Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Das Motorrad und er
„Ooooch“ war das erste, was ich hörte, als ich den Raum betrat. Er drehte sich gerade um. Mit Mühe drückte er den roten Knopf am Sendegerät, das über seinem Bett an einem Kabel hing. Es dauerte aus seiner Sicht eine Ewigkeit, bis jemand kam. In Wirklichkeit waren es drei Minuten. „Mein Kreuz“ stammelte er. Sie nahm die Fernbedienung und dirigierte die Motörchen des Bettes nach seiner Anweisung. „Etwas höher die Beine, bitte“. „Etwas niedriger der Rücken, bitte“. „So ist besser.,danke-“ „Gut,“ meinte sie, deckte ihn zu, blickte zu mir, fragte: „Alles in Ordnung bei Ihnen?“ Mein Nicken signalisierte ihr, zum nächsten Bett huschen zu können, wo die rote Lampe blinkte.
Die Nacht war mit vielen „ooochs“ und „hmmms“ angereichert. Scheinbar elendig lange Sekunden, Minuten, Stunden mürbten den Geplagten. Oder war es umgekehrt? Die Schmerzen ließen Sekunden, Minuten und Stunden zur Qual werden. Eine neue Infusion am Morgen besänftigten offensichtlich Schmerz und Zeit. Statt „oooch“ hörte man jetzt gleichmäßige „tssshs“. Er hatte sich den Schlaf erschmerzt.
Als er erwachte, drehte er sich mir zu. Scheinbar schmerzfrei. „Das ist mir noch nie passiert!“ begann er zu reden. Bevor ich fragen konnte, was ihm passiert sei, informierte er mich: „Mir die Vorfahrt nehmen.“ Fünfsekundige Pause. „Und dann einfach abhauen.“ Fünfsekundige Pause. „Und ich lieg auf der Straße.“ Fünfsekundige Pause. „Und alles tut weh.“ Pause. „Und nun lieg ich hier.“ Pause. „Keine Ahnung, wer mich hierher gebracht hat.“ In diesem Moment kam der Arzt. „Was ist mit meinem Motorrad geschehen?“ fragte er den Arzt, noch ehe dieser „Guten Morgen“ sagen konnte. „Wie geht es Ihnen?“ fragte dieser. „Gut“. „Keine Schmerzen?“ „Nein.“ „Wo ist mein Motorrad?“ „Darum kümmern sich andere.“ antwortete der Arzt. „Wir kümmern uns um Sie.“ „Mit geht es gut.“ „Ich will zu meinem Motorrad.“ „Wir wollen Sie jetzt untersuchen.“ sagte der Arzt; die beiden Assistenzärzte nickten. Er richtete sich auf, schwang die Beine über den Bettrand. „Nicht nötig.“ „Ich bin fit.“ „Sehen Sie doch!“ und stand barfuß mit Krankenhausleibchen vor den Ärzten. „Wo sind meine Kleider?“ „Ich muss zu meinem Motorrad.“ „Bitte legen Sie sich wieder hin.“ bat der Arzt. „Nein!“ war die Antwort. Der Arzt hatte einige Mühe, ihn am Fortgehen zu hindern. Der Assistenzarzt brachte die Wendung: „Ich werde mich bei der Polizei nach dem Verbleib Ihres Motorrads erkundigen und Ihnen umgehend Bescheid geben.“ Er ließ sich aufs Bett fallen und legte sich hin. „In Ordnung.“ „Wann können Sie mir Bescheid geben?“ Pause. „Ich muss zum Motorrad!“ „Sobald ich Bescheid weiß, gebe ich Ihnen Bescheid.“ Unterbrach ihn der Assistenzarzt. „Gut!“ antwortete er, zog die Decke bis zur Nase und lag ganz still da, die Augen auf die Ärzteschaft gerichtet. Die Ärzte schauten einander an und verließen den Raum.
Kaum waren die weißen Männer draußen, drehte er sich zu mir: „So etwas ist mir noch nie passiert.“ Wieder eine fünfsekundige Pause - wie nach jedem Satz. „Mein Motorrad, kaputt!?“ Ich wusste nicht, ob dies eine Feststellung oder eine Frage sein sollte. „Mein Motorrad." „Das bin ich.“ „Das ist mein Leben.“ „BMW R 27.“ Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Alle Fahrten zur Arbeit, zum Kino, zu Freunden.“ „Alle Urlaubsreisen.“ „Mit meiner BMW“. „Italien. Frankreich. Spanien, Portugal, England, Schottland, Irland…“ „Alle westlichen Länder.“ „Ostblock bis ans Schwarze Meer.“ „Die Maghrebländer.“ „Türkei vom Bosporus bis zum Kaukasus.“ „Und die Gebirge: Alpen, Apennin, Pyrenäen, Skandinaviens Fjorde.“ „Vom Atlas über Tibesti, Fessan, der Ténéré, Tassili bis in Hoggar-Gebirge.“ „Ein Traum!“ „Mit meiner BMW.“ „Und nun?“ „Ich werde sie wieder zusammenflicken.“ „Und dann ab nach Paris.“ „Zum zehnten Mal.“ „Zur Erinnerung an meine erste Fahrt mit meiner BMW.“ Er atmete tief und genussvoll durch: „Da stand ich mir ihr unter dem Eiffelturm, 1962.“

BeckeAlwan - 28.10.2022

Typisch Eva

»Ihr seid doch alle scheiße!«. Sie schürfte mit ihren Knien über den Boden, während ihre Handflächen den nassen Asphalt abtasteten. Ihre zarte Silhouette war im dumpfen Licht der Straßenlaterne gut erkennbar. »Verfickte Scheiße«, hallte ihre Stimme erneut durch die Straße. Sie beugte sich weiter nach unten und streckte ihren Arm unter das Auto, bis sich ihre langen Haare quer über den Gehweg verteilten. Scheinbar reglos lag sie da.
Ein Knarzen durchbrach die Stille, dann Schritte, ein Lichtkegel. »Hast du sie?«
Abrupt hob sie ihren Oberkörper, »Nein, wie denn auch, du hilfst mir ja nicht«, zischte es aus ihr heraus.
»Ich hab dir gesagt, du sollst deinen Kram einpacken bevor wir hier ankommen.« Der Lichtkegel bewegte sich langsam auf das Auto zu, dann an der Beifahrertür entlang.
»Da hab ich schon geguckt, da ist nichts!«
»Ich verstehe wirklich nicht, warum man 1000 Einzelteile in der Hand halten muss, und warum man dann auch noch alles fallen lässt«.
»Boah ey«, sie klatschte ihre Handflächen kräftig auf den Asphalt, »als ob ich das mit Absicht machen würde.« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie in den auf die fallenden Lichtkegel. Ihre dunkelbraunen Augen flimmerten in dem grellen Licht wie schwarze Blitze.
»Steh auf«, der Lichtkegel wanderte wiederholt von unten nach oben.
Nur langsam erhob sie sich und folgte dem über den Asphalt huschendem Licht bis der Lichtkegel auf einer Stelle verharrte und ihre Schritte verhallten. Ein Gully nahe des Vorderrads.
»Nee, ne?«
»Ich hoffe nicht.«
»Was für eine verfickte Scheiße. Ich hasse mein Leben!.«
»Eva!.«
»Du verstehst das nicht, Mum!«.
»Das reicht jetzt, wirklich. Wir gehen jetzt rein.«.
Unverständliche Schmerzenslaute drangen aus ihrer Kehle.
»Wir gucken morgen nochmal wenn es hell ist.« Der Lichtkegel verschwand.
Mit gesenkten Köpfen schritten die zwei Silhouetten im dumpfen Licht der Straßenlaterne nebeneinander auf das Haus zu.
»Kannst du mich umarmen?«, ertönte es leise. Kurz darauf lag ein Arm um ihre Schulter.
»Trotzdem kaufe ich dir keine Neuen«.
»Ich weiß«, seufzte sie.

Tragik und Triumph des Alsterschwimmers

Ich besuchte eine Auszubildende im vierwöchigen Psychiatrieeinsatz. Das Läuten an der Stationsglastüre sorgte für Abwechslung. Erfreut strömten Patienten uniform in Flügelhemden entgegen. Sie rüttelten an der Türe. Es dauerte, bis sich die Situation beruhigte, Schwestern intervenierten, brachten die Betagten zurück.
Dort lernte ich ihn kennen auf der gerontologischen Aufnahmestation. Aufnahmestation beschreibt die Örtlichkeit ungenau, Endstation besser, Endstation des selbstbestimmten Lebens. Verwahrt in einem Saal mit 20 Betten und Nachtkästchen. Einzelne Stühle standen im Raum, kein Schrank, kein Tisch, die Fenster vergittert. Prall gefüllt mit Leere, Verwirrtheit und Verzweiflung.
Ich durfte rein, wollte sofort raus. Zeitlich, örtlich und körperlich versetzt in den Film „ einer flog über das Kuckucksnest“ (1975) , der in einer geschlossenen psychiatrischen Anstalt spielt, davon handelt, wie ein Neuer die dort herrschende Ordnung in Frage stellt. Die Schülerbegleitung versuchte ich zu erfüllen, nahm mir vor, sie möglichst kurz zu halten. Gab es Fluchtmöglichkeiten? Der Altbau ebenerdig, der Blick schweifte durch den hohen Raum, verharrte an den Fenstern, die sollten der Freiheit dienen, waren grifflos versperrt und vergittert. Achselschweiß und feuchte Hände tropften, Indizien meiner Adrenalinausschüttung. Es war ohne Fachpersonal unmöglich, die Station zu verlassen. Ein dreistelliger Code öffnete die Türe. Was passiert in der Seele der Patienten?
Die Schülerin stellte Herrn Friedrich vor. Folgende Kranken- , nein Lebensgeschichte. 1910 in Hamburg geboren, 82 Jahre. Einweisungsdiagnosen: Verwirrtheitszustand, geplante Entmündigung bei drohender Selbstgefährdung.
Der Elektriker arbeitete in einer Werft, wurde zur Wehrmacht eingezogen und in Frankreich stationiert. Nach dem Krieg heiratete er. Wiederholte Urlaube in Bayern führten zum Umzug in den Süden, Rosenheim gefiel. Bergtouren wurden zur Leidenschaft des kinderlosen Paares. Die Frau starb vor fünf Jahren. In der Akte vermerkt: „ anhaltende, inadäquate Trauerreaktion“. Die wechselte nahtlos in einen Zustand der Verwirrtheit. Anfangs neigte er zu Vergesslichkeit, sperrte sich aus, der Schlüsseldienst wurde wiederholt verständigt. Polizeieinsätze folgten, ziellos lief er im Schlafanzug durch die Fußgängerzone, kannte seine Adresse nicht mehr. Die Einweisung zum Selbstschutz, geplant die Verlegung in eine Betreuungseinrichtung. Erforderliche Institutionen waren involviert. Ausführlichere Informationen standen nicht zur Verfügung. Eine traurige Geschichte.
Die Schülerin plante eine grundpflegerische Versorgung: Waschen am Waschbecken samt Nassrasur, das Ziel, die Selbständigkeit bei der Routine des täglichen Lebens zu fordern und fördern.
Herr Friedrich mit vollem weißen Haar, das sich farblich kaum vom Flügelhemd unterschied, saß an der Bettkante. Der für das Alter ungewöhnliche athletische Körperbau bei einer Größe von knapp 1,9m beeindruckte. Das Gesicht jugendlich, auffallend die gesunde Hautfarbe. Gestik und Mimik wirkten verunsichert, er wartete, benötigte Ansprache. Die Schülerin erklärte den Ablauf. Mit leiser Stimme wiederholte er bruchstückhaft, ein zusammenhängender Satz gelang nicht. Untergehakt tippelte er, scheu Blickkontakt suchend, neben ihr in das Stationsbad. Die sichtbare Verunsicherung passte nicht zur sportlichen Gesamterscheinung. Mittig stand eine überdimensional große, breite und tiefe Badewanne. Es gab Materialschränke und ein Waschbecken. Die Schülerin setzte ihn davor, reichte Seife und Lappen. Er drehte den Hahn auf, beobachtete den Strahl, querte mit der Hand, das unkontrollierte Spritzen belustigte ihn. Sandra erkannte das Malheur, übernahm die Initiative. Sanft wusch sie ihm das Gesicht, er ließ es gern zu, genoss die Berührungen und versuchte zu reden. Anfangs drückte er sein Wohlwollen mit Lauten aus. Er drehte sich um, deutete auf die Badewanne. Deutlich hörten wir seinen Wunsch zu Schwimmen und Tauchen. Die Schülerin vergewisserte sich, einem Vollbad stand nichts im Weg.
Herr Friedrich konnte die Wannenfüllung kaum erwarten. Selbständig stieg er über die Leiter, legte sich auf den Rücken, bildete ein Hohlkreuz, den Kopf im Wasser bis zu den Ohren, Mund und Nase blieben frei. Die stabile Wasserlage gelang ihm mit den Händen seitlich am Körper, der aktive Beinschlag aus der Hüfte unterstützte den Zustand. Ein routinierter Schwimmer, er beherrschte die Feinheiten des Rückenkraulens. Ich bewunderte das freie Schweben im Wasser ohne Randberührung. Der Wechsel in die Freistiltechnik gelang bei gleicher Balance. Vor dem ersten Zug der Brustlage tauchte er ab. Ich verstand den athletischen Körperbau, ein Gelernter, vermutlich mit Wettkampferfahrung. Beim Abtrocknen fragte ich nach. Ab 1920 bis kurz vor dem Krieg trainierte er in einem Hamburger Verein. Seine Speziallage Freistil. Seine Wettkampfzeit über 100 Meter 1:04,7 Minuten, erstaunte, 50 Jahre später schwamm ich annähernd so schnell. Er erzählte vom täglichen Trainingsaufwand und den weiten Reisen zu nationalen und internationalen Wettkämpfen. 400 Meter, die Lieblingsdistanz entsprach der Länge des Alsterschwimmens im Freiwasser. Hunderte von Zusehern standen am Fluss, feuerten an. Herr Friedrich gewann mehrmals, wurde mit großen Lettern samt Bild in der Zeitung geehrt. Sein unvergessenes Highlight erlebte er in den dreißiger Jahren. Jonny Weismüller war nach Dreharbeiten für Tarzan in Hamburg zu Gast. Der erste Schwimmer, der 100 Meter unter einer Minute bewältigte, fünffacher olympischer Goldmedaillengewinner (1924 Paris drei, 1928 Amsterdam zwei) folgte der Einladung zum Wettkampf. Herr Friedrich schwamm mit und gegen ihn, schlug als Zweiter an. Eine Sternstunde. Ich gratulierte per Handschlag. In der Fantasie standen wir nicht im Bad der gerontopsychiatrischen Station, sondern auf dem Podest. Was passierte in den letzten Minuten? Bei einem verwirrten Herrn, unfähig sich zu waschen, der undifferenziert stammelte, wurde mit Hilfe des Wasserkontaktes das Langzeitgedächtnis reaktiviert. Er tauchte in seiner Vergangenheit auf. Ob weitere Trainingseinheiten gelangen, erfuhr ich nicht.

Ein Blick aus meinem Buch

Schwer vergräbt sich mein Hinterteil im blauen Sitz des Zugabteils. Und schwer liegen die Augenlider auf meinen Wangen. Dennoch verstecke ich meinen Blick hinter dem Mühlviertler Krimi. Er soll mir die knappe Stunde verkürzen, die ich täglich im Zug verbringe. Ich lese Seite 66 bereits zum dritten Mal, der Inhalt ist mir dennoch unbekannt. Auf dem Weg ins Land der Träume werde ich ganz plötzlich herausgerissen. Ich weiß erst gar nicht woran es liegt, kein Geräusch, auch keine Berührung. Ein aufdringlicher Geruch dringt in meine Nase. Eine Mischung aus… Ja, aus was eigentlich. Der Geruch führt mir Bilder aus meiner Kindheit vor Augen. Der Nachbar sitzt in unserer Küche. Sein fülliger Körper steckt in einem Blaumann, der schon viel zu lange keine Waschmaschine von innen gesehen hat. Die Haare haben sich zu fettigen Strähnen zusammengefunden. Vor ihm steht ein Glas Bier. Bestimmt nicht sein erstes an diesem Tag, auch nicht sein zweites. Er führt es zu seinen fleischigen Lippen, hebt an und leert es in einem Zug. Er muss tatsächlich nur ein einziges Mal schlucken für einen halben Liter Bier. Unbegreiflich für ein zehnjähriges Mädchen. Und genau jener Duft, den mein Nachbar damals verbreitete, strömt mit dem Neuankömmling ins Zugabteil. Er lässt sich gegenüber von mir nieder.
Ich muss dieses Gemisch aus Alkohol und modriger Erde aus meinem Kopf vertreiben. Tief ziehe ich die Luft durch den Mund ein und versuche meine Gedanken wieder in Mühlviertel zu lenken. Wer war wohl der Mörder vom Liebenauer Pfarrer? Wieder beginne ich auf Seite 66 ganz oben zu lesen. Doch sie lassen sich nichts befehlen, meine Gedanken tun was sie wollen. Sie sind bei meinem Gegenüber und schicken nun schon zu zweiten Mal den Befehl an meinen Magen, sich zweimal schnell im Kreis zu drehen. Ich blicke auf. Über dem Rand meines Krimis erscheint eine steife Arbeitshose, die vermutlich einmal weiß war. Nun ist sie von Flecken und Klecksen übersät. Auf seinen Oberschenkeln ruhen seine knorrigen Arme. Abgemagert wirken sie. Die Adern treten blau und kräftig hervor. Seine Finger umklammern eine Dose Bier. Er führt sie zu seinen Lippen. Mein Blick folgt ihrem Weg. Seine Augen liegen tief und dunkel in ihren Höhlen. Die Farbe kann ich nicht erkennen, zu eng sind die Schlitze und zu dominant die Pölster unter seinen Lichtern. „Als hätte ihn eine Wespe gestochen“, denke ich und setze meine Reise über sein Gesicht fort. Tiefe Furchen ziehen sich über seine Stirn und auch auf der Außenseite der Augen haben sich kräftige Sonnen gebildet. Eine breite knorrige Nase thront mitten im Gesicht und stellt Mund und Lippen in den Schatten. Wäre ich ein Maler, würde ich am liebsten ein Gesicht wie seines auf Papier festhalten. In meine Seele hat sich bereits jetzt eine Meinung zu ihm eingebrannt. Mein Blick wandert über seine struppigen, weißen Haare zurück zu meiner Lektüre. Zwei Sätze kann ich sinnerfassend lesen, dann überkommt mich ein tiefes Gähnen. Meine Augen werden feucht und die Buchstaben schwimmen dahin. „Du hattest wohl auch einen anstrengenden Tag“, bringt mein Gegenüber einfühlsam hervor. „Vielleicht ist er gar nicht so übel, wie er riecht“, denke ich und muss mich über meine Vorurteile ärgern.

Lilli und ihr Geheimnis

Die Heldin meiner Geschichte heißt Lilli und ist acht Jahre alt.
Sie hat sich heute Morgen einen Platz in meinen Gedanken gesucht und mich gebeten, euch ihre Geschichte zu erzählen.
Ich stelle mir vor, dass Lilli auf einer kleinen Insel in der Nordsee lebt. Sie hat wildgelocktes, haselnussbraunes Haar, das ihr Kinn umspielt und mit dem Wind um die Wette tanzt - denn Wind gibt es im hohen Norden genug. Mit ihren roten Gummistiefeln und dem gelben Friesennerz (der ihr eine Nummer zu groß ist, weil er ihrem älteren Bruder gehörte) bildet sie einen leuchtenden Kontrast zu den Matschfarben des Wattenmeers und den verwaschenen Grau- und Blautönen des Himmels.
Ich betrachte ihr Gesicht und schaue in zwei graugrüne Augen, die mich neugierig anblicken und in denen noch dieses Leuchten steckt, was uns Erwachsenen verloren geht. Die Sommersprossen auf ihrer Nase sind sternförmig angeordnet und den Mund umspielt ein verschmitztes Lächeln.
Lilli geht gerne zur Schule und wird von den anderen Kindern gemocht, weil sie selten aneckt und immer freundlich ist. Trotzdem hat sie nicht viele Freunde, denn sie ist schüchtern und meistens mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.
Außerdem hat sie ein Geheimnis, dass sie niemandem erzählt, weil sie Angst hat, dass man ihr nicht glaubt und über sie lacht.
Lilli kann mit Tieren sprechen.
Wenn sie alleine am Meer ist, bekommt sie oft Besuch von Willi dem Austernfischer. Das ist ein Vogel mit schwarzem Kopf und Flügeln, weißen Federn am Bauch und einem langen roten Schnabel, mit dem er im Watt nach Muscheln und Krebsen stochert (Austern stehen dabei eigentlich nicht auf seinem Speiseplan).
Auch Tobi den Löffler zählt sie zu ihren Freunden. Sein Schnabel erinnert an die Form eines Löffels und eignet sich sehr gut, um sein Essen aus dem niedrigen Wasser zu fischen.
Noch weiß Lilli nicht, dass sie eine Heldin ist. Doch bald wird sie über sich hinauswachsen, um ihre gefiederten Freunde vor einer Katastrophe zu retten.

Im Supermarkt und warum ich 105 Jahre alt werde.

13.00 Uhr im Supermarkt. Zahlreiche Kunden und Kundinnen eilen durch die Regale.
Aus den Lautsprechern dröhnt die übliche Musik, die unsere Kauflaune steigern soll.
»Kostet wieder alles mehr«, murmelt missmutig ein Kunde, während er mich, auf meine Zustimmung wartend, ansieht.
Ich nicke ihm freundlich zu und antworte: »Ja, während der vergangenen Monate findet man kaum ein Produkt, welches nicht deutlich teurer wurde – aber es muss erst teurer werden, damit es wieder billiger werden kann.«
Verständnislos blickt er mich an, wendet sich von mir ab und nimmt eine Packung Käse aus dem Kühlregal. Ein rotes Klebeetikett weist darauf hin, dass der Preis für dieses Produkt um 30% gesenkt wurde. Ist etwa der Gipfel der Preissteigerung erreicht, frage ich mich? Geht es jetzt wieder abwärts mit den Preisen? Nein nur preisgesenkt, weil das Datum der Mindesthaltbarkeit in zwei Tagen überschritten sein wird. Auf dem Weg zur Kasse schweift mein Blick über die Einkaufswagen. Es scheint mir, als wären sie nicht mehr so vollgepackt wie vor dem Beginn der Teuerung. Nur selten sieht man einen Wagen, welcher Snacks und Süßwaren beinhalten. Artikel, die nicht unbedingt für den Lebensunterhalt benötigt werden, fehlen fast gänzlich.
Im Kassenbereich angekommen, stelle ich mich an das Ende der Warteschlange.
Vor mir steht ein Mädchen von etwa acht bis neun Jahren. In ihrer Hand hält sie vier Tafeln Schokolade. Sie tritt zur Seite, um ich vorzulassen.
»Nein danke«, sage ich, »du warst vor mir, und wenn du jeden vorlässt, dann wirst du erst heute Abend bezahlen können. Die Schokolade in deinen Händen wird dann geschmolzen sein.«
Sie lächelt und reiht sich wieder vor mir ein. Abrupt dreht sie sich zu mir um, schaut mich lange an. Sie ist rothaarig, große, ausdrucksstarke, blaugrüne Augen betrachten mich. Unwillkürlich denke ich an die kleine Hexe Lilli und deren Streiche. Die Geschichten aus dem Buch las ich, meiner noch kleinen Tochter, vor dem Schlafen oft vor.
»Du bist schon ganz schön alt«, sagt sie schließlich, während sie mich weiter unverwandt ansieht. Ihre Bemerkung berührt mich unangenehm. Fühle ich mich mit meinen 75 Jahren doch vital und bilde mir ein, noch als ein Fünfzigjähriger durchzugehen.
»Na, ist die Schokolade für dich allein?«, diese kleine ironische Bemerkung kann ich mir nicht verkneifen.
»Nein, auch für meine Geschwister«, ist ihre Antwort, um mich im Anschluss zu fragen, wie alt ich sei.
»Fünfundsiebzig«, antworte ich.
»Meine Oma ist 86 geworden«. Sie wendet ihre Augen nicht von mir ab.
»Dann muss ich mich ja anstrengen, dass ich auch so alt werde, wie deine Oma«.
»Du wirst 105«, sagt sie ernst und bestimmt. Dann dreht sie sich um, bezahlt ihre Schokolade und verlässt das Geschäft.
Zunächst schenke ich ihrer Aussage, dass ich 105 Jahre alt werden soll, keine Beachtung. Auf dem Weg zu meinem geparkten Auto überlege ich aber, warum das Mädchen exakt 105 Jahre, als das für mich erreichbare Lebensalter, benannte. Nach meiner Meinung wäre es doch für ihr Alter logischer, sie hätte gesagt, dass ich älter werden würde als ihre Oma.
Ob ich allerdings so alt werden möchte, wie mir das Kind prophezeit hat? Aber warum nicht? Hätte ich demnach ja noch weitere 30 Lebensjahre, um meine zahlreichen Pläne umzusetzen. Ja, ich habe noch Ziele, bin ich doch überzeugt davon, dass es, neben der Freude am Leben eines Ziels bedarf, um bis in hohe Alter gesund zu bleiben und alle fünf Sinne beizubehalten.
«Schaun mer mal, dann sehn mer scho», fällt mir Beckenbauers Spruch ein, während ich das Auto starte und nach Hause fahre.

Lila
Ich kenne die Frau, die mühevoll an mir vorbeischlurft. Ihre Kleider verraten, dass es sich um jemand Besonderen handeln muss. Rüschenbluse, eleganter Blazer, Bügelfaltenhose. Nur die Schuhe wollen partout nicht zum Gesamtbild passen, denn es sind riesige, unförmige, ausgelatschte Beinahe-Hausschuhe, wie sie für empfindliche Diabetikerfüße vom Hausarzt auf Rezept verschrieben werden. Gebeugt wie ein Fragezeichen wirkt sie nur halb so groß wie ich. Sie will zu mir aufsehen, kann sich nicht aufrichten, stellt sich darum seitlich zu mir und rotiert ihren Kopf in eine unnatürliche Position. Sie sieht aus wie ein Geier, der beim Fressen gestört wird. Ich kann ihren Blick kaum auffangen, nicht deuten, ihre Stimme geht im Straßenverkehr unter, als sie sagt: „Raten Sie, welche Diagnose unser gemeinsamer Kollege mir jetzt schon wieder unterjubeln wollte!“ Die obere Gesichtshälfte ist schmal, eingefallen, faltig, während der Unterkiefer merkwürdig prominent und kräftig wie bei einem Türsteher hervorsticht. Zweimal frage ich nach, ehe ich verstehe, dass durch einen unglücklichen Treppensturz nicht nur beide Jochbeine, sondern auch die Zahnprothese des Oberkiefers zerbrochen sind. Irritiert schaue ich auf den violett leuchtenden Lockenschopf und begreife, dass sich die alte Kinderärztin und Kollegin einen Besuch beim Friseur gegönnt hat. Surreal, ein lebendes Chagall-Gemälde.
„Was Neues probieren, kurz vor der Gruft“, artikuliert die schicke Alte mit dem kaputten Körper mühsam. Sie wedelt mit der arthritischen ausgemergelten Hand vor meinem Gesicht herum, wie sie es früher gemacht hatte. Ganz früher, als ich bei ihr Patientin war. Wegen der gebrochenen Schulter schafft ihre Hand es jetzt nur noch mit Mühe auf Brusthöhe. Sie hält in der Bewegung inne, betrachtet ihre skelettartig dürren Finger mit den aufgetriebenen Gelenken, mümmelt resigniert ein heiseres „Was soll´s“ und schiebt in ihren Micky-Maus-Schuhen auf der Asphaltstraße der Stadt davon. Der Gehweg mit den Platten, die herausstehen wie Knochen, ist lebensgefährlich.
„Lieber vom Auto überfahren werden, geht schneller“, höre ich sie sagen, aber das war sicher Einbildung.

Achtung, Kontrolle

Wer seit über 20 Jahren jeden Arbeitstag die Personalkontrolle passiert, erkennt das Kontrollpersonal oft schon an Nuancen - ein typisches Bewegungsmuster, besondere Merkmale …
Das war auch heute der Fall. Nadjas weißblonde Mähne schien durch das Fenster, wie ein Leuchtfeuer. Ich habe bis heute nicht herausgefunden, ob sie Naturlocken glättet oder glatte Haare mit dem Lockenstab quält. Sie sieht mich, lächelt und winkt mich in den Kontrollcontainer. Als sie Blickkontakt sucht, ertappt sie mich bei der Musterung ihres Körpers.
„Markus, glotzt du mir gerade auf die Brüste?“, fragt sie.
Zum Glück kann ich das wahrheitsgemäß verneinen: „Ich habe auf deinen Ausweis gesehen. Wenn du mich mit dem Namen ansprichst, möchte ich das auch können!“
Nadja lächelt strahlend: „Das ist sehr aufmerksam von dir. Die meisten Kunden machen sich die Mühe nicht.“
Bevor Nadja mich ertappt hat, konnte ich die Schimpftirade einer ihrer Kolleginnen bestätigen - die Dienstkleidung gibt es nur in zu groß. Hose, Poloshirt und die orange Warnweste haben die Passform eines Vier-Personen-Zelts. Die silberne Kette mit ungefähr zehn Türkisen wertet die Kleidung nur bedingt auf.
Während Nadja mir mit dem Teststreifen über die Hände wischt, werfe ich einen verstohlenen Blick auf ihre Finger - keine Ringe. Allerdings tragen die wenigsten welche. Wahrscheinlich zu lästig mit dem permanenten Hände desinfizieren.
Sie steckt den Streifen in das Gerät und sucht erneut Blickkontakt. Als Erstes fällt mir auf, dass sie enorm lange, vermutlich echte, Wimpern hat. Dann, dass die Fältchen rund um die Augen vermuten lassen, dass sie älter ist, als es auf den ersten Blick scheint. Zuletzt bleibt mein Blick an der Iris hängen und ich bin atemlos. Die Pupillen werden von einem feinen Ring sattem grün umramt, gefolgt von einem breiteren Ring stahlblau.
Nadja lacht hell auf: „Augen?“
Sie weiß eindeutig um ihre Besonderheit. Zwei Lidschläge später habe ich mich gefangen und antworte: „Natürlich! Die würde ich gerne deutlich länger bewundern, als es die Zeit hier erlaubt.“
Nach einem weiteren Lacher entgegnet sie: „Danke. Ich hab um vier Schluss. Warte am Briefkasten auf mich.“
Sie gibt mir meinen Ausweis zurück und hält kurz meine Hand fest. Es kribbelt.
Leider stört ihr Kollege am Scanner den Moment, indem er sich lautstark räuspert: „Die Schlange wird nicht kürzer!“
Wir verabschieden uns und ich mache mich voller Vorfreude auf den Weg zum Dienst.

Wir sind in einem Jazzlokal und feiern einen runden Geburtstag. Ich schau mich im Lokal um und bemerke dicht am Ausgang eine blonde Frau, die ihr Glas umklammert, als müsste sie sich daran festhalten. Ihr Blick schweift nervös umher. Ich bin neugierig und nähere mich ihr. Die Hände wirken gepflegt, als hätten diese nie hart arbeiten müssen. Die Finger sind schmal und sie trägt einen Ehering, aber die Nägel sind abgekaut. Auch blättert der Nagellack an einigen Stellen schon ab. Da der Lack tiefrot ist, kann ich es sogar schon aus einiger Entfernung erkennen. Das passt nicht zu ihrem eleganten Kleid, das sie trägt. Es ist schwarz und mit Perlen am Halsausschnitt bestickt. Ich kann weiter keinen Schmuck erkennen. Ebenso sind ihre Strümpfe und Schuhe schwarz. Der Duft eines sehr starken Parfums schlägt mir entgegen. Ich stelle mich neben sie und lächle sie an. Ihre Augen sind gerötet, auf der Nase erkenne ich Abdrücke einer Brille. Ihr stark geschminktes, faltiges Gesicht dreht sich zu mir, und aus dem Mund ertönt eine raue tiefe Stimme, die sagt: „ verschwinden Sie!“

Mit welchem Werkzeug wohl - grub das Leben tiefe Furchen Dir ins Gesicht?

Wer mahlte all die grauen Felsen - für die Farbe Deines Haares?

Wie oft tanztes Du über Wiesen - dass die Beine Dir so schwach?

Wie viel Mädchen Du wohl hobest - mit den Armen jetzt so dünn?

Was Du wohl alles sahest - mit den Augen jetzt so trüb?

Wer schlug Dir Deines Herzens Wunden - mit der Zeit dürftig verheilt?

Welche Last auf Deinen Schultern - macht den Rücken Dir rund?

Geschafft. Gerade noch vor Sendeschluss.

Nach den netten Tipps, ist mir ein böser Fehler aufgefallen. Der ist jetzt korrigiert. Danke für das Feedback.

Basiert schwach auf erlebte Ereignisse. Viel Spaß beim Lesen.

Auf dem Spielplatz:

Wachsame Augenpaare bemerkten ihn augenblicklich.
Er fiel sofort auf, obwohl er versuchte, nicht aufzufallen.
Aber da durch, bewirkte er das Gegenteil hiervon. Zudem er eine Körpergröße hatte, die kaum übersehbar war. Der Fremde bewegte sich langsam. Zögerlich, wie wenn er sich über seine eignen Absichten, selbst nicht sicher war.
Es war ungewöhnlich, dass sich ein Mann auf einem Kinderspielplatz verirrte. Jung schien er nicht zu sein. Nur ein dünner Haarkranz zierte sein Haupt. In seinen beiden Händen drehte er einen dunkelbraunen Krempenhut nervös herum. Dieser sah aus, als hätte er etliche Jahre hinter sich gebracht.
Womöglich ähnlich seinem Besitzer?
Ob er bemerkte, dass ihm wachsame Augenpaare folgten? Denn sein eigener Blick war auf den Boden gerichtet. Langsam setzte er seinen Weg fort. Quer über den Spielplatz hinfort.

Führte er etwas im Schilde?
Um diese Zeit, gehörte der Platz den Mamis, aus den umliegenden Nachbarschaften. Bis es nötig war, ihn zu räumen, um die Kleinen in die Badewanne ins Bett zu bringen.
Wenn sie fort waren, beanspruchten Jugendliche und Trinker den Ort für sich.
Ständig versprach die Stadt daran etwas zu verändern.
Passiert war nie was.

Stattdessen räumten die besorgten Mütter, die abendlichen Hinterlassenschaften fort.
Vermutlich war der Fremde einer davon und zu früh hier. Was seinen Gang erklärte, der nicht mehr zögerlich wirkte, sondern eher schleppend.
Müde.
Kaputt.

Ein Wohnungsloser schien er nicht zu sein, die sich ab und zu hierher verirrten. Dafür erschien er nicht verwahrlost genug. Der Unbekannte war nicht übermäßig gepflegt, aber es war zu erkennen, dass er seine Körperpflege regelmäßig betrieb. Hinzu kam ein beiger Trenchcoat, einer teuren Marke. Der ähnlich seinem Hut, die besten Jahre hinter sich hatte. Darunter eine schlichte schwarze Hose.

War er ein Dealer?
Der darin seine Ware verbarg? Wartete er auf einen Kunden? Das würde seine Kleidung und sein zögerliches Verhalten erklären.
Weiterhin folgten ihm wachsame Augenpaare, indessen er an den spielenden Nachwuchs vorbei schlurfte. Sah es aus, dass er eins davon ansprech?

Die kleine Regina sprang ihm fast vor die Füße. Sie murmelte eine Entschuldigung und rannte weiter. Der Fremde setzte nach diesem Zwischenfall seinen Weg fort.
Hatte er sie dennoch nicht zu lange angesehen? Gemustert?
War das nicht die Art von Gattung Mann, die Kinder entführten?

Wachsame Augenpaare folgten ihm, bei allem, was er trieb.

Er kam bei einer der wenigen unbesetzten Sitzbänke an.
Mit seinem alten Hut fegte er die Blätter auf den Erdboden. Erst dann setzte er sich. Der Fremde öffnete den oberen Teil seinen Trenchcoat etwas. Darunter war ein verwaschenes weißes Hemd zu erkennen. Sein Blick starrte leer vor sich hin.

Oder fixierte er eines der Kinder?
Sah eines davon lüstern an?

Zusehens verbreitete sich Nervosität unter den Müttern.
Die ersten Frauen suchten Kindersandsachen zusammen.
Dieser Fremde war nicht geheuer. Manche Mamas legte los, um nach ihrem Nachwuchs zu rufen.

„Regina“
„Patrick“
„Ulf“
„Tanja“
Namen hallten über den kleinen Kinderspielplatz.
Zwanzig Minuten war der Platz fast leer.

Einige Zögerliche haarten aus.
Mit wachsamen Augen sahen sie zu dem Fremden.
Der saß bewegungslos auf der Parkbank und rührte sich kaum. Einzige Unterbrechung war, dass er auf seine Armbanduhr sah. Er schien auf etwas Wichtiges zu warten.

Bis es den restlichen Müttern ebenfalls unheimlich wurde. Eine nach der Anderen verließ den Platz.
Weshalb die wachsamen Augenpaare verpassten, was kurz darauf geschah.
Ein kleines Mädchen erschien, rannte auf den Fremden zu. In ihren Kinderhändchen flatterte im Wind ein Blatt Papier.
Der Unbekannte stand von der Bank auf. Fing sie in ihrem Lauf ab. Hob sie empor und warf sie dreimal gen Himmel. Beide lachten.
Er setzte ihr hienach seinen Hut auf den Kopf und schlurfte mit ihr fort.

Schaukelgang

Sie hat Hüftprobleme. Die rechte Hüfte schmerzt. Das sieht man am Gang – es ist der Schaukelgang. Frauen die Babys getragen haben, zuerst im Bauch und dann auf den Hüften, die schaukeln ab Alter 60. Die Tragetaschen mit ihrem Einkauf heben und senken sich, wie wenn sie auf einer dieser altmodischen Waagen gewogen würden. Hinzu kommen die 15 Kilo Hüftgold, die sich im Laufe der Jahre angesetzt haben. Die Fußknöchel sind angeschwollen. Wasser in den Beinen. Sie schwitzt. Nicht wegen der Hitze, es ist nicht heiß, sondern wegen der Anstrengung. Sie lächelt in die Runde, versucht, selbstbewusst zu wirken, so formlos, sie auch dahergeschlurft kommt. Die Tasche links ist schwerer. Blumenkohl und Milch und obendrauf Apfeltaschen und Schnecken. Eine ist angebissen.

Sie strebt auf den leeren Stuhl zu, aber da kommt einer, der ist schneller.

Strandgut

Am Morgen nach dem Sturm schien der Himmel wie von einem schmutzigen, zerfetzten Leintuch überzogen. Am Horizont hing ein Schleier, den die Sonne sich mühte zu durchdringen.
Ich sass auf einem kleinen Sandhügel, etwas entfernt vom Strand, und beobachtete die Szenerie.
Wellen durchfurchten das Meer und gaben ihm ein zerknittertes Aussehen. Die Ebbe zwang es zum Rückzug, was es aber, so schien es, nur widerwillig tat. Wellen leckten nach dem angeschwemmten Strandgut, wollten es mit sich nehmen, um es an anderen Ufern wieder an Land zu werfen oder in den Tiefen des Meeres zu versenken. Eine Flasche, die sich in den Sand gekrallt hatte, wer weiss wie lange sie schon unterwegs war und sich nach einem Landgang sehnte, die vielleicht sogar eine Flaschenpost enthielt, musste sich den sich zurückziehenden Wellen doch noch ergeben. Sie gruben den Sand unter ihr einfach weg und rissen sie, wehrlos wie sie nun war, zurück ins Meer. Nicht weit davon stritten sich zwei Möwen um einen toten Fisch. Sie flatterten hoch, als sich ihnen ein Mann näherte, ein kleiner, etwas dicklicher Mensch. Er trug ein verwaschenes Hemd über einer grauen Hose. Seine nackten Füsse steckten in Sandalen mit dicker Sohle. Er fuhr sich oft mit der Hand durch die Haare und versuchte sein krauses Haar, das erste graue Strähnen zeigte, nach hinten zu kämmen. Dennoch glich seine Haartracht dem zerzausten Gefieder eines Vogels nach dem Bad. Über seinen Augen von hellgrau-grünlicher Farbe hingen dichte, zottige Brauen. Seine Nase schaute leicht nach links und seinen Mund umspielte dauernd ein verschmitztes Lächeln.
Er schaute sich um, betrachtete die Überreste des Sturms der letzten Nacht: Vogelfedern, zerrissene Fischernetze, Strauchgespinste, die sich zu Kugeln zusammengeschlossen hatten, Blätter und Palmenwedel, ein mit Sand gefüllter Turnschuh und, wie von einem Riesen hingeworfen und in den Sand gedrückt, bizarre Gebilde von Wurzeln und zerrissenen Baumstämmen. Eines davon sah aus wie ein Eichhörnchen, das an einer Nuss geknabbert hatte. Nur gab es keine Eichhörnchen auf dieser Insel in den Tropen Südostasiens.
Er winkte mir zu, als er mich gewahrte. Ich kannte ihn vom Sehen, hatte gehört, dass er Künstler sei. Er kam regelmässig an diesen Abschnitt des Strandes und sammelte Treibgut, das er zu Hause in der Garage sortierte und stapelte. Für ihn waren diese vom Meer angespülten Überreste nicht wertlos. Er erschuf daraus Collagen, setzte die Stücke zu Kunstwerken zusammen, so aus etwas Zerstörtem etwas Neues schaffend, in den ewigen Zeitenlauf von Werden und Vergehen eingreifend.

Frau Mühlke mit den Kipferln

Frau Mühlke war klein und rundlich. Sie legte großen Wert darauf, dass ihre Nägel perfekt gemacht waren und lackierte sie sich gerne in knalligen Farben. Vielleicht ließ sie sie auch lackieren. Sie kam ursprünglich irgendwo aus Osteuropa, trug gerne glamouröse Westen mit Goldknöpfen und Glitzergarn. Sie hatte einen starken slawischen Akzent mit rollendem R und lachte viel und eigentlich über alles. Was ihr an Wissen über Arbeitszusammenhänge fehlte, mache sie durch ein heiteres Gemüt wett. Wenn ich mich im Büro ärgerte oder – was noch öfter vorkam – in Trübsal verfiel, dann ging ich gerne zu ihr ins Zimmer und riss ein paar Witze. Dabei lachte sie sich scheckig, und ich bekam wieder ein gutes Gefühl.

Sie liebte es, Ihr Büro schön zu dekorieren. Überall auf den Fensterbänken und Tischen wucherten die Pflanzen. Wenn man reinkam, sah es aus wie in einem Dschungel. Von der Decke hingen Blumenampeln. Eine kleine Tomatenzucht fand sich neben der Heizung. Hinter ihrem Bürostuhl hing ein selbstgemaltes Bild aus Acrylfarben an der Wand. Es zeigte eine grüne Wiese mit lauter braunen Pferden darauf. Die Pferde waren nicht immer anatomisch korrekt, aber doch mit viel Liebe zum Detail ausgemalt. Auf den Hinterbacken der Pferde prangte eine Art Brandzeichen `Dri´. Ich bewunderte das Werk und fragte nach dem Zeichen. „Das ist das Kürzel von unserem Chef Herrn Drippelsbach“, erklärte mir Frau Mühlke voll Freude.

Ich musste Lachen und Frau Mühlke lachte mit. „Da wird er sich aber freuen,“ sagte ich und Frau Mühlke nickte begeistert mit dem runden Köpfchen. Ihre Frisur war mit so viel Haarspray fixiert, dass sich nicht eine Strähne dabei bewegte. Gute Frau mit guter Frisur.

Was Frau Mühlke außerdem von allen anderen mir je bekannten Bürokräften unterschied, war Ihre eiserne Backdisziplin. Jedes Jahr in der Vorweihnachtszeit verbrachte sie vermutlich einige Wochen in Klausur und buk Vanillekipferln für die Nachbarn, die Gemeinde, die Familie, den Bürgermeister, das Flüchtlingsheim und ja, sie buk auch für uns, ihre Bürokollegen. Wir waren damals ungefähr 17 Leute im Büro und Frau Mühlke ließ es sich nicht nehmen, eine riesige Keksdose mit köstlichen Vanillekipferln auch für uns zu füllen. Die Dose hatte gigantische Ausmaße. Ich schätze, dass gut 30 Liter hineinpassten. Sie hätte als Kinderbadewanne dienen können.

Eines Tages im November kam man dann in die Firma und fand die berühmte Dose in der Teeküche vor. Nach dem Öffnen des Deckels war sie immer randvoll mit zart bestäubten Halbmonden, die kunstvoll aufeinander geschichtet waren. Es roch unwiderstehlich nach Vanille und Puderzucker. All diese Arbeit und Mühe, nur damit wir uns einfach damit vollfressen konnten. Die Kipferl waren zart und mürbe, und sie zerfielen im Mund. Ich empfinde das bis heute als wundervollen, uneigennützigen Akt der Nächstenliebe, der mir da zuteilwurde.

Vor ein paar Jahren ging sie in Rente. Da war es dann zu Ende mit den Kipferln. Ich habe sie später nochmals beim Walken getroffen. Sie war ganz dünn geworden. Eine Krankheit und Probleme mit den Knien. Ihre Augen aber waren von tausend Lachfältchen umsäumt und haben gestrahlt wie früher. Ach, liebe Frau Mühlke, Weihnachten naht, und ich vermisse sie mal wieder. Soviel Backliebe hat niemals wieder jemand auf mich verwendet. Meinen tiefsten Dank dafür.

Der Unauffällige

Er fiel sofort auf, obwohl er so sehr darauf bedacht war, unauffällig zu sein. Die Bewegungen betont lässig und für aufmerksame Augen unbeholfen, betrat er den Raum, schlich umher wie eine Katze, die sich völlig gleichgültig gab und dabei zielsicher den Braten ansteuerte. Der dunkle Mantel umhüllte einen athletischen Körper, schwarze Strähnen lugten unter dem Hut hervor. Sein Gesicht war verborgen hinter filigranen Mustern in Schwarz und Weiß.
Wer steckte hinter dieser Maske?
Sie war durchlässiger, als es schien. Still war er dahinter nicht. Er lachte, scherzte, erzählte mystische Geschichten und setzte seine Worte gekonnt aufeinander wie ein Kartenhaus. Doch nicht selten stürzte die Formulierung zusammen, ließ die Zuhörer spüren, dass er sich unbedacht zu weit hinaus gewagt, sich womöglich verraten hatte.
Feinfühlige erkannten den verkrampften Versuch, er selbst zu sein und zugleich es zu verheimlichen. Die Zerrissenheit, sich für potenzielle Freunde zu öffnen, vor Feinden die Deckung zu wahren. Die Mischung aus Misstrauen und Mitleid, die er bei seinen Zuhörern beschwor, machte es für sie ebenso schwer, an ihn heranzukommen. Herankommen zu wollen.
Er war ein Geheimnis, das sich selbst verbot, bekannt zu werden, und sich doch genau das wünschte.

hallo @elisabeth, hallo @Moderatoren (, und natürlich hallo Designprogrammierung im Hintergrund).

Erster Eindruck der Umbauarbeiten? :open_mouth: Klasse!! Danke!!! :smiling_face_with_three_hearts:

hartmut

Herzensmensch

„Ich muss los.“, sagte er und sprang aus dem Stuhl. Im Schlafzimmer wurden T-Shirt und lange Jogginghose, seine Lieblingsbekleidung für einen freien Nachmittag Zuhause, gegen Trikot und kurze Sporthose getauscht. Da es draußen schon eine kühle Temperatur hatte, zog er die graue Jogginghose wieder über die Sporthose an. Ich folgte ihm gerade noch rechtzeitig ins Schlafzimmer, um ihn im Trikot zu sehen, das seine muskulösen Arme wunderbar betonte. Die muskulösen Arme, die nicht nur stark waren und Gewichte heben, sondern auch mich sanft halten konnten und mir eine Sicherheit vermittelten, wie ich sie noch nie verspürt hatte. Dann zerstörte er den schönen Anblick, in dem er seinen warmen Pullover überzog. Er schob sich seine Brille zurecht, die beim Anziehen verrutscht war. Sie betonte sein schönes Gesicht und ließ ihn so schlau aussehen wie er auch war. Dann noch einen Blick in den Spiegel, ob auch die Frisur saß. Er war definitiv kein eitler Mensch, stand nicht auf Extravaganz oder Ähnliches, aber mit seinen Haaren hatte er es, sie waren stets mit Wachs frisiert. Bevor er zum Training aufbrach, nahm er mich nochmal in den Arm, so konnte ich seine Stärke und gleichzeitige Sanftheit wenigstens nochmal spüren. Er küsste mich mit seinen wunderbar weichen Lippen sanft auf den Mund. Als ich noch einen Kuss forderte, war er dieses Mal kräftiger und stürmischer, was mir ein Kribbeln im Magen verursachte. „Ich schreibe dir, wenn ich angekommen bin.“ Unser Ritual, wenn der eine ohne den anderen unterwegs war. Er vergaß es nie. Dann lief er die Treppe hinunter, zog seine Schuhe an und warf sich die Sporttasche auf den Rücken. Dann sah er nochmal zu mir hoch, ein Strahlen im Gesicht, er freute sich auf das Training. Und ich freute mich, weil er glücklich aussah. Dann zeigte sich immer sein Grübchen auf der rechten Wangenseite. Zuckersüß, sweety eben. Er machte seinem Spitznamen sweety pie eben alle Ehre.

Die Warnung

Mit offenen Mund und leicht schockiert saß ich auf dem Fahrersitz und starrte auf die Wand vor mir. Ich konnte nicht fassen was die Scheinwerfer meines Wagens anstrahlten. Nichts böses ahnend, war ich in das Supermarkt Parkhaus gefahren um noch schnell eine Flasche Merlot zu besorgen. Als ich endlich eine freie Parklücke im hinteren Bereich fand, atmete ich tief durch. Ich fuhr den Wagen zügig hinein und wollte gerade den Schlüssel abziehen als ich es sah. Direkt vor mir an der Wand befand sich eine riesige Spinne. Eine von dieser Art, die man in Deutschland normalerweise nur in Naturschutzgebieten findet und stark an eine Vogelspinne erinnert. Handflächen groß, die Beine aufgestellt. Regungslos. Ich erinnere mich nicht, ein so großes exemplar je im Alltag begegnet worden zu sein. Und nun sah ich es knapp einen Meter vor mir. Vorsichtig öffnete ich die Tür und verließ mein Auto zügig. Die Spinne bewegte sich nicht.
Ich wusste, dass es nichts gutes bedeutete. Je größer die Spinnen in meinem Leben, desto schlimmer das kommende Ereignis. Ich verwarf den Gedanken zunächst wieder, da ich mir nichts einreden wollte. Wenige Tage später kam das Ereignis. Grausam, entsätzlich und furchtbar traurig. Was soll ich sagen, das Universum hatte mich ja gewarnt.

Ohne Hoffnung

Zum Abschied schauen wir uns nach.
Die Ältesten neigen den Kopf, hin und herwiegend, eine Hand gestreckt, winkend, die andere Hand am Bauch und in den letzten Blicken die wir miteinander austauschen liegt Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung. Wir werden uns im nächsten Jahr nicht mehr wiedersehen.
Die Mütter mit ihren Kindern winken mir noch freudig zu,

Als ich in das kleine Kanu steige begleiten mich die Beschützer des Landes bis zu den zivilisierten Grenzen. „Matthie, komme bald wieder“.
Das waren unsere letzen Worte.
Im September 2022 war ich von einer Reise zu einem indigenen Volk aus Brasilien nach Deutschland zurück gekehrt.
Heute erreicht mich eine Videobotschaft, die ich hier übersetze : Lieber Mathies. Wir sind auf der Flucht, unser Dorf wurde überfallen und in Brand gesteckt, wir suchen Zuflucht in einer unserer nächsten Gemeinschaft.

Sie sitzt immer am selben Tisch, in dem kleinen Café am Markt. Und wie immer hat sie Bienenstich und Kaffee bestellt. Sie lächelt, als ich meine Bücher hervorhole, um für eine Prüfung zu lernen. Heute jedoch sieht sie müde aus. Selbst die Plastikblumen auf ihrem Strohhut sehen verwelkt aus. Die vielen Armreife klirren leise, als sie die Tasse hebt.
„Sie ist 105 Jahre alt. Kaum zu glauben“, sagt die Kellnerin, die mir meinen Cappuccino bringt.