Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Erinnerung

Wieder sitze ich in deinem Zimmer. Der alte Stuhl knarrt, wenn ich mich zurücklehne, den Kopf an die Wand gestützt. Ich spüre die Kälte, die aus der Mauer in meinen Schädel kriecht. Doch ich verändere meine Position nicht. Mein Blick fixiert das Bild an der Wand, das du gemalt hast. Es zeigt eine Sonne, die beinahe die gesamte Fläche ausfüllt. Ihr Gesicht ist gelb und orange, Mund und Nase sind feuerrot, Augen und Wimpern grün. Die roten und orangen Strahlen stehen wie Bartstoppeln bis zu den Bildrändern ab. Dahinter ein blaugrüner Hintergrund. Ich weiß nicht, weshalb du die Sonne vor diese Farben gesetzt hast. Sie haben nichts mit dem strahlend hellen Blau des Himmels zu tun. Und dennoch passen diese Farben hervorragend zu deiner Sonne.
In all den Jahren habe ich so vieles vergessen. Doch diese Sonne hatte sich so sehr in meine Erinnerung eingebrannt, dass sie ich sie jederzeit bis ins letzte Detail vor mein geistiges Auge zitieren kann. Und immer, wenn ich das Bild der Sonne imaginiere, erscheint dein Gesicht so deutlich und klar vor meinen Augen, als befändest du dich nur wenige Meter neben mir. Es beruhigt mich, dass meine Erinnerung die Sonne nicht verfälscht hat, so wie sie es mit vielen Dingen tut. Dann hat sie es auch mit deinem Gesicht nicht getan.
Vermutlich ist das der Grund, weshalb ich in dieses verlorene Haus zurückgekommen bin: Ich wollte mich vergewissern, ob ich dein Gesicht noch richtig erinnere. Es ist merkwürdig und ich verstehe es bis heute nicht: bei unserer Flucht aus diesem Haus haben wir so gut wie nichts mitgenommen. Unsere Eltern wollten das so. Nicht ein einziges Foto von dir hatten sie mitgenommen. Sie wollten dich vergessen, um ihren Schmerz zu betäuben. Aber sie haben es nicht geschafft.
Ich dagegen dachte ständig an dich und wollte nichts mehr, als dich erinnern. Und mit der von dir gemalten Sonne ist mir das über all die Jahre gelungen. Sie ist für mich das Wichtigste an diesem Haus.

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Die Mission

Vorsichtig pirschte Darvan sich durch den Brandpestwald. Die Tiere des Waldes waren schon eine Weile verstummt, nicht einmal mehr Vogelgezwitscher war zu hören. Er erspähte die ersten verschlissenen roten Bänder, die um die Stämme der Bäume geschlungen waren. Schon morsch, von Flechten und Moosen bedeckt, eine Warnung aus alter Zeit. Er hatte davon gehört, die Ältesten erzählten manchmal Geschichten darüber. Doch niemand wagte es, den Brandpestwald zu betreten, denn jeder, der dem verfluchten Tempel zu nahe kam, starb eines schrecklichen Todes, so hieß es. Man munkelte, dass der verbotene Ort schon vor den reinigenden Blitzen existiert hatte, lange bevor Darvans Dorf entstanden war. Unermessliche Schätze sollten dort vorhanden sein – und der sichere Tod. Er wäre niemals dorthin gegangen, doch die Umstände zwangen ihn dazu. Es war zu trocken gewesen in diesem Zyklus. Alles, was sie angepflanzt hatten, war verdorrt. Ohne Ernte würden sie den kalten Zyklus nicht überleben. Der Rat hatte ihn mit dieser Mission betraut. Er sollte wenigstens einen Teil dieser Schätze bergen und zurückbringen. Diese könnten sie bei den Flusshändlern gegen Vorräte eintauschen. Ihm war nicht wohl; seit Kindertagen hatte er Warnungen vor diesem Ort gehört, doch das waren sicher nur Geschichten ängstlicher alter Männer. Mit mehr gespieltem Mut als vorhandenem passierte er die Bäume mit den roten Bändern. Überschritt die Grenze.

Je weiter er vorwärtskam, desto stärker zeigte sich der verderbliche Einfluss des Tempels. Die Pflanzen waren seltsam missgestaltet, verdreht, verdorrt.
Bestimmt nur durch den heißen Zyklus, beruhigte er sich.
Schließlich konnte er durch die Bäume hindurch etwas Helles sehen. Das musste der Tempel sein. Er trat aus dem Wald heraus und betrachtete den Bau in Gänze. Das Mauerwerk war ursprünglich einmal weiß gewesen, doch nun verwittert und an manchen Stellen schmutziggrün. Ein langer Turm war umgestürzt und lag auf dem Boden. Die große Kuppel war zusammengebrochen und teilweise geborsten. Der ganze Ort sah aus, als hätte ein jähzorniges Kind sein Spielzeug durcheinandergeworfen. Niemand war in Sicht.
Das ist also der verfluchte Tempel?

Etwas mutiger betrat er durch einen der Risse das Innere. Das eindringende Tageslicht tauchte alles in ein Zwielicht und verbarg vieles im Schatten. Neugierig sah er sich um. Blaue, glatte Röhren, teilweise geborsten, daneben Kisten in verschiedenen Größen. Auch hier lagen überall Trümmer. Er fragte sich, wozu das verwendet worden war, damals, vor den reinigenden Blitzen. Die unbekannten Gegenstände waren faszinierend, doch von unvorstellbaren Schätzen sah er nichts. Langsam ging er weiter. Eine Vertiefung zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Auch hier, glatte, blaue Seiten. Ein Becken? Vielleicht ein rituelles Bad? Neugierig schritt er die Stufen hinab, die zum Grund führten. Lange Röhren waren dort in einem Gestell abgestellt und trugen ein fremdes Symbol, wohl das Zeichen des Gottes dieses Tempels. Mit den Fingern strich er darüber, doch nichts. Er umrundete das Gestell. Die Röhren auf der Rückseite waren brüchig und aufgerissen und der Inhalt lag teilweise auf dem Boden. Viele flachgedrückte Eier aus Metall, die selbst in diesem wenigen Licht glitzerten. Er hob eins auf und ließ es überrascht wieder fallen. Das Metallei war warm. Vielleicht war das der Schatz? Schließlich trug jedes Behältnis das Symbol des Gottes. Er drehte das Ei zwischen den Fingern hin und her. Steckten besondere Kräfte darin? Und selbst wenn nicht, konnte der Schmied des Dorfes etwas damit anfangen. Als Mindestes konnte man Schmuck daraus machen und den Flusshändlern verkaufen, ein Metallei, das wärmte, war bestimmt einiges wert. Es musste einfach so sein, andere Schätze hatte er nicht gefunden. Außerdem war ihm mulmig zumute, denn obwohl der verfluchte Tempel nur eine verlassene Ruine war, wie so viele, wollte er sein Glück nicht herausfordern. Bisher hatte sich der Fluch nicht bemerkbar gemacht. Er zog seinen Stoffbeutel hervor und stopfte hastig die herumliegenden Eier ein. Ein paar pulte er aus den beschädigten Röhren.
»Danke«, flüsterte er ehrfürchtig in die Stille, um dem unbekannten Gott seine Achtung zu erweisen.
Seine Hand glitt noch einmal über das fremde Zeichen: Drei schwarze Dreiecke, die sich fast an einer Spitze berührten und in der Mitte auf einen schwarzen Punkt trafen vor einem gelben Hintergrund.

Er schulterte den Stoffbeutel und ging die Stufen hinauf. Bis zur Dämmerung sollte er wieder im Dorf sein. Der Rat würde zufrieden sein.

Die Erbschaft

Bedächtig schritt Humphrey den mit Backsteinen gepflasterten Weg entlang und nahm dabei die grau gewordene Fassade des großzügig angelegten, zweistöckigen Gebäudes kaum wahr.
Es war der Türrahmen der schweren Eichentür, der seine Aufmerksamkeit band. Aufwändige Verzierungen ließen rund um die Tür kleine Wesen tanzen - mochten es Gnome oder Kobolde sein? Lachend sahen sie den Besucher an, zeigten ihm lange Nasen und streckten ihre schlanken Ärmchen und knochigen Finger nach ihm aus.
Humphrey schüttelte belustigt den Kopf und schob den Schlüssel ins Schloss.
Drinnen quietschten die Dielen unter seinen Füßen, als er vom Flur seines neuen Hauses als erstes einen Blick in die Küche warf. Dort fiel ihm der neue Kühlschrank auf, in dem er jedoch nur einige verschimmelte Bananen und Äpfel entdeckte. Der Herd war hingegen schon ziemlich in die Jahre gekommen, immerhin gab es auch eine Mikrowelle.
In allen anderen Räumen im Erdgeschoß bedeckte Staub den Boden und sie machten auf Humphrey den Eindruck, als seien sie schon seit Jahrzehnten nicht betreten worden. Er selbst legte keinen Wert auf eine besonders stilvolle Einrichtung, daher stellte sich ihm beim Anblick der altertümlichen Möbelstücke sofort die Frage, wie viel er wohl dafür bekommen könnte.
In diese Überlegung schloss er auch die zahlreichen Gemälde an den Wänden ein, die er für Originale hielt. Originale mit absonderlichen Motiven!
Auf den ersten Blick wirkten sie wie Abbildungen höfischen Lebens aus dem späten Mittelalter, doch als er näher hinsah, stellte er verwundert fest, dass sie zwar in der gleichen Art gemalt waren, doch statt adliger Damen und Herren tanzende Teufel, zottelige Ungeheuer und ihn anlachende Kobolde zeigten.
Humphrey zollte dem Maler innerlich dafür Respekt, dass die Bilder von weitem wie typisch für die Einrichtung der Räume erschienen, wo sie doch in Wirklichkeit solch lächerlichen Szenen wie aus einem Märchenbuch zeigten!
Besonders bei einem Gemälde fragte er sich, ob sein Onkel überhaupt bei klarem Verstand gewesen war, als er es aufgehängt hatte. Dort war ein Dinierzimmer abgebildet, sehr ähnlich zu dem, in dem es auch aufgehängt war. An einem langen Tisch saßen verschiedene, nur verschwommen dargestellte Gestalten, die statt Kleidung nur ihre übertrieben rosafarbene Haut zur Schau trugen und seltsam deformierte Gliedmaßen besaßen.
Auf dem Tisch befand sich ein üppiges Mal, und die Gestalten veranstalteten ein regelrechtes Gelage. Doch als Humphrey die Art der Speisen betrachtete, musste er schlucken, denn das Hauptgericht waren grüne Unterarme mit zu Krallen verkrümmten Händen und die Beilagen schienen ihm blutige Herzen zu sein. Die Gestalten aßen wie ausgehungert und dennoch voller Genuss.
Am Ende des Tisches hatte sich ein einzelnes Wesen erhoben. Es besaß überdimensionale Ohren, eine riesige Nase, ein ausgeprägtes Kinn, einen plumpen dicken Bauch und grünliche Haut. In der von langen Fingernägeln geprägten Hand hielt es einen silbernen Becher und aus seinem Mund troff eine rote Flüssigkeit.
Das Wesen schien jedoch weniger der Gesellschaft zuzuprosten, als sich mit ernstem Blick an Humphrey zu wenden. In seinem Kopf hörte Humphrey nun die Worte: „Willkommen Humphrey, in Deinem neuen Zuhause…“
Und dann war auf dem Gemälde der ernste Blick des Wesens einem breiten Grinsen gewichen, das ein gutes Dutzend ausgesprochen langer Zähne entblößte.


Langsam gehe ich durch die Räume. Wie anders es aussieht, wie leblos und leer. Hier und da fasse ich etwas an. In der Schale auf der Kommode liegen immer noch Opas goldene Manschettenknöpfe. Ich öffne eine Schublade. Alles wie immer. Nur die Staubschicht auf den Möbeln zeigt, es ist nicht wie sonst. Die Bewohner sind fort.
Von unten dringen Stimmen zu mir hoch. Ich verstehe nicht, was sie sagen. Ich habe mich davongestohlen, statt zu helfen. Ich weiß, dass sie im Wohnzimmer sind und die Sachen einpacken. Entscheiden wer was mitnimmt, was gespendet und was entsorgt wird. Ein paar Sachen habe ich mir schon zur Seite gelegt. Das Messer, mit dem Oma jeden Morgen ihre Brötchen aufgeschnitten hat und Opas Pfeife. Seine Lieblingstasse.
Eine Träne rollt mir die Wange hinunter. Ich wische sie weg. Greife nach den Manschettenknöpfen und lasse sie in meiner Hosentasche verschwinden. Es ist nicht viel das bleibt von den geliebten Menschen.

Ich gehe zur Balkontür und öffne sie. Vom Balkon aus betrachte ich den großen vertrauten Garten, den riesigen Pflaumenbaum in dessen Schatten ich unzählige Stunden verbracht hatte und lasse dann meinen Blick in die Ferne schweifen. Ich liebe dieses Haus. Auch wenn ich nie wirklich hier gewohnt habe, nur zu Besuch war, ist es doch Zuhause. Aber ich weiß, dass ich nie wieder hier sein werde. Der Verkauf wurde beschlossen, gefragt wurde ich nicht. Mir bleiben nur die Erinnerungen an die glücklichen Zeiten meiner Kindheit, die ich hier verbracht habe. Aber ohne seine Bewohner ist es nur ein Haus. Eine leere Hülle, das Gefühl der Heimat und Geborgenheit ist fort, fort mit seinen Bewohnern.

Ich gehe wieder zurück ins Schlafzimmer. Auf Opas Nachtisch neben der alten Nachtischlampe mit den Fransen am Schirm liegt immer noch eine angefangene Tafel Schogetten. Auch sie ist mit einer dicken Schicht Staub bedeckt. Die Schogetten brauchte er immer als Betthupferl. Als ich klein war, habe ich mich immer aus meinem Kinderbett in der Ecke geschlichen und versucht mir ein Stück zu holen. Es war ein Spiel zwischen uns, bei dem Opa mich jedes Mal erwischte und mir dann lachend ein Stück gab.

Der Zwilling der Nachtischlampe mit den Fransen grüßt verstaubt von der anderen Seite. Auf Omas Bettseite liegen keine Schogetten. Die durfte Oma nicht essen. Dass Oma mit dem, was sie Essen durfte, vorsichtig sein musste, gehört zu meinen frühestens Kindheitserinnerungen. Ebenso wie die Spritzen im Badezimmer und die Insulinfläschchen im Kühlschrank. Pudding, den sie nur für uns kaufte, H-Milch im Kühlschrank und Unmengen von Konserven im Keller. All das gehört zu meinen Erinnerungen. Ich ziehe die oberste Schublade von Omas Nachtisch auf. Die Fotos sind alle noch da. Sie liegen lose in der Schublade, Fotos von ihrem ganzen Leben. Selbst einige wenige, die sie auf der Flucht gerettet hatte, damals als sie Schlesien verlassen musste und sich auf den weiten Weg nach Westen zu ihren Schwiegereltern aufmachte, nur mit meinem wenige Monate alten Onkel im Kinderwagen, ihrer Mutter und Fips dem Dackel.

Ich suche nach meinen Lieblingsfotos und betrachte sie. Dabei sitze ich auf dem Boden, lehne mich mit dem Rücken an ihr Bett. Akkurat gemacht, wie immer. Versuche mir die Geschichten zu den Fotos in Erinnerung zu rufen. Habe Angst sie zu vergessen, so wie ihre Stimmen. Die Tränen laufen mir über die Wangen. Ich kann das nicht mehr. Ich nehme die Fotos, greife noch nach Omas alten verzierten Handspiegel und schleiche die Treppe herunter. Meine Familie ist immer noch im Wohnzimmer, aber mein Rucksack liegt neben der Eingangstür. Ich nehme ihn und stecke Fotos, Spiegel und Manschettenknöpfe zu meinen anderen Schätzen. Dann öffne ich leise die Tür und schlüpfe hinaus.

Ich atme einmal tief ein und wende mich dann nach links, laufe quer durch den Wendehammer und betrete den Grünstreifen dahinter. Nach ein paar Metern erreiche ich die große Buche und hangele mich hoch. Ast für Ast bis hoch zu dem Brett, dass seit vielen Jahren hier befestigt ist. Ich mache es mir auf dem Brett bequem, lehne mich an den vertrauten Stamm und schwelge in Erinnerungen. Fast meine ich das Küchenfenster müsste sich öffnen und meine Oma rufen: »Julchen, komm rein. Das Essen ist fertig!« Aber das wird nie wieder so sein.

Das alte Schloss

Eine alte Eiche steht gegenüber dem Schloss
und ein Kriegerdenkmal, Reiter hoch zu Ross,
Dornen verzieren das dicke Gemäuer,
noch geschwärzt vom letzten Feuer.

Im Innern erzählen Gemälde von der früheren Zeit,
innerhalb der Wände lastet jahrhundertalte Einsamkeit,
der Staub vergangener Zeiten zeugt vom letzten Atemzug,
das Leben hier war schön, doch jetzt ist genug.

Morgensonne tritt hinter Wolkenfetzen hervor,
Nebelschwaden steigen vom See empor,
am Ufer steht ein einsamer Wanderer, schaut zum alten Schloss,
zückt seine Kamera, Vergängliches zu verewigen, er beschloss.

Das Haus passt genau zu uns, trotzdem mag das Kind es noch nicht.
Der alte Mann ist schon vor Monaten gestorben. Im Krankenhaus.
Doch seine ganzen Erinnerungen sind hier. In jeden Winkel gestopft, hinter seinen Möbeln versteckt, an die Wände gehängt, aus den Schranktüren spähend.
Wir fühlen uns wie Eindringlinge. Sind es auch noch.
Im Dach unzählige Schachteln und Kartons mit Urlaubsdias. Fremde Erinnerungen an fremde Menschen. Sie können nicht hierbleiben. Mit leisem Unwohlsein, als ob wir etwas Verbotenes täten, bringen wir sie fort. Hinaus.
In einem anderen Raum wunderbares Papier zum Zeichen, zum Malen, zum Schreiben. Das darf bei uns bleiben. Der alte Mann muss Künstler gewesen sein.
Langsam machen wir sein Haus zu unserem Haus, fühlen uns wohl. Und doch verweilt in den hintersten Ecken die Erinnerung an einen Menschen, den wir nie kannten.

Das Haus der Hexe

Die krumme Holztür leuchtete im Abendrot, wie das Tor zur Hölle selbst. Das Holz war alt, so alt, dass es sicher nur noch vom Schimmel und dem guten Willen des Schreiners zusammengehalten wurde.

Meine Finger glitten über den runden Knauf und meine Augen ignorierten die großen Buchstaben, die auf meiner Augenhöhe prangerten. Verschwindet

Das verzerrte Rauschen des Funkgeräts ertönte und ließ mich zusammenzucken.
„Bist du bereit?“
War ich das? Ich wusste es nicht.
„Haaallo?“ Die viel zu gut gelaunte Stimme dröhnte blechern aus meiner Jackentasche.
„Großer Gott, Simon, schrei hier nicht so rum!“
Simon, mein Kommilitone und Projektpartner. Ein angenehmer, aber gleichzeitig auch anstrengender Mensch.
„Ich stehe vor der Tür. Wollte gerade reingehen.“
„Ich kann sehen was du siehst, Thalia. Schon vergessen?“
Das hatte ich tatsächlich vergessen.
Ich hob den Mittelfinger vor den Kopf und wackelte einige Male damit vor der Kamera.
„Ladylike wie eh und je. Nun geh schon und hör auf das Ganze hinauszuzögern.“
„Natürlich zögere ich. Ich stehe vor dem Haus einer Hexe, mitten im Wald, in der Dämmerung und du schreist hier durch die Gegend, als würdest du darum betteln das ich verflucht werde.“
„Sind wir nicht genau deshalb hier?“
„Idiot“, flüsterte ich, während ich das Funkgerät wieder in die Jackentasche stopfte.
„Ich kann dich auch ohne Funkgerät hören, süße.“
„Na das hoffe ich doch.“

Meine Finger zitterten, als ich mein Handgelenk gegen den Uhrzeigersinn drehte und die Tür mit einem lauten Quietschen aufdrückte, welches jeden Tontechniker mit Stolz erfüllt hätte.
Der Gummiknopf meiner Taschenlampe, Marke Leuchtturm, klickte laut und warf einen großen Lichtkegel hinein in die Dunkelheit.
Millionen Partikel aus Staub und Dreck tanzten in dem kaltweißen Lichtstrahl, wie der aufgewirbelte Sand einer Unterwasseraufnahme.
Das erste was mir auffiel, war der beißende Geruch von Ammoniak, der schwer in der Luft lag und langsam in meine Nase kroch.
„Und, wie ist es?“
„So wie man es vermutet. Dunkel und stickig.“
Das Licht meiner Lampe erhellte den Großteil des kleinen Raumes und schreckte die wilden Bewohner auf, welche sich im Laufe der Jahre hier eingenistet hatten.
Durch die dicke Sohle meiner schweren Wanderschuhe spürte ich etwas weiches. Ein abgenutzter, grauer Teppich lag in der Mitte des Raumes. Seine Ränder waren ausgefranst und die Farbe schon längst verblasst, doch vor vielen, vielen Jahren musste er etwas Wohnliches ausgestrahlt haben.
Einige Meter weiter im Raum stand ein großer Holztisch und darauf jede Menge hölzerner Schalen in allen Größen und Formen.
Meine Finger wanderten über jede einzelne von ihnen, berührten und spürten die Geschichte die sie erzählten, bis etwas Schwarzes über meine Hand huschte.
Ich erschrak so heftig, dass ich mitsamt den Schüsseln und der Spinne rückwärts fiel und auf dem harten Steinboden, direkt neben dem Teppich aufkam.
Meine Lampe drehte sich wie eine leere Bierflasche beim Flaschendrehen im Kreis und leuchtete nun tatsächlich wie ein außer Kontrolle geratener Leuchtturm.
Anstatt jedoch auf einen hübschen Mann zu deuten, den ich hätte küssen müssen, kam ihr Lichtstrahl auf einer Holzdiele zum Stehen, welche seltsam deplatziert aussah.

„Hey, alles in Ordnung bei dir?“
„Geht so. Bin gestolpert.“
„Soll ich kommen?“
„Nein, schon gut. Bleib du am Auto.“
„Wie du willst. Dann hopp, aufstehen und Krone – äh, GoPro richten.“
Ich mutete dem Holztisch neben mir eindeutig zu viel zu, als ich mich langsam an ihm hochzog. Das Knarzen und Wackeln erinnerten mich wieder daran wo ich war und was ich hier suchte.

Das Haus einer Hexe, die im 16. Jahrhundert zum Tode verurteilt wurde. Seither rankten sich Mythen und Geschichten um die namenlose Frau, die für den Tod hunderter Männer verantwortlich gewesen sein soll.
Immer wieder suchten Jugendliche und paranormale Aufklärungsteams nach ihrer Hütte und luden die Videos dazu auf YouTube hoch, doch keiner hatte sie je gefunden. Bis du diesem Tag.
Simon und ich sind darauf aufmerksam geworden, als wir nach einem Thema für unser Projekt im Fachkurs „Film“ gesucht hatten. „Das wird so erfolgreich wie The Blair Witch Project“, sagte er während wir nach der Hütte suchten.
Simon war schnell zu begeistern, mich hingegen interessierte die Geschichte dieser armen Frau mehr als der Gruselfaktor dahinter.

Langsam ging ich hinüber zu den Holzbrettern zwischen der massiven Steinwand und spürte den Luftzug, der sanft mit meinen Haaren spielte.
„Simon, hier ist etwas.“
Meine Finger gruben sich zwischen die Planken und rissen das morsche Holz von der Wand.
„Oh Fuck“, presste ich heraus, als ich die dunkle Steintreppe vor meinen Füßen sah.
„Ich sehe es. Bleib wo du bist, ich komme zu dir.“

Es waren 15 Stufen, die in feuchtes Gestein geschlagen wurden, bis wir in einem dunklen Raum tief unter der Erde angekommen waren.
Das Licht unsere Lampen bündelte sich und ließ den kleinen Keller in ein grelles Licht tauchen.
Vor uns stand ein Tisch und über unseren Köpfen hingen Bündelweise trockenes Gestrüpp, welches jedes Mal raschelte, als unsere Köpfe dagegen stießen.
Auf meinem Haar spürte ich die krümeligen Überreste, die wie Graupel auf mich herabregneten.
„Was ist das hier?“ Simon klang mittlerweile nicht mehr so mutig und ich spürte seine Hand, die meinen Arm fest umklammerte.
„Das sind Kräuter. Tausend verschiedene davon.“
Mein Blick fiel auf den Mörser und die trüben Phiolen, die auf dem Tisch vor uns standen. Auf den vergilbten Etiketten stand etwas. „Wiedergutmachung.“
„Was hat das zu bedeuten?“ Simon nahm eines der Fläschchen in die Hand und zog den kleinen Korken ab, der in seinen Händen zerbröselte. Ein furchtbar stechender Gestank stieg mir in die Nase und löste eine sechsmalige Niesattacke aus.
„Los mach es weg, es stinkt erbärmlich!“
Er zerknüllte ein Stück seines Taschentuchs und stopfte es in den Flaschenhals.
„Mir gefällt das nicht, wir sollten gehen.“
„Warte“, flüsterte ich und richtete mein Licht auf das Pergament vor mir.
„Schau dir das mal an.“ Dutzende Namen und Aufzeichnungen standen auf dem Papier.

  • Annamaria – wird von ihrem Mann geschlagen
  • Elisabeth – wird von ihrem Vater misshandelt
  • Margaretha – wurde von ihrem Vetter vergewaltigt
  • Gertraud – wurde von den Männern ihrer Familie verprügelt und verstoßen, weil sie eine Fehlgeburt erlitten hat

Die Liste war mehrere Seiten lang und hinter jedem einzelnen der Namen war ein fein säuberlicher Haken gesetzt.
„Ist es das was ich denke?“ Simons Stimme zitterte, als er auf die Aufzeichnungen starrte. „Ist das in den Flaschen etwa Gift?“
„Das ist unglaublich!“ Ich fühlte mich wie eine Ermittlerin der Mordkommission, die gerade das größte Rätsel gelöst hatte. „Es stimmt tatsächlich was man über sie sagt. Simon, all die Morde hat sie nicht aus Boshaftigkeit getan, oder weil sie eine Hexe war. Sie gab den verzweifelten und misshandelten Frauen eine Chance!“
„Du klingst fast so, als würdest du sie dafür bewundern.“
„Ich bewundere sie jedenfalls für ihren Mut.“
„Das wird mir alles zu viel hier. Bleib du ruhig da und verehre weiter diese Hexe. Ich jedenfalls werde zum Auto gehen und die Polizei rufen.“
Er lief rückwärts die Treppen nach oben, ohne mich dabei aus den Augen zu lassen.
Dann war er fort.

Das war fünf Stunden, bevor er als vermisst gemeldet wurde und das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte. Das einzige, was von ihm übrig geblieben war, war seine Taschenlampe, die sich oben auf dem Boden drehte wie eine leere Bierflasche beim Flaschendrehen.

Der eiserne Schlüssel lag schwer in ihrer Hand. Sie dachte an die endlosen Diskussionen mit Elsa über den Austausch des veralteten Schlosses und schmunzelte, weil die Antwort ihrer Großtante sich so fest in ihr Gehirn brannte, dass sie sich in fünfzig Jahren daran erinnern würde. »Ich, die dicken Wände und dieser Schlüssel sind Relikten alter Zeiten, man kann uns nicht ersetzen.« Wie Recht sie hatte, seufzte sie, während sie eine Träne wegwischte und das Eisen in der Holztür drehte.
Sie erwartete einen moderigen Geruch, da die Wohnung seit Wochen nicht gelüftet wurde. Sie atmete tief ein und stellte überrascht fest, dass der typische »Tante-Elsas-Wohnung-Geruch« immer noch in der Luft hing. Bereits in ihrer Kindheit rätselte sie darüber, was diesen eigentümlichen Duft ausmachte. Ob es ihr Waschmittel, ihre zahlreichen Pflanzen, deren Menge und Größe das Wohnzimmer in ein kleines Dschungel verwandelte oder die ebenso vielen Seifen in ihrem Schrank waren - wahrscheinlich nicht. Die Zimmerpflanzen waren lange fort. Ein Teil von ihnen zog mit Elsa ins Heim und ein Teil wuchs in ihrem Kinderzimmer zuhause weiter. Die Möbel waren nicht nur ausgeräumt, sondern teilweise verkauft worden, die Seifen (die in ihrer Anzahl sagenhafte 187 Stück erreichten) an Bedürftige verschenkt und gewaschen wurde in der Wohnung seit fünf Jahren nicht mehr. Doch der Duft war da und sie mochte ihn genauso, wie sie die hohen Decken, die Holzdielen aus brauner Erle und ihren Lieblingsplatz auf der Bank im Erkerfenster mit weißen Fensterrahmen liebte. Sie stellte sich vor, wie sie ihre eigene grüne Welt im »Auge der Stadt«, wie Elsa ihren Erker nannte, mit einem Schaukelstuhl und einem kleinen Bücherregal für ihre aktuellen Lieblingsromane erschaffen würde. Sie konnte von dort aus über die Dächer der umgebenden Häuser sehen und beim klaren Wetter reichte ihr Blick sogar bis zu den Bergen.
Ihre Eltern wollten die Wohnung nach dem Ableben ihrer Großtante komplett leer räumen und verkaufen. Es kostete ihr stundenlange Überredung und mehr Argumente als ein Verteidiger im Gericht je gebracht hatte, sie umzustimmen, damit sie ihr die Stücke beließen, die ihr ans Herz gewachsen waren. »Wir können die Wohnung nicht vermieten, wenn da der Kram herumsteht«, jammerte ihre Mutter. »Wir sollten renovieren… und denk an das viele Geld, das wir monatlich bekommen könnten… du könntest aus dem Geld eine kleinere Wohnung kaufen und deine Studienzeit finanzieren…« Doch ihr war es egal. Der Verlust der Mieteinnahmen und die hohe Rendite, mit der sie verkaufen könnte, interessierten sie nicht. Sie wollte, dass der Sekretär, an dem ihre Großtante ihre zahlreichen Briefe schrieb, an seinem Platz blieb und dass die alte Kommode, aus der Elsa bei jedem ihrer Besuche eine Überraschung für sie hervorzauberte, nicht auf dem Sperrmüll landete. Das Bücherregal lehrte sie die Welt der Geschichten zu mögen. Sie kämpfte zwei Jahre lang, damit die Erinnerungsstücke an die geliebten Zeiten auf sie warten durften.
Sie öffnete die Flügeltür zur Küche und betrat Großtante Elsas grünen Himmel. Ihre Mutter hasste die mintgrün gestrichenen Holzmöbel. »Sie sehen aus, als wären sie hundert Jahre alt!«, klagte sie in der Hoffnung, sie würde sich von ihnen trennen. Wahrscheinlich standen sie sogar länger als hundert Jahre am selben Ort und sie dachte nicht mal daran, sie zum Tode zu verurteilen. Sie erinnerten sie an die Tage, an denen ihre Großtante mit ihr morgens bis abends Plätzchen backte, egal ob es Weihnachtszeit war oder nicht, während ihre Mutter Verbrecher hinter Gitter brachte. Wie sollte ihre Mutter verstehen, wie es einem das Herz erwärmte, in der warmen Küche gefüllt mit voller Mandelduft zu stehen und Mozarts »Eine kleine Nachtmusik« anzuhören, mit einem Kakao in der einen und ein Plätzchen in der anderen Hand, wenn die Weihnachtsvorbereitung ihrer Mutter daraus bestand, eine Tüte Kekse aus der Bäckerei und den geschmückten Plastikbaum vom Speicher zu holen? Sie würde die grüne Küche behalten und immer das freundliche Gesicht ihrer Großtante sehen, wie sie ihr davon erzählt, dass dieses Heim, diese kleine heile Welt, eines Tages ihr gehören würde.
»Jetzt ist es so weit, Elsa«, sagte sie entschlossen, »endlich bin ich volljährig und muss nicht mehr dafür kämpfen.« Sie wird hier einziehen. Denn egal, was Ihre Eltern ihr rieten und wie sehr sie sie zu einem Verkauf drängten, es war ihr Zuhause, das Heim, das ihr das große Haus am See nie bat.

Realität oder Fantasie

Aufgeregt stehe ich vor der alten Holztür. Der Schlüssel lässt sich nur schwer in dem Schloss drehen. Auf einmal springt die Tür auf. Ein modriger Geruch schlägt mir entgegen. Unsicher betrete ich den Raum. Das Tageslicht fällt durch die verschmutzten Fensterscheiben auf den Fußboden, der mit Staub übersät ist. Vereinzelt sind Fußspuren zu erkennen. Mir fallen sofort die verschiedenen Größen auf. Abrupt bleibe ich stehen, weil mich ein ungutes Gefühl beschleicht. Mein Blick schweift durch das Zimmer. Rechts von mir in einer Ecke steht ein verwahrlostes Holzbett mit einer zerfetzten Matratze. Ein Stuhl mit drei Beinen liegt davor. Das vierte Stuhlbein ist nirgends zu sehen. Ich schaue mich weiter um und entdecke in einer anderen Ecke einen Kohleofen, auf dem eine kleine verzierte Kiste steht. Neugierig geworden schleiche ich zu dem Ofen. Mit klopfenden Herzen hebe ich den Deckel der Schachtel hoch. Sofort springt mir der Zettel mit der verschnörkelten Schrift entgegen. Ich versuche laut zu lesen, um meine Unsicherheit zu verdrängen, doch es kommt nur ein Gestammel über meine Lippen: „Nicht umdrehen!“

„Sollen wir den Schlüsseldienst rufen, oder soll es einer von uns über das gekippte Fenster versuchen?“
Wir hatten bereits eine viertel Stunde an der versperrten Tür Sturm geläutet, vergeblich. Beim Rundgang um den schmucken Bungalow in bester Stadtrandlage hatten wir in jedes Fenster geblickt, aber weder hatte sich im Inneren etwas bewegt noch Geräusche verursacht.
„Lass es, bis der Schlüsseldienst kommt, dauert es ewig. Ich versuch es über das Fenster.“
Mein stark übergewichtiger Kollege deutete mit dem Daumen nach oben, wie gut er meine Idee fand, während ich mein Bein auf das Fensterbrett schwang und mich hochzog, um die Verriegelung zu öffnen. Offensichtlich waren die Fenster seit dem Bau des Hauses, das schätzungsweise Anfang der frühen Siebziger errichtet worden war, nie erneuert worden. Das Einsteigen auf diese Art gelang deshalb wunderbar.
Auf der anderen Seite lag die Küche und dass sich die Sitzbank direkt unterhalb des Fensters befand, erleichterte meine Kletterübung.
„Hallo! Herr Maier? Frau Maier? Nicht schrecken, die Polizei ist hier. Ihr Sohn macht sich Sorgen um sie.“
Keine Antwort.
Die Kücheneinrichtung war zum Zeitpunkt des Aufstellens sicher der Traum jeder fleißigen Hausfrau gewesen, aber nun wirkten die orangen Blenden der Kästen und die kackgelbe Verfliesung aus der Zeit gefallen, lediglich das Ceranfeld und der Geschirrspüler ließen vermuten, dass hie und da doch die Moderne Einzug gehalten hatte.
Ich öffnete den Geschirrspüler, er war leer. Im Kühlschrank befanden sich außer ein paar Getränkeflaschen keine weiteren Lebensmittel. Die ganze Küche machte einen aufgeräumten und sauberen Eindruck. Lediglich ein paar dunkelbraune Bananen und ein von Fruchtfliegen besiedelter Apfel in einer Obstschale störten das Gesamtbild einer regelmäßig benutzten und sorgfältig rein gehaltenen Kochstätte. Wäre das alte Ehepaar anwesend gewesen, hätte ich mich hier gerne auf einen Kaffee einladen lassen. So aber irritierte der süßliche Geruch, der mir bereits beim Betreten des Raumes in die Nase gestiegen war und der sich nun verstärkte, als ich den Gang betrat.
Da alle Türen der angrenzenden Zimmer verschlossen waren, fiel kaum Licht herein und lag der Flur duster vor mir. Ich betätigte den Lichtschalter, mein Blick wanderte über die beleuchteten Wände. Von allen Seiten blickten mich die Hausbewohner an. Hochzeiten, Taufen, Geburtstage. Erinnerungen an ein ganzes Leben, glückliche Momente, erlebt von Generationen, in Bildern festgehalten und hinter Glas konserviert. Ein altmodisch gemusterter, aber gut gepflegter und deshalb noch immer farbintensiver Teppichläufer, führte durch den Gang. Der Boden war gesaugt, keine Spinnweben oder Staubflusen, die sich in den Ecken gesammelt hatten, vorhanden.
Nur hie und da eine schwarze fette Fliege, die hochschreckte, wenn ich an ihr vorbei ging. Ich folgte dem penetranten Geruch und den Insekten, die sich vor allem auf einer Tür niedergelassen hatten. Ich wusste was das zu bedeuten hatte, atmete kurz ein, hielt die Luft an und stieß die Türe in einem Schwung auf. Ein schwarzer Schwarm schwirrte um meinen Kopf, als ich das Schlafzimmer betrat. Zügig ging ich mit angehaltenem Atem an den beiden im Bett liegenden alten Leuten vorbei, um das Rollo am gegenüberliegenden Fenster hochzuziehen und es zu öffnen.
„Oje, brauchen wir einen Leichenbeschauer?“
Der Kollege hatte mein Würgen am Fenster wohl mitbekommen. Ich bejahte und wartete. Trotz der begonnenen Verwesung lagen die beiden Alten wie schlafend nebeneinander, ihre beiden fahlen Hände zärtlich ineinandergelegt.
Am Nachttisch mehrere Medikamentenpackungen, zwei Gläser mit milchigem Bodensatz. Ein kurzer Brief über Alter, Krankheit, Vergessen und eine große Liebe.

Ein Container steht vor unserem Haus, ein Mehrfamilienhaus mit, Gott weiß wie vielen Parteien. Er ist voll mit alten Möbeln und Ramsch. Ich sehe Geschirr aus den Sechzigern, ein Tischtuch mit goldenen Fransen, Blumenkübel aus brauner Keramik und ebenso betagte Blumenvasen. Gerade wirft ein Mann eine Mülltüte hinein, beim Aufprall rutschen ein paar in die Jahre gekommene Kleidungsstücke hinaus.
Ist das wirklich Ramsch oder eher das gesamte Leben eines Menschen?
Ich erkenne Röcke wie meine Oma sie getragen hat, geblümte Blusen und einen Pelz, in dem man sich heute besser nicht mehr auf die Straße traut. Neben dem Container ist Altpapier in Kartons gestapelt, obenauf liegt ein „Goldenes Blatt“. Ich schaue genauer hin, es ist eine Ausgabe vom August vor drei Jahren. Jetzt werden Fotoalben in den Container geworfen, eins rutscht über den Rand und fällt mir vor die Füße. Niemand achtet auf mich. Ich hebe es auf und blättere darin. Ich betrachte Fotos, die allesamt den rotgefärbten Charme der Siebziger haben. Darauf erkenne ich lachende Menschen in einer fröhlichen Runde und einen Urlaub am Meer. Beim Durchsehen mache ich eine Frau aus, die immer wieder auftaucht. Sie ist um die dreißig und lacht auf den meisten Bildern so herzlich, dass ich lächeln muss. Der Container füllt sich immer weiter, ich werfe das Album vorsichtig dazu und gehe auf den Hauseingang zu. Ich bin ein bisschen wehmütig und denke darüber nach, wer die Frau auf den Fotos wohl war.
Ich nehme die Treppe und komme im dritten Stock an eine offene Tür. Dort nehme ich diesen Geruch wahr, der mir von meinen Großeltern vertraut ist. Ich sehe beige gestrichene Wände und grünen Teppich im Flur. Nun bleibe ich stehen und schaue zu, wie Männer in blauer Arbeitskleidung im hinteren Zimmer einen bunt gewebten Läufer zusammenrollen. Dort hängen noch ein paar Fotos an der Wand und ich erkenne eine helle Stelle, wo eine Kommode gestanden haben muss. Die angegrauten Gardinen wehen sachte vorm gekippten Fenster.

Ich frage einen Mann, wer hier gewohnt hat. Er antwortet „Eine alte Frau, ist letzten Monat gestorben, lag mindestens 4 Wochen tot im Bett.“ Er hastet mit zwei Mülltüten an mir vorbei und ich gehe weiter die Treppe rauf, dabei zermartere ich mir den Kopf nach dem Gesicht der Frau von den Fotos. Ich wohne jetzt zwölf Jahre hier und wusste nicht, dass sie hier gelebt hat.

Sie kannte alle

Es riecht nach alter Frau. Muffig und feucht. Ich halte die Klinke in der Hand. Rechts das ungemachte Bett, daneben ein kleiner Tisch.

Vor zwei Tagen saß die Alte auf dem Bett. Graue, angefilzte Haare, nackte, hässliche Füße. Massiver Hallux Valgus beidseitig. Ausgeleierter Jogginganzug. Über der Brille mustern mich Augen. Kluger Blick. Passt nicht zum Zimmer, der zerknautschten Bettdecke und der schlechten Luft. Sie zeigt auf den Stuhl. Wir reden lange. Mir glühen die Ohren. Ein Jahrhundertleben. Sie lässt sich vom Bett gleiten. Bückt sich. Zerrt eine Holzkiste hervor. Ich darf die Kiste mitnehmen. Bei Gelegenheit wiederbringen. Briefe. Hunderte von Briefen. Nachts lese ich. Sie kannte sie alle. Filmstars, Autoren, Musiker, Wissenschaftler. Wahnsinn.

Es riecht nach alter Frau. Muffig und feucht. Ich halte die Klinke in der Hand. Rechts das ungemachte Bett, daneben ein kleiner Tisch. Die Holzkiste behalte ich.

Sie wird als Renate Müller beerdigt. Der Name, unter dem sie zwei Jahre im Heim lebte. Keine Angehörigen. Der Name ist falsch. Ich weiß das aus den Briefen.

(Ich weiß, das ist in dem Sinne kein Haus, aber mir war diese Szene sofort dazu eingefallen, die ich aus einer meiner Geschichten genommen und abgewandelt habe, und wollte sie euch einfach zeigen.

Schafwolle

Die Welt verschwamm hinter dem Schleier ihrer Tränen. Besser so, sie wollte nichts mehr von ihr wissen. Schniefend stolperte sie den Erdweg entlang. Weg, bloß weg.
Sie stockte. Eine Holzwand ragte vor ihr auf. Ein Schuppen? Ein Stall? Nicht weit von ihr öffnete sich der Eingang, der abgebrochene Rest einer Tür schwankte im Wind. Kurzentschlossen trat sie ein.
Die Dunkelheit des großen Raums empfing sie wie die Arme einer Mutter, die ihr Kind an sich drückt. Schwerer Tiergeruch erfüllte ihn und besänftigte sie. Schafe? Sie schaute sich um. Alles war leer. Ein paar verfallene Zäune, die mehrere Bereiche abtrennten, modriges Stroh, mehr war nicht zu finden. Es duftete nach ungreifbaren Erinnerungen vergessener Zeiten.
Sie lief in die hinterste Ecke und sank an der Wand zu Boden. Knisternd gaben die Halme unter ihrem Körper nach, kratzend und doch weich. Nach ein paar tiefen Atemzügen hatte sie sich beruhigt. Ihr Blick klärte sich. Etwas Weißes in der Nähe erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie griff danach. Tatsächlich: Schafwolle.
Sie stellte sich vor, wie gemütlich es gewesen sein musste, als sich die wolligen Tiere hier getummelt hatten. Was war mit ihnen geschehen? Wo war ihr Hirte? Bilder tauchten vor ihren Augen auf: ein freundlicher alter Mann mit Stock, welligem Bart und gütigem Blick zwischen lebenden Wölkchen. Er streichelte über Köpfe, stupste einen aufdringlichen Bock zur Seite, nahm ein Lamm auf den Arm. Sie sah die Szene so deutlich vor sich, als wäre sie dabei gewesen. Und nun waren sie weg.
Die Tränen durchbrachen erneut ihre gerade erst wiedergewonnene, brüchige Fassung. Doch diesmal reinigte sie das Wasser, anstatt sie zu ertränken. Die Verzweiflung war einer trauernden Akzeptanz gewichen. Tief sog sie den tröstenden Duft der Schafe auf. Fast konnte sie die Tiere vor sich sehen, wie sie sich neben ihr niederließen und ihre kalte Haut mit ihrem wärmenden, flauschigen Fell berührten. Sie schloss die Augen, um die Eindrücke wirken zu lassen.

Die Messibude

,„Boah, ey, kann man wirklich in seinem eigenen Scherbel versinken?“,war Daniels letzter Gedanke, bevor die Müllberge über ihm zusammenstürzten und er zwischen dem ganzen Unrat verschwand…

Die Freunde in seinem Discord-Server vermissten Daniel, nachdem er vier Wochen offline war und auch keine Kommentare mehr abgegeben hatte. Sie standen nun vor seiner Wohnung und sein Cousin öffnete mit dem Zweitschlüssel die Tür, nachdem sich auf das Klingeln nichts gerührt hatte. Amazon-Kartons und Pizza-Schachteln purzelten ihnen vor die Schuhe. Es war dämmrig in der kleinen Einzimmer-Wohnung, die Vorhänge waren zugezogen und den Lichtschalter mussten sie erst hinter einem übervollen gelben Sack ertasten. „Was ein Mief“, ekelte sich Marvin, es roch nach ungewaschenen Socken und ungewissen Dingen. Im Waschbecken stand dreckiges Geschirr mit verkrustetem Etwas daran und als sie versuchten, sich einen Weg durch die fuchsbauartigen Gänge zu bahnen, entdeckten sie ein Sediment von Essensresten, noch unverpackten Kisten, aufgeschlitzten, aber ungelesenen Briefen und leeren Getränkedosen. „Alter, was hat der außer Zocken eigentlich noch so gemacht?“, fragte Timo. „Ich hab den eigentlich auch nicht gekannt“, gab Marvin zu und entdeckte Chemiebücher, die auf dem Schreibtisch in gefährlicher Schieflage gestapelt waren. „Der hat was studiert“ riet Luca und dachte, „hoffentlich nicht auf Lehramt“. „Lass uns abhauen, bevor es noch nach Verwesung riecht“, schlug Marvin vor und bekam plötzlich Lust, zu Hause auszumisten. Das war für ihn in diesem Moment ein ganz ungewohnt verlockender Gedanke.

Der alte Tower

Es ist seltsam wieder hier zu sein. Nach all den Jahren. Das schmucklose, grau geflieste Treppenhaus, dann die Tür, die stets die allzu Neugierigen abhielt. Sie ist nur angelehnt, aber ein kurzer Blick auf den Schnapper im Schloss zeigt mir, dass sie sich ohnehin geöffnet hätte. So wie damals, wenn wir während der Schicht kurz mal zwei Treppen runter mussten, bevor das Funkgerät wieder krächzte. Es riecht muffig und abgestanden als ich die letzten Stufen auf der Wendeltreppe ins helle Licht heraufsteige. Früher roch es hier immer nach Kaffee, nach Technik und manchmal nach mitgebrachten Stullen. Die Sonne blendet mich durch die schon etwas angelaufenen Scheiben. Der Blick über das Rollfeld ist wie damals, aber dennoch ist hier alles ganz anders. Statt der summenden Atmosphäre konzentrierter Gelassenheit herrscht nun völlige Stille. Aus den Arbeitstischen starren mich große Löcher an, in denen sich einmal Funkgeräte befanden, meteorologische Instrumente und die Steuerung der zahllosen Anfluglichter draussen auf dem Gelände. Abgeklemmte Kabel ragen aus zahllosen Ritzen hervor. Auf der kleinen Anrichte im Hintergrund steht noch ein Porzellanbecher, keinen den ich irgendjemandem zuordnen könnte. Eine alte Karte, längst vergilbt und ein paar Zuckerwürfel in ihrer verbeulten Packung. Das ist alles was hier übrig ist. Die Tür auf den Umgang hoch über dem Vorfeld lässt sich nicht öffnen. Sonst steckte immer der Schlüssel. Wie oft wir da die Neuen ausgeschlossen haben. Zuletzt fällt mein Blick auf die andere Seite des Rollfeldes. Dort steht seit Jahren der Neubau. Höher, moderner, aber ich bin dort nach dem Umzug nie richtig angekommen. Ich klopfe mit der flachen Hand auf den Arbeitstisch und steige dann vorsichtig die Treppe herunter. Ein letztes Mal berühre ich den abgewetzten Türknauf. Morgen kommt hier der Abrissbagger und ich gehe in Rente.

Alte Wege

Das Efeu kitzelte an ihren Knöcheln. Sie musste vorsichtig sein, jeden Schritt abwägen, einige Male die Sohle ihrer Flip-Flops aus einer Wurzel befreien. Das Gleichgewicht halten, wenn wieder ein kleines Stück der bröselig gegerbten Treppenstufen abbrach. Oder der dicke Kiefernadelteppich unter ihren Füßen ins Rutschen geriet. Der Weg zum Hotel. Die Luft schmeckte immer noch nach der nahen Adria. Nach dem ätherischen Dunst der Kiefern, nach einem Sommer, in dem sie noch jung war. Die Natur hatte sich die Terrasse vor dem Speisesaal zurückerobert, das Grün, das aus den Fugen der Platten wuchs, streifte ihre Arme und Schultern.

Sie hatte den Weg durch den Hotelgarten geliebt, um dann barfuß, mit nassen Haaren ins Foyer zu treten, mit dem Aufzug nach oben fahren und unter Dusche das Salz und den Sommertag abzuwaschen und sich für den Abend schön zu machen.

Meerwasser, Wind und Zeit haben die Glasfront des Speisesaals erblinden lassen. Darüber baut sich der Hotelbau auf wie ein auf Grund gelaufenes Schiff. Die fleckige Fassade, Löcher in den Balkonumrandungen, zerborstene Fenster. Aber sie kann es noch sehen. Die blauen und gelben Polster im Foyer, die Kronleuchter, die flauschigen Läufer. Geschwungene Türklinken, das Messing, der getäfelte Aufzug. Sie schmeckt den Geruch nach abgestandenem Rauch aus den Teppichen und Sesseln. Ein Innenleben, von dem man vor Jahrzehnten dachte, es sei mondän. Farben und Stoffe, die man heute nur noch ironisch verwendet. Sie wischt am Fensterglas und blickt in den leeren Raum.

Dann zieht sie ihre Flip-Flops aus und läuft barfuß über das Efeu auf den Treppen zurück.

Das verlassene Spinnennetz

Das Spinnennetz, gespannt zwischen zwei hüfthohen Stehern der Balkonbrüstung, flattert trotz der Tautropfen an den feinen Fäden im Wind. Die Fenster so schmutzig, dass sie sich nicht sicher ist. Nein, es ist keine optische Täuschung, der Nebel scheint die Oberhand an diesem Tag zu behalten. Ja, die Fenster müssten dringend geputzt werden. Genauso wie das rostige Geländer des Balkons dringend einen neuen Anstrich bräuchte. Das wollte er nach dem Winter in Angriff nehmen. Wie vieles andere. Jetzt stand der nächste Winter vor der Tür. Was waren das für abgrundtief traurige und verlorene Monate. Ein ungeputztes Fenster, ein nicht gestrichenes Balkongeländer, vor einem Jahr noch so wichtig als zentrale und selbstverständliche Tätigkeiten für einen Menschen. Jetzt absolut belanglos, ohne Bedeutung mehr.

Die Kerze am Tisch spendete ihr ein wenig Sicherheit, sein Lächeln, seine Stimme niemals zu vergessen. So war er noch da. In der Wohnung war es kalt. Sie schaffte es nicht, aufzustehen, die Heizung anzumachen. Diese Überlegung, dieser Schritt, tausend Kilometer entfernt. Der Küchentisch komplett bedeckt mit Fotos aus einem gemeinsamen Leben. Aus einem glücklichen Leben voller erfüllender, sinnvoller und positiver Momente für die Ewigkeit. Alles vergangen. Mittlerweile drohte dieses gemeinsame Leben immer mehr hinter einem gnadenlosen Schleier im Nichts zu verschwinden. Die Geschwindigkeit machte ihr Angst. Sie war erschüttert über diesen Gedanken. Das würde sie niemals zulassen. Und wieder überkamen sie die Tränen, ihr Blick verschwamm. Sie konnte keine Spinne am Spinnennetz erkennen. War es verlassen?

Das Holzhaus im Wald

„Achtung, ich bin bewaffnet und komme jetzt rein!“, rufe ich durch den Türspalt und betrete mutig das rote Holzhäuschen; meine Taschenlampe und den neongrünen Teleskopstaubwedel gegen die Dunkelheit und Spinnweben kampfbereit vor mich haltend. Die kalte Luft riecht muffig-modrig, nach Feuchtigkeit, die durch die zugigen Fensterrahmen eindringt. Vor mir auf dem Holzboden liegen dicke, sich an den Ecken überlappende Teppiche, alle in verschiedenen Dunkelrottönen. Aber mein erstes Ziel ist direkt rechts hinter der Tür versteckt: der Sicherungskasten.

„Hm, und welche von euch ist jetzt für das Licht zuständig?“, murmele ich und lese mir die akkuraten Beschriftungen durch, „ah, da!“

Aus Angst vor einem Kurzschluss kneife ich beide Augen zusammen und schalte mit einer schnellen Bewegung den Strom ein. Kein Knall, nur eine der fünf Glühbirnen flackert und erlischt kurz darauf mit einem müden Pling.

„Das tuts ja sogar noch.“ Verblüfft knipse ich die Taschenlampe aus. Die dunkelgrünen Samtvorhänge vor den Fenstern verhindern jeglichen Tageslichteinfall, doch der fünfarmige Kronleuchter taucht das Zimmer in schummriges Licht und offenbart ein zartschimmerndes Kunstwerk: Feine Spinnweben, die sich kreuz und quer durch den gesamten Raum ziehen – von der weiß gestrichenen Raufasertapete zwischen den braunen Deckenholzbalken zur Lampe, dann nach links zu den zweireihig bestückten Bücherregalen, von dort hinüber zu der mahagonifarbenen Kommode in der hinteren rechten Ecke und zu den klobigen Stoffsesseln davor. Zu den riesigen, beigen Stoffsesseln mit dunkelbraunem Blümchenmuster. Solche hatten meine Großeltern auch, ich glaube in den Achtzigern.

Doch welch ein Kontrast zum Haupthaus des Anwesens! Da sind nur piekfeine Chippendale-Möbelchen, eher was zum Anschauen, nicht zum Wohnen. Aber hier kann man sich wohlfühlen – also ich meine nachher, wenn ich fertig bin.

Ich spüre ein Kribbeln im Nacken, fühle mich auf einmal beobachtet. Langsam drehe ich mich um: „Oh nein, ihr seid auch hier?“

Über den Regalen an der linken Wand hängen drei Porträtbilder. Garantiert wieder irgendwelche Ahnen. Drüben sind die überall. Ihre Blicke verfolgen mich immer, wenn ich von Zimmer zu Zimmer husche.

Mit drehendem Wedel entferne ich behutsam die Spinnweben. Auf diese Spinnenhölle wäre Shrek neidisch; der Fiona-Lolli wächst und wächst.

Vor den Riesensesseln steht ein Fliesentisch mit einem Stapel Papiere darauf. Daneben liegt eine Lesebrille, so eine für vier Euro fünfzig vom Discounter, und ein schwarzer Stift. Ansonsten liegt oder steht hier nichts rum. Gar nichts. Ich werfe einen flüchtigen Blick auf das oberste Blatt und halte inne, weil mir die Handschrift vertraut vorkommt. Irritiert hebe ich es an und gucke auf die zweite Seite, um sicherzugehen.

Verstehen sie mich nicht falsch, ich arbeite diskret, auf mich kann man sich hundertprozentig verlassen, ich schnüffel nicht rum oder so. Dennoch passt die Schrift nicht hierhin, ich kenne sie – aber von früher.

Der Hausherr hat immer verhindert, dass ich hier putze, doch jetzt ist er tot und die Tochter hat mich gebeten, alles hübsch für den anstehenden Verkauf herzurichten. ‚Reinigen sie bitte ein letztes Mal alle Zimmer und kümmern sie sich auch um sein Refugium – wer weiß, wie es darin aussieht. Es soll ihr Schaden nicht sein!‘, waren ihre genauen Worte an mich. Seit über fünfzehn Jahren habe ich ihm im Haushalt geholfen, aber das Refugium war sein alleiniger Rückzugsort – ich durfte in all der Zeit nicht mal in die Nähe davon. Doch jetzt bin ich hier; und ich begreife endlich die Bedeutung der ersten Zeilen.

„Soll das ein Scherz sein? Wieso ist das an mich gerichtet?“ Ich versinke in einen der Sessel und lese.

Mit dem Zustand der ehemaligen Irrenanstalt stand es nicht mehr zum Besten. Das Gebäude war im Laufe der Jahre immer mehr verfallen und wurde so dem verlotterten Ruf, den seine einstigen Bewohner innegehabt hatten, gerecht. Nach und nach eroberte sich die Natur das Haus zurück: Wild wuchernder Efeu kroch die Hauswände empor und verschluckte Fenster und Balkone, auf den gewaltigen Eingangssäulen setzte schmieriges Moos an. Die Dachschindeln barsten, von der verblichenen Eingangstür platzte die Farbe wie Herbstblätter vom Baum und der Garten entwickelte ein gewisses Eigenleben mit zahlreichen Ideen, an welchen möglichen und auch unmöglichen Stellen (Un-)Kräuter sprießen konnten.

Auch das Innere des Hauses litt unter dem unbarmherzig nagenden Zahn der Zeit. Die große Eingangshalle hatte viel von ihrer einstigen Pracht eingebüßt, und der mächtige Kronleuchter in der Mitte des Raumes hing matt und gefährlich schief von der stuckverzierten Decke, sodass zu befürchten stand, es könne ihm einfallen, eines Tages herunterzukommen. Die Möbel, schwer und dunkel, wiesen allesamt abgeschlagene Ecken und tiefe Kratzer auf, als wären sie von einer wilden Bestie angegriffen worden. Die Tapete löste sich von den Wänden, sodass der Wind, der durch die Ritzen in den Fensterrahmen hereinfuhr, die Fetzen im ganzen Haus verteilte. Die wenigen Teppiche, die es gab, waren durch die vielen Füße, die im Laufe der langen Jahre über sie hinweg getrampelt waren, verschlissen und ausgeblichen, und die Holzdielen darunter waren mit Kratzern und Rillen überzogen. Es konnte sogar passieren, dass einem unvermutet der Putz auf den Kopf rieselte, nur weil man die Tür etwas zu schwungvoll ins Schloss fallen ließ; überhaupt war Staub ein allgegenwärtiger Begleiter.

In unzähligen finsteren Ecken hausten monströse Spinnen und anderes Getier, das sich von Leid und Elend zu ernähren schien; jedenfalls wurden sie von Jahr zu Jahr größer. In der vergessenen Bibliothek hatten die Bücher damit begonnen, sich gegenseitig zu verspeisen.

Hoch oben unter dem Dach schimmelten altes, kaputtes Spielzeug, verrottete abgetragene Kleidung. Nur der Keller war beinahe im Originalzustand erhalten geblieben; die dunklen, kalten grausigen Ruheräume – kahle, feuchte Räume mit rostigen Gittertüren – waren schon immer dunkel und kalt und grausig gewesen.

Was ist hier geschehen?

Das Grundstück fasziniert mich, seit ich es das erste Mal entdeckt habe. Wie oft habe ich die zwei Stunden Autofahrt schon in Kauf genommen, um hier zu stehen und durch das alte Tor zu sehen?

Ein schmiedeeisernes Tor ist es. Alt. Verrostet. Wunderschön.

Die beiden Flügel hängen schief in den Angeln. Niemand würde von ihm ausgesperrt werden.

Niemand? Sollte ich es wagen? Und schon schlüpfe ich durch den einladenden Spalt und stehe auf der großen, ungemähten Wiese.

Das kleine Haus steht an der gegenüberliegenden Seite. Langsam gehe ich darauf zu und betrachte es. Es hat schon vor langer Zeit seinen Glanz verloren und doch zieht es mich immer wieder an.

Das Dach ist mit alten Schindeln bedeckt. Einige fehlen und liegen verstreut am Boden. Der Schornstein hat keinen Kaminhut mehr.

Auch die Regenrinnen hängen fast traurig unter dem Dach. Sie sind mit Moos bewachsen und zeigen Löcher. Das werden viele Tiere als Wohnung nutzen, denke ich.

Das Haus besitzt nur wenige, kleine Fenster. Alle besitzen ein Fensterkreuz und Läden. Doch kein einziger Laden ist geschlossen.

Der ehemals weiße Verputz der Wände ist heute an vielen Stellen schwarz. Ob von Schmutz oder gar Schimmel möchte ich nicht so genau wissen.

Zögernd gehe ich an der Wand entlang. Überall steht hohes Gras. Ich passe auf, wohin ich meine Füße setze. Zum Glück. Kaum um die Ecke gebogen, stehe ich am Rand einer größeren Vertiefung im Boden.

Beim zweiten Blick stelle ich fest, dass es sich hier um ein Schwimmbad gehandelt haben muss. Grünes Wasser hat sich am Boden gesammelt. Pflanzen überwuchern die Ränder, sodass ich es beinahe nicht gesehen hätte.

Unwillkürlich stelle ich mir die Frage, wie lange hier niemand mehr war.

Vorsichtig und großräumig umrunde ich das Becken und nähere mich der nächsten Hausecke. Hier führt eine Treppe nach unten.

Lose Steine und ausgebrochene Platten erfordern meine gesamte Aufmerksamkeit. Ein Geländer gibt es nicht. Mittig auf der Treppe sehe ich die Ostseite des Hauses und bleibe verwundert stehen.

Welche ein überwältigender Anblick. Vor einem Teil der Wand wurde eine Pergola gebaut. Ich kann nicht sagen, ob die rankenden Pflanzen die morsche Konstruktion halten oder umgekehrt.

Der Boden besteht aus alten, lose verlegten Steinen. Begrenzt wird dieser Platz von Rabatten. Ich erkenne heute noch unterschiedlichste Blumen, obwohl alles verwildert ist.

Ich habe Achtung vor dem Alter und gehe rund um die Pergola zu einer weiteren Treppe. Diesmal führt sie nach oben.

Über sie komme ich zu einem alten, aus schwarzem Holz gebauten Windschutz vor der Haustüre. Hier steht eine knorrige Hausbank. An der Lehne ist eine Jahreszahl eingraviert. Der wackelige Tisch davor erscheint etwas desolat. Aber trotz der vielen Spinnweben wirkt der Platz gemütlich.

Mein Blick fällt auf die Haustüre und dem offenen Briefkasten daneben. Magisch zieht er mich an. Ich weiß, dass ich mich unbefugt hier aufhalte und der neu wirkende Zettel im Kasten mich nicht zu interessieren hat. Und doch nehme ich ihn zur Hand. Ein Schreiben des hiesigen Stromanbieters. Anscheinend wurde beim letzten Besuch niemand angetroffen. Das ist über sechs Monate her.

Meine Neugierde kennt kein Zurück. Ich wage es. Doch die Haustüre ist verschlossen. Aber die Fensterläden sind offen. Schon stehe ich am nächstgelegenen und sehe hindurch.

Der Vorraum ist relativ leer. Nur ein paar Haken an der Wand, eine Matte für die Schuhe, ein kleiner Kasten. Doch an einem Haken hängt ein alter Männerhut, daneben ein schwarzer Mantel. An den grünen Gummistiefel klebt eine dicke Schicht getrockneter Erde.

Durch das nächste Fenster sehe ich ein Schlafzimmer. Kurz will mich die Scham wegholen, aber die Neugierde siegt.

Das klein wirkende Doppelbett ist mit grober Bettwäsche bezogen. Aber nur auf einer Seite. Die Decke und der Polster sind zerwühlt, als wäre eben jemand aufgestanden. Der massive Kleiderkasten ist aus dunklem Holz gefertigt und scheint für dieses Zimmer zu groß zu sein.

Der nächste Raum war das Badezimmer der Besitzer. Das Fenster ist so schmutzig und blind, dass ich nur ein Handwaschbecken erkenne. Darauf liegen eine Zahnbürste ein Kamm und ein Stück brauner Seife. Nachlässig über eine Art Hocker wurde ein dickes Handtuch geworfen. In einer Ecke sehe ich Kleidung liegen. Vielleicht ist es eine Arbeitshose.

Nachdenklich wende ich mich dem letzten Fenster zu. Wie erwartet sehe ich in die Küche.

Wie auch in den anderen Zimmern, gibt es hier nur wenig Möbel. Einen Tisch mit drei Sessel, eine alte, schwarze Anrichte mit grünen Glaseinsätzen in den oberen Türen. Die Küchenzeile ist eine Spüle, ein Unterschrank und ein Elektroherd.

Beklommen bemerke ich die eigentlichen Alltagsdinge. Am Tisch stehen eine halbvolle Flasche und ein leeres Glas. Ein Suppenlöffel liegt halb dahinter.

Mein Blick wandert wieder zum Herd. Ja, da steht ein Topf auf einer Platte und daneben ist ein Teller platziert.

Durch die offene Türe gegenüber erblicke ich ein altes Sofa. Links erkenne ich einen bestickten Polster. Er scheint den Kopfabdruck seines Besitzers verewigt zu haben. Eine rot und weiß karierte Decke liegt nachlässig am anderen Ende, wie ein Häufchen Elend.

Was ist hier passiert? Nachdenklich wende ich mich vom Haus weg und gehe zu meinem Auto. Ich fühle mich wie ein Eindringling in einem fremden Leben…