Die Laube
Wir möchten eine Laube kaufen, so für das Wochenende. Nun, auch für die Woche, wenn’s sein muss. Gießen fahren zum Beispiel, im Sommer bei großer Trockenheit. Das macht sicher Spaß, bringt Bewegung und ist gesund. Um die Laube, die wir besichtigen sollen, ist nämlich etwas Garten drum herum. Sonst hätte sie bei uns keine Chance gehabt. Seit vielen Jahren schon sei sie verlassen und sehr alt, sagt der Verkäufer. Und daher sehr preiswert. Er gibt uns den Schlüssel.
Wir fahren hin.
Die Laube ist sehr klein und hübsch. Wäre sie nur etwas größer, wäre sie sogar schön. Aber kleine Dinge sind eben hübsch.
Hübsch massiv ist sie auch - aus Mauerwerk und Holzdielen als Fußboden. Die Tür ist alt und eine Beleidigung für jeden Einbrecher. Müsste mal abgeschliffen und neu gestrichen werden, und geölt. Dieser Aufgabe fiebere ich schon jetzt entgegen.
Noch stehen wir im Garten und schauen uns um. Ziemlich verwildert, es gibt jede Menge zu tun. Wir freuen uns darauf, alles gestalten zu können. Wir werden viel Zeit haben. Oder brauchen? Wir werden uns sicher wohl fühlen, wenn alles fertig ist - irgendwann.
Ich versuche, die Tür zur Laube zu öffnen. Sie geht schwer auf und mit etwas Anstrengung öffnet sie sich ohne klischeehaftes Quietschen und gibt den etwas modrigen Geruch frei, und auch den Blick in eine halb durchdringliche Finsternis.
Die Einrichtung ist zu erkennen: rechts unter dem Fenster, es ist mit Pappe vernagelt, ein Tisch, ein Stuhl, eine Chaiselongue und ein brauner Holzkasten unklarer Bestimmung. Gegenüber an der Wand ein alter Bücherschrank. Links hinten ein Vorhang, der sicher in den kleinen Anbau führt, der von außen zu sehen ist und eventuell als Gerätekammer dient.
Ich gehe vorsichtig zum Fenster und reiße die Pappe weg.
Nun ist es hell hier drin. Mit dem Licht kommt der einige Millimeter hohe Staub zum Vorschein, der lückenlos, exakt und gleichmäßig alles bedeckt. Eine unberührte Landschaft, wie im Winter nach Neuschnee. Und wir sind die Ersten, die diese Unberührtheit stören dürfen.
Die Chaiselongue macht trotz des Lichts keinen freundlicheren Eindruck. Ich warne meine Familie, die Sitzgelegenheiten vorerst zu meiden. Damit trage ich jedoch Eulen nach Athen, denn mein Anhang steht an der Türschwelle und ist nicht gewillt, diese zu übertreten, bis ich alles nach den kiloschweren Spinnen und den meterlangen Ratten durchsucht hätte.
Nun gut, ich gehe zum Bücherschrank - und springe gleich zur Seite. Die Diele dort gab unter meinem Gewicht nach und der Schrank neigte sich plötzlich vor. Die Holzdiele krachte. Den Schrank kann ich gerade noch davor bewahren, ganz umzufallen. Ich halte ihn fest und schiebe ihn etwas zur Seite, wo die Dielen scheinbar noch halten. Die Familie hat sich leicht entfernt von der Türschwelle, um sich vor der herausquellenden Staubwolke in Sicherheit zu bringen. Man fragt vorsichtig von dort, ob ich noch gesund und bei Trost bin. Die knapp zweieinhalb Zentner, die mein Gehirn tragen, sind einfach zu viel. Ich muss dringend abnehmen. So geht das nicht weiter. Deswegen sind wir ja hier.
Vorsichtig gehe ich im Bogen um den Schrank nach links zum Vorhang, nehme ihn ganz langsam beiseite und schaue in den Geräteraum. Schon gewöhnen sich meine Augen an das Halbdunkel, da schlägt mein zukünftiges Gärtner-Herz höher: Die wichtigsten Gartengeräte sind vorhanden. Gleich vorn eine Harke und eine Hacke, ein bisschen verrostet, brauch man nur etwas abschleifen. Mehr Sorgen machen mir die kurzen Stiele, die für eine Hand und zum Knien vorgesehen sind, oder zum Bücken. Beides lehne ich ab, man will sich ja schließlich erholen bei der Gartenarbeit.
Weiter hinten eine originale Sense! Toll, so ein Stück! Sehr selten, geradezu wertvoll. Solch ein Werkzeug verlangt den ganzen Kerl; wer kann so was noch heut zu Tage bedienen? Ich werde fleißig üben müssen, sicher. Die Nachbarn mit Ihren lauten Rasenmähern werden gelb vor Neid. Jetzt allerdings ist der Rasen fast mannshoch und am Sensen-Stiel-Ende befindet sich ein altes rostiges flaches Metallgebilde. Ich werde viel zu tun haben. Es wird schon Spaß machen.
Die Familie draußen ruft nach mir und erkundigt sich nach dem Stand der Dinge. Ich bitte sie herein, nicht ohne auf die zerborstene Diele hinzuweisen. Nach kurzer Besichtigung und einem leichten Anflug von Deprimiertheit beschließt die Familie, die Laube und den Garten zu verlassen. Man habe genug gesehen und wird sich nach Besserem umtun.
… Ich nahm Abschied von meinen Plänen mit der Sense, der Tür… und dem Garten…
Da taucht plötzlich die Frage nach dem braunen Holzkasten auf, der unauffällig in der Ecke neben dem Tisch steht. Ein viereckiger Kasten, oben ein Deckel zum Aufklappen. In der rechten Seitenwand ein zentimetergroßes rundes Loch. Ganz sacht, um nicht unnötig Staub aufzuwirbeln, öffne ich den Deckel und schaue vorsichtig hinein. - Sofort habe ich die Sense vergessen. Beim Aufklappen des Deckels kommt ein Plattenteller und ein kleiner Trichter zum Vorschein, und unten entriegelt sich ein Schubfach.
Ein uraltes Grammophon steckt in diesem staubbedeckten Kasten!
Das ist natürlich eine Überraschung. Ob es noch funktioniert? Die Familie ist erwartungsvoll. Ich auch. Im Schubfach liegen einige Schellack-Platten. Die oberste nehme ich heraus und lege sie auf den Plattenteller. Die Kurbel aus dem linken Seitenfach stecke ich in das Loch rechts und versuche, das Federwerk vorsichtig aufzuziehen. Es gelingt. Einen kleinen Hebel noch umlegen, die Platte beginnt, sich ungewohnt schnell zu drehen. Die Nadel sanft auf die Platte gelegt, und nach ein paar Kratzgeräuschen geht es los. -
Was wir da hören und auch sehen, ist für unser Hi-Fi-Zeitalter derart faszinierend, dass wir in stumm-staunender Verzückung dem Gesang einer längst vergangenen Stimme aus längst vergangener Zeit lauschen - und nicht wagen, eine Bewegung zu machen, aus Angst, die Nadel könnte springen und die Darbietung stören. Wir werden zurückversetzt in die Zeit unserer Großeltern, in unsere Kindheit. Erinnerungen steigen vor unseren geistigen Augen auf. Erinnerungen an Gemütlichkeit, Geborgenheit und Wärme, an eine ruhige Zeit, die solch eine Laube hervorgebracht hat.
Ergriffen stehen wir noch in der alten staubigen Laube, als die Nadel das Plattenende längst erreicht hat… Die Laube ist nicht nur hübsch, die Laube ist schön. Sie ist alt, aber gemütlich. Wir werden sie herrichten. Sicher werden unsere Enkel dann noch hier spielen, in unserer kleinen Laube.
Wir kaufen sie, noch heute!