Tragik und Triumph des Alsterschwimmers
Ich besuchte eine Auszubildende im vierwöchigen Psychiatrieeinsatz. Das Läuten an der Stationsglastüre sorgte für Abwechslung. Erfreut strömten Patienten uniform in Flügelhemden entgegen. Sie rüttelten an der Türe. Es dauerte, bis sich die Situation beruhigte, Schwestern intervenierten, brachten die Betagten zurück.
Dort lernte ich ihn kennen auf der gerontologischen Aufnahmestation. Aufnahmestation beschreibt die Örtlichkeit ungenau, Endstation besser, Endstation des selbstbestimmten Lebens. Verwahrt in einem Saal mit 20 Betten und Nachtkästchen. Einzelne Stühle standen im Raum, kein Schrank, kein Tisch, die Fenster vergittert. Prall gefüllt mit Leere, Verwirrtheit und Verzweiflung.
Ich durfte rein, wollte sofort raus. Zeitlich, örtlich und körperlich versetzt in den Film „ einer flog über das Kuckucksnest“ (1975) , der in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt spielt, davon handelt, wie ein Neuer die dort herrschende Ordnung in Frage stellt. Die Schülerbegleitung versuchte ich zu erfüllen, nahm mir vor, sie möglichst kurz zu halten. Gab es Fluchtmöglichkeiten? Der Altbau ebenerdig, der Blick schweifte durch den hohen Raum, verharrte an den Fenstern, die sollten der Freiheit dienen, waren grifflos versperrt und vergittert. Achselschweiß und feuchte Hände tropften, Indizien meiner Adrenalinausschüttung. Es war ohne Fachpersonal unmöglich, die Station zu verlassen. Ein dreistelliger Code öffnete die Türe. Was passiert in der Seele der Patienten?
Die Schülerin stellte Herrn Friedrich vor. Folgende Kranken- , nein Lebensgeschichte. 1910 in Hamburg geboren, 82 Jahre. Einweisungsdiagnosen: Verwirrtheitszustand, geplante Entmündigung bei drohender Selbstgefährdung.
Der Elektriker arbeitete in einer Werft, wurde zur Wehrmacht eingezogen und in Frankreich stationiert. Nach dem Krieg heiratete er. Wiederholte Urlaube in Bayern führten zum Umzug in den Süden, Rosenheim gefiel. Bergtouren wurden zur Leidenschaft des kinderlosen Paares. Die Frau starb vor fünf Jahren. In der Akte vermerkt: „ anhaltende, inadäquate Trauerreaktion“. Die wechselte nahtlos in einen Zustand der Verwirrtheit. Anfangs neigte er zu Vergesslichkeit, sperrte sich aus, der Schlüsseldienst wurde wiederholt verständigt. Polizeieinsätze folgten, ziellos lief er im Schlafanzug durch die Fußgängerzone, kannte seine Adresse nicht mehr. Die Einweisung zum Selbstschutz, geplant die Verlegung in eine Betreuungseinrichtung. Erforderliche Institutionen waren involviert. Ausführlichere Informationen standen nicht zur Verfügung. Eine traurige Geschichte.
Die Schülerin plante eine grundpflegerische Versorgung: Waschen am Waschbecken samt Nassrasur, das Ziel, die Selbständigkeit bei der Routine des täglichen Lebens zu fordern und fördern.
Herr Friedrich mit vollem weißen Haar, das sich farblich kaum vom Flügelhemd unterschied, saß an der Bettkante. Der für das Alter ungewöhnliche athletische Körperbau bei einer Größe von knapp 1,9m beeindruckte. Das Gesicht jugendlich, auffallend die gesunde Hautfarbe. Gestik und Mimik wirkten verunsichert, er wartete, benötigte Ansprache. Die Schülerin erklärte den Ablauf. Mit leiser Stimme wiederholte er bruchstückhaft, ein zusammenhängender Satz gelang nicht. Untergehakt tippelte er, scheu Blickkontakt suchend, neben ihr in das Stationsbad. Die sichtbare Verunsicherung passte nicht zur sportlichen Gesamterscheinung. Mittig stand eine überdimensional große, breite und tiefe Badewanne. Es gab Materialschränke und ein Waschbecken. Die Schülerin setzte ihn davor, reichte Seife und Lappen. Er drehte den Hahn auf, beobachtete den Strahl, querte mit der Hand, das unkontrollierte Spritzen belustigte ihn. Sandra erkannte das Malheur, übernahm die Initiative. Sanft wusch sie ihm das Gesicht, er ließ es gern zu, genoss die Berührungen und versuchte zu reden. Anfangs drückte er sein Wohlwollen mit Lauten aus. Er drehte sich um, deutete auf die Badewanne. Deutlich hörten wir seinen Wunsch zu Schwimmen und Tauchen. Die Schülerin vergewisserte sich, einem Vollbad stand nichts im Weg.
Herr Friedrich konnte die Wannenfüllung kaum erwarten. Selbständig stieg er über die Leiter, legte sich auf den Rücken, bildete ein Hohlkreuz, den Kopf im Wasser bis zu den Ohren, Mund und Nase blieben frei. Die stabile Wasserlage gelang ihm mit den Händen seitlich am Körper, der aktive Beinschlag aus der Hüfte unterstützte den Zustand. Ein routinierter Schwimmer, er beherrschte die Feinheiten des Rückenkraulens. Ich bewunderte das freie Schweben im Wasser ohne Randberührung. Der Wechsel in die Freistiltechnik gelang bei gleicher Balance. Vor dem ersten Zug der Brustlage tauchte er ab. Ich verstand den athletischen Körperbau, ein Gelernter, vermutlich mit Wettkampferfahrung. Beim Abtrocknen fragte ich nach. Ab 1920 bis kurz vor dem Krieg trainierte er in einem Hamburger Verein. Seine Speziallage Freistil. Seine Wettkampfzeit über 100 Meter 1:04,7 Minuten, erstaunte, 50 Jahre später schwamm ich annähernd so schnell. Er erzählte vom täglichen Trainingsaufwand und den weiten Reisen zu nationalen und internationalen Wettkämpfen. 400 Meter, die Lieblingsdistanz entsprach der Länge des Alsterschwimmens im Freiwasser. Hunderte von Zusehern standen am Fluss, feuerten an. Herr Friedrich gewann mehrmals, wurde mit großen Lettern samt Bild in der Zeitung geehrt. Sein unvergessenes Highlight erlebte er in den dreißiger Jahren. Jonny Weismüller war nach Dreharbeiten für Tarzan in Hamburg zu Gast. Der erste Schwimmer, der 100 Meter unter einer Minute bewältigte, fünffacher olympischer Goldmedaillengewinner (1924 Paris drei, 1928 Amsterdam zwei) folgte der Einladung zum Wettkampf. Herr Friedrich schwamm mit und gegen ihn, schlug als Zweiter an. Eine Sternstunde. Ich gratulierte per Handschlag. In der Fantasie standen wir nicht im Bad der gerontopsychiatrischen Station, sondern auf dem Podest. Was passierte in den letzten Minuten? Bei einem verwirrten Herrn, unfähig sich zu waschen, der undifferenziert stammelte, wurde mit Hilfe des Wasserkontaktes das Langzeitgedächtnis reaktiviert. Er tauchte in seiner Vergangenheit auf. Ob weitere Trainingseinheiten gelangen, erfuhr ich nicht.