Was ist hier geschehen?
Das Grundstück fasziniert mich, seit ich es das erste Mal entdeckt habe. Wie oft habe ich die zwei Stunden Autofahrt schon in Kauf genommen, um hier zu stehen und durch das alte Tor zu sehen?
Ein schmiedeeisernes Tor ist es. Alt. Verrostet. Wunderschön.
Die beiden Flügel hängen schief in den Angeln. Niemand würde von ihm ausgesperrt werden.
Niemand? Sollte ich es wagen? Und schon schlüpfe ich durch den einladenden Spalt und stehe auf der großen, ungemähten Wiese.
Das kleine Haus steht an der gegenüberliegenden Seite. Langsam gehe ich darauf zu und betrachte es. Es hat schon vor langer Zeit seinen Glanz verloren und doch zieht es mich immer wieder an.
Das Dach ist mit alten Schindeln bedeckt. Einige fehlen und liegen verstreut am Boden. Der Schornstein hat keinen Kaminhut mehr.
Auch die Regenrinnen hängen fast traurig unter dem Dach. Sie sind mit Moos bewachsen und zeigen Löcher. Das werden viele Tiere als Wohnung nutzen, denke ich.
Das Haus besitzt nur wenige, kleine Fenster. Alle besitzen ein Fensterkreuz und Läden. Doch kein einziger Laden ist geschlossen.
Der ehemals weiße Verputz der Wände ist heute an vielen Stellen schwarz. Ob von Schmutz oder gar Schimmel möchte ich nicht so genau wissen.
Zögernd gehe ich an der Wand entlang. Überall steht hohes Gras. Ich passe auf, wohin ich meine Füße setze. Zum Glück. Kaum um die Ecke gebogen, stehe ich am Rand einer größeren Vertiefung im Boden.
Beim zweiten Blick stelle ich fest, dass es sich hier um ein Schwimmbad gehandelt haben muss. Grünes Wasser hat sich am Boden gesammelt. Pflanzen überwuchern die Ränder, sodass ich es beinahe nicht gesehen hätte.
Unwillkürlich stelle ich mir die Frage, wie lange hier niemand mehr war.
Vorsichtig und großräumig umrunde ich das Becken und nähere mich der nächsten Hausecke. Hier führt eine Treppe nach unten.
Lose Steine und ausgebrochene Platten erfordern meine gesamte Aufmerksamkeit. Ein Geländer gibt es nicht. Mittig auf der Treppe sehe ich die Ostseite des Hauses und bleibe verwundert stehen.
Welche ein überwältigender Anblick. Vor einem Teil der Wand wurde eine Pergola gebaut. Ich kann nicht sagen, ob die rankenden Pflanzen die morsche Konstruktion halten oder umgekehrt.
Der Boden besteht aus alten, lose verlegten Steinen. Begrenzt wird dieser Platz von Rabatten. Ich erkenne heute noch unterschiedlichste Blumen, obwohl alles verwildert ist.
Ich habe Achtung vor dem Alter und gehe rund um die Pergola zu einer weiteren Treppe. Diesmal führt sie nach oben.
Über sie komme ich zu einem alten, aus schwarzem Holz gebauten Windschutz vor der Haustüre. Hier steht eine knorrige Hausbank. An der Lehne ist eine Jahreszahl eingraviert. Der wackelige Tisch davor erscheint etwas desolat. Aber trotz der vielen Spinnweben wirkt der Platz gemütlich.
Mein Blick fällt auf die Haustüre und dem offenen Briefkasten daneben. Magisch zieht er mich an. Ich weiß, dass ich mich unbefugt hier aufhalte und der neu wirkende Zettel im Kasten mich nicht zu interessieren hat. Und doch nehme ich ihn zur Hand. Ein Schreiben des hiesigen Stromanbieters. Anscheinend wurde beim letzten Besuch niemand angetroffen. Das ist über sechs Monate her.
Meine Neugierde kennt kein Zurück. Ich wage es. Doch die Haustüre ist verschlossen. Aber die Fensterläden sind offen. Schon stehe ich am nächstgelegenen und sehe hindurch.
Der Vorraum ist relativ leer. Nur ein paar Haken an der Wand, eine Matte für die Schuhe, ein kleiner Kasten. Doch an einem Haken hängt ein alter Männerhut, daneben ein schwarzer Mantel. An den grünen Gummistiefel klebt eine dicke Schicht getrockneter Erde.
Durch das nächste Fenster sehe ich ein Schlafzimmer. Kurz will mich die Scham wegholen, aber die Neugierde siegt.
Das klein wirkende Doppelbett ist mit grober Bettwäsche bezogen. Aber nur auf einer Seite. Die Decke und der Polster sind zerwühlt, als wäre eben jemand aufgestanden. Der massive Kleiderkasten ist aus dunklem Holz gefertigt und scheint für dieses Zimmer zu groß zu sein.
Der nächste Raum war das Badezimmer der Besitzer. Das Fenster ist so schmutzig und blind, dass ich nur ein Handwaschbecken erkenne. Darauf liegen eine Zahnbürste ein Kamm und ein Stück brauner Seife. Nachlässig über eine Art Hocker wurde ein dickes Handtuch geworfen. In einer Ecke sehe ich Kleidung liegen. Vielleicht ist es eine Arbeitshose.
Nachdenklich wende ich mich dem letzten Fenster zu. Wie erwartet sehe ich in die Küche.
Wie auch in den anderen Zimmern, gibt es hier nur wenig Möbel. Einen Tisch mit drei Sessel, eine alte, schwarze Anrichte mit grünen Glaseinsätzen in den oberen Türen. Die Küchenzeile ist eine Spüle, ein Unterschrank und ein Elektroherd.
Beklommen bemerke ich die eigentlichen Alltagsdinge. Am Tisch stehen eine halbvolle Flasche und ein leeres Glas. Ein Suppenlöffel liegt halb dahinter.
Mein Blick wandert wieder zum Herd. Ja, da steht ein Topf auf einer Platte und daneben ist ein Teller platziert.
Durch die offene Türe gegenüber erblicke ich ein altes Sofa. Links erkenne ich einen bestickten Polster. Er scheint den Kopfabdruck seines Besitzers verewigt zu haben. Eine rot und weiß karierte Decke liegt nachlässig am anderen Ende, wie ein Häufchen Elend.
Was ist hier passiert? Nachdenklich wende ich mich vom Haus weg und gehe zu meinem Auto. Ich fühle mich wie ein Eindringling in einem fremden Leben…