Der Specht
„Grrr… klopf, hoppla hopp, grrr… klopf, klopf“, rief Oneas verärgert und laut in den Raum, obwohl er doch wusste, dass er allein in seinem Laboratorium weilte. Er hatte es Jahre zuvor zu seiner Wohnstätte erkoren.
„Welcher dreister Specht hämmert mir da im Kopf herum? Es ist unerträglich. Hinaus mit dir, hinaus, du spitzmäulige Bestie.“
Genützt hatte ihm sein Gezeter nichts, eher noch geschadet, weil er sich mit dem Handballen fortwährend gegen die Stirn schlug. Als wolle er das Klopfen im Inneren mit selbiger Antwort von außen ins Land des Schweigens verbannen.
„Ruhe“, rief er nach einer Weile geduldigen Ertragens, „Ruhe, ruhe, ruhe. Ich will endlich meine Ruhe haben.“
Doch auch die neuerliche Aufforderung führte zu keinem Erfolg. Wie schon mehrmals zuvor, warf er sich auf seinem abgewetzten Diwan von der einen auf die andere Seite und drückte sich ein ebenso verhunztes Kissen fest aufs Ohr. Jedoch tat auch dies dem Klopfen in seinem Kopf keinen Abbruch. Allerdings vernahm er, dass es durch diese Maßnahme leiser wurde, gedämpfter, nicht mehr so intensiv quälend.
Ob des vermeidlichen Erfolges schleuderte er das Kissen auf den Boden und griff nach dem Größeren. Getreu der Überzeugung, dass, wenn das kleine Kissen einen kleinen Erfolg bringt, dem größeren der erwartete Erfolg garantiert ist. Was sich jedoch gleich als Irrtum herausstellen sollte. Die Dämpfung des Geklopfes war nicht besser als bei dem weniger großen Kissen. Verärgert schleuderte Oneas den untauglichen Gegenstand seinem Artgenossen hinterher und verzichtete lieber gänzlich auf solch minderes Hilfswerk.
Noch ehe er überlegen konnte, was er nun tun würde, stellte er fest, dass das Klopfen ausblieb. Weg war es, einfach weg. Sogleich setzte er sich auf, um sich an seinem neuen Zustand zu erfreuen. Doch sollte ihm dies nicht gelingen.
In seinem Inneren tobte das plötzliche Verlangen auf die Füße zu springen, sich zu recken und zu dehnen und alles abzuschütteln, was ihm soeben noch zuwider war. Nur war sein Blick getrübt und er hatte mehr damit zu tun, gegen einen Schwindel anzugehen. Statt seinem Übereifer folgen zu können, musste er vermeiden, dass er nicht gleich wieder rücklings auf dem Diwan lag.
Dann klopfte es wieder, was Oneas einen gehörigen Schrecken versetzte.
Er fasste sich an den Kopf, um sogleich darauf zu reagieren, stellte dann aber fest, dass das Klopfen diesmal nicht aus seinem Kopf kam. Also nahm er all seine Konzentration zusammen und konnte so den Schall orten, der von der Pforte herüber hallte.
„Dieses nervende Volk“, schoss es ihm gleich in den Sinn. „Nichts können die selbst, immer muss ich etwas für sie tun. Ich, immer ich. Warum tun sie nicht mal was für mich? Alles Banausen und Bittsteller. Und dann ausgerechnet zu dieser Zeit, wo ich vom Specht in meinem Kopf zu fürchten habe, dass er sich erneut meldet und sein verstörendes Hämmern fortsetzt. Da können ihre Probleme kaum größer sein, als die meinen.“
Oneas beschloss, erst einmal auf seinem Diwan sitzen zu bleiben. Doch das Klopfen an der Tür ließ nicht nach, sodass er bald nicht mehr zu unterscheiden wusste, welches von beiden das Schlimmere war, das des Spechts in seinem Kopf, der zum Glück gerade ruhte, oder jenes des vermeidlichen Bettlers an der Pforte.
Oneas löste sich aus seiner Lethargie und gab dem äußerlichen Drang nach.
„Ja, ja, ich komme ja schon“, brüllte er in Richtung Tür, „aber nur unter Protest, damit das klar ist, nur unter Protest. Ja, ja, hör endlich auf zu klopfen, Nervziege, ich komme ja schon.“
Auf dem Weg zur Tür kam er an einem Pantoffel vorbei, was ihm vor Augen führte, dass er barfuß unterwegs war. Im kalten November, ohne wärmendes Schuhwerk die Pforte zu öffnen, ließ ihn fürchten, sich einen argen Schnupfen einfangen zu können. Zwar stand der eine oder andere Trunk in seinem Laboratorium im Regal, den er dagegen einsetzen könnte, doch fehlte ihm die Überzeugung, dass dies wirklich wirken würde. Also beschloss er, sich den Pantoffel an den Fuß zu holen.
Währenddessen klopfte es erneut an der Tür.
„Ja, ja, ja“, brach es aus ihm heraus, „um Himmelswillen, mäßigt euch. Ihr schlagt mir ja noch meine schützende Pforte in Trümmer. Was soll ich dann noch gegen die Kälte tun? Ich werde erfrieren.“
Oneas schaute auf den Pantoffel und war bemüht, sich zu erinnern, wann er ihn so achtlos an diese Stelle links im Flur geschleudert hat. Er wusste es nicht mehr, beließ es dabei und schlüpfte mit dem linken Fuß hinein.
Ein erneuter Wutausbruch war die Folge. Es war der Pantoffel für den rechten Fuß.
„Verflixt und tote Hühner, kann sich denn nicht einmal so ein dummer Pantoffel vernünftig verhalten. Liegt links und gehört nach rechts. Da kann doch keine gute Menschengestalt noch ruhig bleiben. Da bin ich schon gutmütig, eile zur Pforte und erfahre dafür nichts als Undank. Wer auch immer da draußen wartet, das sei gewiss, ich werd‘s ihm heimzahlen“
Mit einem ungehaltenen Schwung schleuderte er den falschen Pantoffel vom Fuß, sodass der graue Filz bis an die Pforte flog, gegen sie klatschte und vor ihr auf der Seite zu liegen kam.
Der zweite Pantoffel lag mitten im Flur.
„Tzz, tzz, tzz“, setzte sich sein Ärger fort, „es reihen sich heute die Unglücke. Der eine Filz liegt links und gehört nach rechts und der andere sucht sich die Mitte aus, wo ich in der Mitte doch gar keinen Fuß habe. Wer weiß, was mich noch hinter der Pforte erwartet. Vielleicht wäre es besser, doch nicht zu öffnen.“
Das Klopfen an der Tür verstummte deswegen nicht.
„Ja, um des Herrgotts Schopf, ich kann mich ja nicht überschlagen. Jetzt wird der Pöbel auch noch frech. Aber das wird Folgen haben, das versprech ich.“
Der mitten im Flur liegende Pantoffel lag, wie es sich für einen anständigen Pantoffel gehörte, mit der Sohle zuunterst, aber, zu Oneas Verdruss, nicht in der richtigen Richtung. So war er auf dem Weg zur Pforte gezwungen, an dem Filz vorbeizuhasten, um sich mit einem engen Bogen in Position zu bringen. Dann war es mehr ein Tritt als ein Schlupf, mit dem er sich den Pantoffel an den Fuß brachte. Zum Glück passten Filz und Fuß diesmal zusammen.
Ob dieses Gelingens erhascht Oneas, was eher untypisch für ihn war, und was es lange nicht mehr gegeben hatte, eine unterschwellige Freude.
„Ha, nun siehe da, es geht doch. Da kann sich dieser tore Geist vor der Pforte eine Scheibe von abschneiden. Mit welcher Eleganz und Anmut ich mich zu bewegen weiß, ist nicht jedermann gegeben.“
Weil er den Pantoffel vor der Pforte erst noch auf die Sohle bugsieren musste, bevor er hineinschlüpfen konnte, war es mit dem Anflug von Freude schnell wieder vorbei.
Weil es just in dem Augenblick, in dem er sich wähnte in der Lage zu sein, die Türe zu öffnen, erneut von außen klopfte, und es diesmal, ob der Nähe zur Entstehung des Ungemachs, noch lauter und aufdringlicher klang, beließ es Oneas nicht beim einfachen Öffnen der Pforte, sondern riss sie mit einem Schwung auf. Was Folgen für ihn hatte.
Die Tür knallte gegen die Wand des Flures und schwang zurück. Zu Oneas Verdruss traf sie ihn an rechtem Bein und Fuß. Weil er durch die Reaktion der Pforte überrascht war, blieb ihm der Fluch, der in solchen Situationen zu seinem Wesen gehörte, im Halse stecken. Schmerzen erlitt er durch den Anstoß jedoch keine, weil sich zeigte, was ein solider Filzpantoffel am Fuß wert sein konnte. Er dämpfte die eh schon geringe Wucht der Tür und sorgte dafür, dass es so aussah, als habe Oneas es genau so gewollt.
Vor der Pforte wartete ein kleines, verängstigtes Männlein mit gesenktem Haupt und schlaffen Schultern. Wohl in Erwartung des aufbrausenden Wesens von Oneas brachte er es gerade eben noch zustande, zu einer Erklärung, warum er da sei, und weshalb er an der Pforte klopfte, anzusetzen.
„Entsch…“
Mehr brachte er nicht über die Lippen, weil Oneas ihm sogleich ins Wort fiel.
„Papperlapapp. Was soll das? Ihr demoliert mir meine Pforte, quatscht mich mit Dingen voll, die mich nicht interessieren und erdreistet euch, mir vor meinem eigenen Haus die Luft wegzuatmen, die allein mir bestimmt ist. Einen schönen Tag noch und nun schert euch weg.“
Die Tür in der Hand wollte er sie dem Fremden schon vor der Nase zuschlagen, doch der erdreistete sich noch einmal, etwas sagen zu wollen.
„Aber, Meister Oneas, was ist …“
Wieder fiel ihm der Herr des Hauses ins Wort.
„Kein aber. Alles nur Ausreden. Wenn ihr etwas wollt, dann geht arbeiten.“
„Ja, Meister Oneas, das ist ja mein Bestreben.“
„Und, warum tut Ihr es dann nicht?“
„Aber, Ihr seid es doch, der mir dieses Anliegen verwehrt.“
„Jetzt werden Sie nicht auch noch frech, Bübchen, sonst werden Sie mich mal richtig kennenlernen. Dagegen wird das Geplärre Ihrer Gattin zuhause dünn ausfallen. Da seien Sie sich mal sicher.“
„Meister Oneas, Ihr wisst doch, dass ich keine Gattin zuhause habe und auch, dass sich meine Arbeitsstelle hier in diesem Hause befindet.“
„Na, solche Behauptung setzt ja dem Bären die Krone auf. Hier in diesem Haus befindet sich mein Laboratorium, und darin arbeitet nur einer, nämlich ich. Ich hoffe, ich habe mich jetzt genug erklärt und wünsche Sie mir aus den Augen.“
„Aber, Meister Oneas, erkennt Ihr mich den nicht? Ich bin doch Euer Bodo. Seit zwanzig Jahren schon bin ich bei Euch als Gehilfe tätig. Was ist denn nur los mit Euch.“
Nach diesen Worten des Fremdlings geriet Oneas ins Grübeln.
„Bodo, Bodo? Dieser Name kommt mir in der Tat bekannt vor. Aber, dass Ihr ihn Euch dreist zu eigen macht, ist doch wohl Betrug.“
„Nein, Meister, ich habe Euch noch nie betrogen. Ich bin es wirklich, Euer Gehilfe Bodo.“
„Na, wenn du es wirklich bist, Bursche, was machst du dann hier vor meiner Pforte für einen Lärm. Es ist noch nicht ganz dunkel, da müsstest du doch bei der Arbeit sein und nicht in der Welt die Zeit vertrödeln.“
„Aber, Meister, ich habe doch nicht die Zeit vertrödelt. Ich habe getan, was Ihr mir heute in der Frühe aufgetragen habt. Ich war im Wald und habe mehr von den Fliegenpilzen gesammelt, mit denen Ihr gestern den neuen Trank angesetzt habt. Schaut her, ich habe einen ganzen Sack prachtvoller Exemplare dabei. Ich hatte schon um Euch gefürchtet, weil Ihr nicht auf mein Klopfen an der Pforte reagiert habt. Und um meine Finger auch, die in der Kälte schon angefangen haben zu vereisen.“
„Ja, ja, jetzt erinnere ich mich“, Oneas kratzte sich, ob seiner Einsicht am Hinterkopf und sprach bedächtig weiter. „An deiner Geschichte ist was dran, Bursche. Wegen der heilenden Wirkung war ich mir nicht im Klaren, wie viele von ihnen ich dem Gebräu aus Ingwer, Salbei, Hafer und Minze zugeben muss. Deshalb wollte ich mehr von ihnen haben, bevor sie im Wald verkümmern. Erst am Vormittag habe ich den Selbstversuch unternommen, um es herauszufinden.“
Oneas beugte sich vor und nahm den Besucher genauer in Augenschein. Und tatsächlich, er fand, wonach er Ausschau hielt – die Narbe unter dem rechten Ohr des Männleins. Sie stammt von einer keramischen Schale, die er vor Jahren nach seinem Gehilfen geworfen hatte, weil der sie ihm nicht schnell genug in die Hand gelegt hatte. Obwohl Oneas nicht klar erkennen konnte, wie das Männlein vor seiner Türe im Ganzen aussah, überzeugte ihn die Narbe, dass es Bodo war.
„Nun denn, Bodo, dann komm herein. Sonst wird es heute nichts mehr, mit deiner Arbeit und du gerätst mir noch zum Faullenzer. Aber eines solltest du dir noch für die Zukunft hinter die Ohren schreiben. Wenn du noch einmal vor der Pforte stehst und ich öffne sie dir nicht, dann nimm zum Klopfen einen Stock zu Hilfe, damit es bis an meine Ohren dringt. Wie soll ich das zarte Anklopfen deiner verkrüppelten Finger hören, wenn der Schnabel des Spechts in meinem Kopf um Vieles härter ist als sie?“
„Aber Meister…“
„Kein aber mehr. Papperlapapp. Es ist genug. Komm herein und geh endlich an deine Arbeit. Mir friert.“
Bodo sah die Zwecklosigkeit einer neuerlichen Erwiderung ein, gehorchte, legte den Stock aus seiner linken Hand neben die Pforte ab und trat durch dieselbe in die wohlige Wärme des Laboratoriums. Den Sack mit den Fliegenpilzen fest in der Rechten haltend.
Die Tür fiel hinter dem Meister und seinem Gehilfen ins Schloss und das Leben nahm seinen gewohnten Gang wieder auf.
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