Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Gang 28

Er steht gleich hinter den Kassen und hilft weiter. Wo finde ich ein Mittel gegen Schimmel, ich suche die Toilettenaufsätze, haben Sie frische Kräuter im Topf, beim Gartenmarkt gabs keinen Liebstöckel? Er schickt sie in Gang 46, sehen Sie das große Schild Eisenwaren, da gegenüber, hier durch die Tür finden Sie die Gartenabteilung, dort gleich rechts.

Er tastet nach dem Handy, aber holt es nicht heraus. Zu früh für Neuigkeiten.

Ein Paar mit einem Mädchen im Kleid fragt nach Badfliesen. Gleich hier, Gang 28. Komm, Emily.

Ein warmer Tag. Keiner hat eine Jacke an, nur die Älteren. Draußen scheint die Sonne, als sei Frühling. Im Alsseifrühlingsonnenschein fährt Lina zur Klinik. Er wäre gerne bei ihr.

Eine junge Frau in Jeans lächelt und fragt nach Steckern gegen Trauermücken. Gleich dort hinter Kasse 5. Sie lächelt und bedankt sich.

Er sieht ihr nach. Früher hat das Lächeln einer Frau etwas anderes bedeutet als hier.

Martina ist bei ihr, ist da, wenn sie das Ergebnis hört. Wenn es nicht gut ist, gehen sie nächste Woche zur Beratung. Lina wünscht sich ein Mädchen. Mädchen, Junge, sie werden es lieben wie ihr eigenes.

Eine Frau mit Pferdeschwanz betritt den Laden und mustert ihn. Als er hinschaut, sieht sie weg. Sie verschwindet im Gang mit den Wandbildern.

Martina und Michael unterstützen sie in allem. Michael hat gesagt, bei ihrer Hochzeit, das Sektglas in der Hand: Amir ist zwar nicht hier geboren, aber er ist ein rechter Kerl. Wir sind stolz, ihn in unserer Familie zu haben.

Das Paar streitet über die Größe der Fliesen, das Mädchen steht daneben und sieht zu der Lavalampe im Gang gegenüber. Als sei es eine friedliche Welt.

Die Frau in Jeans läuft vorbei, zeigt die Packung mit Trauermückensteckern und strahlt. Gefunden! Er lächelt. Schön.

Rätselraten

Selten zogen Menschen aus der Stadt in unser abgelegenes Dorf. Als überraschend eine auffällig gekleidete Dame, klein und etwas korpulent, mit einem kleinen Kind in einem Neubau wohnte, zog sie die Neugier aller auf sich. Das Rätselraten über die neue Bürgerin begann.
Ein paar Tage später steht sie wie eine Erscheinung aus einer fremden Welt in dem kleinen Haushaltswarenladen meiner Mutter vor mir. Mit hochgerecktem Kinn und abfälligem Blick mustert sie mich von oben bis unten. Sofort beginne ich an meinem über den Winter viel zu eng gewordenen Pullover zu zupfen, um meine Speckpolster zu verstecken. Verschämt beobachte ich sie von der Seite, während sie beginnt meiner Mutter lautstark in übertriebenem Hochdeutsch und mit exaltierten Gesten ihre Wünsche zu diktieren. Sofort muss ich an den exotischen Papagei denken, den ich beim letzten Klassenausflug im Frankfurter Zoo bewunderte. Ihre grellrot geschminkten Lippen, die in schrillem Kontrast zu der mehr gelb- als blondgefärbten Kurzhaarfrisur stehen, erscheinen mir genauso exotisch. Und die dünnen Bögen über den kahlrasierten Brauen geben ihrem Gesicht einen starren, erschrockenen Ausdruck. Der royalblaue Kaschmirpullover über einem engen grünen Rock war sicher sündhaft teuer, ging mir durch den Kopf. Einen solchen Anblick hat es in unserem Dorf noch nie gegeben.
Das kleine Mädchen an ihrer Hand schweigt. Mama versucht, ihre Neugier hinter einer freundlichen, geschäftsmäßigen Konversation zu verbergen: „Die Kleine ist doch sicher ihre Tochter?“ Die Dame lächelt geheimnisvoll von oben herab und bleibt die Antwort schuldig. Ich lasse sie nicht aus den Augen und ahne, sie hat etwas zu verbergen.
Zwei Tage später nutze ich die willkommene Gelegenheit, eine Bestellung auszuliefern und bemühe mich, so unauffällig wie möglich einen Blick in ihre Wohnung zu werfen. Die großzügige Neubauwohnung ist kahl und ungemütlich, ausgesprochen spärlich möbliert und ohne Gardinen vor den Fenstern. Ich werde den Eindruck nicht los, ihre Bewohnerin ist nur auf der Durchreise.
Als eine schöne junge, perfekt geschminkte Frau mit langen blonden Haaren in einem roten Sportwagen ins Dorf fährt, hab ich keinen Zweifel mehr: Dahinter verbirgt sich ein Geheimnis. Nach zwei Tagen ist sie wieder verschwunden, nur das Frankfurter Kennzeichen verriet, woher sie kam.
Das Rätselraten im Dorf geht weiter. Doch nun sind sich alle sicher, die exaltierte Dame ist die Oma des kleinen Mädchens. Aber niemand findet eine Antwort, warum eine so herausgeputzte Oma mit ihrer Enkeltochter freiwillig in unser einsames Dorf gezogen war. Sie vermeidet den Kontakt mit den Dorfbewohnern und das Mädchen besucht weder den Kindergarten noch sieht man es mit anderen Kindern spielen. Manche munkeln, dass sich die beiden vielleicht sogar vor irgendjemandem verstecken.
Genauso plötzlich, wie die geheimnisvolle Frau in unserem Dorf aufgetaucht war, verschwindet sie auch nach etwa eineinhalb Jahren spurlos.
Doch lange noch beunruhigte dies die Gemüter. Und manche erinnerten sich an den Spielfilm „Das Mädchen Rosemarie“, der gerade in den Kinos lief und das Leben der Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt 1957 in Frankfurt zeigt. Einige fragten sich sogar, ob unser abgelegenes Dorf vielleicht ein anonymes Rückzugsgebiet war.

Who are you?

Unnahbar. Das ist das erste Wort, welches mir in den Sinn kommt, wenn ich an dich denke. Fast schon ein wenig leidend, denn dein Lächeln ist stets gut versteckt. Vielleicht ist es auch die Erhabenheit über die Situationen (oder Unsicherheit?), die deine markanten Züge so hart werden lassen. Trotz deiner hellen Haare, immer perfekt gestylt, des hellen Barts, strahlt eine kühle Dunkelheit aus dir, die meine Lippen für einen tiefen Atemzug zum Öffnen zwingen. Doch wenn mein Blick nach oben wandert, zu deinen Augen so blau wie der Atlantik, erhasche ich ein Glitzern. Ist das Überraschung? Es ist nur ein kurzer Moment bevor dein Rücken sich wieder aufrichtet, du mich um fast zwei Köpfe überragst und verwirrt zurücklässt. So stehe ich da, mein Mund noch immer leicht geöffnet, der Kopf schief und leer. Und mir bleibt nur, dir in deinem sportlichen Outfit, welches eine ebensolche Figur betont, hinterher zu schauen und mich zu fragen: Was ist mit dir?

Es waren die Augen

Auch nach fast 50 Jahren erinnere ich mich an diese Begegnung. Ein Bekannter hatte uns gesagt: „Bei dem nächsten Vollmond im Februar feiern die Tamilen das Fest Thaipusam. Das müsst ihr euch unbedingt ansehen. Aber seid vorsichtig, denn es ist schon mancher Zuschauer dabei umgekippt“. Nach fast einem Jahr in Singapur trauten wir uns das Abenteuer zu. An dem Tag brachte uns ein klappriges Taxi in die Nähe des Vorbereitungsplatz. Dann war kein Weiterkommen und wir mussten zu Fuß weiter. Tausende drängten sich durch die engen Gassen. Bunt gekleidete Inder und Malaien mischten sich mit einzelnen Touristen. Aus Lautsprechern dröhnte aufputschende Musik und ein betäubender Dunst vernebelte die Sonne. Und es war heiß und feucht wie immer in Singapur. Jetzt verstanden wie die Warnung von unserem Bekannten.

Großfamilien scharten sich beschwörend um die einzelnen weißbemalten Teilnehmer. Die sahen furchterregend aus. Ganze Reihen von Eisenhaken waren durch die Brust- und Rückenmuskeln gestoßen. Daran hingen zitronenähnliche Früchte. Meterlange Stäbe durchstachen die Wangen.

Plötzlich blieb ich stehen, denn in dem hektischen Gewimmel fiel mir an der Ecke der Kreuzung eine Gestalt auf. Sie stand vollkommen ruhig da und strahlte eine hohe Souveränität aus. Mit ihren Augen schlug sie mich richtiggehend in den Bann. Obwohl sie mich vielleicht gar nicht direkt ansah, hatte ich das Gefühl, dass sie bis auf den Grund meiner Seele blickte. Obwohl ich damals in dem Ruf stand, dass ich alles, aber auch wirklich alles, fotografierte oder filmte, kam ich in diesem Moment gar nicht auf eine solche Idee. Einen anderen hätte ich angesprochen, aber in diesem Moment wagte ich das auch nicht. Ich riss mich los und suchte meine Gruppe. Als ich mit ihnen zurückkam, war die Person verschwunden und wir konnten sie nicht wieder finden.

Auf der kalkweißen Mauer sitzt sie, die langen Beine übereinander geschlagen, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Und während das Blatt einer Palme ihre Schulter kitzelt, streicht sich die junge Frau eine kinnlange Strähne aus dem schmalen Gesicht und lächelt.
Schon schmilzt ihre hohe Gestalt in der südlichen Sonne wie eine Zärtlichkeit aus ferner Zeit, da wir beide noch Kinder waren, unschuldig und voller Neugier auf das Leben.
Und nichts wussten vom Abschiednehmen, meine Schwester und ich, noch nichts wussten vom nahenden Tod.

Unerreichbar

Um mich herum steht die Welt still. Ein zaghaftes Lächeln breitet sich auf seinen vollen Lippen aus, welche so blass sind wie seine Haut selbst. Ich erkenne die hellen Zähne. Nicht so wie die Anderen, die deutlich erkennen lassen, dass zu viel geraucht wurde. Ich habe ihn auch noch nie mit einer Zigarette gesehen, fällt mir ein. Ein verstohlener, unschuldiger Hundeblick bahnt sich durch die Menschenmenge hindurch den Weg zu mir. Unter seiner schwarzen Kappe lugen seine großen, strahlend blauen Augen hervor und versuchen meinen Blick einzufangen. Sie leuchten wie die Wellen des Pazifischen Ozeans, die von der Sonne geküsst werden. Gewaltig und wunderschön. Das Funkeln darin verrät mir etwas, als sich unsere Blicke treffen. Ich kann kaum hinsehen. Das Gefühl, auf der Stelle ohnmächtig zu werden, ist größer denn je. Er lief wie immer allein, fast ziellos umher und hangelt sich nun nervös von Bank zu Bank. Bei der Tischtennisplatte im hinteren Teil des Hofes
scheint er gerne zu sein. Ich habe ihn dort schon öfter gesehen. Er schaut auf den Boden zwischen seinen Füßen und streift mit seinem Schuh durch die Erde, als hätte er gerade eine Ameise beerdigt. In seiner Hand hält er einen glänzenden grünen Kuli, den er aus der Hosentasche gezogen hatte und im nächsten Augenblick in sein vorderes Reißverschlussfach des Rucksacks steckt. Ein Eastpak. Genau wie meiner, was kein Zufall war. Fast im selben Grauton. Er gähnt kurz, wirft einen genervten Blick auf die umherhuschenden, kreischenden Kids neben ihm und steht schlagartig auf. Mühevoll wirft er seine Tasche über die linke Schulter. Der Inhalt hängt stark nach unten, der Rucksack scheint heute gut gefüllt zu sein. Ich versuche schnell seinem Schritt mitzuhalten, immer in leicht versteckter Position. Als sei ich ein Spion, der den alleinigen Auftrag hat, ihn zu beobachten. Dabei weiß er doch sicher längst, dass ich ihn immerzu anstarre und mit meinen Blicken verfolge. Was er nur denkt, frage ich mich und gleichzeitig versinke ich vor Scham aber ich kann einfach nicht anders. Er schmunzelt immer leicht, wenn er mich flüchtig in der Masse erkennt. Ob das etwas bedeutet? Er trägt heute wieder einer seiner viel zu breiten, mit unzähligen Taschen besetzten Jeanshosen. Am Ende des Saums hängen sie zerrissen in Übergröße über die weißen, ausgelatschten Adidas. Wenn sie etwas kürzer wären, würde er nicht immer darauf laufen, denke ich. Mit meinen Buffalos passiert mir das nicht. Die hellblaue Waschung lässt ihn unscheinbar wirken und dennoch wirkt er wie ein Engel. Das dunkle langärmlige Shirt, mit einem nicht mehr lesbaren blassen Aufdruck, hängt fließend an seinem Körper herunter. Er bügelt doch sicher nicht selbst. Wenn ich genau hinsehe, kann ich durch den dünnen Stoff hindurch Ansätze von seinem Waschbrettbauch erkennen. Wie gern würde ich mal anfassen, denke ich mir und versuche das Bild aus meinem Kopf zu bekommen, welches sich gerade voll präsentiert. Immer wieder starrt er ernst auf seine schwarze große Uhr, welche er am rechten Handgelenk trägt … dann zu mir. Oh Gott… Meine Stirn schwitzt. Er sieht ein zweites Mal zu mir rüber. Soll ich mich trauen? Denke ich, während mein Herz rast und mein Magen sich gefühlt bereits das dritte Mal umdreht. Wie gut, dass ich nichts gegessen habe. Mist, die laute, schräg klingende Schulklingel ertönt. Sind die fünfzehn Minuten denn schon wieder vorbei? Reges Treiben unterbricht meine Observation. Ich kann ihn nirgends sehen. Panik … Zu meiner Freude kreuzen sich unsere Wege am Eingang der Aula. Sein Arm streift meinen sanft, als wir näher aneinander gepresst werden. Mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. In meinen Ohren ertönt leise das schönste und sanfteste „Hallo“, welches ich jemals gehört habe. Ich bekomme keinen Ton heraus und schaue ihn nur flüchtig an und lächle. Bald werde ich es schaffen, ihn selbst anzusprechen. Ganz sicher.

Sie schwebte über der Tanzfläche, während der Sänger die Kommandos ansagte. Über dem Petticoat trug sie einen regenbogenfarbigen Rock, deren Farben im Licht der Tanzhalle verwoben wurden zu einem mehrfarbigen Bild. Als sie sich im Kreise drehte, wippte der Petticoat im Takt durch den Raum. Alles war vergessen, nur ihre Freude am Tanzen, an den Bewegungen im Klang der Musik war geblieben. Ihr Kopf hocherhoben, die langen Haare zu einem Zopf gebunden, ihre Augen strahlten in die Welt hinaus und die anderen Tänzer an. Wir waren gefangen, wurden von der Freude ihrer Bewegungen mitgerissen und in ihre Welt mitgenommen.

WER NICHT EIGENSTÄNDIG FÜHLT – WIRD VOM TEUFEL VERFÜHRT.

Mit dünnen Beinen, völlig ungeerdet und mit einem mit Tierleichen und Bier gefüllten dicken
Bauch überquert der Bauer Fritz die Wiese.
Die freundliche Maske immer aufgesetzt – doch sie hat Risse aus denen Schmerz und Wut
hindurchscheinen. Dieses Durchscheinende blickt mich direkt an und sucht in mir die
Erlösung.
Plötzlich wechselt er seine Maske, tauscht sie ein in eine andere, ich nenne sie die fleissige
Maske. Aber auch diese hat Risse, aus denen die Trauer nur so raustropft - doch diese
Tropfen wässern die völlig ausgetrocknete und verdichtete Wiese nicht.
Im Gegenteil.
Denn die nicht gefühlte Wut von vergangenen Verletzungen und der verstopfte Zugang zu
den ureigenen Bedürfnissen lassen diesen Bauer das Kalb von der Mutter wegreissen.
Ein Gemetzel, ein Geschrei, zerstörte Familienverbände.
Da ist sie, die dritte Maske von Fritz: die Geldgier - Maske - auf Kosten Unschuldiger.
Mir zerreisst es mein geheiltes Herz. Denn ich fühle die Unschuld in mir und somit auch in
dieser Kuh und ihrem Kalb.
Die roten Äderchen auf des Bauern Wangen zeigen all das angestaute und unverdaute in
seiner Seele und in seinem Körper.
Alter, ungeheilter Schmerz erzeugt neuen Schmerz.
Ich wünsche im Frieden, so dass Frieden sichtbar werden darf.
Denn alles, was wir anderen Lebewesen antun, tun wir uns selbst an.

Der strömende Regen war erdrückend. Und nass. Doch das konnte meine Stimmung nicht noch weiter trüben, denn ich war schon vollständig am Boden meiner Realität angekommen. Warum war ich hier? Genau, ich wollte mir ein Opfer suchen. Doch niemand war zu sehen. Ich glaube, bei solch einem Wetter ging keiner aus dem Haus. Außer mir, heute, mitten in der Nacht.
Ich holte einen Spiegel raus und schaute mich an. So viele Falten in meinem Gesicht, endlose Trauer. Dann sah ich meine ergrauten Haare. Das Schicksal holte mich langsam ein. Mein Alter.
Seit vielen Jahrhunderten lebte ich nun schon und war mit jeder weiteren Generation deprimierter geworden. Blut wurde immer minderwertiger. Intelligenz im Blut brauchte ich, doch wo fand man heutzutage noch intelligente Menschen? Selten waren sie geworden. Schlachteten sich meist gegenseitig ab und unsereins musste nicht einmal nachhelfen. Der Puppenspieler verkam zur Puppe. Die Aktion erhielt keine Reaktion, sondern Stillstand.
Dafür hatte ich den Spiegel mit. Ein Ritual zur Rückführung meines Körpers in eine jüngere Version. Doch mit diesem miserablen Blut waren es immer nur winzig kleine Schritte, die ich machen konnte. Das Ritual benötigte hochwertiges Material, um zu funktionieren. Heute jedoch hatte ich kein Glück auf den Straßen dieser Stadt. Zu viele hatte ich hier schon ausbluten lassen und war danach nicht weitergezogen.
Das war es wohl. Ich sah mich ein letztes Mal im Spiegel an, die Haut blätterte bereits in großen Teilen ab, und wandte den Blick schnell wieder ab. Vielleicht sollte es so sein. Es wurde Zeit für mich, in die Ewigkeit einzuziehen.

Von weitem erkannte ich sie auf der gegenüberliegenden Straßenseite mit ihren beiden Kindern. Liebevoll hielt sie ihre jüngere Tochter an der linken Hand, während die Größere, die sie bereits überragte, neben ihr stand. Sie lächelte zu mir herüber und auch wenn wir uns schon lange kannten, war ihr die Freude über unser spontanes Treffen anzusehen. Untypisch trug sie ihre Haare offen, die schmeichelnd über ihren Schultern lagen. Ihre Augen spiegelten eine anstrengende Lernstunde mit ihrem Grundschulkind wieder. Doch in ihrem Gesicht war zu erkennen, dass sie es gerne tat. Je näher ich ihr kam, desto mehr erkannte ich welchen großen Wert sie auf Natürlichkeit legte. Auch wenn sie sich für Konzerte gerne mal zurecht machte, lebte und liebte sie die Freiheit sie selbst zu sein. Dabei unterstrich ihr gewähltes Outfit genau diese Lebenseinstellung. Lockere Jeans, Turnschuhe und eine dünnen Jacke an einem warmen Herbsttag zeigte die Bequemlichkeit, welche man als Mutter brauchte. Der Spaziergang führte zu unseren nahegelegenen Drogeriemarkt. Es dauerte nicht lange bis wir den Bereich der Kasse ansteuerten. Doch als sie vor den bunten Einbänden der verschiedensten Romane stand, war ihre größte Leidenschaft in einem breiten Lächeln zu erkennen.

Am Eisbach
Sein löchriger, lamafarbener Poncho hängt schwer und feucht über den knochigen Schultern. Die Zipfel mit dem braunverblassten Indiomuster baumeln kaum bis über die zitternden Knie, darunter stecken die haarigen, krampfaderverknoteten Waden in abgelatschten Wanderstiefeln. Eine seiner schwieligen, blauverfärbten Hände hält die Öffnung des Umhangs zusammen, die andere Hand versucht, nach der vollgestopften Billig-Markt-Plastiktüte zu greifen, die neben ihm an der schneebedeckten Böschung des Eisbachs liegt. Als er sich schleppend hinunterbeugt, fällt ihm die aschgraue, klebrig verfilzte Haarmähne über die Augen. Im Aufrichten blickt er sich suchend um, dabei scheint im Morgendämmerlicht sein Gesicht auf, das Wenige, das der wilde, graumelierte Vollbart freigibt. Wässrige, verschwollene Augen unter buschigen Brauen, aufgeschwemmte Wangen, eine blaurot geäderte Nase. Der Mann saugt genüsslich die kalte Luft ein. Während er sich umwendet und in Richtung eines schützenden Gebüschs schlurft, öffnet sich kurz sein Umhang. Der bibbernde, nackte Körper darunter ist klatschnass…

Aufreißer

Ich habe ihn schon oft in unserer Stammkneipe gesehen. Irgendwie immer in meiner Nähe und doch weit weg. Wir haben noch nie ein Wort gewechselt.

Heute komme ich allein in die Kneipe, die abgestandene Luft und die Lautstärke der Gespräche schlagen mir entgegen und benebeln meine Sinne. Ich habe die Kapuze meines Hoodies tief ins Gesicht gezogen und schaue mich um.
Ich finde ihn gleich. Er sitzt allein am Tresen vor einem Bier und hat mir den Rücken zugewandt. Jetzt oder nie. Ich gehe zum Tresen und spreche ihn laut und forsch an. „Hallo!“

Mit der lässigen Spannung eines Sportlers sitzt er auf dem Barhocker. Er dreht sich langsam um und sieht mich fragend an. Ich streife die Kapuze vom Kopf und ziehe meine blonde Mähne aus dem Pulli.
Er ist älter als ich, sieht aber verdammt gut aus. Schamlos lässt er seinen Blick über meinen Körper, meine Brüste gleiten. Er wirkt arrogant, wie er da so lässig am Tresen sitzt.

„Verdammter Aufreißer!“, fahre ich ihn an. Ich ärgere mich über mich selbst, warum habe ich ihn angesprochen?
Er zieht eine Augenbraue hoch, was ihn noch eingebildeter erscheinen lässt. „So weit ich mich erinnere, hast du mich gerade aufgerissen, Schätzchen.“
Ich sehe tief in seine Augen, vorbei an den verschmitzten Lachfältchen, direkt in seine Seele. Darin spiegeln sich Tiefe und Wärme, er macht mich neugierig.
„Stimmt!“, antworte ich und freue mich, dass ich ihn endlich angesprochen habe.

Eine knappe Viertelstunde vor der ersten Detonation hatte sich eine Frau gerade an ihren Schminktisch gesetzt. Ihr geliebter Ehegatte würde bald von der Arbeit kommen und sie wollte für ihn hübsch sein. Die Hausarbeit war erledigt, das Essen gekocht, es musste nur serviert werden. Dieses tägliche Ritual rundete fast jeden ihrer Nachmittage ab. Sie betrachtete sich eine Weile im Spiegel und fuhr mit eleganten Fingern die Konturen ihrer weichen Gesichtszüge nach. Ein wenig Wimperntusche und bisschen Lippenstift, mehr war nicht nötig. Ihre Haut war makellos und ohne Falten. Ihr Mann nannte sie seinen Porzellanengel. Sie liebte diesen Kosenamen.
Ihr Spiegelbild lächelte glücklich und sie begann, die Kosmetika aus den Schubladen vor ihr zu nehmen. Karl hatte ihr diesen stilvollen Schminktisch zur Verlobung geschenkt und seither noch vieles mehr. Seit dem Tag, an dem sie sich kennen und lieben lernten, hatte es ihr nie mehr an etwas gemangelt. Weder äußerlich noch innerlich. Ihre grünen Augen waren voller Glanz, als die schwarze Tusche ihre Wimpern benetzte und sie noch voller machte.
Sie nahm sich Zeit. Alles, was Sofia tat, tat sie mit Sorgfalt. Es war beinahe ein Zwang, aber es half ihr, im Beisein anderer die Beherrschung zu bewahren. Besonders, wenn die Freunde ihres Mannes das Paar mit missbilligenden Blicken bewarfen. Meist geschah das, wenn er ihr gerade voller Liebe in die Augen sah oder ihre Hand nahm. Schon komisch, dass er diese Leute Freunde nannte, verkannte er sie doch so sehr.
Sofia bekam vieles mit, ohne dass sie ihrem Mann davon erzählte. Seine Freunde mochten nette Menschen sein, aber sie merkte nichts davon. Karls Familie duldete sie inzwischen, aber von Akzeptanz waren auch sie noch weit entfernt. Sie war trotzdem glücklich, denn das eine Herz, das ihr wichtig war, gab ihr seine ganze Liebe.

Ohne Titel (Wegen Spoilergefahr)

Es war dieser verregnete Nachmittag, an dem ich versuchte mich auf das Projekt zu konzentrieren. Ich starrte auf die nassen Blätter des Baums vor meinem Balkon im zweiten Stock und ging Ideen durch. Doch dann dachte ich wieder an sie. Ich wäre in diesem Moment froh gewesen, das Gefühl zu haben sie nicht enttäuschen zu wollen, stattdessen quälte mich der Gedanke, dass ich vergeblich versucht hatte ihre Aufmerksamkeit zu erlangen. Bestenfalls sagte sie ein zwei knappe Sätze und starrte mich dann mit diesem fordernden Blick an, bei dem ich nie genau sagen konnte, was sie eigentlich von mir wollte. Ich schüttelte den Kopf, wischte mir über das Gesicht, als ob ich damit diese Gedanken abwischen könnte, und konzentrierte mich wieder auf das Projekt. Es musste einen Weg geben! Irgendwann, es war schon abends, ging ich in meiner Wohnung auf und ab. Den Baum vor meinem Balkonfenster konnte ich nicht mehr sehen, doch meine Gedanken kreisten wieder nur um sie. Wer hätte gedacht, dass ein fünfzehn Jahre jüngerer Mensch mich derart aus der Fassung bringen könnte? Wenn mir nicht bald ein zündender Funke einfiel, konnte ich dieses Projekt abhacken! Da läutete es an meiner Tür. Hatte ich etwas zu Essen bestellt und dann vergessen? Meinem Hunger nach zu urteilen konnte das gut sein. Wie war der Lieferant ins Treppenhaus gekommen? Egal! Ich öffnete und staunte. Der Regen hatte ihr schulterlanges Haar nass geglättet und nichts von ihren Korkenzieherlocken übrig gelassen. Doch der strenge Scheitel in der Mitte war geblieben. Ihre atemberaubende Figur steckte in einem schmal geschnittenen Minikleid mit farbigen Printinserts eines namhaften Designers. Es saß perfekt auch die Tatsache, dass es völlig durchweicht war, machte nicht den geringsten Unterschied. Vermutlich hätte ich mit dem Preis dieses Kleids meine Wohnung abbezahlen können. Ihre langen Beine mit den makellosen Waden und schmalen Fesseln standen nackt auf meiner Türmatte, denn sie trug ihre lackschwarzen Riemen High Heels in der einen und ihre vintage Designerhandtasche in der anderen Hand. Mit ihren großen Augen sah sie mich mit diesem fordernden Blick an und diesmal wusste ich genau, was sie von mir wollte …

Der Fremde an der Tür

Da klingelst du plötzlich an meiner Tür und ich werde rausgerissen aus meinem Alltag.
Hier stehst du nun vor mir, zögerlich, mit mindestens 3 Schritten Abstand. Bevor wir nur ein Wort wechseln, muss ich deine Erscheinung mustern: Wer bist du?

Du schaust nach unten, dein graues Haar fällt in dein so junges Gesicht, das es mir schwer fällt dein Alter einzuschätzen. In der linken Hand, die du noch hinter deinem Rücken halb versteckst, scheinst du etwas für dich Wertvolles zu tragen. Deine Füße sind immer noch dazu inbegriffen, den Rückzug anzutreten, doch deinen jungen, strahlenden Augen blicken mich nun Erwartungsvoll an.

Als ich freundlich Hallo sage, geht ein Ruck durch deinen Körper. Du stellst dich aufrecht auf, als wären alle Vorurteile und Ängste zwischen uns gewichen, nur durch einen Blick in die Augen.

Nun erkenne ich dich mehr: ein älterer Herr mit gepflegter Kleidung und Haaren. Deine Augen blicken mich wissend an und deine linke Hand präsentiert mir endlich das Geheimnis, was hinter deinem Rücken geschlummert hatte.

Ein kleines Päckchen, sorgfältig verpackt in Papier und nochmal in einer Plastiktüte. Mit extra Notizen, wie mir scheint.

Es ist das BUCH, Lord Byron von 1885, welches ich online erworben hatte. Und nun stehst du hier!

Da stehen wir beide wieder …
Ich sehe es in deinen Augen, erkenne den Schmerz. In deinem Ausdruck ist eine leere, die mich erschauern lässt. Kein Hoffnungsschimmer, nichts. Die Schönheit deines Gesichtes getrübt, du wirkst leblos.
Hab ich dich enttäuscht? Habe ich deinen Ansprüchen nicht genügt? Was hattest du erwartet, dass es diesmal anders läuft? Warst du so verblendet? Hat dich der kurze Schimmer der Zuversicht so in Ekstase versetzt, dass du meintest, alles wäre möglich? Zu kaltes Wasser klatscht dir in dein Gesicht. Du verziehst gepeinigt die Miene. Tränen laufen über deine Haut, doch du ertränkst sie in eiskaltem Nass.
Nur die gerechte Strafe, für deinen Misserfolg, findest du nicht?
Hattest du dir nicht geschworen, dass es diesmal anders läuft?
Du drehst den Wasserhahn ab, krallst dich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Starr siehst du mir in die Augen, ich sehe die Regung, es reicht dir. Das Feuer deines Willens kommt unverhofft. Du schließt deine Lieder, schnaufst einmal laut durch. Ein letzter Blick in den Spiegel, diesmal schaff ich es …

Sie war alt, ging auf die achtzig zu. Und sie ging mit Mühe, wie man sehen konnte, ihr rechtes Bein schien kürzer zu sein als das linke, und das Knie war zu weit einwärts gedreht, als wolle es beständig kehrtmachen. Sie aber setzte sehr bewusst, setzte mit Bestimmtheit Schritt vor Schritt, damit man sehen konnte, dass sie keinen Stock benötigte. Noch nicht. Sie war groß, starkknochig und schlank und hielt sich trotz ihres Alters betont gerade. Aus dem länglichen Gesicht mit den hohen Wangenknochen und dem kraftvoll geschwungenen Kinnbogen blickten wissbegierige Augen eiswasserblau in die Welt. Sie war nicht wirklich schön, heute schon gar nicht mehr, aber auch als junge Frau war sie das nie gewesen. Ihre markanten Gesichtszüge hatten schon immer viel zu männlich gewirkt, und die inzwischen schlohweiße Kurzhaarfrisur trug das ihrige dazu bei. Man gestand ihr die aristokratische Abstammung ohne weiteres zu, wenn man sie erstmals traf.
Ihre Kleidung bestand aus edlen Stoffen und war klassisch geschnitten, und niemals sah man sie in Hosen. Aber sie trug klare, kräftige Farben in mutigen Zusammenstellungen, die sie geradezu zelebrierte, und niemand konnte erkennen, dass alles im Secondhandshop erstanden worden war. Sie trank nur Tee, lehnte sich nicht an, wenn sie saß, die Füße ordentlich nebeneinander gestellt, der Rock reichte gerade bis unters Knie. Niemals zog sie ihn gerade, das hatte sie nicht nötig, er saß stets perfekt. An ihren großen, etwas groben Fingern und Handgelenken trug sie wechselnd den ganzen ererbten Familienschmuck, unsägliche, riesige Klunker, geschmacklos, aber mit Geschichte.
Ihr Erscheinungsbild war das einer Dame von Welt, die bestehende gesellschaftliche Regeln, je nach ihrem Gusto, entweder strikt befolgte oder kreativ abwandelte, sie war kapriziös und frei von Demut, mit vollendeten Manieren und einem Stolz, der bitter, aber nie laut wurde. Ein Hauch Hermès umwehte sie, wenn sie in dem kleinen Wohnzimmer ihres Reihenhauses Gäste empfing und stundenlang mit ihnen plauderte, ohne je zu viel über sich zu erzählen. Dann und wann, wenn sie anderen zuhörte, was diese aus ihrem Leben berichteten, erschien auf ihrem so strengen Gesicht die Andeutung eines weichen, fast kindlichen Lächelns, das so zerknittert und schief in ihren Mundwinkeln saß, dass man ihr einen kurzen Moment ansehen konnte, welche Kraft und Selbstdisziplin sie lebenslang aufgewendet haben musste, um diese Fassade aufrecht zu erhalten.

Da steht er. In der goldenen Sonne an einen herrlichen warmen Spätherbsttag. Der Mann, besser noch sein Gefährt, hatte meine Aufmerksamkeit erregt. Er stand an einem grün gras bedeckten Hügel, eine Fernsteuerung in der Hand, konzentriert auf seinen „kleinen“ mechanischen Freund. Regungslos und mit einer störrischen Ruhe, steuerte er das Gefährt den Hügel auf und ab. Ich trat näher heran, interessiert an dem, was er macht. Interessiert ob ihn das, was er macht, ihn Spaß machen würde. Denn schließlich erinnerte er mich, so wie er dastand, wie er steuerte, an ein kleines Kind, was gelangweilt oder tief versunken sein Auto fernsteuerte oder doch eher wie ein Modellbauer, der sein Modellflieger mit konzentrierte Miene durch die Lüfte lenkte?

Ich trete zu ihm heran. Aus der Nähe betrachtet fällt mir seine orange Hose auf. Diese Art von Hose, mit der herausstechende Signalfarbe, erinnerte mich an die tapferen Damen und Herren, welche schon früh am Morgen, bei Wind und Wetter, die Parks und Umgebung unserer kleinen Stadt pflegen, aufräume, für Ordnung sorgen oder den Blumen das benötigte Wasser geben. Er musste also zu den gehören, die sich dieser Art von Arbeit widmen. Ich habe mir schon oft gedacht, wie ein ständiges draußen sein so ist?

Ich sagte laut und deutlich: „Hallo!“. Er drehte sich zu mir um. Ich blickte in ein etwas breiteres aber nicht aufgeplustertes Gesicht. Die Lippen voll, die Nase nicht allzu groß und die Augen strahlten eine Sympathie aus, die ich wie folgt beschreiben würde: Durch seine stämmige, aber nicht allzu dicke Figur, sein freundliches Gesicht erinnert mich an die Sorte Mensch, mit dem man am liebsten knuddeln möchte. Wie als ob man ein Teddy Bär als Knuddelpartner hat.

Er sah mich fragend an und grüßte mich zurück. Ich teilte ihn meine Faszination an seinen motorisierter Freund mit, an dem er durch die Fernsteuerung seinen Willen weitergab. Ich fragte ihn, ob es Spaß macht, diese Arbeit auszuführen. In seinem Gesicht war nicht abzulesen, ob es das tat oder nicht. Er sagte fast wie gleichgültig, dass es vom Wetter abhinge. An so schönen Tage wie heute ist es eine Freude, seinem Gefährten zu steuern. An regnerischen Tagen musste man auf viel mehr Sachen achten, so dass sein Arbeitstier nicht im unwegsamen, nassen Gelände stecken bliebe.

Er stand immer noch wie angewurzelt da. Seine Hände verließen die mit einem Band um sein Hals gesicherte Fernbedienung nicht. Es schien so fast, als ob er nur seine Lippen bewegen würde mit einem Hauch von Mimik im Gesicht. Dennoch strahlte er auf seltsame Art und Weise eine Sympathie aus, die mich in gute Stimmung hielt.

Wir reden noch etwas über seine Arbeit, sein Gefährt und dann verabschiedete ich mich und ging. Als ich nach einigen Meter noch mal zu ihm blickte, stand er wie zu beginn, als ich ihn sah da. Sein Gefährt, sein Freund, war inzwischen einige Bahnen weiter den Hügel auf und ab gezogen und, ja was machte das Ding eigentlich, was gehorsam den Befehlen seines Herrchen folgte? Zu was war es da? Das hatte ich ja noch gar nicht erwähnt…

Der Professor

Heute ist wieder einer dieser Tage. Gesprächstermin reiht sich an Gesprächstermin. Und ich, die Sekretärin des Chefs komme aus dem Kaffee kochen nicht mehr heraus.
An der Tür nehme ich eine Bewegung wahr. „Das muss der nächste Gesprächstermin vom Chef sein.“, denke ich, während ein sehr gepflegt wirkender Mann im Anzug ohne anzuklopfen mein Büro betritt. Abwartend mustert er mich, sagt aber nichts. Er bietet mir nicht die Tageszeit an und stellt sich auch nicht vor. Innerlich verdrehe ich die Augen. Diese Art Menschen ist mir in meinem Job so bekannt wie verhasst. Es gibt sie noch, die Menschen, die glauben, sie sind besser als der Rest der Welt. Und vor mir steht wieder mal einer von ihnen. „Kann ich Ihnen helfen?“, frage ich freundlich.
„Müssten Sie das nicht selbst wissen? Haben Sie keinen Terminkalender?“, blafft er zurück. Durch herabgezogene Mundwinkel wirkt sein Gesichtsausdruck spöttisch. Herablassend sieht er mich durch seine randlose Brille an. Die Wucht des Widerwillens in seiner Antwort trifft mich. Genauso, wie seine Arroganz. Gerade will ich zu einer passenden Erwiderung ansetzen, da öffnet sich die Bürotür meines Chefs: „Ah Ludwig, dachte ich mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe.“, mein Chef lächelt freundlich und gibt ihm die Hand. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, folgt meinem Chef sein nächster Gesprächstermin in sein Büro. Einzig die etwas schief sitzende Fliege verrät, dass im Leben des Professors, der so unfreundlich durch die Tür gekommen ist, auch nicht alles perfekt zu sein scheint.

Ersetze diesen Text mit deinem Beitrag.

Die letzte Stunde

Es ist Samstagabend und ich sitze hier, betend, dass der große schwarze Zeiger der Uhr endlich wieder die Zwölf erreicht. Das Telefon neben mir liegt stumm auf dem Terminkalender. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, der einem den Puls in die Höhe schnellen lässt ohne dass man sich körperlich auch nur einen Zentimeter bewegt. Noch 45 Minuten, kein Kunde mehr hier, der Chef gut gelaunt im Nebenzimmer.
Die Terrassentür ist offen und lässt die abgekühlte Luft dieses Oktobertages zu mir in den Raum hinein. Obwohl die Fenster undicht sind hat sich im Laufe des Tages ein miefiger Geruch in dem alten Gemäuer verteilt. Ohne tieferen Sinn in Gedanken versunken starrre ich auf die künstlichen Pflanzen auf dem Kaminsims hinter dem Tresen. Der Kamin ist genauso fehl am Platz wie ich, doch ich halte tapfer durch. Solange ich den Kamin und die Blumen abstaube und nicht sie mich, ist alles in Ordnung.

Die Rezeption, hinter der ich sitze, schreit danach, endlich aufgeräumt zu werden. All die Zettel, die herum liegen, wild sortiert und doch ohne Ordnung. Briefkuverts, Terminzettel, Flyer aus der Werbung. Ich sollte aufräumen, die Rezeption, mein Leben, meinen Freundeskreis, so scheint es mir beim Anblick all der bunten Zettel in den zahlreichen Fächern aus dunklem Nussbaumholz.

Doch dann entscheide ich mich, weiter sitzen zu bleiben, auf die große Wanduhr zu starren und den letzten Vögeln im Garten, draußen vor der Türe, beim Zwitschern zuzuhören.