Wo war er schon wieder? Hatte er einen Hasen, ein Reh gewittert?
Für Rehe war die Macchia hier zu dicht. Ein Murmeltier, oder einen Fuchs?
Ich versuche zu pfeifen. Wie immer misslingt es, bringe nur ein Zischen zustande.
„Lupo! Lupito, wo bist du?“
Das Dickicht zwischen den hohen Laubbäumen wird allmählich undurchdringlicher. Kein Weg mehr, kein Pfad, keine Schneise.
Ich fluche leise vor mich hin. Dieser Hund! Immer im unwegsamen Gelände unterwegs!
Ein Durchkommen ist fast unmöglich. Zweige der Büsche greifen nach mir, wie Krakenarme. Brombeersträucher zerkratzen meine Beine.
Eine Machete! Die wäre jetzt hilfreich.
Aber wer nimmt schon auf einen Nachmittagsspaziergang eine Machete mit?
Abgesehen davon, ich besaß keine.
Wozu auch. Wir waren nicht im Dschungel, sondern unweit des Meeres und der Strände. Gleich oberhalb der Straße im Hinterland, mit seiner betörenden Natur, den Wäldern, Felsen, Flüssen und Wasserfällen.
„Lupito! Lupo! Melde dich! Sag was!“
Ich bleibe stehen. Nehme die Gerüche auf, nach Laub und Erde, honigsüßen Beerenfrüchten, den herben Duft vereinzelter Zypressen, und zart, halbverweht, den salzigen Geschmack des Meeres.
„Lupo!“
Ich lausche. Wie erwartet, höre ich nichts von ihm.
Umso mehr empfinde ich die Geräusche der Natur. Das Rascheln, Zwitschern, Rauschen, Raunen ist allgegenwärtig. Verbindet sich zu einer Natursinfonie. Ein perfekt aufeinander eingestimmtes Orchester.
Hörst du aufmerksam zu, wirst du ruhig. Nicht still. Nur ruhig.
Jedes Fremdgeräusch, das nicht der Natur entspringt, bemerkst du sofort.
Ein Störfaktor, wie eine Trillerpfeife in einer Mozartsinfonie.
Genauso war das.
Ein Geräusch, als ob jemand mit Fingernägeln auf einem Blech kratzen würde. Kennst du das?
Das fährt dir durch Mark und Bein, die Zähne schmerzen, das Trommelfell ohnehin … Schrecklich, nicht?
Ein derartiges Geräusch hier in der Wildnis?
Da, nochmal. Diesmal gefolgt von einem kurzen Wuff-Laut. Nicht drohend, sondern um Aufmerksamkeit heischend. Wieder das Kratzen. Ganz nahe.
Mein angestauter Atem stößt sich von selbst aus. Gott sei dank, Lupito!
„Ich eile! Ich komme!“
Ohne auf Dornen und Stacheln zu achten, bahne ich mir einen Weg durch die Büsche. Licht fällt durch die hohen Bäume auf die Szenerie.
Da liegt ein Automobil, eine Art Kleinbus, in Schieflage. Hinten auf einer Seite eingesunken bis zum Schutzblech. Wie zum Trost wird das blecherne Hinterteil von rankenden Pflanzen zärtlich umarmt. Eine Symbiose zwischen Natur und Technik.
Ein Campingbus, undefinierbare Farbe, alle Schattierungen von Schmutz, schwarz, grau verschimmelt, grünlich, verrostet, nur dort, wo unter den Pflanzenschlingen das Blech hervorlugt, die Originalfarbe - Beige.
Dieses Beige, das dich unsichtbar macht, wenn du es als Kleidung trägst.
Kein moderner Autobauer würde heutzutage diese Farblackierung verwenden.
Lupo hat sich zur vollen Größe aufgerichtet. Auf die Hinterläufe gestellt, hält er sich mit den Vorderpfoten am Rahmen des Fensters der Beifahrertüre fest. Als ob er hineinspähen würde. Er kratzt am Blech und wendet mir den Kopf zu.
Seine Augen blitzen. „Siehst du, was ich entdeckt habe!“
Mein Herz fällt zuerst in meinen Bauch, um gleich darauf nach oben zu hüpfen und gegen meine Rippen zu trommeln.
„Vorsicht!“ rufe ich. „Du weißt nicht, was dahinter ist…“
Lupo traktiert inzwischen mit der Vorderpfote den Türgriff. Der hängt halb herunter, sträubt sich. Aber Lupito ist hartnäckig.
Behutsam, als ginge ich über ein Nest mit rohen Eiern, nähere ich mich.
Endlich ist es Lupo gelungen, der Türe einen Spalt abzutrotzen. Er hilft mit der Pfote nach. Vergeblich.
Sieht zu mir. „Nun komm schon, das ist dein Part!“
Seufz. Nun ja.
Erwartungsvoll blickt Lupo mich an. Ich versuche, die dicke Staubschicht wegzuwischen. Sie leistet Widerstand, entpuppt sich als zähe, von der Sonne gehärtete Schmutzschicht. Egal.
Ehe ich mich hineinwage, schaue ich mir dieses Vehikel von außen an. Trotz aller Blessuren, Staub und Schmutz, strahlt es eine unverwüstliche Würde aus.
Bullig, nicht unsympathisch. Alt.
Aha, ein Stern. Der Stern! Das erklärt einiges. Wertarbeit.
Selbst eingesunken ist der Bulli (der Name fiel mir unvermittelt ein) hoch genug, um drinnen aufrecht stehen zu können. Für den Einstieg zu den Vordertüren gibt es zwei Trittbrettstufen.
Die vordere Stoßstange hängt schief, halb verrostet, das Fragment des Nummernschilds ist unlesbar. Die Windschutzscheibe, aufgesplittert in Kristalle, starrt vor Dreck, hält aber tapfer die Stellung. Ich bin beeindruckt.
„Wie bist du nur hierher gekommen?“, frage ich Bulli.
Es gibt keinerlei Spuren. Andererseits, vor Jahren war es hier anders. Die Natur verändert sich ständig. Ist immer wieder neu und ursprünglich.
„Bist du ein Überbleibsel einer Filmkulisse? Warst du Teil der Requisiten eines dieser zahlreichen Filme, die hier in der Gegend gedreht wurden?“
Denn diese Landschaft ist so wild und unberührt, dass mancher Regisseur, seinen märchenhaften Film nicht in fernen Ländern drehte, sondern hier.
Lupo stupst mich an. „Schau doch mal drinnen nach!“, scheint er zu sagen. Er schnüffelt aufgeregt.
„Ja, ja.“
Ich spreche mir selbst Mut zu: „Es wird schon gut gehen. Was soll schon sein!“
Der Bulli erscheint mir nicht mehr gefährlich. Sogar ein wenig vertraut.
„Du bleibst vorerst draussen!“, schiebe ich Lupo zurück, der sich zwischen meinen Beinen durchzwängen will.
„Lass mich erstmal erkunden“!
Beifahrersitz gibt es keinen mehr. Jemand hat ihn fein säuberlich abmontiert.
Auf der Fahrerseite, ein filigranes Kunstwerk, ein Spinnennetz, welches das Lenkrad, das Armaturenbrett, und den Sitz umspannt.
Weiter drinnen, nicht das Chaos, das ich erwartet hatte. Es liegt kaum etwas auf dem Boden. Der 2 flammige Gasherd ist zugedeckt. Kein Geschirr, kein Topf steht herum. Da hat jemand gründlich und mit Bedacht ausgeräumt. Zumindest alles, was beweglich ist und fallen oder rutschen könnte. Scheint verstaut in den oberen Kästen zu sein.
Jeder Zentimeter Platz im Fahrgastraum, besser gesagt im Wohnbereich, ist ausgenützt. Trotz des Staubschleiers, der über allem liegt, erkennt man die präzise Arbeit, mit der die Ausstattung gebaut wurde. Ein Künstler musste hier am Werk gewesen sein. Liebevoll schmiegen sich die Oberschränke an die Rundung des Daches. Millimeter passgenau mit dünnem Holz, der Verlauf der Holzfaser ergibt ein grafisches Muster. Sogar die Vergrauung, Verwitterung passt sich an. Alle Oberschränkchen sind noch intakt. Nur am Letzten rechts hinten ist eine Leiste abgesplittert.
Die Schränkchen lassen sich nach oben öffnen, den Handgepäcksfächern über den Sitzen im Flugzeug nachempfunden. Sehr schlau. Auch innen sind die Fächer klug durchdacht. Jedes Fach hat vorne ein Geländer, eine Metallstange. Tassen und Ähnliches können nicht rausfallen, z.B. in den Kurven, oder bei einem Crash.
Jetzt steht nur ein einziger einsamer Kaffeebecher im vorderen Oberschrank. Alle anderen Kästen sind leer. Ausgeräumt bis auf den letzten Krümel.
Ebenso der Unterschrank für die Gaskartusche. Zum Glück. Eine Gefahr weniger.
Ich hoffe auch, dass kein Benzin mehr im Tank ist.
Oder Diesel. Dieser typische Geruch. Ich vermeine, ihn wahrzunehmen.
„Reiß dich zusammen“ rede ich mir zu. „Es kann gar nicht sein, nach all den Jahren ist alles längst verpufft.“
Ich würde mich gerne setzen.
Es gibt keine Sitze im Fahrgastraum. Nur eine eingebaute Sitzbank aus Holz vor dem Rückfenster. Ein Tisch, ebenfalls aus Holz, zerbrochen in zwei Hälften.
Pff …, lasse ich mich auf die Bank plumpsen.
„Atme tief durch“ befiehlt mein innerer Zensor. Drei Atemzüge und ich werde gelassener. Sachte fahre ich mit den Fingern den Rand der Tischplatte entlang.
Spüre zuerst, dann sehe ich …
Es ist ein Z eingeritzt, schwungvoll wie mit einem scharfen Messer. Der Buchstabe verschwimmt mir vor den Augen. In meinem Kopf erklingt fröhliches Kinderlachen, eine helle Kinderstimme: „Schau mal Mama, was ich kann…“
Meine Haut brennt, sicher habe ich Fieber. Ein leichter Schwindel überfällt mich.
„Das kann nicht sein! Wie sollte das zugegangen sein? Unmöglich.“
Das Blut pocht in meinen Ohren. Ich springe auf, schiebe die Sitzplatte zur Seite. Der Kasten darunter gähnt mich in dunkler Leere an.
„Ob es noch da ist?“
Meine Hände zittern. Ich taste Wände und Boden ab, ziehe mir dabei einen Schiefer ein. „Aua!“ Ich entferne ihn, lecke den Blutstropfen ab. Suche weiter. In der hinteren Ecke, dort wo es am dunkelsten ist, fühle ich ein loses Brettchen. Es lässt sich leicht abheben. Auf der Rückseite klebt ein vergilbtes Papier. Darauf sind einige handschriftliche Zeichen.
Ich brauche gar nicht zu schauen. Ich kenne dieses Papier.
Lupo hat sich hereingeschlichen, legt mir seinen Kopf auf die Knie, sieht mich an mit seinem wissenden Blick:
„Komm, lass uns gehen, wir haben hier nichts mehr verloren. Du hast nun alles.“
Nie werde ich erfahren, wie unser alter Campingbus in dieser Wildnis landete.
Ich selbst hatte ihn vor vielen Jahren verkauft. An ein Pärchen, das damit bis in den Libanon fahren wollte.
Sie haben es wohl nicht ganz geschafft!