Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Der Haken

»Und dieses Juwel ist wirklich noch zu haben?« Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Wir standen am Vordereingang einer kleinen Villa, die sich wie die Illustration eines Märchenbuches in einen verwilderten Garten schmiegte. Insekten summten, es duftete nach Sommer, nach Natur und auch ein wenig nach Moder.
»So ist es, allerdings gibt es bereits etliche weitere Interessenten«, erklärte der Makler und trat aus dem Sonnenlicht hinaus in den Schatten der gewaltigen Eiche, die beinahe die gesamte Vorderfront in kühles Zwielicht tauchte.
»Wollen wir dann hineingehen?« Er drehte den Schlüssel und ließ beide Flügel der Eingangstür aufschwingen. Absolut lautlos, wie ich verwundert feststellte. »Nach Ihnen, bitte.«

Als erstes bemerkte ich den wundervollen Mosaikboden, mit dem die Eingangshalle gefliest war. Die Motive schienen aus einer mir unbekannten Mythologie zu stammen und wirkten ein wenig martialisch, doch die Farben waren einfach nur traumhaft. Rechts ging es in die Küche, zwar schön geräumig, aber auch hoffnungslos altmodisch. Hier würde man komplett erneuern müssen.
»Strom und fließendes Wasser sind vorhanden, oder?«
»Selbstverständlich!« Der Makler zog pikiert die Nase in die Höhe. »Dem Vorbesitzer ist Komfort und ein gewisser Status sehr wichtig gewesen.«
Das glaubte ich unbesehen, denn es fanden sich überall kleine Kostbarkeiten aus seinem Besitz. Hier eine kunstvoll geschliffene Sherrykaraffe mit Gläsern, dort eine exquisite Miniatur. Und alles war im Kaufpreis inbegriffen.

Linkerhand betrat man den Salon mit Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und von schweren Samtportieren in tiefdunklem Rot eingerahmt wurden. Staubkörnchen tanzten im Licht, dennoch wirkte alles sauber und gepflegt. Ein offener Kamin und Ledermöbel, die eine ehrwürdige Gediegenheit förmlich auszuatmen schienen, begeisterten mich genauso, wie die angrenzende Bibliothek. Es würde ein herrliches Abenteuer werden, den Inhalt all dieser in uraltes Leder gebundenen Folianten zu erkunden.
Das Obergeschoss, das wir über die kleine Freitreppe erreichten, beherbergte eine Handvoll verwinkelter Zimmer und ein prachtvolles Bad. Auch hier waren die Armaturen rettungslos veraltet, aber die Badewanne auf klauenbewehrten Füßen machte das locker wieder wett.
Das gesamte Anwesen strotzte vor Charakter, hatte den Charme eines historischen Landsitzes und auch einen leichten Gruselfaktor. Eine unwiderstehliche Mischung, ich wollte dieses Haus unbedingt haben.

»Sagen Sie, wie kommt es, dass solch ein Objekt so preiswert angeboten wird?« Der Kaufpreis klang nämlich zu schön, um wahr zu sein, und ich witterte bereits einen gewaltigen Haken.
»Oh, das hat mit den Ansprüchen der Nachbarschaft zu tun«, wurde mir erklärt. »Wir legen hier allergrößten Wert auf ein adäquates Umfeld und wollen, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen, keinesfalls mit irgendwelchem Gesocks Tür an Tür leben.«
»Das kommt mir sehr entgegen«, meinte ich. »Könnten wir dann die weiteren Formalitäten besprechen? Ich habe mich entschieden, das Anwesen erwerben.«
»Ich bin überaus erfreut, aber klären wir zunächst Ihre genaue Befindlichkeit. Frisch verstorben, tot, halbtot, scheintot oder untot?«
»Wie bitte?« Auch wenn es perfekt in dieses Ambiente passte, so lustig fand ich die Frage nicht.
Der Makler sah allerdings nicht aus, als hätte er einen Witz gemacht. »Welcher der genannten Zustände trifft auf Sie zu?«
Na gut, würde ich eben mitspielen, Hauptsache der Kauf ging über die Bühne. »Im Augenblick noch keiner«, entgegnete ich. »Doch in schätzungsweise 70 Jahren dürfte ich mit einiger Wahrscheinlichkeit Punkt eins erfüllen.«
»Das ist bedauerlich, denn so lange können wir nicht warten«, sagte der Makler. »Sind Sie vielleicht ein Werwolf oder, wie der Vorbesitzer, ein Vampir? Das wäre natürlich auch akzeptabel.«
»Leider nichts von alledem.«
»Dann muss ich zu meinem größten Bedauern ablehnen, die Villa Blutbuche steht für normal Sterbliche nicht zum Verkauf. Stand das nicht in der Anzeige? Mein Fehler, ich bitte dieses Versehen zu entschuldigen.«

Oma

Mein Vater schließt die Tür zur Wohnung auf. Es riecht muffig und auch ein bisschen nach Urin und ungewaschenem Menschen. Früher schwebten in meiner Kindheit hier nur gute Gerüche rum, nach Bratkartoffeln zum Beispiel, meinem Lieblingsgericht von dir, weil keiner sie so golden und knusprig hinbekam wie du. Es schnürt mir bei der Erinnerung die Kehle zu und ich muss schlucken. Wir reißen die Fenster auf. „Wo sollen wir denn anfangen?“, frage ich meinen Vater, der sich aber auch nur schulterzuckend in der kleinen Eineinhalbzimmerwohnung umsieht. Da das Schlafzimmer jedoch nur ein winziger Raum ist, der gerade mal Platz für ein schmales Einzelbett und einen Nachttisch bietet, in dem nur deine Bibel liegt, beginne ich im Wohnzimmer, wo die Hauptarbeit wartet. Das Sofa, das bestimmt schon seit mindestens 20 Jahren in deinem Besitz ist, sieht abgenutzt aus. Um es zu schützen und es noch weitere Jahre nutzen zu können, hast du eine Decke mit Katzengesicht darauf gelegt. So altmodisch wie sie aussieht, könnte sie sogar noch älter als das Sofa sein. Von der Decke geht ein starker, strenger Geruch aus, da hilft nur noch entsorgen, der erste Sack von wenigen wird befüllt damit. Darunter kommt eine sichtbare Kuhle an der Stelle zum Vorschein, an der du immer gesessen hast. Das kann nicht mehr bequem gewesen sein. Hast du es nicht gemerkt oder wolltest du es nicht merken, weil du mit deiner viel zu geringen Rente, die nicht mal für die Grundversorgung ausreichte, keine neue hättest leisten können? Jetzt darf immerhin das Sofa seine letzte Ruhe finden. Da mein Vater sich dem riesigen Kleiderschrank mit den Schiebetüren auf der linken Seite des Wohnzimmers gewidmet hat und gerade Wäsche in einen Koffer packt, gehe ich zum Wohnzimmerschrank auf der rechten Seite hinüber und öffne die Türe zu dem Fach, in dem deine Fotoalben stehen. Es sind 13 Stück, alle unterschiedlich groß und dick. Ich weiß, dass sie dort stehen, habe sie aber noch nie angesehen. Hatte ich kein Interesse? Oder wolltest du etwas verbergen? Ich weiß, dass dein Leben alles andere als leicht oder schön war. Du hast viel durchmachen müssen. Neugierig klappe ich das erste Album auf, beiße mir dann aber auf die Lippe. Darf ich das? Ist das überhaupt in Ordnung? Mein Vater sieht zu mir rüber, bemerkt meinen inneren Konflikt und sagt, dass es in Ordnung sei, du hättest deine Bilder gerne gezeigt. Es sind teils sehr alte Bilder, noch in schwarz-weiß, viele Personen erkenne ich nicht. Und dann ein kleines Mädchen, das mit einer Zahnlücke freudestrahlend in den Armen ihrer Mutter in die Kamera grinst. Das ist meine Mutter und du hältst sie im Arm. Egal, was du durchgemacht hast, es hat auch Freude in deinem Leben gegeben und das macht mich glücklich. Jetzt kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Das hier ist ein erster Abschied von dir. Da können die Leute sagen, was sie wollen. Dein Körper mag noch hier sein, aber deine Erinnerungen schwinden und von dem wenigen, was du besessen hast, kannst du nicht mehr als zwei Koffer mit Kleidung, deine Fotoalben, ein paar CDs und DvDs mitnehmen. Die alten, dunklen und schweren Möbel landen allesamt auf dem Sperrmüll genauso wie der Gasherd und die zusammengewürfelten Schränke aus der Küche. Und mehr ist es auch nicht. In vier Stunden sind wir mit allem fertig, in vier Stunden haben wir ein Leben ausgeräumt.
Ein Leben, das nun im Pflegeheim weitergeht, so lange, bis dein Körper deinem Geist folgen wird.

Eine hungrige Wohnung

Es war eine Schnapsidee gewesen, hier einzusteigen. Worauf hatte sich Rita da nur wieder eingelassen?
„Komm schon, Leika!“, zischte sie. „Lass uns wieder abhauen, ja? Das ist voll gruselig!“
„Sei nicht so eine Heulsuse!“, sagte Leika und lachte dazu. „Du hast doch das Absperrband gesehen, hier wohnt keiner mehr. Und ist dieser Ort nicht voll abgefahren? Ich meine, guck mal, die Bücher sind nach Größe sortiert!“ Sie lief an dem Schrank an der linken Wand entlang und knickte dabei die Teppichhaare, die bis eben penibel alle in dieselbe Richtung geschaut hatten. Rita wagte es nicht, den gewienerten Dielenboden zu verlassen und eine der Teppichinseln zu betreten. Zum Beispiel die, auf der drüben am Fenster das Sofa mit seinen genau auf der Hälfte eingedrückten Kissen stand. Auf dem niedrigen Glastisch davor waren ein paar Zeitschriften daponiert. So aus der Ferne konnte Rita nicht sagen, welche, dafür aber, dass sie Kante an Kante und Ecke auf Ecke lagen. Es sah aus wie in einer Musterwohnung.
„Wirklich toll, Leika, aber wir sollten hier echt nicht sein“, sagte Rita und wusste selbst, wie nah sie am Jammern war. „Das ist doch nicht normal.“
Leika lachte wieder. „Du machst dir zu viele Gedanken, Rita. Los, lass uns die anderen Räume anschauen!“
Rita folgte Leika nicht, als die in den kurzen Flur auf der gegenüberliegenden Seite entschwand. Dafür hätte sie Teppich überqueren müssen und alles in ihr sträubte sich dagegen, ihre Straßenschuhe auf diesen penibel gerichteten Untergrund zu setzen und ihn durcheinanderzubringen. Stattdessen schob sie sich nur ein paar Schritte zur Seite, um in die Küche blicken zu können.
„Das Bad ist krass!“, rief Leika aus dem Flur. „Ich glaub, ich hab noch nie ein dermaßen sauberes Bad gesehen!“
Dasselbe fand Rita für die Küche. Kein Geschirr stand herum, keine Spritzer zierten die Wand, keine Krümel waren auf der Arbeitsfläche übrig geblieben. Die Messer an dem Magnetband darüber waren perfekt senkrecht ausgerichtet und glänzten. Bestimmt waren sie auch gründlich geschärft.
„Und das Schlafzimmer! Rita, kannst du das glauben? Die Sachen hier im Schrank sind alle richtig ordentlich gestapelt! Wie mit Lineal abgemessen oder so.“
„Aha“, sagte Rita. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit gefesselt.
Auf dem Küchentisch stand eine Tasse. Darin eine bräunliche Flüssigkeit, Kaffee oder Tee, und ein Löffel. Als hätte jemand das Getränk gerade erst zubereitet. Oder zubereitet und es trinken wollen, war aber nie dazu gekommen.
Sie schluckte, hatte jedoch mit einem Mal keinen Speichel mehr.
„Leika?“, fragte sie und ihre Stimme zitterte dabei. Sie konnte ihre Augen nicht von der Tasse abwenden, die dort so richtig aussah und doch so falsch wirkte. „Leika, ich glaube, wir sollten hier ganz schnell weg! Bitte! Das ist eine von diesen Wohnungen aus den Nachrichten! So eine, die Leute frisst!“
Denn nur so war zu erklären, warum in diesem sonst so perfekt aufgeräumten Zuhause eine Tasse einfach so in der Gegend herumstand. Ihr Eigentümer war nicht gegangen, sondern verschwunden, von einem Moment auf den anderen. Verschlungen von der Wohnung selbst.
Rita war schon an der Tür, ehe sie merkte, dass Leika nicht geantwortet hatte.

Mietsache

Alles alte Klamotten, ein moderiger Geruch, die Garderobe ebenso verschlissen wie der Anorak am Haken. Selbst der Regenschirm in der Ecke hatte schon bessere Tage gesehen. Licht im Abstellraum? Fehlanzeige. Vielleicht war es gut so, denn die Tür ließ sich nur halb öffnen.

«Wegen der roten Flecken an der Wand müssen Sie sich keine Sorgen machen. Das ist nur Soße. Und wegen tapezieren: Sie können das Flürchen ja auch einfach überstreichen.»
«Wie hoch soll die Miete denn sein?»
«Wegen der Miete, na ja. Wenn man die Umstände bedenkt. Wir könnten auch später darüber reden. Wegen der ganzen Umstände, meine ich.»

Ein gepflegtes Badezimmer. Immerhin. Doch selbst hier roch es muffig. Ohne erkennbaren Grund. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Eine Hälfte des Ehebettes war benutzt, die andere sah aus wie ein Ausstellungsstück im Möbelhaus. Ein Pantoffel lag vor dem Kleiderschrank, der andere fehlte.
«Er hat ihn verloren.»
«Wie bitte?»
«Bei den ganzen Umständen hat er den Pantoffel einfach verloren.»

Auf dem Wohnzimmertisch stapelten sich Briefe, daneben alte Zeitungen, ein Bleistift, zahlreiche Zettel und Unmengen von kleinen, grauen Würmchen, offensichtlich die Reste einer ausgiebigen Radieraktion.

«Darf ich Sie was fragen?»
«Ich hab doch gesagt, wegen der Umstände, dass wir da später drüber reden. Sehen Sie sich doch erst noch die Küche an. Die ist neu, die hat der nicht einmal benutzt. Die wäre auch dabei.»
«Was ist passiert? Es geht doch keiner weg als wäre er zum Einkaufen und kommt dann nie mehr wieder.»
«Sie sagen das so. Zum Arzt ist der gegangen, nicht zum Einkaufen.»
«Und was ist mit seinen Sachen?»
«Die konnte er schlecht mit ins Grab nehmen.»

Haben die Schreie der Nachbarn sie geweckt? Haben sie mich gerochen? Wie ärgerlich, das beste bleibt mir verwehrt. Ein umgeworfenes Höckerchen auf ihrem Fluchtweg. Oh, sie rannten um ihre armseligen kleinen Leben. An der Tür stehen Schuhe, 4 Paar, fein säuberlich aufgereiht. Wollten sie den flauschigen beigen Teppich nicht dreckig machen. Mehr Vergnügen für mich. Was sie wohl mitgenommen hätten, hätte ich ihnen nur mehr Zeit gelassen. Die Familienfotos, schwarzweiß, teuer gerahmt an der Wand zum Treppenaufgang. Die werden ihnen fehlen. Die Handys und Papiere, ja daran denken die meisten Leute, doch leider im Notfall nie griffbereit. Jämmerlich. Oh, was ist das. Ein kleines rosa Nilpferd auf der Treppe. Wie niedlich. So viele geflickte Stellen. Da kann ein kleines Kind lange nicht einschlafen. So nah am Ziel runtergefallen? Was für ein Pech. Unersetzbare, emotionale Werte. Die verschlinge ich am liebsten. Bis sie nur noch ein Aschehaufen sind, nicht zu unterscheiden von der Gitarre. Ein Dekostück? Oder hat jemand gespielt? Hat da etwa heute jemand Fenster geputzt? Da steht noch ein Eimer. Welch Zeitverschwendung. Ich lasse eins nach dem anderen zerbersten. Tschüss Büchersammlung, adieu 65 Zoll Fernseher, auf nimmer Wiedersehen kleine rote Spielzeugküche. Da ist er, der Ordner mit den wichtigen Dokumenten. Futschikato. Uih, ein abgeschlossener Schrank unter der Spüle, da wird doch nicht… Wow, Spiritus! Ein Energiekick! Wer wohnt wohl nebenan?

Fast geräuschlos lässt sich das Törchen von der Straße auf den Hof aufdrücken. Dahinter: ein privater Dschungel. Gras, Disteln und Blumen mehr als hüfthoch, vom Dachfirst aus schimpft tuckernd ein Hausrotschwänzchen, an der Seite vom Grundstück ein Zaun, umwunden von Kletterpflanzen und durchwachsen von Gestrüpp. An der Hauswand Holundersträucher, hochgewachsen bis zur Traufe, traulich vereint mit rankendem Wein an einem Spalier aus schlanken Holzlatten. Ich habe ein Dornröschenschloss gefunden – allein ähnelt dieses kleine Bauernhaus keinem Schloss, es liegt nur still, verlassen und zugewuchert da und scheint ebenso wie im Märchen darauf zu warten, liebgewonnen und zu neuerlichem Leben erweckt zu werden.
Zögernd bahne ich mir den Weg durch das raschelnde Gras hin zur Treppe, die rauf auf die Veranda führt. Ihrer konnte die Vegetation nicht habhaft werden. Die hölzernen, ausgetretenen Stufen knarren unter meinem Gewicht, als beklagten sie sich darüber, dass ich ihren jahrzehntelangen Frieden störe.
Im Schatten der Veranda eine Bank aus groben Brettern, darunter ein Paar Schuhe, schwarzledern und für winzige Frauenfüße gemacht. Daneben die Tür. Den riesigen, alten Schlüssel dafür halte ich in der Hand.
Ich stehe davor und fühle mich genau mittelmutig. Mutig genug, um diese Tür zu öffnen und ängstlich genug, sie nicht zuzulassen. Schlucke alle Erwartung, Hoffnung, Befürchtung, Ahnung und Ahnungslosigkeit herunter. Schließe die Tür auf, mache einen kleinen Schritt auf die Schwelle, stehe da und schaue. Dann wage ich mich in das erste Zimmer. Ganz offensichtlich die Küche.
Kühle umfängt mich, dämmeriges Licht und die Sammlung alter Gerüche eines längst vergangenen Lebens. Zwei Türen gehen vom Raum ab, nacheinander öffne ich sie, neugierig und verzagt zugleich. Links ein schmales Zimmer mit blauen Wänden, rechts ein großes Zimmer mit grüngeblümten Wänden. Und was auch immer ich mir in den letzten Wochen vorgestellt haben mag – und vorgestellt habe ich mir vieles –: So hat es nicht ausgesehen.
Zwei Zimmer, eine Küche. Doch nicht nur Mauern mit einem Dach drauf, sondern ein Haus, dessen Besitzer nur mal eben weggegangen zu sein scheint.
So wenig ich bisher von dir weiß, ja so wenig ich bis vor einigen Wochen von deiner schieren Existenz wusste, so viel offenbart mir dein Haus, das du vor mehr als 30 Jahren verlassen hast. Eine alte, gebeugte Frau aus der Querstraße, die an allen Gliedmaßen krumm zu sein scheint, hatte bis vor ein paar Jahren noch den Garten bestellt. Vor ein paar Minuten hat sie mir den Schlüssel ausgehändigt, als ich mit dem Dokument des schwäbischen Notars bei ihr vorstellig wurde. Doch keine Seele hat im Haus gewohnt, niemand hat den Ofen geheizt. Auf dem Tisch steht ein Teller, liegt ein Messer. So, als wollest du dich gleich zu Tisch setzen und speisen. Die hässliche Wachstuchtischdecke ist abgerieben und in den Jahrzehnten hart geworden, die Farbe blättert ab. Auf dem Teller, als sehr frugales Mahl, ein Brocken Kalk, der vom geweißelten Deckenbalken abgefallen ist.
Die schweren Vorhänge und die Gardinen knistern und knacken, als ich sie bewege, so sehr sind sie von Spinnweben durchsetzt. Ich nehme sie ab und freue mich über das schwache Tageslicht, das durch die Kastenfenster fällt – gedämpft durch unsäglichen Schmutz und Schmier, der sich im Laufe der Jahre dort abgesetzt hat oder den die zahlreichen toten Fliegen verursacht haben, die auf den Fensterbänken und zwischen den Fensterflügeln liegen. Behutsam und mit spitzen Fingern hantiere ich an den Fensterriegeln. Das sind sie nicht gewöhnt, die Bänder quieken, knirschen und ruckeln, doch die klapperigen Fensterflügel lassen sich öffnen und ich bitte als erste Gäste Licht und Luft herein – auch wenn mich unmittelbar ein seichter Anflug von Melancholie überkommt, da ich damit ein Stück deiner Vergangenheit verwehen lasse. Licht und Wärme der Mittagssonne strömen in die Zimmer und lassen auch den Anflug melancholischer Gedanken verwehen. Im großen Zimmer über der Tür zur Küche ein leerer Nagel. Hast du deinen Jesus mitgenommen, als du gingst?
Das Drehen am Lichtschalter bringt nicht den erhofften Effekt. Natürlich nicht – welch blödsinniger Illusion bin ich denn da nur aufgesessen.
Der Abreißkalender an der Küchenwand endet am 2. Oktober 1986. Ein Freitag. Und dann? Dann hast du deine Tasche gepackt, hast die Tür abgeschlossen und bist abgereist, nach Nordwesten? Oder – und das ist ein wirklich beunruhigender Gedanke – haben sie dich abgeholt? Aber warum hätten sie das tun sollen?

Die persönliche Mitteilung war kurz und auf dem Punkt: „Mach was draus, ich bin dann mal weg.“ Ein kleiner Smiley war dahinter gemalt. Der mit dem kniependen Auge. Das war alles. Und ich frisch gebackene Besitzerin einer Eigentumswohnung in Frankfurt. Dem am Main.

Heute Morgen war der Notartermin und jetzt stehe ich hier, mitten in ihrer Wohnung, die jetzt meine sein soll. Es sieht aus wie immer - eigentlich. Hier und da ein paar Lücken, wo wirklich persönliche Sachen standen: wenige Photos, ihre Tagebücher, ein paar Andenken und Erinnerungen. Aber die Möbel, Geschirr, Bücher, sogar ein Teil ihrer Kleidung, sind noch da. Irgendwie erwarte ich, dass sie mich gleich fragt was ich essen will. Ob wir uns Pizza bestellen sollen. Oder doch noch mal rausgehn und irgendwo auf der Berger was essen. Irgendwie ist es noch so wie es immer war und ich zu Besuch. Ich kenne die Wohnung gut. Ich weiß wo alles steht. Ich fühle mich nicht fremd. Und doch ist es heute anders.
Ob sie wohl? Tatsächlich. Im Kühlschrank steht eine Flasche Sekt. Ich nehme mir das schönste Glas aus dem Schrank und schenke mir ein. Auf dich, Marga!

Das große Sofa lädt mich ein es mir gemütlich zu machen. Wie viele Stunden wir hier zusammen verbracht haben. Hoch philosophische Gedanken gedreht, kleine dumme Streiche ausgeheckt, wunderbare kreative Werke geschaffen oder einfach nur einen Film angesehn. Nur gemeinsam schweigen war immer schwierig. Aber das kommt ja nun von selbst, denn sie ist nicht mehr hier.
In die Ecke des Sofas gekuschelt, lege ich den Arm auf die Lehne und halte das Glas ins Licht. Es ist Nachmittag und die Sonnenstrahlen spiegeln sich in den Sektperlen. Sogar die Ausrichtung der Wohnung ist perfekt. Was sollte auch ein Langschläfer wie sie mit Morgensonne.

Mein Blick bleibt an der Durchreiche hängen. Die hat sie mit viel Aufwand in die Wand brechen lassen. Damit sie nicht alleine ist beim Kochen und sich auch aus der Küche mit ihren Gästen unterhalten kann. Der Ausziehtisch davor ist ziemlich groß. Sie veranstaltete mindestens einmal im Monat ein aufwändiges Essen und dafür wurde er liebevoll eingedeckt. Immer wieder anders und immer wieder dem Motto des Abends entsprechend. Auf dem Sideboard daneben steht eine lange Reihe Kochbücher. Einzelne Exemplare und ganze Serien aus aller Herren Länder. Ob sie die nicht vermissen wird? Nein. Sowas kann man sich wieder kaufen, das ist unnötiger Ballast. Pflanzen gab es hier auch noch nie. Die hätten ihre vielen, oft langen Reisen sicher kaum überstanden. Deswegen hatte sie wohl auch nie ein Haustier, obwohl sie doch ganz verrückt ist nach Katzen. Ja, alles sehr gesellig und gemütlich, aber nichts was einem hält.

Der große Fernseher und die Musikanlage sind auch noch da. Ich drehe das Radio an, FFH ist eingestellt, passt. Bei der Gelegenheit schau ich ins Schlafzimmer. Das eigentümliche Bett wirkt einladend und frisch bezogen. Ein Einzelstück aus indischem Holz hat sie mir mal irgendwann erklärt. Es soll wohl ursprünglich ein Schrank gewesen sein. Das Holz ist dunkel, verwittert und hat hier und da verwaschene Farbflecke. Hübsch. Wirklich. Mal was anderes.
Daneben der alte Waschtisch mit der Marmorplatte. Der Spiegelaufsatz schon etwas mitgenommen, aber noch intakt. Die großen Schubladen sind leer. Der Kleiderschrank daneben wirkt im Gegensatz erstaunlich modern. Ein schöner, rötlicher Kirschholzton und Schmuckstreben. Perfekter Stilbruch, wie eigentlich alles in ihrer Wohnung. Alles derart unterschiedlich, dass es schon fast wieder einheitlich wirkt. Marga wie sie leibt und lebt.

Ich werde wohl erstmal ein paar Tage hierbleiben. Mich an den Gedanken gewöhnen, dass das mein Zuhause sein könnte. Die Stadt erkunden, und zwar diesmal nicht als Besucher. Diesmal mit den Augen der hier Wohnenden, der Einheimischen. Bin gespannt, was sie mir zu sagen hat, die neue Stadt.

Nun denn, meine liebe Marga. Wo immer es dich hintreibt, habe ein schönes Leben. Genieße deinen irrsinnig hohen Lottogewinn und mache alles, was dir in den Sinn kommt.
Vielen Dank für diese Chance hier und vielleicht lässt du mich ja doch irgendwann deine neue Telefonnummer wissen.

„Wenn alle da sind, dann können wir starten.“

Der Dozent für altertümliche Geschichte startete das Programm. In dem weißen Raum erlosch Licht.

Stand die Gruppe junger Leute gerade noch in einem sterilen Raum ohne Möbel, waren sie nun umgeben von diesen. Der Boden gefliest, ein Teppich lag vor der anthrazitfarbenen Couch. In Regalen standen Bücher und Bilder. Fenster gaben einen weiten Blick ins Grün frei.

Die Umstehenden verfielen in lautes Gemurmel über den Ausblick, der sich ihnen bot.

„Ein schöner Anblick, nicht wahr? Bedauerlich, dass unsere Vorfahren den Kipppunkt nicht aufhalten konnte und uns eine lebensfeindliche Umgebung hinterlassen haben. Kaum zu glauben, dass es einmal so grün und hell war.“ Auch er sah sehnsüchtig aus der gläsernen Barriere, welche die Gruppe von der vermeintlichen Außenwelt trennten. „Leider sind wir dazu verdammt zusammengepfercht in unseren kleinen Unterkünften zu Hause, die nur Platz für Schrank, Bett und Tisch bieten.“ Ein Seufzen entfleuchte seiner Kehle. „Seien sie sich von nun an bewusst, dass sie zu den wenigen Auserwählten gehören, die diesen Anblick zu Gesicht bekommen.“

Schlagartig wandte er sich der Gruppe junger Menschen zu. „In welchem Jahrhundert befinden wir uns?“

Suchend nach Anhaltspunkten, sahen sie sich um.

„Ende des 20ten?“, rief ein junger Mann.

„Woran machen sie das fest?“

„Der Flachbildfernseher.“

„Woran noch?“

Er sah sich um. „Das Audio-Gerät.“

„Welches?“, hakte der Lehrer nach.

„Das kleine.“ Er grübelte über den Namen.

Der Dozent wandte sich der restlichen Gruppe zu. „Wer weiß es?“

„MP3-Player“, rief eine junge Frau in den Raum hinein.

Der ältere Mann nickte zustimmend. „Genau.“ Langsam ging er im Raum umher. „In welchem Raum befinden wir uns?“

„Im Wohnzimmer des Hauses“, antwortete ein anderer.

Seine Worte entlockten dem Dozenten ein Lächeln. “Wie ich sehe, haben sie sich alle gut auf die Stunde heute vorbereitet. Genau, wir befinden uns im Hauptwohnraum des Hauses oder der Wohnung. Dieses Hologramm empfindet ein Haus nach, welches, geologisch gesehen, im früheren Allgäu stand. Auf der anderen Seite des Hauses werden sie einen Blick auf ein Bergmassiv erhaschen können, welches damals als ‚Alpen‘ bezeichnet wurde.“ Schlagartig kam er auf das eigentliche Thema zurück. „Man sollte meinen, dass der Raum, in dem wir uns gerade befinden, der Dreh- und Angelpunkt des Lebens damaliger Menschen war, doch dem ist oft nicht so. Kommen sie mit!“ Er deutete den jungen Menschen ihm zu folgen und verließ den Raum durch einen Durchgang in der Wand. Dahinter lag ein langgezogener Raum. Karger als der vorherige. Haken und Bilder an den, mit Blumenornamenten verzierten, Wänden. Am Ende des Raumes standen Schuhe geordnet auf dem Boden.

Der Alte bog linksseitig in einen weiteren Raum ab. „Seit Jahrhunderten bezeichneten frühere Menschen diesen Ort als ‚Herz‘ ihrer Unterkünfte.“ Er drehte sich um und wartete, bis der Letzte den Raum betrat. „Wo sind wir?“

„Das Schlafzimmer“, bemerkten einige. Andere antworteten, in unterschiedlicher Lautstärke: „Küche.“

„Eines stimmt. Nur welches?“

„In einem Schlafzimmer würden Betten stehen. Hier ist keines zu sehen. Dafür ein Herd. Außerdem ein Tisch mit mehreren Stühlen. Das deutet auf eine Küche hin.“

„Wenn sie das so gut wissen, dann wissen sie bestimmt auch, wozu die Küche gedacht war.“

„Hier bereiteten die Menschen ihr Essen und ihre Getränke zu.“

„Ganz genau. ‚Herz des Hauses‘ wurde es genannt, weil sich die Menschen früher genau hier zusammenhorteten, um ihre Mahlzeiten einzunehmen. Eine jahrtausendalte Tradition, die sich, im Laufe der Zeit, immer mehr verlor und darin gipfelte, wie wir es heute kennen. Aber sie saßen nicht nur deshalb am Tisch zusammen. Manches Mal plauderten sie einfach nur oder spielten Spiele.“

Er pausierte seine Ausführung, um sich zu räuspern. „Wissen sie, die Küche ist mein liebster Ort in diesen Behausungen. Von hier zog der stark würzige Duft des zubereiteten Essens durch die Wohnräume. In früheren Aufzeichnungen wurde sogar vermerkt, dass man mit dem Betreten des Hauses roch, welche Mahlzeit zubereitet wurde. Unser Essen, wie wir es heute kennen, hat nichts mit dem, von damals zu tun. Sehr schade, weil, so viel kann ich ihnen aus Untersuchungen und Tests berichten, die Gerüche und die Geschmäcker der einzelnen Komponenten sehr weit von unseren entfernt sind. Bis heute kann ich nicht verstehen, warum es so weit gekommen ist.“

„Wahrscheinlich, weil es zu Zeitintensiv war die Zutaten zu sammeln und zusammenzubringen. Es geht doch viel schneller sie am Replikator herzustellen“, unterbrach eine junge Frau seine Ausführungen.

„Da haben sie durchaus recht. Aber vielleicht werden sie, so wie viele andere Kurse vor ihnen, es in der nächsten Stunde verstehen. Wie jedes Jahr, dürfen meine Studenten Zwiebeln braten. Ein großer kulinarischer Hochgenuss.“

Ein erstauntes Raunen ging durch die Menge.

„Bis dahin machen sie sich vertraut damit, wie die früheren Menschen gekocht haben.“ Der Dozent schlug kräftig seine Hände zusammen, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. „Und nun, lassen sie uns den Rest des Hauses begutachten.“

Besuch beim Vater

Ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Die Blumentapete bemüht sich, die Verlassenheit des Zimmers zu überdecken – seltsam grau in ihrer Buntheit.

Ein Mensch.

Von der Bettkante blickt er auf. Seine Füße scharren unablässig über Dielen, als wollten seine Zehen eine verborgene Schrift ertasten.

Alter-Mann-Geruch. Pflichtgefühl schiebt mich zu ihm hin.

Gestern oder vor hundert Jahren war dieser Fremde mein Vater.

Wie-geht-es-dir Danke Brauchst-du-was Alles-gut Besuch-uns-doch-mal Sicher

Das Zimmer schweigt Erinnerungen herbei.
Abendsonne fließt über den Tisch. Eine Tasse, eine Brille, ein Buch.

Bilder blicken mich an, von den Wänden. Vergangenheit in Schwarzweiß.

Uhren ticken nicht mehr. Heutzutage.
Stille. Hier vergeht keine Zeit.

Ans Fenster tretend atme ich die Farben des Abends. In der Ferne flanieren kleine Menschen in den heranfließenden Schatten der Bruchweiden.

Ist-schon-spät Ja Ich-geh-dann-mal-wieder Grüß-die-Kinder Mach-ich

Was uns verband, ist abgeflossen wie Regenwasser im Rinnstein.

Mein Nicken bleibt unerwidert. Ich kehre zurück in die Welt.
Auf dem Heimweg denke ich: Der Raum wäre weniger verlassen ohne den Vater.

Erinnerung

Wieder sitze ich in deinem Zimmer. Der alte Stuhl knarrt, wenn ich mich zurücklehne, den Kopf an die Wand gestützt. Ich spüre die Kälte, die aus der Mauer in meinen Schädel kriecht. Doch ich verändere meine Position nicht. Mein Blick fixiert das Bild an der Wand, das du gemalt hast. Es zeigt eine Sonne, die beinahe die gesamte Fläche ausfüllt. Ihr Gesicht ist gelb und orange, Mund und Nase sind feuerrot, Augen und Wimpern grün. Die roten und orangen Strahlen stehen wie Bartstoppeln bis zu den Bildrändern ab. Dahinter ein blaugrüner Hintergrund. Ich weiß nicht, weshalb du die Sonne vor diese Farben gesetzt hast. Sie haben nichts mit dem strahlend hellen Blau des Himmels zu tun. Und dennoch passen diese Farben hervorragend zu deiner Sonne.
In all den Jahren habe ich so vieles vergessen. Doch diese Sonne hatte sich so sehr in meine Erinnerung eingebrannt, dass sie ich sie jederzeit bis ins letzte Detail vor mein geistiges Auge zitieren kann. Und immer, wenn ich das Bild der Sonne imaginiere, erscheint dein Gesicht so deutlich und klar vor meinen Augen, als befändest du dich nur wenige Meter neben mir. Es beruhigt mich, dass meine Erinnerung die Sonne nicht verfälscht hat, so wie sie es mit vielen Dingen tut. Dann hat sie es auch mit deinem Gesicht nicht getan.
Vermutlich ist das der Grund, weshalb ich in dieses verlorene Haus zurückgekommen bin: Ich wollte mich vergewissern, ob ich dein Gesicht noch richtig erinnere. Es ist merkwürdig und ich verstehe es bis heute nicht: bei unserer Flucht aus diesem Haus haben wir so gut wie nichts mitgenommen. Unsere Eltern wollten das so. Nicht ein einziges Foto von dir hatten sie mitgenommen. Sie wollten dich vergessen, um ihren Schmerz zu betäuben. Aber sie haben es nicht geschafft.
Ich dagegen dachte ständig an dich und wollte nichts mehr, als dich erinnern. Und mit der von dir gemalten Sonne ist mir das über all die Jahre gelungen. Sie ist für mich das Wichtigste an diesem Haus.

image

Die Mission

Vorsichtig pirschte Darvan sich durch den Brandpestwald. Die Tiere des Waldes waren schon eine Weile verstummt, nicht einmal mehr Vogelgezwitscher war zu hören. Er erspähte die ersten verschlissenen roten Bänder, die um die Stämme der Bäume geschlungen waren. Schon morsch, von Flechten und Moosen bedeckt, eine Warnung aus alter Zeit. Er hatte davon gehört, die Ältesten erzählten manchmal Geschichten darüber. Doch niemand wagte es, den Brandpestwald zu betreten, denn jeder, der dem verfluchten Tempel zu nahe kam, starb eines schrecklichen Todes, so hieß es. Man munkelte, dass der verbotene Ort schon vor den reinigenden Blitzen existiert hatte, lange bevor Darvans Dorf entstanden war. Unermessliche Schätze sollten dort vorhanden sein – und der sichere Tod. Er wäre niemals dorthin gegangen, doch die Umstände zwangen ihn dazu. Es war zu trocken gewesen in diesem Zyklus. Alles, was sie angepflanzt hatten, war verdorrt. Ohne Ernte würden sie den kalten Zyklus nicht überleben. Der Rat hatte ihn mit dieser Mission betraut. Er sollte wenigstens einen Teil dieser Schätze bergen und zurückbringen. Diese könnten sie bei den Flusshändlern gegen Vorräte eintauschen. Ihm war nicht wohl; seit Kindertagen hatte er Warnungen vor diesem Ort gehört, doch das waren sicher nur Geschichten ängstlicher alter Männer. Mit mehr gespieltem Mut als vorhandenem passierte er die Bäume mit den roten Bändern. Überschritt die Grenze.

Je weiter er vorwärtskam, desto stärker zeigte sich der verderbliche Einfluss des Tempels. Die Pflanzen waren seltsam missgestaltet, verdreht, verdorrt.
Bestimmt nur durch den heißen Zyklus, beruhigte er sich.
Schließlich konnte er durch die Bäume hindurch etwas Helles sehen. Das musste der Tempel sein. Er trat aus dem Wald heraus und betrachtete den Bau in Gänze. Das Mauerwerk war ursprünglich einmal weiß gewesen, doch nun verwittert und an manchen Stellen schmutziggrün. Ein langer Turm war umgestürzt und lag auf dem Boden. Die große Kuppel war zusammengebrochen und teilweise geborsten. Der ganze Ort sah aus, als hätte ein jähzorniges Kind sein Spielzeug durcheinandergeworfen. Niemand war in Sicht.
Das ist also der verfluchte Tempel?

Etwas mutiger betrat er durch einen der Risse das Innere. Das eindringende Tageslicht tauchte alles in ein Zwielicht und verbarg vieles im Schatten. Neugierig sah er sich um. Blaue, glatte Röhren, teilweise geborsten, daneben Kisten in verschiedenen Größen. Auch hier lagen überall Trümmer. Er fragte sich, wozu das verwendet worden war, damals, vor den reinigenden Blitzen. Die unbekannten Gegenstände waren faszinierend, doch von unvorstellbaren Schätzen sah er nichts. Langsam ging er weiter. Eine Vertiefung zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Auch hier, glatte, blaue Seiten. Ein Becken? Vielleicht ein rituelles Bad? Neugierig schritt er die Stufen hinab, die zum Grund führten. Lange Röhren waren dort in einem Gestell abgestellt und trugen ein fremdes Symbol, wohl das Zeichen des Gottes dieses Tempels. Mit den Fingern strich er darüber, doch nichts. Er umrundete das Gestell. Die Röhren auf der Rückseite waren brüchig und aufgerissen und der Inhalt lag teilweise auf dem Boden. Viele flachgedrückte Eier aus Metall, die selbst in diesem wenigen Licht glitzerten. Er hob eins auf und ließ es überrascht wieder fallen. Das Metallei war warm. Vielleicht war das der Schatz? Schließlich trug jedes Behältnis das Symbol des Gottes. Er drehte das Ei zwischen den Fingern hin und her. Steckten besondere Kräfte darin? Und selbst wenn nicht, konnte der Schmied des Dorfes etwas damit anfangen. Als Mindestes konnte man Schmuck daraus machen und den Flusshändlern verkaufen, ein Metallei, das wärmte, war bestimmt einiges wert. Es musste einfach so sein, andere Schätze hatte er nicht gefunden. Außerdem war ihm mulmig zumute, denn obwohl der verfluchte Tempel nur eine verlassene Ruine war, wie so viele, wollte er sein Glück nicht herausfordern. Bisher hatte sich der Fluch nicht bemerkbar gemacht. Er zog seinen Stoffbeutel hervor und stopfte hastig die herumliegenden Eier ein. Ein paar pulte er aus den beschädigten Röhren.
»Danke«, flüsterte er ehrfürchtig in die Stille, um dem unbekannten Gott seine Achtung zu erweisen.
Seine Hand glitt noch einmal über das fremde Zeichen: Drei schwarze Dreiecke, die sich fast an einer Spitze berührten und in der Mitte auf einen schwarzen Punkt trafen vor einem gelben Hintergrund.

Er schulterte den Stoffbeutel und ging die Stufen hinauf. Bis zur Dämmerung sollte er wieder im Dorf sein. Der Rat würde zufrieden sein.

Die Erbschaft

Bedächtig schritt Humphrey den mit Backsteinen gepflasterten Weg entlang und nahm dabei die grau gewordene Fassade des großzügig angelegten, zweistöckigen Gebäudes kaum wahr.
Es war der Türrahmen der schweren Eichentür, der seine Aufmerksamkeit band. Aufwändige Verzierungen ließen rund um die Tür kleine Wesen tanzen - mochten es Gnome oder Kobolde sein? Lachend sahen sie den Besucher an, zeigten ihm lange Nasen und streckten ihre schlanken Ärmchen und knochigen Finger nach ihm aus.
Humphrey schüttelte belustigt den Kopf und schob den Schlüssel ins Schloss.
Drinnen quietschten die Dielen unter seinen Füßen, als er vom Flur seines neuen Hauses als erstes einen Blick in die Küche warf. Dort fiel ihm der neue Kühlschrank auf, in dem er jedoch nur einige verschimmelte Bananen und Äpfel entdeckte. Der Herd war hingegen schon ziemlich in die Jahre gekommen, immerhin gab es auch eine Mikrowelle.
In allen anderen Räumen im Erdgeschoß bedeckte Staub den Boden und sie machten auf Humphrey den Eindruck, als seien sie schon seit Jahrzehnten nicht betreten worden. Er selbst legte keinen Wert auf eine besonders stilvolle Einrichtung, daher stellte sich ihm beim Anblick der altertümlichen Möbelstücke sofort die Frage, wie viel er wohl dafür bekommen könnte.
In diese Überlegung schloss er auch die zahlreichen Gemälde an den Wänden ein, die er für Originale hielt. Originale mit absonderlichen Motiven!
Auf den ersten Blick wirkten sie wie Abbildungen höfischen Lebens aus dem späten Mittelalter, doch als er näher hinsah, stellte er verwundert fest, dass sie zwar in der gleichen Art gemalt waren, doch statt adliger Damen und Herren tanzende Teufel, zottelige Ungeheuer und ihn anlachende Kobolde zeigten.
Humphrey zollte dem Maler innerlich dafür Respekt, dass die Bilder von weitem wie typisch für die Einrichtung der Räume erschienen, wo sie doch in Wirklichkeit solch lächerlichen Szenen wie aus einem Märchenbuch zeigten!
Besonders bei einem Gemälde fragte er sich, ob sein Onkel überhaupt bei klarem Verstand gewesen war, als er es aufgehängt hatte. Dort war ein Dinierzimmer abgebildet, sehr ähnlich zu dem, in dem es auch aufgehängt war. An einem langen Tisch saßen verschiedene, nur verschwommen dargestellte Gestalten, die statt Kleidung nur ihre übertrieben rosafarbene Haut zur Schau trugen und seltsam deformierte Gliedmaßen besaßen.
Auf dem Tisch befand sich ein üppiges Mal, und die Gestalten veranstalteten ein regelrechtes Gelage. Doch als Humphrey die Art der Speisen betrachtete, musste er schlucken, denn das Hauptgericht waren grüne Unterarme mit zu Krallen verkrümmten Händen und die Beilagen schienen ihm blutige Herzen zu sein. Die Gestalten aßen wie ausgehungert und dennoch voller Genuss.
Am Ende des Tisches hatte sich ein einzelnes Wesen erhoben. Es besaß überdimensionale Ohren, eine riesige Nase, ein ausgeprägtes Kinn, einen plumpen dicken Bauch und grünliche Haut. In der von langen Fingernägeln geprägten Hand hielt es einen silbernen Becher und aus seinem Mund troff eine rote Flüssigkeit.
Das Wesen schien jedoch weniger der Gesellschaft zuzuprosten, als sich mit ernstem Blick an Humphrey zu wenden. In seinem Kopf hörte Humphrey nun die Worte: „Willkommen Humphrey, in Deinem neuen Zuhause…“
Und dann war auf dem Gemälde der ernste Blick des Wesens einem breiten Grinsen gewichen, das ein gutes Dutzend ausgesprochen langer Zähne entblößte.


Langsam gehe ich durch die Räume. Wie anders es aussieht, wie leblos und leer. Hier und da fasse ich etwas an. In der Schale auf der Kommode liegen immer noch Opas goldene Manschettenknöpfe. Ich öffne eine Schublade. Alles wie immer. Nur die Staubschicht auf den Möbeln zeigt, es ist nicht wie sonst. Die Bewohner sind fort.
Von unten dringen Stimmen zu mir hoch. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich habe mich davongestohlen, statt zu helfen. Ich weiß, dass sie im Wohnzimmer sind und die Sachen einpacken. Entscheiden wer was mitnimmt, was gespendet und was entsorgt wird. Ein paar Sachen habe ich mir schon zur Seite gelegt. Das Messer, mit dem Oma jeden Morgen ihre Brötchen aufgeschnitten hat und Opas Pfeife. Seine Lieblingstasse.
Eine Träne rollt mir die Wange hinunter. Ich wische sie weg. Greife nach den Manschettenknöpfen und lasse sie in meiner Hosentasche verschwinden. Es ist nicht viel das bleibt von den geliebten Menschen.

Ich gehe zur Balkontür und öffne sie. Vom Balkon aus betrachte ich den großen vertrauten Garten, den riesigen Pflaumenbaum in dessen Schatten ich unzählige Stunden verbracht hatte und lasse dann meinen Blick in die Ferne schweifen. Ich liebe dieses Haus. Auch wenn ich nie wirklich hier gewohnt habe, nur zu Besuch war, ist es doch Zuhause. Aber ich weiß, dass ich nie wieder hier sein werde. Der Verkauf wurde beschlossen, gefragt wurde ich nicht. Mir bleiben nur die Erinnerungen an die glücklichen Zeiten meiner Kindheit, die ich hier verbracht habe. Aber ohne seine Bewohner ist es nur ein Haus. Eine leere Hülle, das Gefühl der Heimat und Geborgenheit ist fort, fort mit seinen Bewohnern.

Ich gehe wieder zurück ins Schlafzimmer. Auf Opas Nachtisch neben der alten Nachtischlampe mit den Fransen am Schirm liegt immer noch eine angefangene Tafel Schogetten. Auch sie ist mit einer dicken Schicht Staub bedeckt. Die Schogetten brauchte er immer als Betthupferl. Als ich klein war, habe ich mich immer aus meinem Kinderbett in der Ecke geschlichen und versucht mir ein Stück zu holen. Es war ein Spiel zwischen uns, bei dem Opa mich jedes Mal erwischte und mir dann lachend ein Stück gab.

Der Zwilling der Nachtischlampe mit den Fransen grüßt verstaubt von der anderen Seite. Auf Omas Bettseite liegen keine Schogetten. Die durfte Oma nicht essen. Dass Oma mit dem, was sie Essen durfte, vorsichtig sein musste, gehört zu meinen frühestens Kindheitserinnerungen. Ebenso wie die Spritzen im Badezimmer und die Insulinfläschchen im Kühlschrank. Pudding, den sie nur für uns kaufte, H-Milch im Kühlschrank und Unmengen von Konserven im Keller. All das gehört zu meinen Erinnerungen. Ich ziehe die oberste Schublade von Omas Nachtisch auf. Die Fotos sind alle noch da. Sie liegen lose in der Schublade, Fotos von ihrem ganzen Leben. Selbst einige wenige, die sie auf der Flucht gerettet hatte, damals als sie Schlesien verlassen musste und sich auf den weiten Weg nach Westen zu ihren Schwiegereltern aufmachte, nur mit meinem wenige Monate alten Onkel im Kinderwagen, ihrer Mutter und Fips dem Dackel.

Ich suche nach meinen Lieblingsfotos und betrachte sie. Dabei sitze ich auf dem Boden, lehne mich mit dem Rücken an ihr Bett. Akkurat gemacht, wie immer. Versuche mir die Geschichten zu den Fotos in Erinnerung zu rufen. Habe Angst sie zu vergessen, so wie ihre Stimmen. Die Tränen laufen mir über die Wangen. Ich kann das nicht mehr. Ich nehme die Fotos, greife noch nach Omas alten verzierten Handspiegel und schleiche die Treppe herunter. Meine Familie ist immer noch im Wohnzimmer, aber mein Rucksack liegt neben der Eingangstür. Ich nehme ihn und stecke Fotos, Spiegel und Manschettenknöpfe zu meinen anderen Schätzen. Dann öffne ich leise die Tür und schlüpfe hinaus.

Ich atme einmal tief ein und wende mich dann nach links, laufe quer durch den Wendehammer und betrete den Grünstreifen dahinter. Nach ein paar Metern erreiche ich die große Buche und hangele mich hoch. Ast für Ast bis hoch zu dem Brett, dass seit vielen Jahren hier befestigt ist. Ich mache es mir auf dem Brett bequem, lehne mich an den vertrauten Stamm und schwelge in Erinnerungen. Fast meine ich das Küchenfenster müsste sich öffnen und meine Oma rufen: »Julchen, komm rein. Das Essen ist fertig!« Aber das wird nie wieder so sein.

Das alte Schloss

Eine alte Eiche steht gegenüber dem Schloss
und ein Kriegerdenkmal, Reiter hoch zu Ross,
Dornen verzieren das dicke Gemäuer,
noch geschwärzt vom letzten Feuer.

Im Innern erzählen Gemälde von der früheren Zeit,
innerhalb der Wände lastet jahrhundertalte Einsamkeit,
der Staub vergangener Zeiten zeugt vom letzten Atemzug,
das Leben hier war schön, doch jetzt ist genug.

Morgensonne tritt hinter Wolkenfetzen hervor,
Nebelschwaden steigen vom See empor,
am Ufer steht ein einsamer Wanderer, schaut zum alten Schloss,
zückt seine Kamera, Vergängliches zu verewigen, er beschloss.

Das Haus passt genau zu uns, trotzdem mag das Kind es noch nicht.
Der alte Mann ist schon vor Monaten gestorben. Im Krankenhaus.
Doch seine ganzen Erinnerungen sind hier. In jeden Winkel gestopft, hinter seinen Möbeln versteckt, an die Wände gehängt, aus den Schranktüren spähend.
Wir fühlen uns wie Eindringlinge. Sind es auch noch.
Im Dach unzählige Schachteln und Kartons mit Urlaubsdias. Fremde Erinnerungen an fremde Menschen. Sie können nicht hierbleiben. Mit leisem Unwohlsein, als ob wir etwas Verbotenes täten, bringen wir sie fort. Hinaus.
In einem anderen Raum wunderbares Papier zum Zeichen, zum Malen, zum Schreiben. Das darf bei uns bleiben. Der alte Mann muss Künstler gewesen sein.
Langsam machen wir sein Haus zu unserem Haus, fühlen uns wohl. Und doch verweilt in den hintersten Ecken die Erinnerung an einen Menschen, den wir nie kannten.

Das Haus der Hexe

Die krumme Holztür leuchtete im Abendrot, wie das Tor zur Hölle selbst. Das Holz war alt, so alt, dass es sicher nur noch vom Schimmel und dem guten Willen des Schreiners zusammengehalten wurde.

Meine Finger glitten über den runden Knauf und meine Augen ignorierten die großen Buchstaben, die auf meiner Augenhöhe prangerten. Verschwindet

Das verzerrte Rauschen des Funkgeräts ertönte und ließ mich zusammenzucken.
„Bist du bereit?“
War ich das? Ich wusste es nicht.
„Haaallo?“ Die viel zu gut gelaunte Stimme dröhnte blechern aus meiner Jackentasche.
„Großer Gott, Simon, schrei hier nicht so rum!“
Simon, mein Kommilitone und Projektpartner. Ein angenehmer, aber gleichzeitig auch anstrengender Mensch.
„Ich stehe vor der Tür. Wollte gerade reingehen.“
„Ich kann sehen was du siehst, Thalia. Schon vergessen?“
Das hatte ich tatsächlich vergessen.
Ich hob den Mittelfinger vor den Kopf und wackelte einige Male damit vor der Kamera.
„Ladylike wie eh und je. Nun geh schon und hör auf das Ganze hinauszuzögern.“
„Natürlich zögere ich. Ich stehe vor dem Haus einer Hexe, mitten im Wald, in der Dämmerung und du schreist hier durch die Gegend, als würdest du darum betteln das ich verflucht werde.“
„Sind wir nicht genau deshalb hier?“
„Idiot“, flüsterte ich, während ich das Funkgerät wieder in die Jackentasche stopfte.
„Ich kann dich auch ohne Funkgerät hören, süße.“
„Na das hoffe ich doch.“

Meine Finger zitterten, als ich mein Handgelenk gegen den Uhrzeigersinn drehte und die Tür mit einem lauten Quietschen aufdrückte, welches jeden Tontechniker mit Stolz erfüllt hätte.
Der Gummiknopf meiner Taschenlampe, Marke Leuchtturm, klickte laut und warf einen großen Lichtkegel hinein in die Dunkelheit.
Millionen Partikel aus Staub und Dreck tanzten in dem kaltweißen Lichtstrahl, wie der aufgewirbelte Sand einer Unterwasseraufnahme.
Das erste was mir auffiel, war der beißende Geruch von Ammoniak, der schwer in der Luft lag und langsam in meine Nase kroch.
„Und, wie ist es?“
„So wie man es vermutet. Dunkel und stickig.“
Das Licht meiner Lampe erhellte den Großteil des kleinen Raumes und schreckte die wilden Bewohner auf, welche sich im Laufe der Jahre hier eingenistet hatten.
Durch die dicke Sohle meiner schweren Wanderschuhe spürte ich etwas weiches. Ein abgenutzter, grauer Teppich lag in der Mitte des Raumes. Seine Ränder waren ausgefranst und die Farbe schon längst verblasst, doch vor vielen, vielen Jahren musste er etwas Wohnliches ausgestrahlt haben.
Einige Meter weiter im Raum stand ein großer Holztisch und darauf jede Menge hölzerner Schalen in allen Größen und Formen.
Meine Finger wanderten über jede einzelne von ihnen, berührten und spürten die Geschichte die sie erzählten, bis etwas Schwarzes über meine Hand huschte.
Ich erschrak so heftig, dass ich mitsamt den Schüsseln und der Spinne rückwärts fiel und auf dem harten Steinboden, direkt neben dem Teppich aufkam.
Meine Lampe drehte sich wie eine leere Bierflasche beim Flaschendrehen im Kreis und leuchtete nun tatsächlich wie ein außer Kontrolle geratener Leuchtturm.
Anstatt jedoch auf einen hübschen Mann zu deuten, den ich hätte küssen müssen, kam ihr Lichtstrahl auf einer Holzdiele zum Stehen, welche seltsam deplatziert aussah.

„Hey, alles in Ordnung bei dir?“
„Geht so. Bin gestolpert.“
„Soll ich kommen?“
„Nein, schon gut. Bleib du am Auto.“
„Wie du willst. Dann hopp, aufstehen und Krone – äh, GoPro richten.“
Ich mutete dem Holztisch neben mir eindeutig zu viel zu, als ich mich langsam an ihm hochzog. Das Knarzen und Wackeln erinnerten mich wieder daran wo ich war und was ich hier suchte.

Das Haus einer Hexe, die im 16. Jahrhundert zum Tode verurteilt wurde. Seither rankten sich Mythen und Geschichten um die namenlose Frau, die für den Tod hunderter Männer verantwortlich gewesen sein soll.
Immer wieder suchten Jugendliche und paranormale Aufklärungsteams nach ihrer Hütte und luden die Videos dazu auf YouTube hoch, doch keiner hatte sie je gefunden. Bis du diesem Tag.
Simon und ich sind darauf aufmerksam geworden, als wir nach einem Thema für unser Projekt im Fachkurs „Film“ gesucht hatten. „Das wird so erfolgreich wie The Blair Witch Project“, sagte er während wir nach der Hütte suchten.
Simon war schnell zu begeistern, mich hingegen interessierte die Geschichte dieser armen Frau mehr als der Gruselfaktor dahinter.

Langsam ging ich hinüber zu den Holzbrettern zwischen der massiven Steinwand und spürte den Luftzug, der sanft mit meinen Haaren spielte.
„Simon, hier ist etwas.“
Meine Finger gruben sich zwischen die Planken und rissen das morsche Holz von der Wand.
„Oh Fuck“, presste ich heraus, als ich die dunkle Steintreppe vor meinen Füßen sah.
„Ich sehe es. Bleib wo du bist, ich komme zu dir.“

Es waren 15 Stufen, die in feuchtes Gestein geschlagen wurden, bis wir in einem dunklen Raum tief unter der Erde angekommen waren.
Das Licht unsere Lampen bündelte sich und ließ den kleinen Keller in ein grelles Licht tauchen.
Vor uns stand ein Tisch und über unseren Köpfen hingen Bündelweise trockenes Gestrüpp, welches jedes Mal raschelte, als unsere Köpfe dagegen stießen.
Auf meinem Haar spürte ich die krümeligen Überreste, die wie Graupel auf mich herabregneten.
„Was ist das hier?“ Simon klang mittlerweile nicht mehr so mutig und ich spürte seine Hand, die meinen Arm fest umklammerte.
„Das sind Kräuter. Tausend verschiedene davon.“
Mein Blick fiel auf den Mörser und die trüben Phiolen, die auf dem Tisch vor uns standen. Auf den vergilbten Etiketten stand etwas. „Wiedergutmachung.“
„Was hat das zu bedeuten?“ Simon nahm eines der Fläschchen in die Hand und zog den kleinen Korken ab, der in seinen Händen zerbröselte. Ein furchtbar stechender Gestank stieg mir in die Nase und löste eine sechsmalige Niesattacke aus.
„Los mach es weg, es stinkt erbärmlich!“
Er zerknüllte ein Stück seines Taschentuchs und stopfte es in den Flaschenhals.
„Mir gefällt das nicht, wir sollten gehen.“
„Warte“, flüsterte ich und richtete mein Licht auf das Pergament vor mir.
„Schau dir das mal an.“ Dutzende Namen und Aufzeichnungen standen auf dem Papier.

  • Annamaria – wird von ihrem Mann geschlagen
  • Elisabeth – wird von ihrem Vater misshandelt
  • Margaretha – wurde von ihrem Vetter vergewaltigt
  • Gertraud – wurde von den Männern ihrer Familie verprügelt und verstoßen, weil sie eine Fehlgeburt erlitten hat

Die Liste war mehrere Seiten lang und hinter jedem einzelnen der Namen war ein fein säuberlicher Haken gesetzt.
„Ist es das was ich denke?“ Simons Stimme zitterte, als er auf die Aufzeichnungen starrte. „Ist das in den Flaschen etwa Gift?“
„Das ist unglaublich!“ Ich fühlte mich wie eine Ermittlerin der Mordkommission, die gerade das größte Rätsel gelöst hatte. „Es stimmt tatsächlich was man über sie sagt. Simon, all die Morde hat sie nicht aus Boshaftigkeit getan, oder weil sie eine Hexe war. Sie gab den verzweifelten und misshandelten Frauen eine Chance!“
„Du klingst fast so, als würdest du sie dafür bewundern.“
„Ich bewundere sie jedenfalls für ihren Mut.“
„Das wird mir alles zu viel hier. Bleib du ruhig da und verehre weiter diese Hexe. Ich jedenfalls werde zum Auto gehen und die Polizei rufen.“
Er lief rückwärts die Treppen nach oben, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.
Dann war er fort.

Das war fünf Stunden, bevor er als vermisst gemeldet wurde und das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte. Das einzige, was von ihm übrig geblieben war, war seine Taschenlampe, die sich oben auf dem Boden drehte wie eine leere Bierflasche beim Flaschendrehen.

Der eiserne Schlüssel lag schwer in ihrer Hand. Sie dachte an die endlosen Diskussionen mit Elsa über den Austausch des veralteten Schlosses und schmunzelte, weil die Antwort ihrer Großtante sich so fest in ihr Gehirn brannte, dass sie sich in fünfzig Jahren daran erinnern würde. »Ich, die dicken Wände und dieser Schlüssel sind Relikten alter Zeiten, man kann uns nicht ersetzen.« Wie Recht sie hatte, seufzte sie, während sie eine Träne wegwischte und das Eisen in der Holztür drehte.
Sie erwartete einen moderigen Geruch, da die Wohnung seit Wochen nicht gelüftet wurde. Sie atmete tief ein und stellte überrascht fest, dass der typische »Tante-Elsas-Wohnung-Geruch« immer noch in der Luft hing. Bereits in ihrer Kindheit rätselte sie darüber, was diesen eigentümlichen Duft ausmachte. Ob es ihr Waschmittel, ihre zahlreichen Pflanzen, deren Menge und Größe das Wohnzimmer in ein kleines Dschungel verwandelte oder die ebenso vielen Seifen in ihrem Schrank waren - wahrscheinlich nicht. Die Zimmerpflanzen waren lange fort. Ein Teil von ihnen zog mit Elsa ins Heim und ein Teil wuchs in ihrem Kinderzimmer zuhause weiter. Die Möbel waren nicht nur ausgeräumt, sondern teilweise verkauft worden, die Seifen (die in ihrer Anzahl sagenhafte 187 Stück erreichten) an Bedürftige verschenkt und gewaschen wurde in der Wohnung seit fünf Jahren nicht mehr. Doch der Duft war da und sie mochte ihn genauso, wie sie die hohen Decken, die Holzdielen aus brauner Erle und ihren Lieblingsplatz auf der Bank im Erkerfenster mit weißen Fensterrahmen liebte. Sie stellte sich vor, wie sie ihre eigene grüne Welt im »Auge der Stadt«, wie Elsa ihren Erker nannte, mit einem Schaukelstuhl und einem kleinen Bücherregal für ihre aktuellen Lieblingsromane erschaffen würde. Sie konnte von dort aus über die Dächer der umgebenden Häuser sehen und beim klaren Wetter reichte ihr Blick sogar bis zu den Bergen.
Ihre Eltern wollten die Wohnung nach dem Ableben ihrer Großtante komplett leer räumen und verkaufen. Es kostete ihr stundenlange Überredung und mehr Argumente als ein Verteidiger im Gericht je gebracht hatte, sie umzustimmen, damit sie ihr die Stücke beließen, die ihr ans Herz gewachsen waren. »Wir können die Wohnung nicht vermieten, wenn da der Kram herumsteht«, jammerte ihre Mutter. »Wir sollten renovieren… und denk an das viele Geld, das wir monatlich bekommen könnten… du könntest aus dem Geld eine kleinere Wohnung kaufen und deine Studienzeit finanzieren…« Doch ihr war es egal. Der Verlust der Mieteinnahmen und die hohe Rendite, mit der sie verkaufen könnte, interessierten sie nicht. Sie wollte, dass der Sekretär, an dem ihre Großtante ihre zahlreichen Briefe schrieb, an seinem Platz blieb und dass die alte Kommode, aus der Elsa bei jedem ihrer Besuche eine Überraschung für sie hervorzauberte, nicht auf dem Sperrmüll landete. Das Bücherregal lehrte sie die Welt der Geschichten zu mögen. Sie kämpfte zwei Jahre lang, damit die Erinnerungsstücke an die geliebten Zeiten auf sie warten durften.
Sie öffnete die Flügeltür zur Küche und betrat Großtante Elsas grünen Himmel. Ihre Mutter hasste die mintgrün gestrichenen Holzmöbel. »Sie sehen aus, als wären sie hundert Jahre alt!«, klagte sie in der Hoffnung, sie würde sich von ihnen trennen. Wahrscheinlich standen sie sogar länger als hundert Jahre am selben Ort und sie dachte nicht mal daran, sie zum Tode zu verurteilen. Sie erinnerten sie an die Tage, an denen ihre Großtante mit ihr morgens bis abends Plätzchen backte, egal ob es Weihnachtszeit war oder nicht, während ihre Mutter Verbrecher hinter Gitter brachte. Wie sollte ihre Mutter verstehen, wie es einem das Herz erwärmte, in der warmen Küche gefüllt mit voller Mandelduft zu stehen und Mozarts »Eine kleine Nachtmusik« anzuhören, mit einem Kakao in der einen und ein Plätzchen in der anderen Hand, wenn die Weihnachtsvorbereitung ihrer Mutter daraus bestand, eine Tüte Kekse aus der Bäckerei und den geschmückten Plastikbaum vom Speicher zu holen? Sie würde die grüne Küche behalten und immer das freundliche Gesicht ihrer Großtante sehen, wie sie ihr davon erzählt, dass dieses Heim, diese kleine heile Welt, eines Tages ihr gehören würde.
»Jetzt ist es so weit, Elsa«, sagte sie entschlossen, »endlich bin ich volljährig und muss nicht mehr dafür kämpfen.« Sie wird hier einziehen. Denn egal, was Ihre Eltern ihr rieten und wie sehr sie sie zu einem Verkauf drängten, es war ihr Zuhause, das Heim, das ihr das große Haus am See nie bat.

Realität oder Fantasie

Aufgeregt stehe ich vor der alten Holztür. Der Schlüssel lässt sich nur schwer in dem Schloss drehen. Auf einmal springt die Tür auf. Ein modriger Geruch schlägt mir entgegen. Unsicher betrete ich den Raum. Das Tageslicht fällt durch die verschmutzten Fensterscheiben auf den Fußboden, der mit Staub übersät ist. Vereinzelt sind Fußspuren zu erkennen. Mir fallen sofort die verschiedenen Größen auf. Abrupt bleibe ich stehen, weil mich ein ungutes Gefühl beschleicht. Mein Blick schweift durch das Zimmer. Rechts von mir in einer Ecke steht ein verwahrlostes Holzbett mit einer zerfetzten Matratze. Ein Stuhl mit drei Beinen liegt davor. Das vierte Stuhlbein ist nirgends zu sehen. Ich schaue mich weiter um und entdecke in einer anderen Ecke einen Kohleofen, auf dem eine kleine verzierte Kiste steht. Neugierig geworden schleiche ich zu dem Ofen. Mit klopfenden Herzen hebe ich den Deckel der Schachtel hoch. Sofort springt mir der Zettel mit der verschnörkelten Schrift entgegen. Ich versuche laut zu lesen, um meine Unsicherheit zu verdrängen, doch es kommt nur ein Gestammel über meine Lippen: „Nicht umdrehen!“

„Sollen wir den Schlüsseldienst rufen, oder soll es einer von uns über das gekippte Fenster versuchen?“
Wir hatten bereits eine viertel Stunde an der versperrten Tür Sturm geläutet, vergeblich. Beim Rundgang um den schmucken Bungalow in bester Stadtrandlage hatten wir in jedes Fenster geblickt, aber weder hatte sich im Inneren etwas bewegt noch Geräusche verursacht.
„Lass es, bis der Schlüsseldienst kommt, dauert es ewig. Ich versuch es über das Fenster.“
Mein stark übergewichtiger Kollege deutete mit dem Daumen nach oben, wie gut er meine Idee fand, während ich mein Bein auf das Fensterbrett schwang und mich hochzog, um die Verriegelung zu öffnen. Offensichtlich waren die Fenster seit dem Bau des Hauses, das schätzungsweise Anfang der frühen Siebziger errichtet worden war, nie erneuert worden. Das Einsteigen auf diese Art gelang deshalb wunderbar.
Auf der anderen Seite lag die Küche und dass sich die Sitzbank direkt unterhalb des Fensters befand, erleichterte meine Kletterübung.
„Hallo! Herr Maier? Frau Maier? Nicht schrecken, die Polizei ist hier. Ihr Sohn macht sich Sorgen um sie.“
Keine Antwort.
Die Kücheneinrichtung war zum Zeitpunkt des Aufstellens sicher der Traum jeder fleißigen Hausfrau gewesen, aber nun wirkten die orangen Blenden der Kästen und die kackgelbe Verfliesung aus der Zeit gefallen, lediglich das Ceranfeld und der Geschirrspüler ließen vermuten, dass hie und da doch die Moderne Einzug gehalten hatte.
Ich öffnete den Geschirrspüler, er war leer. Im Kühlschrank befanden sich außer ein paar Getränkeflaschen keine weiteren Lebensmittel. Die ganze Küche machte einen aufgeräumten und sauberen Eindruck. Lediglich ein paar dunkelbraune Bananen und ein von Fruchtfliegen besiedelter Apfel in einer Obstschale störten das Gesamtbild einer regelmäßig benutzten und sorgfältig rein gehaltenen Kochstätte. Wäre das alte Ehepaar anwesend gewesen, hätte ich mich hier gerne auf einen Kaffee einladen lassen. So aber irritierte der süßliche Geruch, der mir bereits beim Betreten des Raumes in die Nase gestiegen war und der sich nun verstärkte, als ich den Gang betrat.
Da alle Türen der angrenzenden Zimmer verschlossen waren, fiel kaum Licht herein und lag der Flur duster vor mir. Ich betätigte den Lichtschalter, mein Blick wanderte über die beleuchteten Wände. Von allen Seiten blickten mich die Hausbewohner an. Hochzeiten, Taufen, Geburtstage. Erinnerungen an ein ganzes Leben, glückliche Momente, erlebt von Generationen, in Bildern festgehalten und hinter Glas konserviert. Ein altmodisch gemusterter, aber gut gepflegter und deshalb noch immer farbintensiver Teppichläufer, führte durch den Gang. Der Boden war gesaugt, keine Spinnweben oder Staubflusen, die sich in den Ecken gesammelt hatten, vorhanden.
Nur hie und da eine schwarze fette Fliege, die hochschreckte, wenn ich an ihr vorbei ging. Ich folgte dem penetranten Geruch und den Insekten, die sich vor allem auf einer Tür niedergelassen hatten. Ich wusste was das zu bedeuten hatte, atmete kurz ein, hielt die Luft an und stieß die Türe in einem Schwung auf. Ein schwarzer Schwarm schwirrte um meinen Kopf, als ich das Schlafzimmer betrat. Zügig ging ich mit angehaltenem Atem an den beiden im Bett liegenden alten Leuten vorbei, um das Rollo am gegenüberliegenden Fenster hochzuziehen und es zu öffnen.
„Oje, brauchen wir einen Leichenbeschauer?“
Der Kollege hatte mein Würgen am Fenster wohl mitbekommen. Ich bejahte und wartete. Trotz der begonnenen Verwesung lagen die beiden Alten wie schlafend nebeneinander, ihre beiden fahlen Hände zärtlich ineinandergelegt.
Am Nachttisch mehrere Medikamentenpackungen, zwei Gläser mit milchigem Bodensatz. Ein kurzer Brief über Alter, Krankheit, Vergessen und eine große Liebe.

Ein Container steht vor unserem Haus, ein Mehrfamilienhaus mit, Gott weiß wie vielen Parteien. Er ist voll mit alten Möbeln und Ramsch. Ich sehe Geschirr aus den Sechzigern, ein Tischtuch mit goldenen Fransen, Blumenkübel aus brauner Keramik und ebenso betagte Blumenvasen. Gerade wirft ein Mann eine Mülltüte hinein, beim Aufprall rutschen ein paar in die Jahre gekommene Kleidungsstücke hinaus.
Ist das wirklich Ramsch oder eher das gesamte Leben eines Menschen?
Ich erkenne Röcke wie meine Oma sie getragen hat, geblümte Blusen und einen Pelz, in dem man sich heute besser nicht mehr auf die Straße traut. Neben dem Container ist Altpapier in Kartons gestapelt, obenauf liegt ein „Goldenes Blatt“. Ich schaue genauer hin, es ist eine Ausgabe vom August vor drei Jahren. Jetzt werden Fotoalben in den Container geworfen, eins rutscht über den Rand und fällt mir vor die Füße. Niemand achtet auf mich. Ich hebe es auf und blättere darin. Ich betrachte Fotos, die allesamt den rotgefärbten Charme der Siebziger haben. Darauf erkenne ich lachende Menschen in einer fröhlichen Runde und einen Urlaub am Meer. Beim Durchsehen mache ich eine Frau aus, die immer wieder auftaucht. Sie ist um die dreißig und lacht auf den meisten Bildern so herzlich, dass ich lächeln muss. Der Container füllt sich immer weiter, ich werfe das Album vorsichtig dazu und gehe auf den Hauseingang zu. Ich bin ein bisschen wehmütig und denke darüber nach, wer die Frau auf den Fotos wohl war.
Ich nehme die Treppe und komme im dritten Stock an eine offene Tür. Dort nehme ich diesen Geruch wahr, der mir von meinen Großeltern vertraut ist. Ich sehe beige gestrichene Wände und grünen Teppich im Flur. Nun bleibe ich stehen und schaue zu, wie Männer in blauer Arbeitskleidung im hinteren Zimmer einen bunt gewebten Läufer zusammenrollen. Dort hängen noch ein paar Fotos an der Wand und ich erkenne eine helle Stelle, wo eine Kommode gestanden haben muss. Die angegrauten Gardinen wehen sachte vorm gekippten Fenster.

Ich frage einen Mann, wer hier gewohnt hat. Er antwortet „Eine alte Frau, ist letzten Monat gestorben, lag mindestens 4 Wochen tot im Bett.“ Er hastet mit zwei Mülltüten an mir vorbei und ich gehe weiter die Treppe rauf, dabei zermartere ich mir den Kopf nach dem Gesicht der Frau von den Fotos. Ich wohne jetzt zwölf Jahre hier und wusste nicht, dass sie hier gelebt hat.