Deus ex machina
Auf der unscheinbaren Tür in dem dunklen Flur prangerte eine kleine, auf dem Bauch liegenden 8 im violetten Schwarzlicht. Der Strahl der Taschenlampe hielt noch einige Sekunden weiter auf das Zeichen, bevor sich die verschleierte Gestalt mit einer 1 auf dem Rücken, dazu entschloss, mit geballter Faust hart an Tür zu hämmern.
Das metallische Klopfen hallte wie Kanonenschläge durch den Flur und synchronisierte sich mit dem rhythmischen Flackern von alten Neonröhren an der Decke.
Der Gesang immer lauter werdender Sirenen in der Ferne fügte sich in das Flackern und Klopfen ein, wie ein weiteres Instrument einer modernen Melodie, welche sich gerade formte.
„Scheiße, warum macht keiner auf?“
Die Stimme des hageren Mannes zitterte, während er unruhig von einem Fuß auf den anderen wechselte und an den aufgemalten Zahlen auf seiner Jacke herumspielte.
„Beruhig dich 1335, wir sind hier richtig.“ Der Mann mit tief ins Gesicht gezogener Kapuze senkte die Taschenlampe und hämmerte erneut an die Tür.
„Warum macht dann keiner au…“
Ein Knacken ertönte hinter der schweren Eisentür, dann ein Schleifen und schließlich das Geräusch eines Schlüssels, welcher klackernd im Schloss umgedreht wurde. Die Tür sprang auf, gerade weit genug um das grüne und blaue Licht durch den Spalt zu erkennen, welches tief aus dem Raum dahinter zu entkommen versuchte.
Das Gesicht einer alten Frau schob sich hervor und beäugte die beiden Männer argwöhnisch durch ihre alten, milchigen Augen.
„Wir brauchen Hilfe vom Alchemisten.“
Die Alte hob ihren Kopf hinaus auf den Flur und sah sich um. Ihr weißes Haar baumelte mit jedem Mal das sie ihren Kopf dabei nach links und rechts drehte.
Die Sirenen wurden lauter und der Blick der Alten misstrauischer.
„Bitte“, sagte Nr. 1, zog die dunkle Kapuze vom Kopf und das schwarze Halstuch unter sein Kinn, „wir haben keine Zeit.“
Ihre Mundwinkel zuckten und lösten eine Kettenreaktion in ihrem Gesicht aus. Ihre unzähligen Falten bewegten sich auf und ab, während sie nickte und die Tür weiter aufschob.
In dem kleinen Apartment leuchteten dutzende Rechner und surrende Server in allen Farben des Regenbogens. Die Fenster waren zugeklebt und auf den Tischen lagen unzählige technische Gerätschaften.
In einem alten Röhrenfernseher war gerade ein Bericht über die Festnahme einer Aktivistengruppe zu sehen, welche von den staatlichen Robotereinheiten in Handschellen abgeführt wurden.
„Ein großer Erfolg und eine Gefahr für die moderne Menschheit“, dröhnte es blechern aus dem alten Gerät.
„Scheiße, schau dir das an, das wären beinahe wir gewesen.“
Kalter Schweiß lief dem hageren Mann über die Stirn, als er wie gebannt auf den Bildschirm blickte.
„Verschwende keine Gedanken an sie 1335, sie wussten worauf sie sich einlassen.“
„Und jetzt? Was passiert nun?“
Nr. 1335 sah sich im Raum um und beobachtete ungeduldig die alte Frau, die sich langsam durch eine Tür in einen anderen Raum bewegte.
„Wir warten.“
Nr. 1 ließ sich auf einen alten, abgenutzten Sessel in einem braunen Blumenmuster fallen und zappte mit der klobigen Fernbedienung durch das Programm.
Auf allen Sendern war das Gleiche zu sehen. Die verlogenen Worte der Nachrichten- und Regierungssprecher über die neue und fehlerlose Welt in der sie nun lebten. Eine Welt, angeführt von einer künstlichen Intelligenz, allwissend und unfehlbar.
Kein Platz für menschliche Emotionen, kein Platz zum Mensch sein. Alle waren sie nur noch kleine Zahnräder einer riesigen Maschine ohne eigene Gedanken, ohne Seele.
Es stimmte, es gab keinen Krieg mehr, keine Unzufriedenheit, keine Krankheiten und keine Gewalt. Der Preis dafür war jedoch hoch. Keine Liebe, keine Freude. Kein erster Kuss und keine Schmetterlinge im Bauch. Nichts. Nur das triste Leben, wie ein Essen ohne Salz. Trüb, hoffnungslos und alles andere als lebenswert.
Doch gelegentlich bröckelte dieses neue, fehlerfreie System, immer dann, wenn sich Menschen dazu entschlossen, dieser Welt zu entkommen.
Nr. 1 war einer von ihnen.
Hinter ihm hörte er die quietschenden Reifen und das leise Klackern, das er nur allzu gut kannte. Der Fernseher verabschiedete sich mit einem leisen Flump und Nr. 1 erhob sich.
Der junge, missgestaltete Körper des im Rollstuhl sitzenden Mannes ließ ihn jedes Mal aufs Neue zusammenzucken.
Der Unfall war Jahre her, doch sein verdrehter Körper sah aus wie an jenem Tag, als er ihn fand.
Die alte Frau stellte den Rollstuhl in der Mitte des Raumes ab und ging hinüber zu dem Sessel, auf dem gerade noch Nr. 1 gesessen hatte.
„Wärst du so freundlich?“
Nr. 1 nickte, ging hinüber zum Tisch und trat mit vollen Händen zu dem Mann im Rollstuhl. Die Apparatur klickte und begann zu blinken, als er sie auf dem Kopf des kranken Mannes setzte.
„Bereit?“
Die Frau nickte, drückte sich in den Sessel und schloss die Augen, während er ihr das baugleiche Gerät aufsetzte.
Ein grelles Leuchten durchflutete den Raum, Rechner und Server begannen laut zu summen, bis schließlich wieder alles wie zuvor war, mit einem Unterschied: Der Mann im Rollstuhl begann zu stöhnen.
„Himmel, was für ein furchtbarer Körper. Solltest du jemals auf die Idee kommen deinen Geist zu transferieren, such dir niemals eine 101-Jährige dafür aus.“
Nr. 1 lachte, „dafür ist sie unauffällig und erregt keinen Verdacht. Besser als das junge, vollbusige Model von damals, du erinnerst dich?“
„Was für eine Tragödie. So ein schöner Körper, aber leider zu auffällig.“
Nr. 1335 sprang vor Schreck zurück und fiel gegen den Tisch, von welchem lauter bunte Kabel regneten.
„DU bist der Alchemist?“
Der Mann im Rollstuhl stieß ein heißeres Lachen aus und steuerte sich mit dem Joystick unter seiner Hand in Richtung des Tisches.
„Hast wohl nen alten Mann mit weißem Bart erwartet, mhm? Tut mir leid, ich kann nur mit einem Krüppel oder einer alten Frau dienen. Ich wette, die vollbusige hätte dir auch gefallen.“
Er deutete auf einen der vielen Monitore der Überwachungskameras.
Ein Mannschaftswagen hielt direkt vor dem Gebäude und aus der Schiebetür sprang ein halbes Dutzend Roboter mit schweren Waffen auf den silbernen Armen.
„Los jetzt, sie sind gleich hier.“
Nr. 1 drückte den verängstigten jungen Mann auf einen Stuhl und setzte ihm eine ähnlich, jedoch größere Apparatur auf den Kopf. Mit einem Stecker verband er das Gerät mit einem der Server.
„Was … was passiert nun?“
Der Blick des Alchemisten huschte über die Monitore.
„Du bekommst den Schnelldurchlauf. Wir werden deinen Körper zum Aufwachen zwingen. Du wirst diese Realität verlassen und in deinem echten Körper wieder aufwachen.“
Nr. 1 beugte sich zu ihm herunter, „Verschwinde so schnell wie möglich aus der Anlage und suche Nr. 2. Hast du verstanden? Sie wird dir alles Weitere erklären.“
„Nr. 2? Sie?“
Nr. 1335 wolle noch eine weitere Frage stellen, wurde aber von einem lauten Surren unterbrochen. Sein Körper zuckte und sank leblos zusammen.
„Das war der Zweite in diesem Monat. Es werden weniger.“
Der Mann im Rollstuhl sah Nr. 1 eindringlich an.
„Es wird schwieriger, sie sind uns immer einen Schritt voraus.“
„Ich weiß, aber wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben, wir müssen so viele retten wie möglich. Und nun versteck dich, sie kommen.“
Es hämmerte an der Tür. Der Klang von Metall auf Metall war so laut, dass es klang, als würde sie darunter zerbrechen.
Die Tür öffnete sich nur einen Spalt weit und die alten, milchigen Augen begutachteten die Eindringlinge. Ihre metallenen Körper glänzten wie frisch poliert und die Linsen in ihren unechten, toten Augen bewegten sich langsam vor und zurück, während sie das Gesicht vor ihnen scannten.
„AI Special Force. Wir suchen zwei flüchtige Personen. Es handelt sich um Terroristen, die einen Anschlag auf die Gesellschaft planen.“
Die Computerstimme klang ohne jede Emotionen und unterschied sich nicht von den tausend anderen unechten Stimmen, die er in den letzten Jahren gehört hatte.
„Ich habe niemanden gesehen.“
Er wartete ab, während die programmierten Maschinen seine Antwort verarbeiteten.
„Entschuldigen Sie die Störung. Sollten Sie verdächtige Personen sehen, melden Sie diese sofort.“
„Selbstverständlich. Diese Terroristen müssen eliminiert werden.“
Die Tür flog wieder ins Schloss und der alte Körper drehte sich langsam um.
„Sie gehen. Ruhe dich heute Nacht hier aus. Morgen machen wir weiter.“