Die Frau im roten Wollmantel
Die Frau schlug ihren roten Wollmantel enger um sich, während sie der Marktfrau freundlich zulächelte. Ein eisiger Wind wehte zwischen den Ständen, wirbelte ein paar einsame braune Blätter auf und kroch von unten unter die Mäntel. Die Frau mit den müden Augen klappte den Mantelkragen des Wollmantels höher und strich sich die braunen Locken hinter die Ohren, im Versuch, dem Wind nicht vollends die Kontrolle über ihre Frisur zu überlassen. Verärgert zog der Kunde neben ihr seine Mütze tiefer ins Gesicht und murmelte etwas, das sich nach „Vermaledeites Novemberwetter“ anhörte. Die wohlbeleibte Frau hinter dem Stand kniff ihre Augen ein wenig zusammen und erwiderte etwas, das vermutlich ein Lächeln sein sollte. Einen Moment blieb ihr Blick an den ausgefransten Rändern des Mantels hängen, dann konzentrierte sie sich darauf, das gewünschte Gemüse abzuzählen und in eine große Papiertüte gleiten zu lassen. „Darfs sonst noch was sein?“ Sie bemühte sich nicht einmal, freundlich zu sein. Die Frau im roten Wollmantel nahm es ihr nicht übel. Es war kalt geworden und der Markt war beinahe vorüber. Es war bestimmt ein langer, anstrengender Tag für die Marktfrau gewesen und sie mochte sich nicht vorstellen, wie deren Füße nach dem stundenlangen Stehen schmerzten. Sie lächelte scheu und schüttelte den Kopf. „Nein, danke, das wäre alles.“ Sie zückte einen Geldschein, winkte ab, als die Marktfrau ihr das Wechselgeld geben wollte und nahm die Tüte mit dem Gemüse in Empfang.
Ihr Blick ging hoch zu den tiefhängenden, fast bedrohlich blau wirkenden Wolken, während sie die Tüte in ihren ausgebeulten Korb, der bereits an einigen Stellen so abgeschabt war, dass sich Löcher gebildet hatten, legte und sich den grauen, knittrigen Baumwollschal hochzog, sodass ihr Hals geschützter war. Erneut zog sie sich unwillkürlich den abgenutzten roten Wollmantel um sich. Er war offensichtlich mehr als eine Nummer zu groß für die schlanke Figur und sie schien mit ihren schmalen Schultern in ihm zu versinken. Mit einem verlegenen Lächeln drängte sie sich zwischen den immer noch gut besuchten Ständen des Marktes hindurch. Kaum merklich zog sie ihr linkes Bein nach, doch die meisten Leute schenkten ihr ohnehin keinen zweiten Blick. Mit eingezogenem Kopf huschte die Frau durch das Gedränge und atmete auf, als sie endlich an der Straße angekommen war. Ihr Blick fiel auf das gegenüberliegende Geschäft und sie erstarrte einen Moment. Das schüchterne Lächeln, dass sie den wildfremden Leuten geschenkt hatte, war verschwunden. Es war nicht weit, bis zu ihrer Wohnung. Sie musste nur links abbiegen, über die Ampel und eine Seitenstraße weiter. Doch als würde sie etwas festhalten, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das warme Braun ihrer Augen hatte sich wie der Himmel verdunkelt. Sie trat einen Schritt vor, zögerte. Ihr Blick war unverwandt auf die großen Fensterscheiben auf der anderen Straßenseite gerichtet. Plötzlich gab es kein Halten mehr. Als hätten ihre Beine einen eigenen Willen, bewegten sich diese mechanisch, bis sie unvermittelt vor dem Fenster stand. Unwillkürlich griff die Frau mit ihrer freien, rechten Hand nach der Knopfleiste ihres Mantels. Einen Moment krallten sich ihre Finger in den groben Stoff, dann strich sie gedankenverloren darüber, sodass er sich wieder ihrem dünnen Körper anschmiegte. Starr hing ihr Blick auf dem, was im Schaufenster dargeboten wurde. Durch das an den Rändern bereits mit zu viel weißer Farbe eingesprühte Glas sah sie Weihnachtsmänner und Engelsfiguren auf dem leicht angestaubten grünen Stoff stehen. Ein paar Holzspielzeuge standen verteilt zwischen den Figuren, vor ihnen ein weißes Schildchen mit wenigen schwarzen Zahlen. Im Hintergrund, schon eher im Laden als im Schaufenster selbst, konnte man neue und ausgebesserte Kleidung sehen, die an einem Ständer drapiert waren. Der Blick der Frau im roten Wollmantel blieb jedoch auf einer altmodischen Wiege hängen, die auf einem kleinen Podest in der Mitte aufgebaut worden war. Mit verzweifeltem Ausdruck in ihrem Augen musterte die Frau das aus Weidenzweigen geflochtene Babybett. Über dem Drahtgestell war ein Himmel aus einer rosafarben und babyblau gemusterten Decke gezogen, von deren Mitte ein kleines Mobile herabhing. Wie automatisch hob sich ihre rechte Hand, als wolle sie nach der Wiege greifen, legten sich ihre Finger an das kalte Glas. Tränen stiegen ihr in die Augen. Minutenlang stand sie regungslos an der Scheibe, bis ein vorwitziger, dicker Tropfen, der vom Hausdach in ihren Nacken fiel, sie darauf aufmerksam machte, dass es begonnen hatte, zu regnen. Einen letzten Blick warf sie auf das Körbchen, vermied es, zu dem kleinen weißen Schild mit den vielen schwarzen Zahlen zu sehen. Sie schniefte leise, als sie sich mit gesenktem Kopf abwandte.
Ihre Füße fanden ihren Weg wie von selbst, als sie den Kragen ihres roten Wollmantels enger um sich zog und versuchte, das pochende Gefühl an ihrem Bauch zu ignorieren. Wenige Minuten später stolperte sie durch ihre Wohnungstür, konnte sich kaum daran erinnern, wie sie die vielen Stockwerke überwunden hatte. Hastig schälte sie sich aus dem roten Wollmantel, stellte ihren Einkaufskorb in der Küche ab und wusch sich die Hände. Stumm rollten die Tränen über ihre Wange, als wollten sie niemals versiegen. Halb blind griff sie nach einer weißen Tube, hob ihren Pullover an und schmierte die lange Narbe im unteren Bauchbereich ein. Der Juckreiz verschwand und hinterließ Leere.
Einige Wohnungen über ihr stellte jemand seine Stereoanlage auf Anschlag und dumpf hallten schnelle Gitarren und ein unruhiger Bass bis zu ihr. Ausgelaugt stand sie in der Tür zu dem einzigen Wohnraum. Müde ließ sie sich auf den Sessel fallen und griff nach dem viereckigen, schwarzweißen Foto, das auf dem als Couchtisch fungierenden Kartons lag. Einen Moment starte sie auf den weißen Fleck in der Mitte des Fotos, dann warf sie dieses mit einem leisen Aufschluchzen auf den provisorischen Tisch. Es rutschte noch einige Zentimeter weiter und blieb vor einem Stapel Papiere liegen. „Unbedingt Zurückrufen“ hatte sie sich auf einem gelben Post-it notiert und diesen auf eine Mappe geklebt. Der kleine Klebezettel verdeckte den Firmennamen, nur der Slogan „Wir versichern Ihren Unfall besser“, war zu lesen. Ihr Blick huschte zu dem Telefon, das neben den Unterlagen lag. Unbehaglich rutschte sie auf ihrem Sitzplatz, ihre Hand zuckte zu dem schnurlosen Gerät, dann fiel ihr ein, dass am Sonntag mit Sicherheit niemand erreichbar war. Beinahe erleichtert zog sie ihre Beine auf den Sessel, zog die Decke, auf die sie sich gesetzt hatte, unter sich hervor und wickelte sich darin ein. Erschöpft ließ sie ihren Kopf gegen die Lehne sinken. Morgen war ein neuer Tag, vielleicht sogar ein besserer.