung aus Dezifix, Reinigungsmitteln, kaltem Rauch und stiller Erwartung. Musikbox, Zigarettenautomat, ein kleiner Tresen und die üblichen Möbelstücke einer Gaststätte, die in den 50er Jahren verweilte, bildeten das Interieur. Ein Tisch war besetzt von zwei älteren Herren, gestützt auf ihre Gehstöcke und schweigend Fehlfarben rauchend. Ich nahm Platz neben ‚Stadler und Waldorf‘ und schaute zum Eingang in Erwartung eines Frosches. Stattdessen öffnete sich die Tür zu den Toiletten. Eine ältere Dame, ca. Mitte siebzig, erschien und verwandelte den Raum allein durch ihre Anwesenheit in eine Art Bühne. Es gab keinen Zweifel, wer hier die Hauptrolle spielte. Gekleidet mit einer abgetragenen Kittelschürze, in der linken Hand eine silberne Zigarettenspitze, ließ sie ihren Blick mit der Würde einer andalusischen Donna schweifen. Sie begrüßte die Gäste mit dem rauhen Klang jahrzehntelangen Tabak- und Alkoholkonsums, gepaart mit einer Nuance Weltläufigkeit.

Woher kommt dieses Geräusch? Es hört sich an, als würde jemand etwas abschmirgeln. Ich drehe mich um und sehe einen Mann. Dieser schlurft auf dem Boden entlang, hebt kaum die Füße, rutscht schnell vor sich hin. Irgendetwas irritiert mich. Sind es seine langen dunklen Haare, die augenscheinlich einem Vagabunden zu gehören scheinen, aber auf den zweiten Blick einen gepflegten Eindruck machen? Oder die Kleidung, die diesen ersten Eindruck ebenfalls widerlegt: Legeres aber ordentliches Hemd mit Blütenmuster über einer kurzen Cargohose? Mein Blick schweift an ihm hinab – keine Schuhe. Jetzt wird mir klar, dass das Geräusch daher rührt, weil seine Fußsohlen, mit denen er über den Boden rutscht, vermutlich aus dicker Hornhaut bestehen. Er hält an und spricht mit einer Frau, seine Aussprache klingt gewählt aber mit deutlichem Akzent, den ich nicht zuordnen kann. Ob er wohl ein Aussteiger ist, der zu Besuch in der Großstadt noch ein paar Anpassungsschwierigkeiten hat?

Eine wahre Begebenheit.
Die Jacke, die er trägt, ist an den Taschen ausgefranst. Ein Parker. Bestimmt suchen seine roten, faltigen Hände oft Schutz in diesen Taschen. Noch dazu sind die Taschen ausgebeult, aber das kann der Tatsache geschuldet sein, dass sie gefüllt sind – mit was auch immer. Dass der einmal olivgrün war, lässt sich nur noch erahnen. Jetzt sieht er extrem verwaschen aus. Dieser Mann, der nur wenige Meter vor mir am Fleischregal steht, kann aber auch jemand sein, der bei jeder Gelegenheit seine Hände in die Jackentasche steckt – aus Gewohnheit. Kennt ihr das? Jeder Mensch führt in bestimmten Situationen irgendeinen Automatismus aus.
Alt ist der Mann nicht, nur seine Hände sehen alt aus – ob vom Arbeiten oder weil sie mehr als üblich Kälte ausgesetzt waren, vermag ich nicht zu deuten. Schon möglich, dass es auch nur an einer trockenen Haut liegt, die sie so verbraucht aussehen lassen. Dort vor dem Fleischregal hat er die Hände nicht in den Taschen vergraben – im Gegenteil, sie haben etwas hervorgekramt. Etwas, das er sich lange auf der flachen Hand betrachtet. Erst als ich näher komme, sehe ich, dass es ein paar Münzen sind, die er mit dem Zeigefinger der anderen Hand umher schiebt. Dabei schaut er immer wieder auf das Fleisch im Regal. Ich muss mein neurales Netzwerk gar nicht voll hochfahren, um eruieren zu können, dass er das Leistungsverhältnis zwischen Haben und Benötigen checkt.
Um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen – sobald ich im Auto sitze, fährt mein neurales Netzwerk – meinem Automatismus folgend – wieder auf volle Leistung.

Ich will nicht sagen, dass es mir finanziell supergut geht, aber – ich vermute, dass es mir immer noch besser geht als diesem Mann dort an der Fleischtheke. Ich krame schon in meiner Handtasche, um meine Geldbörse zu ziehen und ihn zu fragen, wie viel Geld er noch benötigt, um sich das Fleisch leisten zu können und halte inne, als mir ein weiteres Detail an ihm auffällt – seine Haare. Rastalocken. Nicht, dass ich die nicht mag – im Gegenteil, es gibt Personen, denen stehen die supergut. Aber sie rufen in mir ein absolut anderes Bild in diesem Mann hervor – das ist ein Alternativer!!

Mein Kopfkino beginnt mit erhöhter Geschwindigkeit eine Szene abzuspielen, der ich bestimmt nicht gewachsen bin. Sobald ich ihm Geld anbiete, wird er mich – hier vor der Fleischtheke – so was von niedermachen, dass ich nicht mehr an den Bügel vom Einkaufswagen reiche. Ich mal mir aus, wie er mir den Scheiß Kapitalismus vorwirft oder ich mich für das rechtfertigen muss, was schon in meinem Einkaufswagen liegt.

Er blickt mich an. Die Zornesfalte auf seiner Stirn bestätigt meinen Eindruck, er sei auf alternativen Krawall gebürstet.
Geistesgegenwärtig kramen meine Fingert, die noch immer in der Handtasche stecken, ein Taschentuch hervor. Mit dem wische ich mir über die Nase und schiebe meinen Einkaufswagen an ihm vorbei. Er lächelt mich an und ich wusste gar nicht, wie gequält ich lächeln kann.
Bis heute sehe ich mich als Opfer meiner visuellen Wahrnehmung und hadere immer wieder mit mir, ob ein Niedermachen von ihm nicht das geringste Problem gewesen wäre …

Flora

Unten schlägt die Türe zu. Eine junge Frau läuft die Treppe hinauf, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Als sie den Raum betritt, drehen sich alle Köpfe zu ihr. Abschätzende Blicke streifen über die zierliche Gestalt und die gar nicht zum Anlass passende Kleidung, Hose und Jacke im Military Look, und das nicht einmal sauber! Wie ein Soldat, der gerade in ein Schlammloch gefallen ist, sieht sie aus, die ganze Erscheinung wird gekrönt von einem giftig roten unordentlichen Haarschopf. Sie sieht sich um, die grünen Augen und ein einfach entwaffnendes Grinsen zwingen einige, zurück zu lächeln. Doch den Kredit hat sie gleich wieder verspielt, als sie sich vollkommen unbekümmert auf den letzten freien Sessel drängt, zwischen zwei ältere Damen, und deren Handtaschen, die darauf lagen, einfach auf das Tischchen davor stellt. Krachend landet auch noch ihr Schlüsselbund, verziert mit einem großen Totenkopf auf der Tischplatte und lässt nun auch die Dame rechts hinten, die bisher in die Lektüre ihres Buches vertieft war und den Neuankömmling noch gar nicht wahrgenommen hatte, zusammenzucken.

Der Invasor

Da ist er also wieder Dachte ich bei mir und stöhnte innerlich auf, während ich gleichzeitig versuchte mich mental gegen den Ansturm verbalen Durchfalls zu wappnen. Wie immer aufgeregt wackelte er wie ein Pinguin mit Hohlkreuz in Richtung meines Schreibtisches, um mir seinen lustigsten Witz, seinen hottesten Take, seine profundeste Erkenntnis, oder das neueste Gerücht um meine geplagten Ohren zu hauen.

Mitte 30, in etwas zu jugendlicher Kleidung, das Haar wie immer als hätte er in die Steckdose gegriffen, wofür er tatsächlich, so geht die Sage, jeden Morgen eine halbe Stunde seiner ohne Zweifel kostbaren Zeit opfert, wie ich schon längst weiss. Wie auch viele andere Dinge die ich nie wissen wollte.

Heute ist es ein Gerücht, und wie immer legt er die Fingerspitzen beider Hände auf den Seitenteil meines rechtwinkligen Schreibtisches, auf dem er, sowie er sich ein wenig warmgeredet hatte, gerne ein bisschen herumklopft. Aber das ist erst die Aufwärmphase.

Am Zenit seines verbalen Schaffens, wackelt er auch gerne, die Fingerspitzen noch aufliegend, mit seinem Unterkörper vor und zurück, wobei bei mehr als einer Gelegenheit sein Genital meine Tischkante streift. Ich habe den Sinn dieser Übung nie verstanden, und war offen gestanden auch schon versucht danach zu fragen, entschied mich aber letztlich dagegen. Ich denke, es war die bessere Wahl.

Ein Wort gibt das andere, nach einer Weile klingen sie alle gleich, während meine Sicht auf den Monitor verschwimmt und ich versuche mich zu erinnern, was ich gerade eben noch tun wollte. Als es mir endlich einfällt, erwähne ich jene Aufgabe und entlasse ihn hiermit. Er sieht verwirrt aus, bekommt seine Mimik jedoch nach ein paar Sekunden unter Kontrolle, und verlässt meinen Platz. Der Invasor ist abgewehrt, fürs erste.

Schnaufend, schwitzend, das T-Shirt durchnässt, Arbeitshose an der Erde klebt, den Kopf mit einer weissen Schirmmütze von der beißenden, erbarmungslos dreinstechenden Sonne, geschützt, streicht der Bauarbeiter schwerfällig mit der handgroßen Betonkelle die feuchte Masse aus Steinen und Sandgemisch zu einer festen und geraden Schicht. Er schafft die Grundlage für einen Sitzplatz. Und ich sitze hier in meiner Praxis und höre unentwegt sein Schnauben und Keuchen, durch das halbgeöffnete Fenster – wie ungerecht. Draußen ein ungewöhnlich, überdurchschnittlich warmer Herbsttag.
Auf dem Boden kniend, die Kelle hin und herstreichend, pafft er an einer Zigarette, die lose in seinem Mundwinkel hängt.
Schwere Steinplatten reihen sich aufrecht gestellt, aneinander. Mit jeder weiteren Platte, die er mühsam heranschleppt und einbetoniert, nähert er sich der Hausmauer ein Stückchen mehr. Millimeter Arbeit, gemessen an einer langgezogenen Schnur, die ihm die exakte Höhe angibt.
Der von Schwerstarbeit geprägte Mann, dessen Gesicht von der Sonne dunkel gefärbt ist, klopft die aufrecht stehenden, rechteckigen Steinplatten zurecht, bis sie bündig eine klare Umrandung bilden. Akribisch begutachtet er sein halbvollendetes Werk.
»Entschuldigen sie bitte.« Mit gestikulierenden Armen höre ich ihn kaum durch das vor kurzem von mir geschlossene Fenster.
Er verschwindet aus meinem Blickfeld und ruft vom hinteren Teil der Praxis, mit einem überraschenden österreichischen Akzent durch das dort noch offene Fenster: »Entschuldigen sie bitte, ich werde gleich fräsen, da wird es eine heftige Staubwolke geben. Schließen sie Fenster und Tür.« Lieb von ihm, mich vorzuwarnen. Mit einem Lächeln bedanke ich mich.
Österreicher, in der Baubranche, sind in unserer Gegend kaum anzutreffen. Bei uns arbeiten mehrheitlich Portugiesen.
Ein spitziges, durchdringendes Sägegeräusch, lässt mich erschaudern. War wohl die letzte Platte, die passend geschnitten werden musste.
Kurze Zeit später buddelt dieser hochgewachsene bereits in die Jahre gekommene Mann, Karette um Karette, tonnenweise Kies auf die nackte Erde – die Grundlage für die schweren Sitzplatzplatten, worauf später die Besitzer ihre Füße hochlagern und genüsslich an einem Apéro nippen werden. Doch bis dahin vergeht noch eine Weile, und ich entziehe meinen Blick dem Geschehen vor dem geschlossenen Fenster, und wende meine Aufmerksamkeit dem eben angekommenen Klienten zu.

Hier kommt dein Titel hin (lösch die Zeile wenn du keinen hast)

Ersetze diesen Text mit deinem Beitrag.

Wie hier in der Residenz, gab es auch zu Hause manchmal Tage, da wusste man schon beim Aufwachen, dass das heute nichts wird. Ihr kennt das bestimmt auch: Draußen ist dichter Nebel, man ist schon nach dem Frühstück müde, legt sich noch einmal hin und wartet auf das Mittagessen. Nach dem Essen folgt das obligatorische Mittagsschläfchen und anschließend geht es, schlecht gelaunt, zum Kaffeetisch. Nicht viel später dann zum meistens langweiligen Abendessen. Erschöpft und nur wenig interessiert, wird noch die „Tagesschau“ eingeschaltet. Um halb neun dann ins Bett, von den grässlichen Nachrichten aus aller Welt eingeschüchtert.
Es gibt aber auch bessere Tage, Gott sei Dank!
An dem Morgen, an dem meine Geschichte ihren Lauf nahm, begann so ein besserer Tag. Es fühlte sich an, wie ein völliger Neubeginn: Schluss mit dem Dahinvegetieren, eine Wende um 180 Grad, noch einmal alles auf null!
Tausend Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich in unserem Käseblättchen, mit dem immer mittwochs der Briefkasten verstopft wurde, eine kleine Annonce entdeckte. In dieser Anzeige bot eine deutsche Familie auf Teneriffa einem rüstigen Senior oder einer Seniorin aus Deutschland ein lebenslanges Gastrecht auf einem ländlichen Anwesen an, mit Verpflegung, Betreuung, falls gewünscht: Aufnahme in die Familie …!
Mein Puls stieg bedenklich an. Ziemlich aufgeregt dachte ich: "Dieses Angebot schickt mir der Himmel! Das ist eine echte Chance, vielleicht meine letzte, wie in dem Film: Das Beste kommt zum Schluss“. Von der ersten Sekunde an war ich wie elektrisiert und las den Anzeigentext noch mehrere Male.
Natürlich hatte die Sache einen Preis: Zwischen den Zeilen konnte ich lesen, dass Herr Rosenbaum, so hieß der Inserent, bestimmt kein Samariter war. Offensichtlich steckte er ziemlich in der Klemme, hatte „unverschuldet“ Schulden und brauchte sehr bald viel Geld. Es war also kein Märchen, kein Traum, sondern ein knallhartes Geschäftsangebot. Eine sogenannte „Win-win-Situation“! …

Der Balkon
Ich sitze mit meiner Freundin auf dem Balkon, vor mir auf dem gedeckten Tisch eine Jumbotasse mit Rosen darauf, aus der mich ein Kaffee verheißungsvoll einlädt. Den feinen Käsekuchen dazu brachte meine Freundin mit. Was für ein schöner Tag ist das heute, meint sie. Da hast Du recht, denn ich bin glücklich, dass sich nach dem langen Regen, der letzten Wochen, die Bäume, die unsere Wiese eingrenzen, so gut erholt haben und ihr Laub ein sattes Grün zeigt. Sieh mal, wie herrlich auch die Matte des Hügels, jenseits der Bäume herüber leuchtet. Der Bauernhof obendrauf, vollendet den Ausblick. Die Sonne spendet dazu eine wohlige Wärme. Findest Du nicht auch dass es angenehmer kaum sein könnte. Da stimme ich vollkommen mit Dir überein. Wie schön ist noch dazu das Zirpen der Grillen. Sie stellte mir ein Stück von dem leckeren Kuchen auf den Teller, lasse es Dir gut schmecken. Danke, das wünsche ich Dir auch. Da zuckte ich zusammen, das darf ja nicht wahr sein. Unten hatte der Hausmeister angefangen mit seinem lauttönendem Rasenmäher die Wiese zu mähen. Unser Gespräch verstummte, denn der Krach des Rasenmähers, verschluckte unsere Worte. Als er fertig war, mit seiner Arbeit, herrschte Stille auf dem Rasen. Es zirpte nichts mehr.
Nur der blaue Himmel, über den weiße Wölkchen zogen, wölbte sich wie zuvor über uns.
Mein Kaffee schmeckte nun bitter.

Leise ziehe ich die Tür hinter mir zu. Es ist schon spät. Zu spät. Auf leisen Sohlen will ich in mein Zimmer schleichen. Als ich jedoch einen Lichtschimmer im Wohnzimmer im Augenwinkel erblicke, halte ich inne. Ist noch jemand wach? Mit hochgezogenen Schultern tapse ich dem Licht entgegen. Es fällt auf einen hölzernen Tisch, eine schwarze Ledercouch und ein Weinglas. Die Szenerie wirkt wie ein Gemälde, das den letzten Pinselstrich noch nicht erhalten hat. So unvollendet. Es fehlt die Person, die hier zuletzt gesessen und aus dem Weinglas getrunken hat.

Meine Schultern sinken herab. Es dauert einen Moment, bis ich begreife, was ich hier vorgefunden habe. Die Stille liegt mit einem Mal drückend auf mir, so dicht und schwer, das mir das Atmen schwerfällt. Ich überwinde die letzten Meter zum Sofa und setze mich. Meine Augen brennen und ich schließe meine Lider. Schwer atmend lehne ich mich im Sofa zurück und lasse meine Gedanken kreisen. Kreisen darum, was sich hier vor nicht allzu langer Zeit abgespielt hat. Der Platz unter mir ist bereits kalt gewesen, als ich mich gesetzt hatte. Daraus schließe ich, dass die Person, die vorher hier saß, bereits zu Bett gegangen ist. Ich öffne meine Augen und greife langsam nach dem Weinglas. Abdrücke von rotem Lippenstift befinden sich genau dort, wo die Person ihre Lippen angesetzt hat, um einen Schluck zu trinken.

Im Glas schlägt eine durchsichtige Flüssigkeit Wellen. Ich führe das Glas näher an meine Nase heran, schnuppere und verziehe das Gesicht. Das ist kein Wasser. Das ist Vodka. Wer trinkt Vodka aus einem Weinglas? Ich kenne die Antwort auf die Frage und stelle das Glas zurück an seinen Platz. Eine Gänsehaut fährt über meinen Körper und ich schlinge meine Arme fest um mich selbst. Einsam, hilflos und überfordert fühle ich mich in diesem Augenblick. Ich will nicht weinen, obwohl mir dazu zu Mute ist. Sie hatte es mir doch versprochen. Jetzt tut sie es heimlich.

Am Ende erhebe ich mich und laufe die paar Schritte zum Lichtschalter zurück. Ich werfe einen letzten Blick auf das deplatzierte Gemälde und wende mich ab. Dann wird das Bild in Dunkelheit gehüllt, so als hätte ich es dort nie vorgefunden.

Beispiel einer starken Frau

Elita sieht bei der Tür herein, wie immer lächelt sie freundlich, ich habe sie noch nie missmutig gesehen. Von meinem Schreibtisch aus frage ich sie, wie es ihr geht. Heute ist sie wieder besonders hübsch, ihr zartlila Hijab passt perfekt zu ihrem cremefarbenen bodenlangen Kleid. Nur ihre schwarzen, groben Sneakers irritieren, aber da muss man ja nicht hinschauen.

„Gut! Sehr gut sogar! Ich habe gestern meine Führerscheinprüfung bestanden.“ Ich deute ihr, herein zu kommen und gratuliere ihr. Ich freue mich für sie, da ich weiss, welchen steinigen Weg sie hinter sich hatte.

Frauen mit Kopftuch machen keinen Führerschein.
Frauen mit Kopftuch sind zu meiden, man weiss nie, aus welchem Grund sie in Österreich sind. Frauen mit Kopftuch brauchen keine eigene Meinung, dafür haben sie ihren Mann.

Elita war anders. Sie hat sich die Zugehörigkeit zu unserer Welt mit Konsequenz, Eifer und Fleiss erkämpft.

Damals, vor etwa zehn Jahren, als ich sie einstellte, war sie gerade einmal 22 Jahre alt und hatte bereits drei Kinder. Ich war von Beginn an fasziniert von ihrer Bereitschaft, über ihre Religion zu reden. Sie ist keine Fanatikerin, aber Hijab, ihre Gebete, Ramadan und der laufende Kontakt zu ihrer Familie in Tschetschenien sind ihr heilig.

Als sie wieder schwanger wurde, war es nicht geplant. Sie war von ihrem Mann geschieden, wofür sie weder einen Bescheid noch ein Gerichtsurteil brauchte. Es reicht, wenn man sich einig ist, das man geschieden ist. Sie bekam wieder einen Bub und machte in ihrem Karenzjahr eine umfangreiche Ausbildung. Als sie zurückkam, war sie nicht mehr Schreibkraft, sondern diplomierte Lohnverrechnerin.

Ich kann diese junge Frau nur bewundern. Sie hat den Krieg in Tschetschenien miterlebt und musste flüchten, weil ihr Vater verfolgt wurde. Sie hat eine andere Einstellung zu den Russen, die nun in der Ukraine wüten. Sie kennt Putin und seine Machenschaften besser und bekommt Infos über den Krieg, die wir nicht bekommen. Sie verehrt ihr Volk, wie sie es nennt, weil sie schon so lange und so vehement für deren Freiheit kämpfen.

Auf meine Frage, ob sie ihrgendwann nach Tschetschenien zurückgeht:
„Solange meine Heimat nicht frei ist, bleibe ich in Österreich. Doch wenn es in Österreich irgendwann ein Kopftuchverbot geben sollte, dann gehe ich wohl früher zurück.“

Ich bewundere diese junge, starke Frau!

Sie ist sein Leben

Die dunklen Augen tragen eine Schwere in sich, die den Schatten unter ihnen kaum gerecht werden. Den Kopf gesenkt und die Schritte mutlos hält er sich stets im Hintergrund. Ein einziger Sonnenstrahl fällt auf sein Leben. Dafür ist er bereit, die Mauern um sich herum einzureißen. Die kleine Hand, die so gut in die seine passt, ihr Lächeln, das sein Herz erfüllt und die bewundernde Wärme, die in ihren Worten liegt – sie ist mehr, als er glaubt, zu verdienen.

Morgenroutine

In kurzen Hosen und einem weiten, grauen T-Shirt läuft sie barfuß über die knarzende Holztreppe ins Erdgeschoß. Ihre blonden, langen Haare sind zerzaust und fallen in sanften Wellen über Schulter und Rücken. Die edle, in rotgold gerahmte Brille, ist blankgeputzt und verleiht ihren zarten Gesichtszügen und den meerwasserblauen Augen eine vornehme Ausstrahlung.
Mit beiden Händen fasst sie vor dem Badezimmerspiegel ihre Löwenmähne und wickelt sie geschickt hoch auf ihrem Kopf zu einem dicken Knoten. Vereinzelt zappeln noch ein paar lockige Strähnen in ihrem Nacken. Sie blickt in den Spiegel und streicht sich mit den schlanken, feingliedrigen Fingern, deren Nägel makellos in einem zarten Rosa lackiert sind, über die alabasterfarbene Haut. Ein sanftes Lächeln umspielt ihre vollen Lippen, denkt sie an die Träume der letzten Nacht? Gleich wird sie nach der Zahnbürste fassen, Zahnpasta auftragen und sich auf den Rand der Badewanne setzen. Ihr Haarknoten wippt mit den Bewegungen der Bürste im Mund vorwitzig hin und her. Sie sieht mich jetzt in der Tür stehen und ihre Augen strahlen in meine Richtung. Kleine Fältchen in den Augenwinkeln zeugen von einem humorvollen Charakter, sie lacht gerne und viel. Dennoch verrät das zarte Zittern der freien Hand auf ihrem Knie und die, wie Pergamentpapier dünne, helle Haut ein sensibles Wesen. Sie wird es vor mir nie verbergen können.

Das bunte Leben

Mit leicht geöffnetem Mund steht er da, stützt den linken Arm an eine Wandseite eines geöffneten Schranks, der ein Zimmer mit Lampe und großem Kissen im Innern beherbergt, und blickt mit weit gehobenen halbrunden Brauen zu seiner Kollegin auf, die sich geschickt in einem Ring hoch oben über der roten, goldgelb umrandeten Manege bewegt. Sein drahtiger Körper ist in ein weißes Hemd gekleidet, die Ärmel hochgekrempelt bis zu den Ellbogen. Dazu trägt er knallrote Hosenträger, passend zur roten Hose, die zwei Knopfreihen mit je drei Knöpfen hat, und den roten spitz zulaufenden roten Lederschuhen mit roten Schnürsenkeln. Die Haare trägt er millimeterkurz, bis auf eine etwas längere nach oben stehende Haarpartie an der hohen Stirn. Wie er so dasteht, das linke über das rechte Bein geschlagen, spreizt er ab und zu die Lippen wie ein Vögelchen und steht da mit strahlenden Augen, die die Luftartistin fixieren. Als ob ihm gerade jemand den Mond vom Himmel holen würde. Wie das Kind, das er beharrlich im Herzen geblieben ist – ein Junge, der zum Zirkusdirektor geworden ist.

Wahre Liebe

Da saßen die beiden Oldies im Wartezimmer, welches leicht nach Desinfektionsmittel roch. Sie legte ihre von Altersflecken übersäte, knöcherige dünne Hand auf seine und streifte mit der anderen, leicht zitternd, eine silbergraue Haarsträhne aus seinem Gesicht. Hans stellte seinen Gehstock zu Seite und legte seinen Arm um Sie. „Sorge dich nicht Else, das wird schon“ sagte er leise und rieb seine Bartstoppeln. „Ach Hans“ dabei nestelte Sie an den zartrosa Glasknöpfen an ihrem hellblauen Blümchenkleid. „Jedes Mal wenn du da rein gehst, leide ich mit dir“ Er lächelte Ihr sanft zu, wobei sein faltengegerbtes Gesicht sich zu glätten schien. Sein dunkelblauer Hosenanzug hatte etwas Hochwasser und als er die Querfalte am Knie hochzog, sah man seine rosa Söckchen hervorscheinen. „Weißt du Else, wen es die Augenspritze nicht gäbe, würde ich erblinden. Darum bin ich dankbar das mir geholfen wird.“ Sie rückte nervös Ihren schneeweis schimmernden Haar Dutt zurecht. „Aber es kann doch immer etwas schlimmes passieren“ Hans umfasste liebevoll Ihr Gesicht. Eine kleine Träne kullerte an Ihrer faltigen Wange herab und lief über seine Hände, es war zu erkennen, das seine Hände schwere Arbeiten geleistet hatten. „Ach Else, mein Brombeerchen. Seit über 62 Jahren sehe ich jeden Tag dein Gesicht, was gäbe es da schlimmeres für mich, als dein liebes Gesicht nie mehr sehen zu können, als nur in meinem Herzen!“