Seitenwind Woche 3: Schreib, was du siehst

Der Professor

Heute ist wieder einer dieser Tage. Gesprächstermin reiht sich an Gesprächstermin. Und ich, die Sekretärin des Chefs komme aus dem Kaffee kochen nicht mehr heraus.
An der Tür nehme ich eine Bewegung wahr. „Das muss der nächste Gesprächstermin vom Chef sein.“, denke ich, während ein sehr gepflegt wirkender Mann im Anzug ohne anzuklopfen mein Büro betritt. Abwartend mustert er mich, sagt aber nichts. Er bietet mir nicht die Tageszeit an und stellt sich auch nicht vor. Innerlich verdrehe ich die Augen. Diese Art Menschen ist mir in meinem Job so bekannt wie verhasst. Es gibt sie noch, die Menschen, die glauben, sie sind besser als der Rest der Welt. Und vor mir steht wieder mal einer von ihnen. „Kann ich Ihnen helfen?“, frage ich freundlich.
„Müssten Sie das nicht selbst wissen? Haben Sie keinen Terminkalender?“, blafft er zurück. Durch herabgezogene Mundwinkel wirkt sein Gesichtsausdruck spöttisch. Herablassend sieht er mich durch seine randlose Brille an. Die Wucht des Widerwillens in seiner Antwort trifft mich. Genauso, wie seine Arroganz. Gerade will ich zu einer passenden Erwiderung ansetzen, da öffnet sich die Bürotür meines Chefs: „Ah Ludwig, dachte ich mir doch, dass ich deine Stimme gehört habe.“, mein Chef lächelt freundlich und gibt ihm die Hand. Ohne mich noch eines weiteren Blickes zu würdigen, folgt meinem Chef sein nächster Gesprächstermin in sein Büro. Einzig die etwas schief sitzende Fliege verrät, dass im Leben des Professors, der so unfreundlich durch die Tür gekommen ist, auch nicht alles perfekt zu sein scheint.

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Die letzte Stunde

Es ist Samstagabend und ich sitze hier, betend, dass der große schwarze Zeiger der Uhr endlich wieder die Zwölf erreicht. Das Telefon neben mir liegt stumm auf dem Terminkalender. Es ist die Ruhe vor dem Sturm, der einem den Puls in die Höhe schnellen lässt ohne dass man sich körperlich auch nur einen Zentimeter bewegt. Noch 45 Minuten, kein Kunde mehr hier, der Chef gut gelaunt im Nebenzimmer.
Die Terrassentür ist offen und lässt die abgekühlte Luft dieses Oktobertages zu mir in den Raum hinein. Obwohl die Fenster undicht sind hat sich im Laufe des Tages ein miefiger Geruch in dem alten Gemäuer verteilt. Ohne tieferen Sinn in Gedanken versunken starrre ich auf die künstlichen Pflanzen auf dem Kaminsims hinter dem Tresen. Der Kamin ist genauso fehl am Platz wie ich, doch ich halte tapfer durch. Solange ich den Kamin und die Blumen abstaube und nicht sie mich, ist alles in Ordnung.

Die Rezeption, hinter der ich sitze, schreit danach, endlich aufgeräumt zu werden. All die Zettel, die herum liegen, wild sortiert und doch ohne Ordnung. Briefkuverts, Terminzettel, Flyer aus der Werbung. Ich sollte aufräumen, die Rezeption, mein Leben, meinen Freundeskreis, so scheint es mir beim Anblick all der bunten Zettel in den zahlreichen Fächern aus dunklem Nussbaumholz.

Doch dann entscheide ich mich, weiter sitzen zu bleiben, auf die große Wanduhr zu starren und den letzten Vögeln im Garten, draußen vor der Türe, beim Zwitschern zuzuhören.

Endlich Feierabend

Ich stand am Morgen hinter dem Küchenfenster. Der Himmel strahlte in seiner herrlichsten blauen Farbe. Die Oktobersonne ächzte die letzte Wärme aus ihren Poren, und er spuckte zum wiederholten Mal auf das Dach des Carports. Sein Chef hatte ihm kurz vorher seine Aufgabe, die er ausführen sollte erklärt und mit ihm einige Rollen Schweißbahnen die Leiter hinaufgetragen.
Mit dem Besen in der Hand fegte der junge Mann nun das Laub von dem Dach auf das hintere Nachbargrundstück. Die Jacke wurde unbequem. Kurzer Hand zog er diese aus und legte sie zur Seite. Anschließend musterte er die Rolle der Schweißbahn, die vor ihm lag.
Langsam bückte er sich zu dieser hinunter, dabei verrutschte der Bund seiner schwarzen Arbeitshose, der locker um seine Hüften lag. Ruckartig stellte er sich hin. Er zog die Hose hoch und das dunkle T-Shirt, herunter. Dann griff er in seine Hosentasche und zündete sich eine Zigarette an. Mit der Kippe im Mund beugte er sich abermals zu der Dachpappe und rollte sie ein Stück auf. Dabei rutschte seine Hose erneut. Nachdem er diese ein weiteres Mal hochgezogen hatte und das Shirt herunter, schubste er mit dem Fuß die Schweißbahn an. Daran legte er die nächste Bahn, sodass diese sich überlappten. Die Flamme des Schweißbrenners wurde entfacht, dabei kam diese nahe an eine Zypresse, die neben dem Carport stand. Das Grün des Baumes ging ins Bräunliche über. Im Anschluss hielt er die Flamme über der Überlappung. Nachdem die Schweißbahn weich geworden war, trat er mit seinen weißen Nikeschuhen darauf herum. Doch plötzlich hielt er in seiner Bewegung inne. Fragend schaute er vor seinen rechten Fuß. Langsam ging er in die Hocke. Vorsichtig rollte er die Schweißbahn wieder ein Stück auf, dann verschob er die Bahn und legte sie erneut ein Stück über die andere.
So verging die Zeit mit Spucken, Rauchen, Hose runter, Hose hoch, T-Shirt runter, Flamme über die Überlappung haltend. Mit den Schuhen die weiche Stelle festtreten. Zwischendurch ein Kaffee, der ihm von der Auftraggeberin gebracht wurde. Nicht zu vergessen den Blick nebenbei aufs Handy.
Am späten Nachmittag sah ich abermals aus dem Fenster. Mittlerweile war er am zweiten Carport angelangt. Auf diesem stand ein zweiter junger Mann, der ihm zuschaute, wie er mit dem Schweißbrenner hantierte. Die Hand fest am Griff umklammert wurden seine Bewegungen immer hektischer. Man merkte ihm an, dass er Feierabend machen wollte. Doch diesmal waren seine Füße schneller die weiche Stelle festzutreten, als die Flamme, die Naht zu schweißen. Dann kam der Aufschrei. Im Zickzack lief er mit dem Schweißbrenner über das Dach und mit einem Hüpfen auf der Stelle endete er in seinen Bewegungen. Nach einer ausgiebigen Zigarettenpause hielt er zum letzten Mal die Flamme an der Bahn. Vorsichtig tippelte er auf der weichen Stelle herum. Er hatte es geschafft. Endlich Feierabend.

Heiße Nacht

Ich bin Single, glücklicher, überzeugter Single. Ich schlafe gerne alleine, aber in dieser lauen Sommernacht war Sie da. Ich wollte Sie nicht, nicht in meinem Schlafzimmer und schon gar in meinem Bett. Aber genau da waren wir, im Bett. Das Licht war aus, das Fenster offen und ich schwitzte allein von den nächtlich, warmen Temperaturen des Sommers. Ich schlafe nackt und war nur mit einem Laken bedeckt. Sie bedrängte mich, es war mir unangenehm. Aber das beste wird sein Ihr Spiel mitzuspielen und so gab ich Ihrem Drängen nach. Ich griff das Laken mit der rechten Hand und zog es mir vom Oberkörper bis kurz über die Scham. Meine Hand verkrampfte sich regelrecht in dem Laken, vor Anspannung, was als nächstes passieren würde. Nach einigen Sekunden der Ruhe kam Sie sofort über mich. Sie wollte mich aussaugen. Sie brauchte mich und ich hasste Sie. Sie setzte sich auf mich, bewegte sich ein paarmal auf, ab hin und her und als Sie sich am Ziel Ihrer Gier glaubte, wurde es plötzlich ganz leise. Sie verharrte in Ihrer Stellung, ich hielt mich still. Die nächste Sekunde würde die Entscheidung bringen, Sie oder ich. Blitzschnell zog ich das Laken über uns, so dass Sie mir nicht mehr entwischen konnte und mit Schwung rollte ich mich auf die Seite. Mit dieser Aktion hatte Sie nicht gerechnet, die restliche Nacht verlief ruhig und erholsam. Als ich am nächsten Morgen aufstand und das Laken von mir zog pappte dieses Mistvieh von Mücke immer noch in einem Blutfleck auf meiner Wampe. Blut, das nicht meines war.

Seitenwind Woche 3

Ich sehe den Untergang der Menschheit ?

Ich kann es mir leisten, meinen Tag so zu beginnen, wie ich es möchte. Genauso kann ich selber bestimmen, wann ich anfange zu arbeiten.
Sehr lange schon habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, morgens spazieren zu gehen. Durch unser kleines, meist leergefegtes Dorf. Alle arbeiten in der Stadt. Keiner hier im Dorf, so wie ich. Wenn ich im Wald ankomme, sehe ich Frieden. Im Frühling zwitschern die Vögel in den immer grüner werdenden Bäumen. Im Sommer kehr dort mehr und mehr Ruhe ein. In den wärmenden Sonnenstrahlen gedeiht die Natur und ich suche mir einen Platz, wo ich zu mir finden kann. Ruhe tanken, nachdenken und den Frieden genießen. Wenn ich mich auf eine Lichtung lege und durch die Zweige in den Himmel sehe, kommt die Ruhe. Kleine Samengespinste fliegen vorbei, Vögel klettern in den Ästen herum. Manchmal kann man noch Vogeleltern ihre Jungen füttern sehen. Kleine Wolken schweben über den Himmel. Manchmal sehe ich auch ein Flugzeug, das mein Fernweh weckt. Je öfter ich dieses Jahr in den Himmel sehe, um so mehr Flugzeuge sehe ich. Doch neben dem Fernweh bildet sich auch ein Kloß in meinem Magen. Es fällt mir auf, dass die Kondensstreifen nicht wie früher verschwinden. Je länger ich im Gras liege umso mehr zieht sich aus Ihnen ein milchiger Schleier über den Himmel. Chemtrails sollen das sein. Sagen Menschen, die als Verschwörungstheoretiker im Fernsehen verurteilt werden. Ich schüttele den Kopf. Warum sollte man einen Haufen Geld aufwenden und irgendetwas in der Luft versprühen? Die Menschen haben genug Probleme. Hunger, Kriege und den Klimawandel. Sagt man. Doch ich habe auch einen Bericht gesehen, früher als man noch nicht das Wort »Verschwörung« in den Mund genommen hat, da war alles ganz anders dargestellt. In der mittelalterlichen Warmphase hat man einen Haufen Kirchen gebaut, die man heute nur schwer heizen kann. Grönland, was Grünland bedeutet, hat durch höhere Temperaturen und auch einen höheren CO2 Gehalt in der Luft, geblüht und diente den Wikingern als Kornkammer und Weideland. Nur so konnten sie vor Columbus Amerika entdecken. Wem soll ich glauben. Wie soll ich mein Gesehenes mit all dem in Verbindung bringen?
Heute morgen gehe ich nicht spazieren. Ich muss zum Arzt in die Stadt.
Auf der Fahrt mit dem Bus, sehe ich auch sehr viel. Wie sollte es auch anders sein. Schon lange habe ich mir vorgenommen, das »Jetzt« genau zu betrachten, zu beobachten und aus dem Gesehenen zu lernen.
An der Bushaltestelle sehe ich Gleichgültigkeit, die sich bei Ankunft des Busses hinter Masken versteckt. Während der Fahrt sehe ich Schweigen, dass ich so von früher nicht kenne. Viele tippen auf ihren Handys oder sehen nur zu Boden. Ich muss im Gang stehen und lasse meinen Blick schweifen. Kein Augenkontakt kommt zustande. Ich sehe kein verlegenes Lächeln wenn, sich die Blicke streifen, Wie auch? Mit den Masken im Gesicht. Ich sehe Menschen, die sich immer fremder werden.
Auf dem Busbahnhof sehe ich Eile. Menschen hasten vorbei und reißen sich befreiend die Maske vom Gesicht. Ich sehe den kurzen Anflug von Freiheit, nur ein paar freie Atemzüge in der staubigen Stadtluft tun zu dürfen.
Beim Arzt sehe ich Angst in den Augen und verschüchterte Menschen, die akribisch Abstand voneinander halten. Keiner spricht oder wagt ein Räuspern in dem zugigen Wartezimmer. Alle Fenster sind auf kipp, doch glücklicherweise ist es warm draußen. Kommt die Sprechstundenhilfe herein, sehe ich Unverständnis. Schon so früh bekommt sie hinter der FFP2 Maske nur ein unverständliches Nuscheln heraus. Keiner versteht, ob er dran ist.
Mittags bin ich zurück zu Hause. Ich spüre die Freiheit und sehe mich um. Keiner ist hier oder zeigt sich vor der Tür an diesem wunderschönen Herbsttag.
Habe die Menschen mit sich abgeschlossen? In diesen paar Monaten?
Wagen sie es nicht einfach hier zu bleiben, frei? Immerhin ist es jetzt viel leichter, sich einfach krank zu melden und die Freiheit zu genießen.
Ich glaube, ich habe heute den schleichenden Untergang der Menschheit gesehen…

Beitrag

Auf der Parkbank saß ein junger Mann, etwa Mitte Zwanzig und wartete offensichtlich auf jemanden, denn er blickte abwechselnd in alle Richtungen. Ein hellgrauer Anzug, nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert aus Kaschmirwolle, umhüllte seine schmächtige Gestalt. Dunkelblonde Locken reichten bis zu seinen Schultern und umrahmten ein attraktives Gesicht. Vom Kopf bis zu den cognacfarbenen Gucci Sneakern, die von den rotbraunen Blättern farblich kaum zu unterscheiden waren, die um ihn herum von den Bäumen wirbelten, strahlte er aus, dass er zu einer Elite gehörte, die sich um finanzielle Mittel keine Gedanken machen musste. Ein kurzer Blick auf seine Audemars Piguet ließ ihn aufspringen und mit schnellen Schritten hin und her gehen. Mit einer fahrigen Geste strich er die blonden Locken aus dem Gesicht, die der Wind ihm in die Stirn geweht hatte und erstarrte, als er die dunkle Gestalt zwischen den Bäumen auf sich zukommen sah.

Monika B. Friseurin.

Dann schnitt Frau Monika B. aus dem kleinen Dorf neben der großen Stadt, den Kerls aus dem Dorf die Haare. Fesch und rund und Stufen. Mancher wurde stracks poliert. Der Nächste ließ sich waschen und einlegen. Föhnfrisur. Nur Messer. Nur Maschine. Männer waren ihr Metier.
Die Angestellten im Salon setzten den Damen die Hauben auf. Verabreichten den Frauen die Dröhnung zur Trocknung. Vielleicht noch die Färbung. Und Kaffee. Direkt am Platz serviert. Die Zeitschriften, die gelesen werden wollten. Yellow Press!
Der Schnack war auf Platt und war platt. Genau das zog die Kunden in das Schneidezimmer. Man erfuhr Neues oder Altes, was mit wendiger Kunst als neu verkauft wurde. Die Intensität der Gespräche wirkte sich meistens auf das Trinkgeld am Ende der Prozedur aus.
Frau Monika B. war gewissenhaft. Sie hatte bereits zwei Männer unter die Zwiebeln gebracht. Ohne ihr Verschulden. Zugegeben. Doch eine glückliche Hand hatten die Männer mit Monika B. nicht.
Die erste Frau des zweiten Mannes lag Jahre im Koma. Aus dem Koma erwachen ist ein Wunder. Sagten die Ärzte. Immer ein Wunder. Eigentlich nicht möglich. Nach so langer Zeit. Da wird niemand mehr wach. Er war mit ihrem Tod einverstanden. Nach so langer Zeit. Die Maschinen wurden abgeschaltet. Die Frau durfte sterben. Ein gleichmäßiger Ton nervte. Eingestrichenes A. 440 Hz. Manchmal auch 443. Etwas höher. Ländersache. War so. Sie war nicht alleine. Der Mann war neben ihrem Bett. Der Monitor vergab seinen Ton. Ohne Schwingung.
Monika B. hatte den Mann geheiratet. Oder er sie. Nichts Genaues ist bekannt.
Heide ließ sich die Haare schneiden. Eine aus der Nachbarschaft. War praktisch. Monika B. hatte eine glückliche Hand mit der Schere und dem Apparat. Und den Kämmen.
Die Friseurin gab sich verhüllt. Den Körper eingemummelt. Wie eine Buddhistin. Die Pfunde verschleiert. Sie konnte esoterisch sein.
Die Schleier wehten um den fülligen Körper. Sie blähten sich und wurden geschwungen und geworfen. Dann die ruhige Hand. An den Köpfen.
Trotz der Schweinerei, die sich im Raum darbot, drängelten sich die Menschen. Manche stellten sich auf die Stühle. Die Leiche war besser zu sehen. Die Schere im Hals und das Blut. Monika B. war leer. Ihr Blut floss unter die Stühle und die kleinen Wagen mit den Utensilien einer Haarschneiderin.
Ein Ereignis. Ein Dorf stand im Laden. Die Polizei zeigte sich machtlos. Spuren? Absolut unmöglich.
Es soll einer gesehen worden sein.
Die Handys knipsten. Die Durchsagen verwirrten sich im Raum.
Der soll aus dem Haus gerannt sein. Ein schlanker gut-aussehender. So ein Dandy. Einer wie man ihn gerne hätte.
Viel jünger als Monika B. Ein Glücksgriff. Oder nicht!
Die Gaffer sahen sich um Spiegel und bewunderten ihre Frisuren. Das war die Arbeit von Monika B., die jetzt zwischen den Stühlen lag. Ausgelaufen. Und mit stillen Schleiern. Der nächste Friseur war ein paar Straßen weiter.

Tiefergelegter Blumenfreund

Es ist schon von weitem zu hören, es klingt wie fernes Donnern oder eher wie die Ankündigung auf ein baldiges Gewitter. Doch es ist etwas anderes, denn für ein Gewitter kommt es zu schnell näher.
Mein Blick sucht verzweifelt nach der interessanten Geräuschquelle. Erst schweift mein Blick über den Himmel, dann auf Augenhöhe, bis ich das kriechende Etwas entdecke. Es bewegt sich auf Kniehöhe auf mich zu, na ja eigentlich schleicht es nur, aber das reicht auch schon, denn der Krach ist ohrenbetäubend.
Vorsichtig, dicht an den Boden geduckt, blubbert die Flunder näher heran. Irgendwie erinnert es mich an einen Saugwurm, der den Kontakt zum Boden nur kurz verloren hat, es aber jeden Moment wieder schafft. Doch bei diesem Gefährt, scheint es nicht zu klappen, oder ist es so beabsichtigt? Ich weiß es nicht. Man kann gerade noch die Reifen sehen, auch wenn sie sich fast komplett in den Radkästen versteckt halten.
Jetzt ist das Blubbern direkt da, ich sehe amüsiert hinunter, etwa auf Kniehöhe sitzt zu meinem Erstaunen, sogar ein Kerl hinter dem Steuer. Sitzt er noch auf einem Stuhl oder streift sein Hintern schon die Straße, so schießt es mir gerade durch den Kopf. Er könnte mir die Schuhe zubinden, ohne aus dem Auto aus zu steigen.
Das Schleichen könnte auch einer Katze gleich kommen, doch es ist nicht anmutig, sondern nur lustig.
Eigentlich ist es eine Mischung aus einem schleichenden Lebewesen, dass versucht in Sicherheit zu kriechen, einer verstopften, glucksenden Badewanne und einem Kerl, der im sitzen gerne Gänseblümchen pflückt.

Mein Nachbar

Du stehst schon lange da. Ich kann mich nicht mehr erinnern an die Tage, an denen ich dich nicht da stehen sah. Manchmal beruhigend, manchmal Angst einflößend, immer ein bisschen magisch. Deine Haut ist über die Jahre rissig geworden, trotzdem scheint dein Selbstbewusstsein ungetrübt. Mit Stolz trotz du den Veränderungen deiner Umgebung. Unberührt begegnest du den Menschen, die sich zeitweise in deinem Schatten aufhalten. Sie spüren dein Wohlwollen, du umhüllst sie bereitwillig mit ausgebreiteten Armen. Deine Augen sind überall, aber nicht sichtbar.
Wir haben ein Haus neben dir gebaut. Es war die Sehnsucht nach Verbundenheit und nach der Wahrhaftigkeit des Augenblicks, die uns bewogen haben. Es sollte uns begleiten ein Leben lang und doch hat das alleine nicht gereicht.
Wie oft hast du deine Kleider gewechselt? Ich will die Jahre nicht zählen, aber sie lassen sich auch nicht wegdenken. Du bist groß geworden und trotz all der kleinen und großen Narben bist du schöner als je zuvor. Vielleicht weil du dich tief in der Erde verwurzelt hast. Ja, du bist breit aufgestellt. Deine Wurzeln sind stark und mit den Jahren sichtbar geworden. Wie oft habe ich mich gefragt, warum deine Blüten keine Farbe haben. Sie sind braun, eher unansehnlich und kein bisschen spektakulär. Ist es, weil du dir deiner selbst so sicher bist?
Keine Erwartungen, keine Vorwürfe und immer ein offenes Herz, das ist es, woran du mich erinnert hast. Du bist eine wunderbare Verbindung zwischen Himmel und Erde, eine ewige Inspiration.
Es ist eine Freude, neben dir zu Hause zu sein.

Die Psychologin

Ihr Blick ist immer auf der Suche. Nicht in so einer verwirrten, unfokussierten Art, eher genau im Gegenteil. Immer fokussiert und aufnehmend. Widersprüchlich dazu wirkt im ersten Moment, dass sie ständig von der Gruppe abbricht. Mal geht sie alleine in einen kleinen Laden, mal sucht sie alleine nach einer Toilette oder fixiert sich gedanklich auf Kleinigkeiten. Und dann kommt sie mit dem gleichen Blick zurück, nur eben auf das nächste Ziel gerichtet. Es wirkt daher widersprüchlich, weil sie so eine aufnehmende Art versprüht, als ob sie Details zu einem großen Ganzen verknüpfen möchte. Aber ich glaube, eigentlich ist sie immer auf der Flucht, Flucht vor dem Stress, dem Stress, den ihr ihre Gedanken verursachen, oder die Gesellschaft. Das kann nur sie beantworten.
Ich habe sie nie darauf angesprochen, aber meine Beobachtungen scheinen mir irgendwie logisch. Sogar ihre Kleidung wirkt wie darauf ausgelegt, das Leben so angenehm wie möglich zu machen. Es sind immer sorgfältig ausgewählte Stoffe, weich und anschmiegsam, keine schrillen Farben und definitiv nichts, was gebügelt werden muss und trotzdem sehr gepflegt aussieht. Ich mag gar nicht dran denken, wie kostspielig diese veganen Lederschuhe oder dieser Baumwollmantel gewesen sein mögen, nur um ihrer Haut den Stress, den ihr Job ihrem Kopf beschert, zu ersparen. Aber wie alles, zu dem sie sich entscheidet, macht auch dieser Job einfach Sinn für die Gesellschaft und daher Sinn für sie.

Morgenstimmung

Golden leuchten die Äpfel an den sich biegenden Ästen; trotz des späten Oktobers sind die Blätter grün. Sie schimmern an diesem Morgen, dem letzten des Monats. Greifbar ist die Feuchte, zu erwarten baldige Kälte. Und dennoch ist die Luft mild und voller schwebender Wassertröpfchen.

Das ist eine Zeit, die dämmrig wirkt, mich aber froh stimmt. Diffuses Licht beleuchtet manche Ecken besser, wenn die Schatten fehlen. Es bringt Glanz in die Tiefen, weil alles Weiß da ist, während das Dunkle, Schwarze fehlt. Ein Moment ohne das Extrem, das Äußerste ist ein Grau-Braun. Das finstere Nichts vermisst keiner. Das passt zum Herbst. Ein Mittler zwischen sommerlicher Schönheit und winterlicher Kahlheit, der einen Seite eher zugeneigt, als der anderen, kalten.

Die Vogelrufe sind klar, selbst wenn man das Gefieder der Sänger in den Zweigen nicht sieht. Manchmal senkt sich ein Schatten ins Geäst, ein leises Rascheln ist zu hören und dann geht es hinter den dicken Ästen oder oben im Gipfel weiter. Allenfalls zögerlich, gedämpft, aber voller Hoffnung auf diesen neuen Tag. Wie sollte einem nicht wohl werden in diesem nuancenreichen Oktobernebel, dem der November reichlich egal ist?

Let me take you by the hand…

Von der Bundesstraße aus war nur buntes Herbstlaub zu sehen. Eine schmale Treppe führte den Hang hinauf, auf der linken Seite begrenzt von einem flachen Backsteingebäude, das zu einem leer stehenden Anwesen gehörte. Rrechts lag ein verwilderter Garten, den die Reste eines verfallenden Drahtzaunes von den bewaldeten Nachbargrundstücken trennte. Ein älterer Mann hantierte mit einer Motorsäge. Seine wettergegerbte Glatze blinkte in der Sonne, der kranzförmige Rest seiner Haare und der Bart um Oberlippe und Kinn waren weiß. In seiner Bluejeans klafften Löcher, das rote T-Shirt hatte bessere Tage gesehen.
Ungefähr ein Meter lange Baum- und Aststücke lagen auf einem Haufen, dünne Äste, Blätter und Nadeln auf einem Anderen.
Auf einem Treppenabsatz stand ein Fahrrad, mit einem roten Rucksack auf den Gepäckträger geklemmt. Neben dem Fahrrad lagen ein halb voller Benzinkanister, eine Literflasche Kettenhaftöl und ein Schraubenschlüssel.
Der Mann war auf die verwaiste Säule eines ehemaligen Gartenzaunes geklettert. Er versuchte einen Baum, der neben der Säule, gerade noch innerhalb des Gartens stand, die Motorsäge über seinen Kopf haltend, in etwa vier Metern Höhe abzusägen. Der Grund war offensichtlich. Der Baum, würde auf die Bundesstraße stürzen, würde er wie üblich kurz über dem Boden abgesägt. Der Gipfel aber war kurz und dünn genug, dass man ihn nach innen auf das Grundstück ziehen konnte. Als das abgesägte Stück fiel, verhakte es sich mit dem flachen Backsteingebäude und blieb zwischen Baum und Dach hängen.

Der Mann stieg von der Säule, die Eisen an dem früher die Balken des Gartenzaunes angeschraubt waren als Tritt benutzend. Er stellte die Motorsäge ab und besah sich das Malheur. Dann kletterte er über ein vergittertes Fenster auf das Gebäude und lief das Flachdach entlang auf den verhakten Baumwipfel zu. Das Dach war marode und hatte sich an manchen Stellen schon bedenklich gesenkt. Von der Höhe konnte man in einen Innenhof blicken, der auch an den anderen Seiten von Gebäuden begrenzt wurde. Überall lag Müll, die Gebäude machten einen sehr verwahrlosten Eindruck. Er packte den Gipfel mit beiden Händen und zog ihn das Gebäude entlang nach hinten, so dass er in den Garten fiel, wo er hingehörte.

Gerade wollte der Mann umkehren, als er über sich ein Klopfen hörte. Er blickte nach oben und konnte für einen Augenblick hinter dem Fenster im Dachgiebel des Nachbarhauses ein Gesicht sehen, mit weit aufgerissenen Augen, das mit sich bewegendem Mund lautlos etwas zu rufen schien, das nur „HILFE“ sein konnte. Sekunden später verschwand das Gesicht von der Fensterscheibe.

Der Mann ließ den Blick vom Fenster über den Innenhof schweifen und wieder zurück. Er kletterte über Trümmer und Abfall in den Innenhof und betrat durch eine offene Türe das Haus. Es war dunkel. Mit Hilfe des Handylichtes tastete er sich durch Gerümpel und Müll zur Kellertreppe und begann vorsichtig nach oben zu steigen. Mäuse nahmen überrascht Reißaus. Die Kellertreppe führte in den Flur vor der Haustüre, die verschlossen war. Die Türen der Zimmer standen offen und zeigten unglaubliche Verwahrlosung. Er fand die Treppe nach oben und arbeitete sich über Kisten und Abfall hinweg hinauf ins Obergeschoß. Überall dasselbe Bild der Verwüstung. Es dauerte eine quälend lange Weile, bis er hinter einer Türe den Aufgang zum Dachboden fand. Eimer standen auf der Treppe, voll mit Regenwasser, das durch die Löcher im Dach eingedrungen war. Am Ende des Spitzbodens angekommen, stand er vor einer Tür. Dahinter musste das Zimmer liegen, in dem er das Gesicht am Fenster gesehen hatte. Die Türe ließ sich problemlos öffnen. An der Innenseite war die Klinke abgebrochen. Ein gezackter Alustummel ragte aus dem Schloss. Sein Blick fiel auf ein altes Eisenbett. Die Matratze hatte Löcher und die speckige Decke hing halb auf den verdreckten Fußboden. In der Ecke stand ein Blechkübel, der halb voll trübem Wasser war. Der Geruch legte nahe, dass er als Toilette gedient hatte. Leere Weinflaschen lagen auf dem Boden und einige leere Tüten des lokalen Bäckers. Ein leises Stöhnen rief den Mann zur Rückseite des Bettes, das ca. einen Meter vom Fenster entfernt stand. Zwischen Bett und Wand lag ein Bündel Lumpen auf dem Boden, aus dem ein Kopf ragte. Das Kopftuch war verrutscht und zeigte weiße Haarsträhnen. Die Augen waren geschlossen. Der Mann nahm die Decke vom Bett und schob sie unter den Kopf der alten Frau. Eine Träne kullerte unter ihren Lidern hervor und spülte eine weiße Spur durch den Dreck auf ihrer Haut. Ein Lächeln huschte über ihren Mund, den Blick auf einen schwarzen Zahnstummel freigebend. Dann war sie wieder eingeschlafen.

Der Mann schaltete die Handylampe aus und tippte die 112 in die Tastatur.

KALLE BLOMQUIST

Ein Hüne mit stierem Blick aus dunklen Augen, die unter buschigen Brauen in tiefen Höhlen sitzen, und bartstoppelübersätem Gesicht betritt die Nordsee-Filiale in Braun­schweig. Der im schummrigen Licht feucht glänzende Schädel ist kahlrasiert. Breite Schultern und kräftige Hände, groß wie Schaufeln, die bei jedem Schritt unkontrolliert am Körper pendeln, mit plumpen, kurzen Fingern. Seinen massigen Leib umhüllt eine dicke Jacke, die ihre beste Zeit lange hinter sich hat. Das gestreifte Hemd hängt an einer Seite aus der derben, abgewetzten, Leinenhose. Er blickt mit ruckartigen Kopfbewegungen suchend über die Köpfe der an den Tischen sitzenden und nach Essen anstehenden Menschen hin­weg. Sein massiger Körper setzt sich einigen Wimpernschlägen in Bewegung und drückt sich durch die Menge, seine Arme schieben den Weg frei. Ich mache mich hinter einem Chinagrasbündel klein und ziehe meinen Kopf zwischen die Schultern. Möge der Kelch bitte an mir vorbeigehen.

Er hat mich entdeckt.
Zuerst springt mir das angebissene Matjesbrötchen aus der Hand und zerlegt sich in seine Einzelteile: den Rest des Herings, das Salatblatt, die Zwiebelringe und die Semmelhälften mit meinem Beißabdruck. Dann schießt mir der Schmerz aus der Schulter in den Nacken und den Oberkörper. Kurz darauf platzt mir beinahe das Trommelfell bei dem Gebrüll in mein noch mittäglich dösendes Ohr.

Kalle Blomkvist, er heißt wirklich so, mein rustikaler Kumpel aus der Grundschule und dem nachfolgenden, gescheiterten Leben überfällt mich bei meinem mittäglichen Frühstück und beginnt, mir den Tag zu versauen. Er quetscht seine massige, nach beißendem Schweiß, schalem Bier und kalter Kotze stinkende Körperfülle an den Tisch und fragt mich neugierig aus nach dem »Wie geht’s«, dem »Woher« und dem »Wohin«. Grinsend verschränkt er seine schmutzstarrenden, tätowierten Arme vor der Brust.

Ungewohnt schweigsam hört er sich das Ende des Schlagwortverzeichnisses der letzten zwölf Jahre meines Lebens an. Dann nimmt er die Arme von der Brust und haut sie breit auf den Tisch, zieht seine Beine unter den Sitz, beugt sich vor, sieht mir in die Augen und schenkt mir, bemerkenswert ruhig und bedächtig zwischen Zahnfäule und Knoblauchgeruch ausgehaucht, seinen wohlgemeinten Ratschlag für den Rest meines Leben: »Maannn«, er dehnt es gefühlte Ewigkeiten, »du muss’ selba wissn, wat für dir richtich is, ey. Un jetz gehn wa ein’n saufen, wah. Du zahlst, ey!«
Unbeholfen erhebt er sich, reißt dabei den Tisch aus seiner Bodenverankerung und mich, am Kragen packend, aus dem Sitz und schleppt mich grölend zur Tür hinaus. Meine zaghaft eingeworfenen Proteste erreichen nicht einmal sein Ohr, geschweige denn sein Hirn.

Die Frau im roten Wollmantel

Die Frau schlug ihren roten Wollmantel enger um sich, während sie der Marktfrau freundlich zulächelte. Ein eisiger Wind wehte zwischen den Ständen, wirbelte ein paar einsame braune Blätter auf und kroch von unten unter die Mäntel. Die Frau mit den müden Augen klappte den Mantelkragen des Wollmantels höher und strich sich die braunen Locken hinter die Ohren, im Versuch, dem Wind nicht vollends die Kontrolle über ihre Frisur zu überlassen. Verärgert zog der Kunde neben ihr seine Mütze tiefer ins Gesicht und murmelte etwas, das sich nach „Vermaledeites Novemberwetter“ anhörte. Die wohlbeleibte Frau hinter dem Stand kniff ihre Augen ein wenig zusammen und erwiderte etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte. Einen Moment blieb ihr Blick an den ausgefransten Rändern des Mantels hängen, dann konzentrierte sie sich darauf, das gewünschte Gemüse abzuzählen und in eine große Papiertüte gleiten zu lassen. „Darfs sonst noch was sein?“ Sie bemühte sich nicht einmal, freundlich zu sein. Die Frau im roten Wollmantel nahm es ihr nicht übel. Es war kalt geworden und der Markt war beinahe vorüber. Es war bestimmt ein langer, anstrengender Tag für die Marktfrau gewesen und sie mochte sich nicht vorstellen, wie deren Füße nach dem stundenlangen Stehen schmerzten. Sie lächelte scheu und schüttelte den Kopf. „Nein, danke, das wäre alles.“ Sie zückte einen Geldschein, winkte ab, als die Marktfrau ihr das Wechselgeld geben wollte und nahm die Tüte mit dem Gemüse in Empfang.

Ihr Blick ging hoch zu den tiefhängenden, fast bedrohlich blau wirkenden Wolken, während sie die Tüte in ihren ausgebeulten Korb, der bereits an einigen Stellen so abgeschabt war, dass sich Löcher gebildet hatten, legte und sich den grauen, knittrigen Baumwollschal hochzog, sodass ihr Hals geschützter war. Erneut zog sie sich unwillkürlich den abgenutzten roten Wollmantel um sich. Er war offensichtlich mehr als eine Nummer zu groß für die schlanke Figur und sie schien mit ihren schmalen Schultern in ihm zu versinken. Mit einem verlegenen Lächeln drängte sie sich zwischen den immer noch gut besuchten Ständen des Marktes hindurch. Kaum merklich zog sie ihr linkes Bein nach, doch die meisten Leute schenkten ihr ohnehin keinen zweiten Blick. Mit eingezogenem Kopf huschte die Frau durch das Gedränge und atmete auf, als sie endlich an der Straße angekommen war. Ihr Blick fiel auf das gegenüberliegende Geschäft und sie erstarrte einen Moment. Das schüchterne Lächeln, dass sie den wildfremden Leuten geschenkt hatte, war verschwunden. Es war nicht weit, bis zu ihrer Wohnung. Sie musste nur links abbiegen, über die Ampel und eine Seitenstraße weiter. Doch als würde sie etwas festhalten, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das warme Braun ihrer Augen hatte sich wie der Himmel verdunkelt. Sie trat einen Schritt vor, zögerte. Ihr Blick war unverwandt auf die großen Fensterscheiben auf der anderen Straßenseite gerichtet. Plötzlich gab es kein Halten mehr. Als hätten ihre Beine einen eigenen Willen, bewegten sich diese mechanisch, bis sie unvermittelt vor dem Fenster stand. Unwillkürlich griff die Frau mit ihrer freien, rechten Hand nach der Knopfleiste ihres Mantels. Einen Moment krallten sich ihre Finger in den groben Stoff, dann strich sie gedankenverloren darüber, sodass er sich wieder ihrem dünnen Körper anschmiegte. Starr hing ihr Blick auf dem, was im Schaufenster dargeboten wurde. Durch das an den Rändern bereits mit zu viel weißer Farbe eingesprühte Glas sah sie Weihnachtsmänner und Engelsfiguren auf dem leicht angestaubten grünen Stoff stehen. Ein paar Holzspielzeuge standen verteilt zwischen den Figuren, vor ihnen ein weißes Schildchen mit wenigen schwarzen Zahlen. Im Hintergrund, schon eher im Laden als im Schaufenster selbst, konnte man neue und ausgebesserte Kleidung sehen, die an einem Ständer drapiert waren. Der Blick der Frau im roten Wollmantel blieb jedoch auf einer altmodischen Wiege hängen, die auf einem kleinen Podest in der Mitte aufgebaut worden war. Mit verzweifeltem Ausdruck in ihrem Augen musterte die Frau das aus Weidenzweigen geflochtene Babybett. Über dem Drahtgestell war ein Himmel aus einer rosafarben und babyblau gemusterten Decke gezogen, von deren Mitte ein kleines Mobile herabhing. Wie automatisch hob sich ihre rechte Hand, als wolle sie nach der Wiege greifen, legten sich ihre Finger an das kalte Glas. Tränen stiegen ihr in die Augen. Minutenlang stand sie regungslos an der Scheibe, bis ein vorwitziger, dicker Tropfen, der vom Hausdach in ihren Nacken fiel, sie darauf aufmerksam machte, dass es begonnen hatte, zu regnen. Einen letzten Blick warf sie auf das Körbchen, vermied es, zu dem kleinen weißen Schild mit den vielen schwarzen Zahlen zu sehen. Sie schniefte leise, als sie sich mit gesenktem Kopf abwandte.

Ihre Füße fanden ihren Weg wie von selbst, als sie den Kragen ihres roten Wollmantels enger um sich zog und versuchte, das pochende Gefühl an ihrem Bauch zu ignorieren. Wenige Minuten später stolperte sie durch ihre Wohnungstür, konnte sich kaum daran erinnern, wie sie die vielen Stockwerke überwunden hatte. Hastig schälte sie sich aus dem roten Wollmantel, stellte ihren Einkaufskorb in der Küche ab und wusch sich die Hände. Stumm rollten die Tränen über ihre Wange, als wollten sie niemals versiegen. Halb blind griff sie nach einer weißen Tube, hob ihren Pullover an und schmierte die lange Narbe im unteren Bauchbereich ein. Der Juckreiz verschwand und hinterließ Leere.

Einige Wohnungen über ihr stellte jemand seine Stereoanlage auf Anschlag und dumpf hallten schnelle Gitarren und ein unruhiger Bass bis zu ihr. Ausgelaugt stand sie in der Tür zu dem einzigen Wohnraum. Müde ließ sie sich auf den Sessel fallen und griff nach dem viereckigen, schwarzweißen Foto, das auf dem als Couchtisch fungierenden Kartons lag. Einen Moment starte sie auf den weißen Fleck in der Mitte des Fotos, dann warf sie dieses mit einem leisen Aufschluchzen auf den provisorischen Tisch. Es rutschte noch einige Zentimeter weiter und blieb vor einem Stapel Papiere liegen. „Unbedingt Zurückrufen“ hatte sie sich auf einem gelben Post-it notiert und diesen auf eine Mappe geklebt. Der kleine Klebezettel verdeckte den Firmennamen, nur der Slogan „Wir versichern Ihren Unfall besser“, war zu lesen. Ihr Blick huschte zu dem Telefon, das neben den Unterlagen lag. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitzplatz, ihre Hand zuckte zu dem schnurlosen Gerät, dann fiel ihr ein, dass am Sonntag mit Sicherheit niemand erreichbar war. Beinahe erleichtert zog sie ihre Beine auf den Sessel, zog die Decke, auf die sie sich gesetzt hatte, unter sich hervor und wickelte sich darin ein. Erschöpft ließ sie ihren Kopf gegen die Lehne sinken. Morgen war ein neuer Tag, vielleicht sogar ein besserer.

Über den Schatten

Sie will nicht hier sein.
Vornübergebeugt sitzt sie, die Jacke auf den Knien, so als wollte sie jeden Moment aufspringen und flüchten. Die versteinerte Miene wird nur hin und wieder von einem Augenrollen zu ihrer Sitznachbarin unterbrochen. Während alle anderen versuchen, sich auf die Aufgabe einzulassen, wandert ihr Blick nach draußen. Hauptsache, sie weicht unseren aus. Sie klammert sich an jede Ablenkung vor dem Fenster. Wenn jemand sie etwas fragt, sind ihre Worte abgehackt. Fliegen über ihre Zunge wie Gewehrschüsse. Vielleicht geht die Zeit schneller vorbei, wenn sie jegliche Ansprache rasch hinter sich bringt. Ihre Jacke hängt sie schließlich über ihre Stuhllehne. Vergräbt sich stattdessen mit verschränkten Armen in ihrem senfgelben Cardigan.
Ihre Spannung hängt wie eine Gewitterwolke über der Gruppe. Und doch blitzt immer wieder die Sonne hindurch. Fragen sind von ihrer Seite nicht nur kritisch, sondern auch reflektiert. An wenigen Stellen lässt sie sich sogar zu einem kurzen Lachen herab.
Dann die Worte einer Teilnehmerin: „Ich fühle mich in dieser Gruppe nicht sicher.“
Plötzlich sind ihre blauen Augen wach. Obwohl immer noch nach innen gerichtet, wird die Veränderung nach außen sichtbar. Millimeter um Millimeter werden ihre Züge weicher. Bis sie schließlich aufmerksam in die Runde blickt. Sie atmet tief durch. Und springt über ihren Schatten.

Gedankenverloren schaue ich auf meine Hand, die sich wie versteinert an mein Glas klammert. Ein kühler, feuchter Tropfen Kondenswasser bahnt sich langsam den Weg an meiner Handinnenfläche hinunter. Ein leichtes Kitzeln lässt mich spüren, wie sich der Tropfen seinen Weg über meine Haut bahnt. Ich verfolge den Tropfen so lange, bis er schliesslich von meinem Handgelenk auf die Theke tropft. Da schweift mein Blick zur Theke. Sanft fahre ich mit meiner Hand über das dunkle Holz.

Vielleicht ist es Mahagoni, das ist zumindest das einzige goldbraune, dunkle Holz, welches ich kenne. Ich lasse meine Finger über die vielen Kratzer und Kerben gleiten. Es scheint fast so, als ob jede dieser Kerben eine einzigartige Geschichte zu erzählen hätte. Jede von ihnen ist einzigartig. Andere Form, andere Tiefe. Nur zu gerne würde ich wissen, wie sie alle entstanden sind.

Da spüre ich plötzlich etwas Klebriges unter meinen Fingern. Anscheinend wurde hier schon länger nicht mehr geputzt. Angewidert von diesem klebrigen Gefühl an den Fingern ziehe ich meine Hand zurück und wische sie an meiner schwarzen Hose ab. Da fällt mein Blick wieder auf den Martini, von dem nur noch ein kleiner Schluck übrig ist. Entschlossen, dies zu ändern, trinke ich auch diesen noch. Eigentlich mag ich keine Kneipen, schon gar keine wie diese.

Der modrige Geruch erinnert mich an Erlebnisse aus meiner Kindheit, welche ich lieber aus meinem Gedächtnis verbannen würde. Alles hier wirkt verbraucht. Die Wände sind schon längst nicht mehr weiss, eher ein dreckiges Beige. Sie spiegeln die Gestalten, welche hier so umhertorkeln, perfekt wider. Heruntergekommen, düster und modrig.

Wie aufs Stichwort bewegt sich eine Gestalt vom hinteren, dunklen Teil der Kneipe auf die Theke zu. Je näher diese Gestalt kommt, desto mehr kann ich sie erkennen. Es ist ein junger Mann, wahrscheinlich kaum älter als ich. Seine Haare sind dunkelblond, an den Seiten kürzer, oben länger und leicht zerzaust. Mit einem breiten Lächeln kommt er immer näher. Es strahlt so viel Freude und Wärme aus. Mein Blick bleibt an diesem Lächeln hängen und ich erwische mich dabei wie ich grinsen muss.

Erst jetzt bemerke ich, wie sehr ich ihn auf seinem Weg zur Theke angestarrt habe. Leicht beschämt wende ich meinen Blick ab. Ich kann spüren, wie mein Gesicht kribbelt und warm wird. Wahrscheinlich bin ich gerade rot angelaufen wie eine Tomate. Zum Glück ist es hier drinnen so düster!

Während er wartet, bis ihn der Barkeeper eines Blickes würdigt, beobachte ich ihn ein bisschen weniger auffällig. Das Lächeln auf seinem Gesicht ist zwischenzeitlich verschwunden. Er ist gross, etwa 20 cm grösser als ich und er wirkt sehr trainiert. Das langärmlige, graue Shirt, welches er trägt, ist bis zu den Ellbogen hochgekrempelt. Auf der nackten Haut sieht man kleine Adern hervorstechen. Man sieht durch das enge Shirt jeden Muskel durchschimmern.

Plötzlich wirkt er ohne sein Lächeln in seiner grossen, muskulösen Erscheinung arrogant und kühl, sogar ein wenig aggressiv. Nur wenn ich in seine grünbraunen Augen schaue, sehe ich noch dieses warme, herzliche Lächeln von vorhin. Da widmet ihm der rundliche Mann hinter der Bar endlich seine Aufmerksamkeit.

Die erste Begegnung

Das aus Salzteig gebastelte Türschild verriet, dass hier Stefan, Nicole, Jette und Marvin mit Hund Mops wohnten. Der Eingang des Reihenendhauses war mit merkwürdigen Figuren aus Blumentöpfen gesäumt. Karsten hatte mich gewarnt, aber darauf war ich nicht vorbereitet. Hoffentlich fragt sie mich nicht nach meiner Meinung. „Schön, dass ihr es einrichten konntet,“ strahlte Nicole Karsten an. „Wir möchten doch alle deine neue Freundin kennen lern. Susanne, oder?“ Sie unterzog mich einer Musterung mit hochgezogener Augenbraue. „Danke für die Einladung. Mein Name lautet Kerstin,“ strahlte ich zurück. Nicole war sehr gut gekleidet. Hochwertige Stoffe namhafter Hersteller hatten ihre ausladende Figur gut kaschiert. Die blond gesträhnte Kurzhaarfrisur war am Hinterkopf zu einer Art Blumenkohl toupiert und saß wie einbetoniert. Es wirkte, als käme sie direkt von einem Frisör, der seine Blütezeit in den 90ern gehabt hatte.

„Karsten, du kennst dich ja hier aus. Geh doch schon mal hier lang direkt in den Garten zu den anderen Männern. Wir Frauen haben es uns im Wohnzimmer gemütlich gemacht. Dort können wir ungestört über Themen quatschen, die die Jungs sowieso nicht interessieren.“ Sie zwinkerte Karsten zu und kicherte. Aha, dachte ich, westfälische Runde. Karsten lächelte mich achselzuckend an und verschwand hinter der akkuraten Buchsbaumhecke, gefolgt von dem kläffenden Hund, der sich tatsächlich als Mops entpuppte.

Ich folgte Nicole durch den weiß gefliesten Flur ins das weiß geflieste Wohnzimmer mit weiß gefliestem integriertem Essbereich. „Wow,“ entfuhr es mir. „Sind diese Fliesen nicht wahnsinnig empfindlich gegen Schmutz?“ „Ach was. Ich wisch hier einfach jeden Tag durch. Geht ganz fix!“ Auf der psychedelisch gemusterten Wohnzimmergarnitur saßen vier Frauen, die alle den gleichen Frisör zu haben schienen. Das Gespräch verstummte. „Hi, ich bin Kerstin, nicht Susanne, Karstens Neue. Ihr könnt ruhig weiterreden. Ich komme zwar aus Niedersachsen aber verstehe und spreche westfälisch sehr gut.“ Man lachte gezwungen. Ein Himmelreich für ein Bier dachte ich, als mir Nicole einen klebrigen Lillet in die Hand drückte.

Im Laufe des nachmittags erfuhr ich, dass Nicole VHS-Kurse im Bastelbereich anbot. Ob das nicht auch was für mich wäre? Außerdem bekleidete sie das Amt der Elternvertretung an der hiesigen Grundschule und war amtierende Schützenkönigin des Dorfes. Ihr Ehemann (die Betonung lag immer auf Ehemann, sobald sie von ihrem Stefan sprach) bekleidete das Amt des Ortsvorstehers und kümmerte sich um die Belange der Einwohner. Auf diese Weise war Nicole bestens vernetzt und kannte pikante Details, die sie unter der Prämisse der Verschwiegenheit (von mir habt ihr’s nicht!) gerne mal in Gespräche einfließen ließ.

Sie wird mir nie verzeihen, dass ich sie später einmal früh morgens auf dem Parkplatz des Lidls ungekämmt im ausgeleierten Jogger und Adiletten angetroffen habe. Nicole hatte am offenen Kofferraum gestanden, die Plastikfolie von einer Packung Frikadellen aufgerissen und herzhaft hineingebissen.

Im Restaurant

Wir hatten es beim Spaziergang durch die Innenstadt entdeckt, das kleine italienische Restaurant. Es lag in einer schmalen Seitengasse und lud uns durch seine Beleuchtung ein. Gerade noch einen Tisch für zwei gab es im hinteren Bereich, was für ein Glück, dachten wir. Der Kellner war freundlich und hatte einen sympathischen Humor. Wir bestellten nach seinen Empfehlungen, er schenkte den Wein ein und wir prosteten uns zu. Nun erst sah ich mich ein wenig genauer um. Mir drängte sich der Gedanke auf, dass es scheinbar italienischen Restaurants vorbehalten war, in verwinkelten kleinen Räumen eine Gemütlichkeit zu erzeugen, die andere Lokale vermissen ließen. Wir saßen Tisch an Tisch und doch war jeder für sich. An den Wänden hingen bunte Bilder, alle ein positives Gefühl vermittelnd. Mir fiel ein Mann am gegenüberliegenden Tisch auf, der eben sein Getränk nochmals orderte. Sein Glas war so leer wie der Platz vor ihm. Er schien zu warten, vielmehr noch hatte ich das Gefühl, er wäre versetzt worden. Er fühlte sich sichtlich unwohl und lehnte sich mit verschränkten Armen in seinem Sessel zurück. Spontan tat er mir leid. Er starrte Richtung Eingang und mir war, als würde ihm das Warten körperlich anstrengen.Verstohlen musterte ich ihn, schätzte ihn so in den Vierzigern. Nicht groß, soweit ich das im Sitzen beurteilen konnte, auch nicht sportlich, eher rundlich, und auch nicht sonderlich gepflegt. Die dunklen Augen blickten durch eine aus der Mode gekommenen Brille aus Metall. Der Anzug war ebenso altmodisch wie zu groß. Ich war gespannt, wen er erwartete und ob dieser Jemand auch kommen würde. Sein Getränk wurde gebracht, an unserem Tisch wurde die Vorspeise serviert und wir konzentrierten uns auf das köstliche Essen, begleitet von herrlich weichem Brot. Plötzlich kam Leben in ihn, er stand abrupt auf, ein Lächeln erhellte seine Gesichtszüge und er begrüßte einen Mann, der sich für seine Verspätung vielmals entschuldigte. Großzügig winkte er ab, er wäre ja viel zu früh da gewesen. Ich bewunderte ihn dafür, hatte ich doch eben einen gegenteiligen Eindruck gehabt, doch das ließ er seinen Gesprächspartner nicht merken. Nachdem sich beide gesetzt hatten, konnte ich den neuen Gast genauer betrachten. Er war so gänzlich anders, als der Wartende. Er war deutlich älter, aber auch deutlich moderner. Ein selbstsicherer Mann in den wohl eher späten Fünfzigern mit einem mittelbraun gefärbten Bob. Alles an ihm sah weich aus, die Gesichtszüge, der leichte Bauchansatz, die manikürten Hände. Auf alle Fälle war er der Mann der Stunde, er orderte den Wein, das Essen und er führte das Gespräch. Der geduldig Wartende hing nun an seinen Lippen, als gälte es, nichts zu versäumen, was diese sprachen und er machte einen regelrecht verklärten Eindruck. Das Essen wurde serviert und während der Angehimmelte speiste, aß der Andere, selbst in dieser alltäglichen Tätigkeit unterschieden sie sich gänzlich. Was für eine seltsame Verbindung, dachte ich noch auf dem Weg nach Hause.

Die Handtasche an die Jacke gepresst, den Schal um den Hals geschnürt, die Hände auf dem Rücken verschränkt: Der Zug würde bald kommen. Der Wind brachte den Winter, und der Winter brachte Mandeln, Mandarinen und Erkältungen, aber der Zug brachte die Kinder.

Zuhause im Topf zog die Linsensuppe, der Schokoladenpudding war kaltgestellt, es war genug zu essen und zu trinken für alle da.

Sie trat von einem Fuß auf den anderen. Vielleicht sollte sie selbst keinen Pudding essen, wie es der Doktor empfohlen hatte. Vielleicht sollte sie für alle Zeit damit aufhören, damit sie noch so viele Jahre wie möglich für die Kinder da sein konnte.

Der Wind zerrte an Jacke und Hose, der Bahnhofsarbeiter grüßte sie. Hinter der Brille erfassten ihre Augen den Zug; drei, vier Waggons auf einmal. Der Optiker musste die Schrauben bald nachziehen. Für die Kinder würde sie auch Schals und Socken und warme Westen stricken, es war genug Stoff und Wolle für alle da.

Cafés sind laut. Viele Menschen, mit vielen Meinungen, die viel reden.
Manche Gäste aber kommen alleine und reden beinahe kein Wort. Dennoch könnte jeder im Raum diese Worte wiederholen, als würde die Welt für diese Menschen einen Moment die Luft anhalten, damit sie nicht lauter reden müssen, als es ihnen beliebt.
Dort drüben, einige Tische weiter, sitzt genau so jemand. Ein älterer Herr, vom Leben gebeugt, mit müden Augen, die interessiert, wenn auch etwas verwirrt, die anderen Tische und die Menschen, die vorbei spazieren, beobachten. Er hatte vorhin mit kratziger Stimme einen Espresso und eine kleine Suppe vom Tagesmenü bestellt. Ich konnte ihn bis hierher hören, obwohl seine Bestellung kaum mehr als ein Flüstern war. Die Bedienung hatte ihn mit Namen angesprochen, er muss wohl ein Stammgast hier sein. Immer wieder nimmt er einen Löffel voll Suppe, einen Schluck Espresso und widmet sich dann wieder mit leichtem Lächeln der Szenerie vor ihm. Er wirkt nicht traurig, keineswegs. Zurückgelehnt sitzt er entspannt in seinem Stuhl und wirkt zutiefst zufrieden. Je länger ich ihm Beachtung schenke, desto mehr fällt mir an ihm auf: Er ist gepflegt, geradezu herausgeputzt. Mit einer sauberen Jeans und einem weißem Hemd hebt er sich stark von den anderen Gästen hier ab. Seine lichten, weißen Haare sind zurückgekämmt, sodass keine einzige Strähne ihm ins Gesicht fällt. Falten hat er nur wenige und nur das regelmäßige Zittern seiner Hände lassen mich ein höheres Alter vermuten.
Keine halbe Stunde später bezahlt er seine Bestellung und erhebt sich schwerfällig. Die nette Bedienung hilft ihm seinen Mantel wieder anzuziehen. Er bedankt sich leise, das Wort hallt in meinen Ohren wieder. Dann verlässt er das Café und hinkt, schwer auf seinen Stock gestützt, an den Fenstern vorbei hinaus aus meinem Blickfeld.