Das Motorrad und er
„Ooooch“ war das erste, was ich hörte, als ich den Raum betrat. Er drehte sich gerade um. Mit Mühe drückte er den roten Knopf am Sendegerät, das über seinem Bett an einem Kabel hing. Es dauerte aus seiner Sicht eine Ewigkeit, bis jemand kam. In Wirklichkeit waren es drei Minuten. „Mein Kreuz“ stammelte er. Sie nahm die Fernbedienung und dirigierte die Motörchen des Bettes nach seiner Anweisung. „Etwas höher die Beine, bitte“. „Etwas niedriger der Rücken, bitte“. „So ist besser.,danke-“ „Gut,“ meinte sie, deckte ihn zu, blickte zu mir, fragte: „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Mein Nicken signalisierte ihr, zum nächsten Bett huschen zu können, wo die rote Lampe blinkte.
Die Nacht war mit vielen „ooochs“ und „hmmms“ angereichert. Scheinbar elendig lange Sekunden, Minuten, Stunden mürbten den Geplagten. Oder war es umgekehrt? Die Schmerzen ließen Sekunden, Minuten und Stunden zur Qual werden. Eine neue Infusion am Morgen besänftigten offensichtlich Schmerz und Zeit. Statt „oooch“ hörte man jetzt gleichmäßige „tssshs“. Er hatte sich den Schlaf erschmerzt.
Als er erwachte, drehte er sich mir zu. Scheinbar schmerzfrei. „Das ist mir noch nie passiert!“ begann er zu reden. Bevor ich fragen konnte, was ihm passiert sei, informierte er mich: „Mir die Vorfahrt nehmen.“ Fünfsekundige Pause. „Und dann einfach abhauen.“ Fünfsekundige Pause. „Und ich lieg auf der Straße.“ Fünfsekundige Pause. „Und alles tut weh.“ Pause. „Und nun lieg ich hier.“ Pause. „Keine Ahnung, wer mich hierher gebracht hat.“ In diesem Moment kam der Arzt. „Was ist mit meinem Motorrad geschehen?“ fragte er den Arzt, noch ehe dieser „Guten Morgen“ sagen konnte. „Wie geht es Ihnen?“ fragte dieser. „Gut“. „Keine Schmerzen?“ „Nein.“ „Wo ist mein Motorrad?“ „Darum kümmern sich andere.“ antwortete der Arzt. „Wir kümmern uns um Sie.“ „Mit geht es gut.“ „Ich will zu meinem Motorrad.“ „Wir wollen Sie jetzt untersuchen.“ sagte der Arzt; die beiden Assistenzärzte nickten. Er richtete sich auf, schwang die Beine über den Bettrand. „Nicht nötig.“ „Ich bin fit.“ „Sehen Sie doch!“ und stand barfuß mit Krankenhausleibchen vor den Ärzten. „Wo sind meine Kleider?“ „Ich muss zu meinem Motorrad.“ „Bitte legen Sie sich wieder hin.“ bat der Arzt. „Nein!“ war die Antwort. Der Arzt hatte einige Mühe, ihn am Fortgehen zu hindern. Der Assistenzarzt brachte die Wendung: „Ich werde mich bei der Polizei nach dem Verbleib Ihres Motorrads erkundigen und Ihnen umgehend Bescheid geben.“ Er ließ sich aufs Bett fallen und legte sich hin. „In Ordnung.“ „Wann können Sie mir Bescheid geben?“ Pause. „Ich muss zum Motorrad!“ „Sobald ich Bescheid weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.“ Unterbrach ihn der Assistenzarzt. „Gut!“ antwortete er, zog die Decke bis zur Nase und lag ganz still da, die Augen auf die Ärzteschaft gerichtet. Die Ärzte schauten einander an und verließen den Raum.
Kaum waren die weißen Männer draußen, drehte er sich zu mir: „So etwas ist mir noch nie passiert.“ Wieder eine fünfsekundige Pause - wie nach jedem Satz. „Mein Motorrad, kaputt!?“ Ich wusste nicht, ob dies eine Feststellung oder eine Frage sein sollte. „Mein Motorrad." „Das bin ich.“ „Das ist mein Leben.“ „BMW R 27.“ Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Alle Fahrten zur Arbeit, zum Kino, zu Freunden.“ „Alle Urlaubsreisen.“ „Mit meiner BMW“. „Italien. Frankreich. Spanien, Portugal, England, Schottland, Irland…“ „Alle westlichen Länder.“ „Ostblock bis ans Schwarze Meer.“ „Die Maghrebländer.“ „Türkei vom Bosporus bis zum Kaukasus.“ „Und die Gebirge: Alpen, Apennin, Pyrenäen, Skandinaviens Fjorde.“ „Vom Atlas über Tibesti, Fessan, der Ténéré, Tassili bis in Hoggar-Gebirge.“ „Ein Traum!“ „Mit meiner BMW.“ „Und nun?“ „Ich werde sie wieder zusammenflicken.“ „Und dann ab nach Paris.“ „Zum zehnten Mal.“ „Zur Erinnerung an meine erste Fahrt mit meiner BMW.“ Er atmete tief und genussvoll durch: „Da stand ich mir ihr unter dem Eiffelturm, 1962.“
BeckeAlwan - 28.10.2022