Seitenwind Woche 7: Mach eine Szene!

Von vorn

Jemand klopft an meine Tür, wer mag das wohl sein?
Jemand klopft noch einmal an meine Tür, wer mag das wohl sein?
Jemand klopft schon wieder an meine Tür, wer mag das wohl sein?

Ich ahne es, ich sehe es.
Die schöne Nachbarin kommt vorbei.
Ich ahne es, ich höre es.
Um Rat für ihre Mutter will sie bitten.
Ich ahne es, ich fühle es.
Sie sorgt sich um die Mutter.

Ich mache meine Schritte hin zur Tür.
Meine Hand legt sich auf die Klinke.
Dann öffne ich langsam die Tür.

Die Nachbarin zieht die Stirn ganz kraus.
Die Nachbarin rümpft die schmale Nase.
Die Nachbarin schürzt die roten Lippen.

„Was fehlt euch, Alchemist?“, fragen die schönen Lippen.
„Ein Experiment“, antworten meine schmalen Lippen.
„Ihr seht nicht gesund aus“, meinen ihre sinnlichen Lippen.
„Ich sehe die Zukunft“, antworten meine runzligen Lippen.
„Was seht ihr?“, will sie nun wissen.
Und ich antworte:
"Jemand klopft an meine Tür, wer mag das wohl sein?
Jemand klopft noch einmal an meine Tür, wer mag das wohl sein?
Jemand klopft schon wieder an meine Tür, wer mag das wohl sein?

Zahnlos oder
Zwei auf einen Streich

Sie hatten mich vorgewarnt. Eine Wolke von üblen Gerüchen quoll mir aus der Hütte entgegen und beleidigte mein feines Näschen, als endlich nach dem dritten Mal Klopfen die Tür plötzlich aufgerissen wurde.
Da stand er, genauer gesagt: Er schwankte und füllte den Türrahmen dabei fast völlig aus.
Wir starrten uns an. Ich nach oben, er nach unten aus glasigen, blassgelben Augen unter buschigen Augenbrauen. Seine Füße steckten in abgewetzten Pantoffeln, die Hose verschwand unter einem langen, schmuddeligen Hemd, über dem ein verblichener Umhang flatterte. Ein jämmerlicher Anblick.
Auch er musterte mich, aber ich hatte mir nichts vorzuwerfen in meiner Montur und deshalb grinste ich frech.
„Abholung!“, schnarrte ich. Ungeduldig trippelte ich mit den nackten Füßen.
„Entrez, Madame!“, nuschelte er durch seinen filzigen Bart, der den dicken Bauch bedeckte, wie eine orangerote, brüchige Kuchenglasur.
Erstaunt ließ ich mich nicht zweimal bitten und sprang mit einem Satz durch seine Beine.
„Wo?“, fragte ich einsilbig und suchte mit meinen Augen den Raum ab.
Trotz des schummrigen Lichtes sah ich, wie er verächtlich die Schultern zuckte.
„Saach ich nich!“, lallte er unerwartet und lächelte dümmlich.
„Egal!“, keifte ich leise.
Denn was er nicht wusste: Die Wahl diese schäbige Hütte, diesen ärmlichen alten Kerl von Alchimisten aufzusuchen, war auf mich gefallen, weil nur ich das Objekt der Begierde würde sehen können. Niemand sonst konnte, was ich konnte.
Schnell erfasste ich den Raum: die vernagelten Fenster, den zerfledderten Teppich, morsche Regale und Stühle und einen langen Tisch, bedeckt mit Glaskugeln und totem Getier unter Staubschichten. Was ich suchte, war nicht dabei.

Aber: Ich hatte den Durchblick. Im wahrsten Sinne des Wortes. So sah ich das vergammelte Geschirr in den Schränken, die verschimmelten Kekse in den Dosen, die alten Klamotten in der Kommode, die Folianten in der Truhe und unter dem Dielenboden die zahlreichen Mäuse.
In einer Ecke entdeckte ich eine schwere Maschine.
„Wow!“, entfuhr es mir anerkennend.
„Selbsch konschruiiiert“, kam die Stimme des Alchimisten aus dem Ohrensessel, in den er lautstark hineingeplumpst war. Er hatte scheinbar die Kontrolle über seinen Kopf verloren, der ständig hin und her baumelte.
„Geeht für alles, Kraut und Rüüben, Wuarzeln, Früschte…“, murmelte er mühsam.
Der Korb mit Äpfeln neben dem Metallmonster war fast leer, in einer Schüssel dampften noch die Reste von Apfeltrester vor sich hin.
„Hab´ damit das Elixier gemacht, wie beauftragt“, lallte der Magier mit geheimnisvoller, immer undeutlicherer Stimme.Er sah erbärmlich aus.
Du armer Tropf hast doch nur die Äpfel ausgepresst, dachte ich belustigt.
Erfreut entdeckte ich einen Kühlschrank auf der Empore und sprang mit einem Satz alle Stufen auf einmal nach oben. Fast wäre ich mit dem Tüllrock am Geländer hängen geblieben. Da, durch die geschlossene Kühlschranktür erblickte ich die Flasche. Klein und unscheinbar stand sie hinter Knochen, Pflanzenresten und suppenähnlichen Flüssigkeiten in Tonschalen. Ich klatschte begeistert in die Hände und riss die Tür auf.
„Nö…niich!“, stammelte der Alte unten in seinem Sessel. „Dasch isch jetsch meine Flaasche! Geb´isch nüsch ma her!“
„Doch!“, schrie ich hämisch nach unten.
Ich bemerkte, wie er sich aus den Tiefen des Sessels nach oben drücken wollte.
Ein schneller Griff in die Tiefen des Kühlschranks und ich nahm das Objekt der Begierde an mich.
„Nur halb voll“, murmelte ich erstaunt.
„Nee, haalb leer“, nuschelte es von unten. Der Alchimist machte schmatzende Geräusch. „Schmeckt soo guud!“
Ich sah aus dem Augenwinkel, wie er versuchte sich aus den Tiefen des Sessels nach oben zu drücken. Plötzlich tat es einen grauvollen Schlag. Der Alchimist war einfach auf den Boden geknallt. Er lag dort auf dem Rücken und hatte Schaum vor dem Mund. Seine Augen quollen aus ihren Höhlen.

Ich fühlte ein leises Schaudern, aber auch Erleichterung, denn kämpfen war nicht meine Stärke. Von der Empore sprang ich vorsichtig direkt neben den am ganzen Körper zitternden Kerl.
Plötzlich entfuhr diesem ein lautes Ächzen, sein Kopf rollte leblos zur Seite. Ich rührte mich nicht von der Stelle, wartete einige Minuten und hielt dabei das Fläschen fest umklammert. Nur die feinen Trippelschritte der Mäuse waren unter den Holzbohlen zu hören.
Obwohl ich sehen konnte, dass sein Herz aufgehört hatte zu schlagen, schlich ich mich nur sehr vorsichtig an dem Alchimisten vorbei.

Lautes Gejohle empfing mich, als ich die Tür aufmachte und triumphierend die Flasche in die Höhe hielt. Da standen die bösen Buben, in ihrer Mitte die alte Hexe.
„Der Saft!“, grölte einer.
„Die Idee war brilliant“, rief ein anderer.
Der Hexe stieg Schwefelqualm aus den Nasenlöchern. Ihre Haare knisterten und sprühten giftgrüne Blitze vor Begeisterung.
„Zahnlos kann man nicht in einen vergifteten Apfel beißen“, schrie einer. „Aber Saft geht immer!“
Wieder einer schrie: „Und der Alchimist?“
„Mausetot!“, kicherte ich.
Die Meute jubelte.
„Auf zu Schneewittchen!“, grölte die Hexe. „Der restliche Saft reicht noch!“

Eine Eingebung

„Dreimal schwarze Witwe!“ Seine noch alte Faust donnert auf den Tisch „Wer stört?“
Meister Rheus eilt zur Tür. Er weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleibt den Störenfried abzuwimmeln.
Er öffnet vorsichtig die knorrige Holztür und rumpelt noch bevor sie ganz offen ist: „Was, zum inneren Faden, wollt Ihr?“ Seine Füße beginnen schon zu kribbeln. Vincent steht vor der Tür, mit je einem vollem Korb Holz in jedem Arm und einem entschuldigenden Grinsen im Gesicht.
„Meister, es wird kalt heut Nacht.“
„Nicht jetzt !“ bellt Master Rheus und versucht die Tür zuzuschlagen „Komm morgen wieder oder übermorgen oder sonstwann!“ Die Dosis hatte er wirklich ungeheuer falsch berechnet und seine Stimme klingt jetzt schon hoch und melodisch.
Die Augen des jungen Mannes werden groß.
„M-M-Meister…!“
„Was noch?“ Aber Rheus ahnt es und blickt an sich herab. Seine Hände sind zart und klein, seine Füße weich und zierlich und es zeichnet sich tatsächlich schon eine Brust unter seinem leicht geöffnetem Mantel und dem offenen Flachshemd ab.
„Himmel, komm rein Bengel!“ ruft er und rafft die Kleidung über seiner Blöße zusammen.
„D-D-danke ich komme doch lieber morgen!“ Vincent weicht zurück, will Fersengeld geben, nur noch weg, aber da reißt der Alte den großen Jungen schon grob am Revers in sein Gemach.
Panik steht in Vincents Gesicht. Die Augen weit aufgerissen presst er sich das Holz vor die Brust und atmet stoßweise.
Meister Rheus sinkt entkräftet auf den Schemel vor dem Arbeitstisch, der mit Tiegeln, flachen Schälchen und Flecken übersäht ist. Er lässt den Kopf in die Hände sinken. Inzwischen summt jeder Muskel und wimmelt und kribbelt jede Faser an ihm.
„Es tut mir leid, Vincent. Was mache ich jetzt mit dir?“
„Nichts - wirklich -“ wieder weicht der in Richtung Tür zurück.“Es ist doch gar nichts dabei, dass Ihr ausseht wie eine walkorische Dame!“
Meister Rheus schließt kurz die Augen und atmet tief ein.
„Du bleibst hier, junger Mann, bis ich wieder ganz ich selbst bin.“
Das sagt er mit mehr Zuversicht, als er eigentlich fühlt, denn wer kann schon wissen, wann das sein wird.
„Meister, es stimmt also: Ihr braut geheime Tränke! Ihr seid ein… ein… Magus! Sie werden Euch töten!“
„Wenn ich wieder aussehe wie immer, wird kein Mensch es merken.“
„Wann wird das ein?“ Der Junge schluckt sichtbar und versucht gelassen zu klingen.
„Da fragst du wirklich etwas sehr Kluges. Keine Ahnung, die Dosis des Elixiers war -“ es entsteht ein Pause, sein Kopf rutscht zwischen die Schultern „ hoch.“

Drei Tage später sah Meister Rheus immer noch aus wie eine Walkorierin.

„Junge, wir müssen hier weg. Ich werde deine Hilfe brauchen, denn eine Dame verlässt niemals alleine die Burg.“
Langsam sinkt der Kopf des großen Jungen vorn auf seine Brust. Ihm wird in diesem Moment klar, dass sich alles in seinem Leben ändern wird.
„Wenn ich nicht will?“
Der Meister hebt eine zart geschwungene Augenbraue:
„Nun , Sohn, sieh mich an! Denkst du nicht, mir fiele etwas ein, um dich zu zwingen?“ es entsteht eine kleine Pause „Nimm es nicht so schwer! Auf dich warten Abenteuer. Nur mein alter Freund Karolus wird mir helfen können. Heut Nacht zur dritten Glocke machen wir uns auf den Weg“.

Der Alchemist beginnt ein Bündel zusammenzustellen, Mäntel zu suchen und Ordnung in die Tränke zu bringen.
Vincent steht einfach nur angelehnt in einer Ecke und verfolgt diese hektische Aktivität mit den Augen. Seine Gedanken wandern dabei weiter.
Wenn er sich alles recht überlegt, verlässt er eine Arbeit, die ihn langweilt und Menschen, die ihn verachten. Ist das diese Sache mit dem inneren Faden, von der alle immer reden? Sollte man seiner Richtung nicht einfach folgen?

„Meister, ich werde euch freiwillig begleiten!“ hört er sich sagen und wundert sich ,dass er es auch meint.

Geister

Feuer anheizen mit dem Blasebalg, Kräuter mörsern und ins Wasser werfen, Flasche auswählen …
Nein, er konnte sich nicht konzentrieren und ohnehin erschien es sinnlos, was er hier tat.

Schwerfällig erhob sich der Alchemist aus seinem Sessel. Stand unschlüssig im Raum.
Wie spät war es? Noch Morgen, Vormittag oder schon wieder Abend? Er konnte es nicht sagen und wollte auch nicht aus den verdunkelten Fenstern sehen. Das erschien ihm zu mühsam.
Die letzte Nacht steckte ihm noch in den Knochen. Die Hübsche, die er vor ein paar Tagen kennen gelernt, und gestern Abend hierher eingeladen hatte … Katharina.
Egal, er würde sie ohnehin nie wieder sehen.

Reue. Schuldgefühle drückten seine ohnehin meistens gebeugten Schultern beinahe zu Boden. Wie konnte er nur? Aber es hatte sich so gut angefühlt. So lebendig. Es war das erste Mal gewesen seit …
Nein, nicht daran denken. Nicht die Geister aufscheuchen.
Er schaute auf das Bild, das auf dem Tisch lag. Blickte auf die Rückseite. Konnte sich nicht dazu durchringen, es umzudrehen. Tat es dann doch. Bereute es. Schon liefen die Tränen wieder.
Wo war nur …? Wo? Es müsste hier irgendwo stehen … Er musste etwas gegen dieses Gefühl tun, das ihn schier zerriss.

Achtlos fegte er, auf der Suche, einen Stapel Bücher vom Tisch. Sie segelten in einer Wolke aus dicken Staubflusen und undefinierbaren Krümeln zu Boden. Er bemühte sich gar nicht erst, sie wieder aufzuheben. Es machte ohnehin keinen Unterschied, wo sie weiter einstaubten.

Ah, da war es. Er schüttete ein paar der Pillen auf seine Hand. Klein und verheißungsvoll lagen sie in der Handfläche. Würde eine reichen? Besser zwei oder mehr? Er hielt inne, als ihm eine Idee kam.
Sein Mantel wirbelte weiteren Staub auf, als er vor dem Schrank in die Hocke ging.
Die linke Hand fest um die kleinen Dinger geschlossen, kramte er darin herum. Und ja, da war er. Ein kleiner Mörser mit Stößel. Eigentlich nur für die Kräuter zum kochen, aber das würde schon gehen. Er freute sich, über seine Idee.
Nur Sekunden später, hatte er ein feines Pulver. Und jetzt? In ein Glas schütten und Wasser … Nein, da gab es Besseres.
Er goss es mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus einer großen Flasche auf, rührte mit dem Stößel um und trank es direkt aus dem Mörser.
Die Kreidig bröselige Flüssigkeit rann ihm scharf, brennend und bitter die Kehle hinunter und tropfte aus den Mundwinkeln auf den Mantel. Dann wartete er. Spülte den Geschmack noch mit einigen Schlucken aus der halbleeren Flasche nach. Kümmerte sich in der Zeit, bis die Wirkung eintreten würde, um den Trank im Kessel.

Ruhe breitete sich in ihm aus. Brachte die Geister in seinem Kopf zum Schweigen.
Er hörte eine leise Melodie. Ignorierte sie.
Die Melodie verstummte. Setze kurz darauf wieder ein. Doch das war egal. Völlig egal.
Es klopfte an der Türe.
»Bist du da? Mach auf!«
Die Stimme kam ihm bekannt vor. Hatte er die nicht erst vor wenigen Stunden …
Wieder klopfte es. Lauter. Hämmerte regelrecht.

Ich stehe vor der Holztüre. Klopfe. Rufe. Ich dachte, ich hätte drinnen etwas gehört.
Er sagte, er wäre heute den ganzen Tag da.
Schritte. Endlich öffnet sich die Türe. Nur einen Spalt.
Er sieht mich aus müden, umschatteten Augen an.
»Was willst du?«
»Ich habe mein Armband bei dir verloren. Hast du es gefunden?«
»Armband?« Fragt er. Seine Stimme klingt seltsam. Schleppend. Versteht er, was ich sage? Es wirkt nicht so.
»Ja, mein Armband. Kann ich es kurz selbst suchen?«
Es dauert einige Sekunden, doch dann nickt er, geht einen Schritt zurück und dann vor mir in den Raum hinein.
In der Wohnung riecht es muffig. Das war mir letzte Nacht nicht aufgefallen. Auch die Unordnung nicht. Die vielen Kerzen hatten den Raum in verzaubertes Licht getaucht, das sich wie ein magischer Mantel über all das gelegt hatte.
Ich schaue ihn an. Den Alchemisten. Wie er da steht, in seinem fleckigen Bademantel. Und mein Blick fällt auf den Monitor neben ihm.
Ich schmunzle ein bisschen. »Daher dein Nickname in der App?« Ich deute mit dem Kinn auf das laufende Game. Den Kessel und den Mörser auf dem Bildschirm.
»Ja« sagt er. Mehr nicht. Er ist so anders als letzte Nacht.
»Ich geh dann mal das Armband suchen.«
Er zuckt gleichmütig mit den Schultern.
Ich schiebe die Tür zum Schlafzimmer auf. Auch hier ist alles staubig und der Boden übersäht mit Kleidung. Es riecht noch nach Sex, aber auch abgestanden und irgendwie einsam. Kann ein Raum einsam riechen? Scheinbar.
Mein Kopf zeigt mir Rückblenden. Die will ich gerade nicht.
Ah da liegt es, vor dem Bett. Es muss mir beim Ausziehen vom Handgelenk gerutscht sein.
Als ich mich wieder aufrichte, fällt mein Blick auf einen Bilderrahmen auf dem Nachttisch. Er liegt mit der Vorderseite auf dem staubigen Holz. Neugierig drehe ich ihn um und sehe eine Frau und einen kleinen Jungen lächeln. Das Glas ist gesprungen. All das hier fügt der letzten Nacht einen faden Beigeschmack hinzu. Fast fluchtartig verlasse ich das Schlafzimmer.
»Ich hab es … ach du scheiße. Alles okay mit dir?«
Er steht noch da, wo er zuvor gestanden hatte. Doch er stützt sich krampfhaft auf der Lehne des Schreibtischstuhles ab, so, als würden seine Beine jeden Moment unter ihm nachgeben. Er antwortet nicht. Schüttelt ganz leicht den Kopf. Das könnte Ja oder Nein bedeuten.
Dann rutscht seine Hand von der Lehne des Stuhles und er fängt sich nur knapp. Lässt sich schwer zu Boden sinken. Sein Atem geht flach und er hat offensichtlich Mühe, die Augen offen zu halten.
Mit zitternden Händen hole ich das Handy aus der Hosentasche und wähle den Notruf.

Ich stehe einfach nur da, als er abtransportiert wird. Habe mich an eine Wand zurückgezogen. Mir waren Fragen gestellt worden, die ich nicht hatte beantworten können und so habe ich einfach versucht, nicht im Weg zu sein.
Ich fühle mich wie ein Eindringling. Fehl am Platz, in der nun menschenleeren Wohnung. Und doch kann ich nicht einfach so gehen. Fahre den PC herunter, knipse die Lichter aus, vergewissere mich, dass der Herd aus ist. Stolpere fast über ein paar Bücher, die am Boden liegen.
Auf dem Tisch liegt noch ein Foto. Der kleine Junge. Die Ränder sind abgegriffen und wellig und auf der unteren Ecke ist die Farbe verschmiert, als wäre etwas drauf getropft.
Nicht drüber nachdenken.
Ich schaue mich noch einmal schaudernd um. Dann schließe ich die Türe hinter mir.
Machs gut Alchemist131.

Der Alchemist des Pharaos

„Mein Name ist Horus. Ich bin der Oberritualist des Pharaos“, murmle ich keuchend. Meine schweißnasse Hand umklammert das Amulett, welches mir Ramses als Auszeichnung für meine magische Qualifikation verliehen hat. Nach der letzten Nilüberschwemmung, als Myriaden von Ratten seinen Palast heimgesucht hatten, war es mir mit einem Tempelritual gelungen, ihn von dieser Plage zu befreien. An was man nicht alles denkt, obwohl man mit einem Fuß im Reich der Duat steht.
Die Selbstbeschwörung wird mich nicht retten. Mit aufgerissenen Augen starre ich auf den okkulten Stern, den ich mit Kreide und dem Gift eines Skorpions auf den Boden gemalt habe.
Meine Glieder zucken inzwischen, wie Flammen im Wind. Und so, als ob man sich in einer kalten Wüstennacht fragt, wie lange das noch gutgehen kann, bange ich um mein Leben. Ich weiß, ich sollte aus diesem machtvollen Bann hinaustreten, doch da ist das verlockende Flimmern neben dem Regal mit dem Papyrus. Wegen dieses Hekaws ignoriere ich das beharrliche Pochen gegen die hölzerne Pforte des Laboratoriums. „Geh weg Seth, du Triebfeder alles Üblen!“, schreie ich in Richtung des fordernden Störenfrieds, „oder hast du wieder deinen krokodilgestaltigen Sohn geschickt?“
Das Pochen wird heftiger. Ich blicke auf meine Hand. Sehe, wie sie sich auflöst und das Amulett gleich mit. Es ist dasselbe Flimmern, das hinter dem geöffneten Portal auf mich wartet. Schon treiben Teile meines Arms darauf zu. Gleich wird mein ganzer Körper dorthin wehen. Was mochte mich dort erwarten?
Ich vernehme das Splittern von Holz. Wende den Kopf und rechne damit Osiris, den Wiedergänger, zu erblicken, der sich gewaltsamen Zutritt verschafft hatte. Doch die Gestalt vor mir erschreckt mich noch mehr, als dieser vermaledeite Brudermörder es je könnte. Ich sehe in mein eigenes gealtertes Antlitz. Höre meinen faltigen Mund beschwörend ausrufen: „Tus nicht!“
Ich schließe die Augen. Stelle mir den Übertritt in den grenzenlosen Kosmos ein letztes Mal vor. Seufze und trete aus dem magischen Symbol aus Kreide.

Wir sind die Lebenden

Klopf, klopf.

Marcus schlug die Augen auf. Sofort schmerzte das grelle Deckenlicht und er kniff sie wieder zusammen. Er stöhnte.

Klopf, klopf.

Sein Kopf dröhnte, es fühlte sich an, als ob zwei Nägel direkt in seine Schläfe gebohrt wären und mit jedem verdammten Klopfen an die Tür schlug jemand mit dem Hammer darauf. Mühsam rappelte er sich hoch. Er befand sich auf dem Boden seiner Wohnung, dritter Stock, Mietshaus, untere Preisklasse. Alles war so unordentlich, wie er es im Gedächtnis hatte, auf dem Boden verteilt lagen etliche Pizzakartons und anderer Müll. Ein beißender chemischer Geruch lag in der Luft.

Klopf, klopf.

Das Klopfen wurde nachdrücklicher.

„Hey, jemand zuhause?“, hörte er gedämpft durch die Tür.

„Ja, ja, ich komme ja schon.“, sagte Marcus. Mühsam stand er auf. Zu seinen Kopfschmerzen gesellten sich Schwindel und Übelkeit – und ein unfassbarer Heißhunger. Auf dem Weg Richtung Tür klaubte er ein altes Stück Pizza aus einem der Kartons. Es schmeckte wie Pappe, wahrscheinlich hatte er eins von letzter Woche erwischt. Angewidert warf er es auf den niedrigen Tisch neben der Eingangstür. „Wer ist da?“, fragte er.

„Jules. Glenn schickt mich.“ Seufzend kontrollierte Marcus, dass die Kette in der Tür eingelegt war und öffnete sie einen Spalt. Im Hausflur stand ein Mann, groß, breitschultrig, mit langem Mantel, Glatze und Sonnenbrille, die er trotz des diffusen Lichts nicht abgesetzt hatte. Er sah ihn skeptisch an.

„Bist du der Kerl, den man den Alchimisten nennt?“ In der Stimme schwang Abscheu und so etwas wie Ekel mit. Marcus sah an sich hinunter und schloss schnell den Bademantel über dem fleckigen T-Shirt und furch sich durch die fettigen Haare.

„Ja, bin ich. Was will Glenn?“ Der Blick des Mannes blieb skeptisch, als er antwortete.

„Mehr von dem neuen Zeug.“ Marcus riss die Augen auf.

„Mehr? Ich hab ihm doch gestern erst eine Lieferung …“

„Die Leute reißen es uns aus den Händen. Wir brauchen mehr, viel mehr. Alles was du hast.“ Er griff in die Innentasche seines Mantels und holte ein dickes Bündel Dollarnoten hervor. „Cash gibt’s auch.“ Marcus Blick heftete sich auf das Bündel, es war dick und, soweit er erkennen konnte, alles Hunderter. Das war viel Geld, sehr viel sogar. Er leckte sich über die trockenen Lippen.

„Warte hier.“ Er schlug die Tür zu und sah sich hektisch um. Die Wohnung bestand aus einem einzelnen Raum, Küche, Wohnzimmer, Schlafzimmer, alles in einem. Auf einem niedrigen Tisch standen seine Utensilien, Bunsenbrenner, Rundkolben, Tropftrichter, alles nach der letzten Herstellung unverändert liegen gelassen. An den Rändern zeigten sich noch Reste des roten Pulvers. Er stürzte darauf zu, öffnete Schachteln und Kästen, die auf dem Tisch verteilt waren. Die meisten waren leer, in einer fand er aber, was er suchte: etwa fingernagelgroße, rote Pillen, versehen mit dem Aufdruck von drei übereinander gelagerten Kreisen, seinem Markenzeichen. Schnell griff er danach und eilte zurück zu Tür. Diesmal öffnete er sie ganz. Der Mann nahm die Kiste entgegen und schaute hinein.

„Ist das alles?“

„Ja, mehr habe ich nicht.“

„Das reicht nicht mal für eine Woche. Wir brauchen mehr.“ Er setzte die Sonnenbrille ab und starrte Marcus an. „Du nimmst das Zeug doch selbst, also hast du einen eigenen Vorrat. Gib ihn mir! Dann sind wir hier fertig.“ Marcus schüttelte den Kopf.

„Nein … nein, das ist alles.“ Der Mann seufzte, griff wieder in seinen Mantel und holte eine Pistole hervor. Groß, schwer, silberner Griff, das Fabrikat erkannte Marcus nicht. Er hob die Hände und taumelte rückwärts.

„Bitte, ich sag die Wahrheit!“

„Klar tust du das, das tut ihr abhängigen Freaks ja immer. Los, her damit!“ Marcus gab einen wimmernden Laut von sich. Langsam drehte er sich um und begann halbherzig, auf Tischen und in Schränken zu suchen. Jules betrat hinter ihm die Wohnung und schloss die Tür. Er sah sich um.

„Verdammt, du lebst wie auf einer Müllhalde. Wie hast du es geschafft, hier so guten Stoff herzustellen?“

„Ich hab’s nur in Pillenform gebracht. Und mit ein bisschen Meth gestreckt. Das eigentliche Zeug hab ich aus dem Darknet, ein Kerl aus Frankreich hat’s aus nem Labor mitgehen lassen.“

„Scheiße, echt? Dann weißt du gar nicht, was drin ist?“

„Irgendein Virus. Der aufs Hirn geht.“ Marcus tippte sich an die Schläfe, Jules lachte.

„Ja, glaub ich sofort. Die Leute haben den Trip ihres Lebens. Einige haben sich gestern noch Schlachten mit der Polizei geliefert, liefen rum wie Zombies – nicht, dass ihr Freaks das nicht sonst auch schon tun würdet, mit dem ‚normalen‘ Zeug. Aber das war schon echt krank!“ Marcus war fündig geworden. Zitternd drehte er sich zu Jules um und hielt ihm eine kleine Tüte entgegen. Darin waren noch etwa zwei Dutzend der roten Pillen.

„Hier, das ist alles – wirklich!“ Jules nahm es entgegen.

„Ich brauch noch den Kontakt zu diesem Kerl. Den Franzosen.“ Marcus nickte, er kramte zwischen einigen Papieren herum, die sich neben einem aufgeschlagenen Laptop stapelten, und reichte ihm schließlich einen Zettel.

„Das ist er.“ Marcus stellte sich wieder vor ihn, mit erhobenen Händen und wippte von einem Bein aufs andere. „Kann ich … kann ich jetzt mein Geld haben.“ Jules blickte auf und sah ihn eine Weile mitleidig an. Dann verstaute er den Zettel, hob die Pistole und schoss Marcus einmal mitten in die Brust. Noch bevor der Knall verklungen war, lag der ‚Alchimist‘ in einer Lache seines Bluts am Boden.

„Jämmerlich. Und mit so einem Abschaum gibst du dich ab, Glenn?“, murmelte er.

Er drehte sich um und suchte mit dem Blick die Wohnung ab. Dann schüttelte er den Kopf – hier war nichts mehr von Wert für ihn.

Auf der Straße vor dem Haus hörte man Sirenen. Alarmiert ging er zum Fenster und sah auf die Straße. Es war eine schäbige Seitenstraße zur Main Street des kleinen Kaffs Kings County im direkten Umfeld von Atlanta. Ein paar Blocks weiter konnte man gerade noch das große, graue Gebäude des Harrison Memorial Hospital erkennen. Ein Streifenwagen hatte mitten auf der Straße gehalten, der Polizist war herausgesprungen und aus der Deckung der offenen Tür schoss er auf eine Gruppe Menschen.

„Was zum Teufel …“, murmelte Jules und ging näher ans Fenster. Die Gruppe Menschen, vielleicht ein halbes Dutzend, liefen nicht panisch auseinander, wie er es erwartet hätte. Stattdessen drehten sie sich langsam in Richtung des Streifenwagens und gingen träge schlurfend darauf zu. Treffer der Pistole ignorierten sie weitestgehend, hin und wieder ging einer von ihnen zu Boden. Schließlich hatte der Polizist seine Munition aufgebraucht, er zog seinen Polizeiknüppel und ging auf die Verbliebenen los. Den ersten traf er mitten ins Gesicht, was offenbar keinen Effekt hatte. Er schlug noch einmal zu, doch da hatte ihn schon ein Anderer gepackt - und sich in seinem Arm verbissen. Der Schrei hallte hinauf bis zu den Fenstern der Wohnung. Die restlichen der schlurfenden Gestalten kamen heran und begannen ebenfalls, ihre Zähne in Arm, Bein oder Schulter zu schlagen.

Jules verfolgte alles mit wachsender Fassungslosigkeit. „Was geht denn hier ab?“, fragte er sich, als er hinter sich ein Geräusch hörte. Er fuhr herum, direkt vor ihm stand der tote Alchimist – leere Augen sahen ihn gierig an, der Mund war halb geöffnet. Jules riss die Waffe nach oben, doch zu spät – der Alchimist stürzte sich auf ihn, riss ihn zu Boden, die Zähne in seinen Hals versenkt. Die Schachtel rutschte aus seiner Tasche und rote Tabletten verteilten sich über den Boden.

Cannabis

Oneas verkaufte seit Jahren einen Trank, der unter anderem THC enthielt. Gegen herbstliche Erkältungen sollte er wirken. Auf die Inhalte ging er jedoch nur ungern ein. Erst seit Cannabinoide für solche Zwecke in geringen Dosen erlaubt waren, traute er sich, sie zu erwähnen. Mit dem Ergebnis, dass sein Elixier seither häufiger nachgefragt wurde. Deshalb erlaubte er sich, die Definition von gering etwas weiter zu fassen.

Am Vorabend hatte er die neue Dosis an sich selbst getestet, woraufhin er am Morgen erst gegen zehn aus dem Bett kam.

„Gut“, zeigte er sich zufrieden, „so soll es sein. Ich fühle mich herrlich entspannt.“

Nebenbei war er noch wackelig auf den Beinen, was ihm, mangels klaren Verstandes, jedoch entging.

Es klopfte verhalten an der Tür, erst einmal, dann nochmal. Danach wurde es lauter.

Widerwillig, so früh Besuch zu empfangen, ging er hin und öffnete.

Vor der Tür stand eine Dame mit erheblich chemisch aufbereitetem Gesicht. Oneas fiel es sofort auf und startet eine stille Analyse.

Lippen: Aufgespritzt und rot bemalt. Stirn und Wangen: Gestrafft. Augenbrauen: Tattoos. Wimpern: Angeklebt. Nase: Mit Make-up kaschiert. Zähne: Gebleicht. Haare: Schwarz gefärbt.

Innerlich schüttelte es ihn. Die Dame bemerkte es nicht und äußerte forsch ihr Anliegen.

„Guten Tag der Herr. Mein Name ist Blond, Jasmin Blond. Ich komme vom MI-SAC, dem Meinungsforschungsinstitut für Sale and Commerce. Sie werden uns sicher kennen. Wir haben Sie, unter vielen klugen Leuten, für unserer Umfrage auserwählt. Dauert dreißig Minuten. Ich würde mich gerne dabei setzen und ein heißer Kaffee wäre auch nicht schlecht. Ich brauche jeden Tag was Heißes, wenn Sie verstehen, was ich meine.“

Oneas, der bislang nicht zu Wort kam, hielt noch vom Öffnen der Tür das Blatt in der Hand. Suchend blickte er in ihre leeren Augen, fürchtend, sie würde auch ohne seine Erlaubnis sogleich in sein Laboratorium stürmen. Um sich die Pantoffeln nicht zu zerstören, trat er einen kleinen Schritt zurück. Erst dann warf er, locker aus dem Handgelenk heraus, die Tür vor ihrer Nase ins Schloss.

Er war noch keinen Meter weggetreten, als er durch die Tür lauten Protest vernahm.

„Was soll das, Herr Oneas?“, schimpfte die Stimme, die jetzt irgendwie anders klang. „Sie können doch nicht einfach die Tür zuschlagen. Was ist mit Ihnen los. Ich habe doch heute nur zwei Briefe für Sie. Die sehen nicht so aus, als wäre was Schlimmes drin. Nun machen Sie schon auf, Herrgott nochmal, sonst werfe ich die Post in die Regentonne.“

„Die Post, herrje“, schoss Oneas die Einsicht durch den Kopf.

Schnell griff er zur Klinke und öffnete die Tür. Draußen stand Frau Huber, die Postbotin. Sie war fast sechzig und hatte reichlich Falten im Gesicht, aber trotzdem, so fand Oneas, sah sie für ihr Alter noch gut aus.

„Vielleicht sollte ich ihr einen Kaffee anbieten“, dachte er, als sie ihm, beleidigt dreinschauend, die Briefe in die Hand drückte.

< >

Fremdverschulden

»Ist da jemand?«
»Blöde Frage. Mach auf.«
»Nein.«
»Verdammt, mach endlich auf.«
»Wer ist denn da?«
»Ich.«
»Hören Sie mit der elenden Klopferei auf. Ich brauche noch einen Moment.«
Der Schlüssel wurde herumgedreht, zumindest ein Versuch, er klemmte, drehte sich doch. Ein Spalt, ein Lichtschein, die offene Tür. Da stand er, im Adamskostüm, mit einem angebissenen Apfel in der Hand. »Sie müssen entschuldigen. Ich habe noch nicht aufgegessen.«
Er starrte auf das verfärbte Fruchtfleisch. »Was hast du getan?«
»Respekt, mein Herr, Respekt!«, erbat Adam, holte aus, rammte die Zähne in den Apfel, kaute und kaute und kaute.
Der Besucher eilte in seine eigene Wohnung, kramte im Medizinschränkchen, wurde fündig und rannte zurück. »Spül nach.«
»Ich weiß immer noch nicht, was Sie von mir wollen.«
»Trink einfach. Und glaube an mich.«
Adam drehte sich weg. Er überlegte. Nebelschwaden an Erinnerungen zogen vorbei. Da war doch eine Schlange. Da war doch ein Freund. Da war doch die Tinktur. Zögerlich nahm er einen Schluck.
»Gut so, das Gegengift wird gleich wirken.«

„Wo habe ich nur den verdammten Shlüssel“, sprach Eugen zu sich selbst. Der große Bund an seinem Gürtel klimperte laut, während er krampfhaft nach dem kleinen mit der Gravur suchte. Heute war so ein Tag, wo er sie dringend brauchte. Die Visionen, seine alles geliebte Frau zu sehen, zehrte an seinen Kräften. Viel zu früh verstorben vermisste er ihre Nähe. Lange hatte er experimentiert, bis er vor einem Monat den Durchbruch hatte. Ein Schluck von dem Gebräu reichte und er sah sie vor sich. Ihre Erscheinung, die sanft lächelte und mit ihm sprach, linderte den Schmerz in seinem Herzen.
Endlich. Triumphierend zog er den Schlüssel aus dem Bund und öffnete das Geheimfach hinter den Büchern in seinem Regal.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach sein Handeln.
„Moment. Ich komme gleich“, brüllte er unwirsch Richtung Tür. Das Klopfen wurde energischer und wurde zu einem ohrenbetäubenden Hämmern.
„Eugen, mach auf. Ich bins, August.“
„Ah, du bist es. Warte ich bin gleich da“, antwortete er und schielte auf den Zettel, welcher den Inhalt beschrieb.
Das Pochen an der Tür wurde immer heftiger. Mit einem lauten Krachen gab die Verankerung der Tür nach und krachte mit einem finalen Knall auf dem Boden. Staub wirbelte auf und verhüllte die Sicht im Raum. Zitternd setzte Eugen das Fläschen an seine Lippen und trank den Inhalt komplett aus.
„Nein, nicht trinken“, schrie August und riss dem Alchimist die Phiole aus der Hand und las die Beschriftung. Er hatte die Flaschen vertauscht.
„Bist du es Magda?“
„Eugen. Ich bins August. Du hast die falsche Tinktur getrunken.“
„Magda, endlich“, hauchte Eugen und schloss die Augen an der Seite seiner geliebten Frau.

Er lag auf dem Boden seines Zimmers und kam langsam zu sich. Hatte es diesmal gewirkt?? Es war dunkel um ihn herum, wie lange war er so gelegen? Als er den Trank zu sich genommen hatte war es helllichter Tag gewesen, jetzt herrschte draußen dunkelste Nacht.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach seine Gedanken. Gleich darauf ein weiteres Klopfen, ungeduldiger diesmal.
„Heda!! Jemand zu Hause?“ rief es von draußen.
Wunderbar, ein Besucher. Gleich würde er wissen ob sein Experiment gelungen war. Er stand auf und schlurfte zur Tür, an der es mittlerweile ein drittes Mal hämmerte. Eindringlicher noch als die Male zuvor.
Er griff nach der Türklinke und durch sie hindurch. Hatte er vor lauter Aufregung danebengegriffen? Er legte die Hand erneut auf den Griff und wieder sank diese hindurch. Entsetzen breitete sich in ihm aus und er fuhr herum. Dabei erhaschte er einen Blick auf sich in der Spiegelung der kleinen Fensterscheiben, also hatte es wieder nicht funktioniert. Enttäuschung durchflutete ihn, wie schon so oft. Frustriert fuhr er zur Tür herum und versuchte erneut sie zu öffnen. Erfolglos.

Doch mit einem Mal ertönte ein schwerer Schlag von draußen. Jemand versuchte die Tür mit Gewalt zu öffnen. Er brüllte verärgert auf „Seid ihr des Wahnsinns??? Lasst meine Tür ganz! Ich bin ja schon da. Sie geht nur nicht auf!“
Draußen erklang noch eine weitere Stimme. Er erkannte die klirrende Stimme seiner Nachbarin, dieser unmöglichen und neugierigen Person, die ihre Nase immer wieder in seine Angelegenheiten stecken mußte. Auch die andere Stimme konnte er mittlerweile zuordnen. Es war die des Apothekers. Er schrie nach seinem Geld, das der Alchemist ihm immer noch schuldete. Vielleicht war es gar nicht so schlecht, daß er die Tür nicht öffnen konnte.

Da zersplitterte diese und sie drangen in sein Reich ein. Er stellte sich ihnen mutig in den Weg. Weglaufen oder verstecken konnte er sich hier auch schlecht, war seine Wohnung doch nur ein einziger, dunkler und verrauchter Raum. Der Apotheker stürmte auf ihn zu … und durch ihn hindurch. Der Alchemist schrie erstaunt auf, doch wieder reagierte keiner auf ihn. Was war hier nur los?

Sie durchsuchten den Raum nach ihm, öffneten den Schrank und die große Truhe in der Ecke und blickten sogar unter das Bett. Er selbst stand dabei mitten im Raum und keiner beachtete ihn.

Die Nachbarin, die merkte, dass es hier außer Dreckwäsche und Schmutz nichts zu sehen gab zog missmutig wieder von dannen.
Der Apotheker bleib allein im Zimmer zurück und betrachtete den Tisch, auf dem noch ein Teil der Kräuter lag, die er dem Alchemisten vor ein paar Tagen verkauft hatte. Ein leerer Becher lag daneben, aus dem eine dunkle Flüssigkeit gelaufen war. Der Fleck vor der Tasse war bereits getrocknet. Seit Tagen hatte keiner mehr etwas von dem schrulligen Alten gesehen.

„Er ist wohl ausgeflogen, der Herr Alchemist!“ brummte der Apotheker und begann die Kräuter auf dem Tisch einzusammeln. Einige waren schon zur Hälfte aufgebraucht, aber den Rest würde er mitnehmen. So konnte er den Verlust wenigstens etwas wettmachen. Wer wußte schon, ob der feine Herr wieder zurückkommen würde.

Beim Hinausgehen fiel sein Blick auf die Scheiben, die das Innere des Raums spiegelten. Dann sah er Ihn, den Alchemisten, der mitten im Raum stand und irgendetwas schrie. Doch als er sich umdrehte, war da niemand. Wieder blickte er in die Scheiben und murmelte leise: „Du hast das Elixier wohl geschaffen – aber die Unsichtbarkeit war noch nie für den Menschen gedacht….“

Reflexartig hielt sich der Mann seinen blutenden Finger an die Lippen. Wenn er nicht so aufgewühlt wäre, hätte ihn diese eklatante Missachtung der Laborregeln entsetzt, doch nun könnte er sich nicht weniger dafür interessieren. Misstrauisch fiel sein Blick auf die Eingangstür. Wenn er gewusst hätte, dass sein clever neben der Türglocke Platziertes - Bitte nicht Klingeln Schild - derart hinterhältig umgangen werden würde, hätte er zu drastischeren Maßnahmen gegriffen. Es klopfte erneut. Der Alchemist schnaubte verärgert. Was für ein hartnäckiger Taugenichts mochte ihm wohl vor die Tür geraten sein? War es etwa noch nicht offensichtlich genug geworden, dass er keinesfalls dazu geneigt war Besuch zu empfangen? Mit ruckartigen Bewegungen band er sich seinen Morgenrock zu und schritt gleichzeitig der nervtötenden Gestalt hinter seiner Tür entgegen. Mit einem Schwung war die Tür offen und die Faust seines ungebetenem Besuchers in seinem Gesicht.

„Autsch verflixt“, stöhnte eine Stimme, aber es war nicht der Alchemist. Verdutzt blickte jener auf seinen Besucher herab, welcher sich mit einer schmerzhaften Grimasse die Hand hielt.
„Aurelius“, sagte er, während er die seltsam bunte Gestalt seines Neffen in Augenschein nahm. Beim Klang seines Namens hob Aurelius sein Haupt, streng darauf bedacht so bemitleidenswert wie möglich auszusehen. „Onkel, wie schön dich zusehen“, rief er dann strahlend aus, als wäre er wahrlich überrascht ihn hier aufzufinden. Der Alchemist hob eine Augenbraue an. „Ich wohne hier, Aurelius.“, sagte er in einem unbeeindruckten Tonfall.
Aurelius nickte eifrig, „Und ob du das tust, außerordentlich gut sogar, denn es gelingt dir wahrhaftig mit deiner alleinigen Anwesenheit dein prächtiges Haus zu übertrumpfen.“ - „Ach ja?“, schmunzelte der Alchemist, allmählich amüsiert. Sein Haus war keineswegs prächtig, sondern abweisend und praktisch. Genau, was er brauchte, um ungestört arbeiten zu können. „In wie fern?“ Das war die falsche Frage gewesen, denn die Augen seines Neffen blitzten schelmisch auf. „Selbstverständlich Onkel,“, fuhr er in einem pompösen Ton fort, „weil selbst deine Eichentür nicht so hart ist wie dein stattlicher Holzkopf.“ Mit einem Mal kam dem Alchemisten seine Verärgerung von vorhin in den Sinn. „Sei froh das es mein stattlicher Holzkopf war den du einzuschlagen versuchtest und nicht länger die Tür.“, grummelte er. „Touché“, Aurelius grinste wehmütig und rieb sich die Handknöchel. Der Bengel.

„Was tust du eigentlich hier und warum ähnelst du neben deinem plappernden Schnabel jetzt auch mit deinem Gefieder einem Papagei?“ Aurelius sah ihn finster an. „Da ging ich nichts ahnend meine Wege“, begann er, ganz der dramatische Rhetoriker, „unschuldig wie ein junges Reh“, der Alchemist schnaubte, und rollte mit den Augen. „und plötzlich kam es über mich. Einfach so, urplötzlich wie ein Donnerwetter und farbenfroh wie einer deiner Tränke wenn sie in die Luft gehen.“, fuhr er fort und jeder andere wäre nun vielleicht vor Spannung von seinem Stuhl gesprungen, doch der Alchemist, der über die beiläufige Bemerkung über seine Tränke gekränkt war, bedachte ihn mit einem betont gelangweilten Blick. „Ein Regenbogen“, hauchte Aurelius und in seinen Augen spiegelten sich Qualen, die unermesslich zu seien schienen. Nun war das professionelle Interesse des Alchemisten doch geweckt und er bedeutete seinem Neffen, mit einer Handbewegung fortzufahren. „Es war schrecklich,“ erläuterte dieser voller Enthusiasmus, „ein nichtendenwollender Regen aus Farbe, als sollte ich selber als erhabener Bogen in den Lüften schweben und mich der niedrigen Geschöpfe unserer gottgeschaffenen Welt erbarmen und“, „Farbe“, unterbrach ihn sein Onkel ernüchtert. „Aus dem Fenster?“, riet er. Aurelius sagte nichts. „Hast du wieder gesungen?“ Aurelius wurde rot, blieb aber weiterhin stumm. „Was machst du hier Neffe? Versteckst du dich?“, der Alchemist hatte seine gute Stimmung gänzlich wieder hergestellt. „Nein, ich brauche deine Hilfe“, stieß er hervor. „Du sollst mich von der Farbe befreien.“ Der Alchemist hob erneut die Augenbraue. „Bitte“, schob Aurelius widerwillig hinterher. Der Alchemist beschloss, sich seines Neffen zu erbarmen, und ließ ihn ins Haus treten.

„All das wegen ein bisschen Farbe“, grummelte er und führte seinen Neffen in Richtung des Badezimmers, wobei ihm die Schritte merkwürdig schwerfielen. „Du hast gut Reden Onkel, immerhin musst du Mutter nicht erklären, warum deine feinsten Sonntagssachen mit Farbe bekleckert sind. Außerdem bist du ja selber ganz golden“
„Ja sicher ganz gol…“, kicherte der Alchemist, bevor er plötzlich, steif wie ein Brett stehen blieb, so dass Aurelius in ihn hinein lief und den Morgenmantel seines Onkels grün färbte. „Was hast du gesagt?“, fragte der Alchemist, plötzlich ganz ruhig. Aber ohne auf eine Antwort zu warten stürmte er zurück zu seinem Experiment. Die Flüssigkeit im Glaskolben hatte sich golden gefärbt, am Glasrand klebte noch sein Blut.
„Was ist das“, fragte Aurelius neugierig.
„Ich dachte, ich hätte versagt, wie all die Male zuvor“, hauchte der Alchemist entsetzt. „Aber er ist es, der Stein der Weisen!“
Aurelius blickte stirnrunzelnd in den Kolben, „Sieht für mich nicht aus wie ein Stein.“
„Nein, noch nicht.“, flüsterte der Alchemist und erstarrte in seiner Bewegung. Nur noch sein Gesicht ließ erkennen, dass er keine Statue war. „Hol mir mein geriebenes Einhorn Horn, Junge“, rief der Alchemist panisch. Aurelius rannte los, er wusste, wo die Vorratskammer seines Onkels war, und kehrte bald darauf mit dem Gewünschten zurück. „In ein Glas Wasser, gib es mir zu trinken.“ ,der Alchemist hatte Schwierigkeiten zu reden, seine Gesichtszüge wurden immer unflexibler. Aurelius befolgte die Anweisungen seines Onkels, so schnell er konnte. „Fass mich nicht an“, warnte der Alchemist, doch es war bereits zu spät. Das Glas zersprang auf dem Boden.

Ein Vogel flog durch das goldene Fenster des prächtigen Hauses und landete neben der goldenen Statue eines ernst aussehenden Mannes. Das Stück Boden, auf dem er sich niederließ, war das einzige an diesem Ort, was nicht Gold war. Neben den Scherben eines zersprungenen Glases auf dem Boden kniete die Statue eines Jungen.

»Es ist gerade ungünstig«, rief der Alchemist. Ein zweites Mal hämmerte es vehement an die Türe. Jemanden abzuweisen war unglücklich, blieb doch seit einiger Zeit die Kundschaft aus. Zu oft waren die Experimente des ehemals angesehenen Mannes gescheitert.

»Verbohrtes Pack«, murmelte Helix, während er mit dem Messer die unaufhörlich sprießenden Locken bekämpfte. Sein letztes Meisterwerk hatte er selbst testen müssen. Eine gewagte Mixtur war das Ergebnis. Sie würde kahlen Köpfen volles Haar schenken. Die Wirkung war unbestreitbar. Nur etwas stärker als gewünscht.

Erneutes Schlagen an der Tür riss Helix aus seinen Gedanken. Er beschloss, den aufdringlichen Besucher direkt an der Tür abzuwehren, bevor sie zerbersten würde. Der Plan misslang. Bevor der Meister sich´s versah, wurde die Tür auf- und er beiseite gestoßen. Ein Jüngling schrie seine Verzweiflung in den Raum: »Mein Traum, mein Leben, mein Alles will mich nicht zum Manne. Das nur, weil mir das Haar ausgeht. Helft mir, ich zahle jeden Preis!«

Dieser Zufall besserte Helix Laune. »So kommt herein. Für einen Silberling will ich euch helfen.« Mit ausladenden Bewegungen träufelte er sein neuestes Elixier und Wein auf einen Löffel. Fünf Minuten später lallte der Jüngling mit neu wallender Mähne seine Freude in die Welt. In der Tasche eine Flasche des Heiltrunks anstelle des vormals dagewesenen Geldsackes.

Helix nahm sein Reisebündel und spannte den Esel vor die Kutsche. Als das Tier anzog, verlor der Alchemist den Rest seiner Frisur. Fröhlich pfeifend schickte er sich an, ein neues Zuhause zu suchen.

Unvergesslich

„Bist du sicher?“
„Vollkommen.“
Zweifelnd sah Igelkott in Lökks zuversichtliche Miene. „Aber die Elster hat so komisch gelacht, als sie weggeflogen ist!“, versuchte er einzuwenden.
„Sie ist im ganzen Wald als gute Hexe bekannt. Wenn sie keckert, hat das gar nichts zu bedeuten.“
„Ich finde, es ist ein Zeichen.“
„Keine Sorge. Trink jetzt einfach, was sie uns gegeben hat. Es ist gut für’s Gedächtnis. Nur zu!“ Lökk nickte aufmunternd. Igelkott drehte ihm stattdessen den stacheligen Rücken zu. In ihrer Höhle unter der Buche war es dunkel und kühl. Durch ein paar Ritzen im mit Laub zugestopften Eingang drangen ein paar goldene Lichtstrahlen.
„Gut. Weißt du was? Ich bin ganz ehrlich auch nicht überzeugt. Mein Vorschlag: Ich nehme zuerst einen Schluck.“ Lökk lächelte hoffnungsvoll, als Igelkott über seine Schulter schaute. „Aber du bist nicht vergesslich“, wandte der Igel mürrisch ein. „Du wirst keine Veränderung spüren.“
„Vielleicht. Aber möglicherweise habe ich auch was vergessen, von dem ich vergessen habe, dass ich es wusste. Daran kann ich mich dann erinnern, wenn ich den Trank genommen habe.“ Entschlossen wickelte Lökk eines seiner grünen Blätter um den Korken in der Flasche aus Wurzelholz.
„Wie riecht es?“, fragte Igelkott aufgeregt. „Hab keine Nase“, erwiderte Lökk ruhig. „Ich sag dir, wie es schmeckt.“
Vor dem Hintergrund leiser Schmatzgeräusche schlug Igelkott vor: „Das nächste Mal fragen wir nach einem Trank, der dir eine Nase wachsen lässt.“ Lökk schielte düster in Igelkotts freundliches Grinsen. „Ich brauche keine Nase. Dieses Zeug schmeckt besser ohne Nase. Es ist eindeutig aus Beeren gemacht. Sauer. Bitter.“
„Und?“ Igelkotts Augen leuchteten ehrfürchtig im Halbdunkel. „Erinnerst du schon was?“ Lökk öffnete den Mund, um etwas zu antworten, aber in genau diesem Moment explodierte die Tür in ihre Bude hinein.
Trockene Blätter regneten über ihren gefegten Boden und ihr sauberes Mobiliar. Plötzlich war ihr geräumiges Wohnzimmer voller flauschigem, rotem Haar.
„Was ist das?“, kreischte eine entsetzte Stimme. Ein Schwanz wie eine Flaschenbürste peitschte Igelkott und Lökk um die Ohren. Kurz darauf wandte sich ihnen ein Gesicht zu, das wie fleischgewordene Neugier aussah. Mit puscheligen spitzen Ohren. „Ihr?“, schrie Ekorre entsetzt. „Ihr seid das?“
Lökk und Igelkott sahen einander an.
„Wen hast du erwartet?“, fragte Lökk.
„Wir wohnen hier“, stotterte Igelkott verdaddert.
„Ihr wohnt hier auch noch?“ Das Eichhörnchen fasste sich mit beiden Händen an die Brust, als müsse es sein Herz am Herausspringen hindern. „In meinem Premium-Eichelversteck wohnt ihr! Und das sagt ihr mir ganz frech?“
Eine volle Sekunde lang starrten die drei einander an.
Auf einmal holte Lökk zischend Luft. „Ach, dein Premium-Eichelversteck suchst du! Das ist nicht hier. Du hast dich im Baum geirrt.“ Mit an der Decke schleifenden Blättern hüpfte er an ihrem Besucher vorbei und bedeutete ihm mit einem dringlichen Nicken, zur Tür zu kommen. Ekorre drehte sich auf der Stelle und steckte seine Nase in den Blätterhaufen, den er im Sammelwahn gesprengt hatte. „Dort drüben musst du an der hohlen Eiche links. Gradeaus, und dann, neben einem verfaulten Maronenpilz, ist es. Der Luchs hat den Baum letzte Woche markiert. Du kannst es nicht verfehlen.“ Während Ekorre raschelnd nach draußen stob, fügte Lökk leise hinzu: „Du hast ja eine Nase.“
„Ich denke, der Trank wirkt. Gib her. Und tut mir leid, dass ich dir nicht vertraut habe.“ Igelkott griff nach der Flasche, aber Lökk zog sie ihm unter der Pfote weg. „Lieber nicht“, riet er seinem Freund, den Blick merkwürdig entrückt. „Ich erinnere mich … dass ich nie gewusst habe, wo sein Versteck ist. Ich wusste es jetzt plötzlich, aber niemand hat es mir gesagt.“ Ein kalter Windstoß stieb in ihre Behausung und wirbelte Blätter auf.
„Vielleicht heben wir das Zeug einfach für später auf“, schlug Igelkott vor. Lökk nickte dringlich. „Am Besten versteckst du die Flasche“, meinte er. „Und vergisst, wo du sie hin hast.“ Igelkott grunzte abfällig. „Tut mir leid. Das ist unvergesslich.“

Wahrheit tu weh …

Dreimal kurz, eine Pause und noch einmal, fest und fordernd, klopfte es an der Türe. Der Chemiker, der in der Szene den Spitznamen der „Alchemist“ trug erhob sich langsam von seinem fleckigen Sofa. Er schlurfte in seinen abgetragenen Air-Jordan zu Tür der alten Werkstatthalle. Normalerweise hätte er den Vorhang, der den Teil mit dem Labor abschirmte, hastig zugezogen und er wäre nervös gewesen. Doch das Klopfzeichen war eindeutig, wenn auch ungewöhnlich für diese Uhrzeit. Es war kurz vor 2 Uhr morgens. Er öffnete die drei simplen mechanischen Schlösser und entriegelte den elektronischen Verschluss mit seinem persönlichen Code.

Der Türgriff pulsierte vor seine Augen langsam und die Farbe der Türe wechselte von schmutzig Weiß auf Gelb und dann auf Grün. Das waren die einzigen auffälligen Wirkungen, die der Alchimist von seiner neune Droge, die er, vorerst nur Elixier nannte, bemerkte. Enttäuscht dachte er, die Wahrnehmung verändert sich, das hatte im vorigen Jahrtausend bereits simples LSD bewirkt. Er fokussiert erneut den Türgriff, und als er für einen Augenblick still stand, drückte er ihn nach unten und öffnete die alte schwere Stahltüre.

Der Schlag mit der Faust gegen die Türe, die sich öffnete, traf ihn fast im Gesicht. Die Besucherin bremste ihre Hand, die in gepolsterten Lederhandschuhen steckten, die mit scharfen Metallnieten versehen waren, rechtzeitig ab.

„Na, haben wir wieder am eigenen Zeug genascht“, blaffte Sie den Alchemisten an und schob sich ohne einen weiteren Gruß an dem ihm vorbei. Die Besucherin, die Ihre blonden Haare mit einem geblümten Haarband zusammengebunden hatte. Stand da und wartete bis der Alchemist, die Tür wieder verschlossen hatte. Sie war etwa 1,70 und damit einen Kopf kleiner als der schlaksige Chemiker. Lady M., wie sie sich gerne nannte, war fast eine liebliche Erscheinung, zart, blonde lange Haare und herzige Gesichtszüge, wenn man jedoch genauer hinsah, erkannte man die irritierenden und widersprüchlichen Details. Sie trug nietenbesetzen Lederhandschuhe, einen langen Ledermantel und alte fleckige Jeans sowie schwere Doc-Martens, mit Stahlkappen und ebenfalls Nieten. Selbst ein zarter Tritt gegen das Schienbein schälte wohl die Hälfte, der dort befindlichen Haut ab. Am Halsansatz erkannte man Tattoos, die sich wohl über Ihren ganzen Oberkörper zogen. Man sah nicht genau welche Tätowierungen, und der Alchimist kannte niemand, der die Tattoos je zur Gänze gesehen hatte.

Lady M. blickte sich prüfend in dem Loft um, ob sie alleine waren. Dann fixierten ihre Augen den Alchemisten, der im Schein einer flackernden Neonröhre stand. Der Alchimist wurde sofort nervös, den das am meisten beunruhigende an der Erscheinung waren die Augen. Sie hatte ein strahlend blaues und ein milchig, trübes Auge, über dessen Lied sich eine hässliche Narbe zog. Das blaue Auge blickt kalt und gefühllos auf ihn und er empfand Ihren Blick, als ob er sich in sein Gehirn bohrte. „Was war mit der letzten Lieferung“, sagte Sie und fixierte den Chemiker weiter unbeweglich.

Der Alchimist wusste, was Sie meinte. Nervös stieg er von einem Fuß auf den anderen und versuchte den Blick von Ihr abzuwenden. Bei der letzten Lieferung hatte sein Auftraggeber ihn unter Zeitdruck gesetzt. Er war mit der Herstellung der Substanz nicht gut vorangekommen, vor allem weil er seine steigend Nervosität und seine Angst durch eines seiner Elixiere betäuben wollte und wieder einmal zu viel erwischt hatte. Er war zwölf Stunden später wieder klar im Kopf und erkannte, dass er den Auftrag nicht wie gewünscht abliefern konnte, außer … Ja, außer er würde die bereits gefertigte Menge strecken. Er mischte das Pulver mit Milchzucker und als es noch immer rund ¼ der bestellten Menge fehlte, gab er mehr davon hinzu.

Die schmächtige Besucherin trat einen Schritt auf ihn zu und fragte nochmals, „Was war in dem Zeug, dass du geliefert hast“, dabei ballte sie ihre Fäuste und spannte Ihre Muskeln. Sie war das Abbild eines Raubtiers, dass sich auf einen Angriff vorbereitete, „Du hast keine Ahnung, was für Probleme du verursacht hast. Der Boss wollte sich gegenüber dem russischen Geschäftspartner positionieren und hat ihnen 5 Kilogramm eines hochreinen Stoffs bester Qualität versprochen. Du weißt selber, das der Stoff gestreckt war. Und die Russen wissen es jetzt auch, und glauben dass wir schwach und Lügner sind. Und man will nicht, dass einen die Russen für schwache Lügner halten, das ist ungesund. Für das Geschäft und für einen selber.“

Der Alchimist hätte sich normalerweise, verteidigt, gefleht, dass man ihn verschont und halt wieder einige Tage mit großen blauen Flecken und mit einigen Zähnen weniger rumgelaufen. Aber er starrte nur auf die Leuchtschrift, des Fast Food-Ladens. Die Neonröhren erkannte er durch das Fenster am anderen Ende der Loft gut. Sie flackert und blinzelte. Plötzlich veränderte sich das Gelb der Schrift zu Orange, zu Grün und schlussendlich pulsierte die Schrift in allen Farben des Regenbogens. Gleichzeitig fiel jede Angst von ihm ab und er konnte und wollte sich nicht mehr verstecken und lügen.

„Ihr Idioten habt es selbst verschuldet. Dein kleinschwänziger Boss ist zu blöd um sich von den Russen fern zu halten und zu feigen mit Ihnen zu kämpfen und das soll nun ein armes Schwein wie ich ausbaden.“, sagte er mit ruhiger Stimme und glaubte nicht, dass diese Worte aus seinem Mund kamen. Der erste Schlag traf ihn geradewegs auf die Stelle knapp unter dem Adamsapfel. Ihm blieb die Luft weg und, obwohl er mit einem Angriff gerechnet hatte, fiel er auf seinen Hintern. Lady M. stand vor ihm und schaute ungläubig auf den Alchimisten, der vor Ihr am Boden saß. „Ich glaub ich habe nicht recht gehört,“ sagt sie mit eisiger Stimme, gefolgt von einem Tritt gegen seine Seite. Der Schmerz fuhr ihm wie einem Eispickel ins Gehirn, aber trotzdem starrte er der Frau, die über ihm stand, in die Augen. Obwohl er wusste, dass er besser den Mund hielt, öffneten sich seine Lippen und er sagte: „Schlecht hören tust du auch noch. Ich weiß ja das deine Psyche sehr beschädigt ist, aber dafür kannst du nichts, mit diesen Eltern kann wohl nichts Gescheites aus einem werden. Obwohl du ganz nett aussiehst auf den ersten Blick, aber ich kennen keinen Mann oder Frau die nicht lieber in einen laufenden Fleischwolf greifen würde, bevor sie Dir ein Kompliment machen. Da wundert es keinen, dass Du so psychopathisch bist. Aber wenn es Dich beruhigt, Du bist wirklich gut in dem was Du tust - Leute erschrecken und Deinem Boss wie ein Bullterrier hinterherlaufen und auf ein ‚Fass‘ warten.“

Der nächste Tritt mit den eisenbewerten Schuhen brach dem Alchemisten eine Rippe. Er sah das wutverzerrte Gesicht der Lady M. und war fasziniert von den Farbenspielen, welche er auf ihrem blinden Auge sah – milchig, gelb, rot, dann wieder ein pulsierender Regenbogen. Drei heftige Faustschläge in sein Gesicht folgten. Einer brach ihm die Nase, und sein Jochbein platzte auf, das Blut trübe seine Sicht und er musste auf das herrliche Farbspiel, das die Überdosis der Droge in seinem Kreislauf verursachte, verzichten.

Als Sie endlich von ihm abließ, gab es keine Stelle an seinem Köper, die sie nicht bearbeitet hatte. Lady M. wischte notdürftig das Blut von Ihren Handschuhen an dem fleckigen T-Shirt des Alchimisten ab. Der Chemiker nahm durch seine verschwollenen Augen wahr, dass sie zur Tür ging und das Loft verließ. Zwei Dinge habe ich gelernt, dacht er auf dem kalten Boden liegend: „Das M. in ihrem Namen steht wahrscheinlich für Monster und mein Elixier ist ein Fehlschlag. Weil, wer will schon ein Wahrheitselixier. Wahrheit tut immer weh.“

H.F.Gerl 2022

Ein unangemeldeter Besucher klopft an die Tür des Alchemisten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.
Der Alchemist, der sich versehentlich eine Überdosis seines jüngsten Elixirs verpasst hat, öffnet die Tür: „Willkommen bei McDonalds. Ihre Bestellung bitte.“

Die Schlacht

Ein unangemeldeter Besucher klopfte an die Tür des Alchemisten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Der Alchemist, der sich versehentlich eine Überdosis seines jüngsten Elixiers verpasst hatte, öffnete die Tür.

«Das passt mir aber gerade gar nicht!», nuschelte er, als er die Tür mit einem knarzenden Geräusch aufzog.
«Oh Majestät!» Beim Anblick des Gastes erhellte sich sein Gesicht. Er zog den Alchimistenhut vom Kopf, beugte sich weit nach vorn und wirbelte damit vor sich herum. «Welch hoher Besuch in meiner bescheidenen Hütte.» Er wollte sich gerade wieder aufrichten, als sein Körper erstarrte, denn der Trank zeigte seine Wirkung.
«Werter Herr Trankolix, ist ihnen nicht gut?» Der König trat näher und betrachtete die versteinerte Statue an der selbigen Stelle, wo er eben noch den begrüßenden Alchimisten ausgemacht hatte. Er berührte den Stein und feiner Sand, setzte sich auf die Fingerspitzen seines Handschuhs ab.

Nachdem der König sich einige Zeit in der Kammer die vielen Phiolen und Töpfe mit bunten Stoffen betrachtet hatte, von denen ein übel riechender Gestank ausging, wendete er sich unverrichteter Dinge zum Gehen. Er war völlig ratlos, wie sollte er jetzt ohne Alchimisten sein Reich beschützen?
In dem Moment, als er die Tür passiert hatte, gab es hinter ihm ein dumpf knirschendes Geräusch. Er sah zurück. «Herr Trankolix … Herr Trankolix, den Trank braucht das Heer! Damit können wir ins Feld ziehen und die Feinde aufs Übelste täuschen.»
Trankolix klopfte sich feinste Steinpartikel von seiner Robe. «Ja Majestät, es scheint, als würde es endlich funktionieren!»
«Brauen sie, soviel sie können!» Der König war zutiefst erfreut und verabschiedete sich.
Trankolix suchte das Pergament, das die genaue Rezeptur aufwies.
War es dieses? Er strich sich immer wieder mit den Fingerkuppen über die Stirn, während er verschiedene Schriftstücke anhob. Oder doch das Andere? Welches hatte ich denn als Letztes in Gebrauch?
Es gab schon viele Versuche und so einiges an Rollen hatte sich im Laufe der Zeit angesammelt. Es war aber der erste Selbstversuch, da es auch bei den Mäusen geklappt hatte.
Die Pergamentrolle, die ihm von den Zutaten her am sinnvollsten erschien, nahm er mit.

Der Alchimist begab sich auf eine lange Reise und sammelte Froschlaich, Gebeinwurz, Kramisse, Grünknerbelspan und einiges mehr. Die Zutaten alle beisammen, wollte er so schnell als bald zurück in die Heimat.

Er war einige Tage in seiner Küche zu Gange, um den Trank zu erstellen. Den Saft abgefüllt in vielen kleinen Phiolen, ließ er dem König eine Nachricht zukommen.

Die Untertanen, die nur mit Mistgabeln und Schaufeln bewaffnet waren, kämpften, um der Übermacht des Nachbarlandes entgegenzutreten. Sie waren erfreut, als sie vom Plan des Königs erfuhren.
Hinter einem kleinen Hügel bildeten sie eine lange Reihe. Warteten, bis der Feind nah genug war, um auf Kommando das Elixier gleichzeitig zu trinken.
Als die Gegner über die Steine hinweg liefen, zerfielen alle Statuen wie trockene Blätter zu Sand. Statt in den Hinterhalt zu geraten, wunderten sich die Angreifer, warum es keine Gegenwehr gab.
Der König verlor sein Reich und musste die letzten Jahre seines Lebens im Kerker ausharren.

Der Alchemist bekam es mit der Angst, weil sein Versagen dazu beigetragen hatte, dass das Reich verloren gegangen war. Er flüchtete und man hörte nie wieder von ihm.

Dreisatz

Tock.

Ist da jemand an der Tür? Ist er da? Himmel, ich höre schon Gespenster! Ein Ast, es ist nur ein Ast, der im Wind an das Fenster klopft. Beruhige dich. Meister Leonhard redet sich selbst gut zu, denn in der Hütte des betagten Alchemisten ist außer ihm niemand. Für die Leute ist er nur der „Krumme Leo“, der kauzige Schwarzkünstler aus den Bergen. Aber er liebt sein Leben als Eremit. Umgeben von gestapeltem und gerolltem Wissen, Phiolen, Glaskolben, Töpfen unterschiedlichster Größe, von Flaschen und Krügen, die Etiketten mit lateinischen Namen um ihre Hälse tragen und Weidenkörben voller Gärten. Über der offenen Feuerstelle hängen stieloben Bündelchen und Sträußchen, denen der Pflanzensaft zu Kopf steigt, während sie sich ihrer Aromen entledigen.

Tock. Tock.

Doch kein Ast im Wind. Eher eine hölzerne Forderung, willentlich und vehement mit einer harten Faust ausgedrückt. Meister Leonhard krümmt sich bei jedem Klopfen wie unter Schmerzen und krabbelt Schutz suchend unter seinen Arbeitstisch, verschanzt sich hinter dicken Pergamentbündeln. Er wird mich entdecken, und wenn er mich findet, bin ich des Todes. Ein Schauer überläuft ihn, kalt wie der Gebirgsbach oben am Gletscher, wenn die ersten Sonnenstrahlen am Eis lecken. Für mich wird es keinen Frühling mehr geben. Hätte er nur nicht diesen satanischen Auftrag entgegengenommen! Doch es ist zu spät, er hat versagt und muss jetzt die Konsequenz tragen. Ein einfaches Pulver oder einen Trank sollte er herstellen, etwas, dass die Angst und die Hoffnungslosigkeit beim Volk und im Heer unterdrückt, wenn die Soldaten wieder in den Krieg ziehen. Sein Lohn sollte weitere geschenkte Jahre im Dienste seiner Wissenschaft sein. Von da an durchsuchte er Tag und Nacht die stockfleckigen Aufzeichnungen, die Druidenweisheiten und das Alchemistenwissen von Jahrhunderten. Johanniskraut von einem Kind in einer Vollmondnacht geschnitten, nicht gepflückt, so fand er endlich heraus, böte eine gute Basis für die gesuchte Droge. Einen Vollmond später hatte er es fast geschafft. Sein unheimlicher Auftraggeber drängte zur Eile. Längst war nicht mehr eine Gegenleistung in Aussicht gestellt, sondern von Bestrafung die Rede, sollte er nicht liefern können. Der Hals würde er ihm wie bei einem Huhn umgedreht. Er konnte nicht mehr klar denken, denn die Angst saß in seinem Nacken und ritt ihn fast zu Tode. Höchste Zeit für einen Selbstversuch hat Meister Leonhard am gestrigen Abend beschlossen. Ohne Angst würde er zu alter Höchstform auflaufen können, dessen war er sich sicher. Zum Abendbrot gönnte er sich einen Becher Bier und gab eine Messerspitze des rosafarbenen Pulvers dazu. Die Dosierung war noch ein großes Fragezeichen, das wusste er. Als es sich aufgelöst hatte, setzte er den Becher an die Lippen und leerte ihn in einem Zug.

Tock. Tock. T-O-C-K!

Das letzte Klopfen geht im ohrenbetäubenden Splittern der Holztür unter. Es hagelt Staub und fertiges Feuerholz. Im Gegenlicht des Türrahmens steht eine finstere Gestalt. Schwarzer Reiseumhang mit hochgeschlagener Kapuze, die einen Schatten auf das Gesicht darunter wirft, ein Lederstiefel, ein Huf, der jetzt in drei Sätzen über den Lehmboden stampft.

„Na, mein Freund, wo hast du dich verkrochen, hm?“

Meister Leonhard zieht leise die Beine unter seinen Körper und macht sich klein wie eine Kugel. Warum in drei Teufels Namen hat er solche Angst vor einem von ihnen? Weil die Droge versagt! Er hatte einen verhängnisvollen Fehler bei der Mixtur oder der Dosis begangen! Oder beides. Sein Körper gehorcht nicht mehr und beginnt zu schlottern. Dabei machen seine Bauchplatten seltsame Geräusche. Ob ich einen überraschenden Ausfall wage und mein Heil in der Flucht suche, überlegt er. Besser nicht, ich fürchte mich so entsetzlich! Vorsichtig späht er aus der Tiefe seines Verstecks hervor, als sein Leib erneut eigenmächtig zu zittern beginnt. Das dabei entstehende Geräusch ist über alle Zeiten hinweg zu hören. Der Teufel schlägt seine Kapuze zurück, wobei er seine Hörner entblößt. Er bückt sich, um unter den Tisch zu schauen. Als er Meister Leonhards zarte Fühlerhörnchen entdeckt, bricht er in ein widerwärtiges Gelächter aus, schnappt ihn blitzschnell und zerquetscht die Zikade in seiner Faust.

Yalkons Wiederkehr

Die ersten Sonnenstrahlen des Tages vertrieben bereits den noch jungen Morgentau, indem sie ihm halfen, sich in zarten Nebelschwaden in die Lüfte zu erheben. Das Moos dampfte regelrecht und strahlte in einem satten Dunkelgrün. Vögel zwitscherten, als hätte sich der Frühling angekündigt und luden einander zum Tanz ein. Aufgeregt flogen sie akrobatische Kreise, auf und ab. Manche von ihnen in waghalsigen Formationen, die in einem abrupten Bremsmanöver endeten, um in einem Sandbad am Boden den Höhepunkt zu finden. Das Herbstlaub bedeckte den Boden wie eine wärmende Decke.

Synvald lag im Tal der großen Eichen. Es war ein kleines Dorf, das weniger Einwohner zählte, als Eichhörnchen in einen Fuchsbau passten. Synvald lag nahe dem Graven Strom, einem eiskalten, höchsten zwei Meter tiefem Fluss. Dieser wurde gespeist aus den Hohen Bergen von Quendlin, welche sich rings um Synvald erstreckten und dem Himmel sehr nahe waren.

Hier beginnt unsere Geschichte. Mein Name ist Bronwyn und ich muss sie euch erzählen, um Schlimmeres zu verhindern. Bitte, nehmt Platz und spitzt eure Ohren. Lauscht und gebt acht. Ja, ihr habt richtig gehört, es ist unsere Geschichte, nicht nur die meine. Warum dies so ist? Ich hätte es euch gerne erspart, wirklich. Aber das hätte ich mir nie verziehen. Es war am Zahterdag, dem vorletzten Tag der Woche. Die Sonne schien durch das Fenster meines Schlafraums und kitzelte mich an meiner großen Zehe, welche schon der Bettdecke entschlüpft war. Hin und wieder bewegte sich meine Zehe durch die warmen, kitzelnden Sonnenstrahlen, bis schließlich meine Arme unter der Bettdecke hervorkamen und sich gegen die Zimmerdecke streckten.

„Was für ein wunderbarer schöner Morgen dies doch ist.“, sagte ich mir, so als würde ich mit meinem Spiegelbild reden. Meine Bettdecke bewegte sich auf und ab und mein Strecken und Recken unter ihr wurde heftiger. Dazu gesellte sich mein Gestöhne, mein Schmatzen und Knirschen. Fluchs schob ich meine Bettdecke zur Seite, rutsche seitlich aus dem Bett zu Boden, und sprang mit einem langen Leinennachthemd bekleidet Richtung Fenster, wo ich innehielt und Sekunden später mit den Armen in der Luft herumwirbelte, woran sich flinke Bewegungen anschlossen, die etwas von Kniebeugen hatten.

„Ich wünsche allen einen wunderschönen, wunderschönsten Guten Morgen!“, schrie ich aus dem Fenster und stieß dabei selbiges derart heftig auf, sodass der linke Fensterflügel gegen die Außenwand des Hauses schlug. Das Glas zerbrach dabei mit einem lauten Klirren.

„Was für ein wunderschöner Morgen! Was für ein wunderschöner Tag! Was für ein Glück ich heute wieder haben muss!“, waren meine selbstverliebten Worte. Das Klopfen an der Tür war so weit weg von mir, wie der Himmel der Quendlin Berge. Dennoch hatte ich das Gefühl darauf reagieren zu müssen. Das Klopfen hatte einen unüblichen Klang. Es war härter, kräftiger und schwerer, ja, nahezu eindringlich. Es verstummte nicht.

“Hallo, ist da wer? Ich bin gerade bei meiner Morgengymnastik und erwarte auch keinen Besuch. Es ist sechs Uhr, der Tag noch jung und ich, ich werde gerade erst neu geboren. Also, wer ist da?”

“ Meister Bronwyn, bitte macht auf. Ich muss euch unverzüglich Bericht erstatten. Ich weiß, dass ihr …"

“Malvin, bist du das? Ich hatte dich doch gebeten, mich nicht vor sechs Uhr morgens zu stören. Ich mache gerade meine Gymnastik und du weißt, wie wichtig das für mich ist.”, unterbrach ich ihn. “Werde du erst einmal hundertachtundsechzig Jahre alt, dann verstehst du was ich meine!”

“Verzeiht mir, aber es ist etwas schreckliches geschehen. Yalk … Yalkon ist zurück, hört ihr? Er … er ist zurück!”

Mir wurde speiübel. Yalkon? Wie konnte dies nur geschehen? Hatte ich ihn nicht durch meinen letzten Zauber aus Quendlin verbannt und ihn zurückgeschickt in das Reich von Gnorr?

Das Blut gefror mir in meinen Adern und das Atmen fiel mir schwer. Yalkon war der mächtigste Drache, der jemals unser Dorf heimgesucht hatte und seine Gefolgschaft war nicht weniger schlimm. Im Gegenteil, sie waren wie Parasiten, die sich überall einnisteten und alles verbrannten was sich auch nur bewegte oder nicht aussah wie sie. Egal, ob Mensch, Zwerg, Gnom, Elf oder Tier, alles wurde verbrannt und vernichtet. Es war schrecklich. Das durfte nicht noch einmal geschehen.

“Malvin, mein Lieber”, rief ich dem verunsicherten, wartenden Elf durch die verschlossene Tür zu, “ geh schnell hinunter zur Höhle am Waldsee. Du weißt schon. Hole mir meinen Kessel der Sinfonie des Himmels. Geh zu Ahrony und gib ihm Bescheid. Er hat noch Ysop und Myrre, Grunzwurz und Taustiefel. Bring bitte alles schnell zu mir. Ich beeile mich und wir treffen uns am Platz der tausend Blüten. Hast du verstanden?”

“Ja, Meister. Ich werde mich beeilen. Aber bitte, beeilt euch auch, hört ihr?”

Ich antwortete nicht mehr, sondern tauchte hinab in meinen Schrank, auf der Suche nach Warob, meinem Zaubergewand. Jahre hatte ich es nicht mehr in Gebrauch nehmen müssen. Das letzte Mal, als ich es umlegte, war, als Yalkon erschien, um uns alle zu vernichten.

“Bronwyn! Hallo, mein lieber Schatz. Bist du schon wach?” Zum unpassendsten Augenblick rief Minne, meine liebe Gemahlin nach mir. „Wie wunderbar es heute nach Apfelsirup riecht und wie verlockend der Duft von frisch gebrühtem Sonnenblumentee mit Lavendelhonig in meiner Nase liegt. Ich habe dir Frühstück gemacht, mein Schatz.”

Sie durfte nichts erfahren, denn ich wollte sie nicht beunruhigen. Nicht noch einmal. Als Yalkon das letzte Mal tobte verloren wir unseren Sohn, Ivar. Bis zum heutigen Tag hatte Minne es nicht überwinden können. Sie vermochte es nicht loszulassen.

“Ich will nur noch schnell ein morgendliches Bad im Fluss nehmen und dann, dann gibt es ein Frühstück, wie es sich sehen lassen kann.“, gelobte ich und machte einen Satz durch das Fenster, über die Glasscherben hinweg und lief nur mit Nachthemd bekleidet barfuß Richtung Fluss, meinen Warob in der Hand.

„Guten Morgen, Bronwyn.“, grüßte mich Fahri, der Müller, welcher gerade mit seinem Getreide beladenen Handkarren unterwegs Richtung Mühle war, als unsere Wege sich kreuzten. „Na, hast du wieder eine Fensterscheibe zu Bruch gehen lassen?“, fügte er fragend seinem morgendlichen Gruß hinzu, obwohl er die Antwort auf seine Frage schon kannte.

„Na wie soll man denn sonst Glück haben?“, war meine knappe Antwort. Ohne mich umzudrehen, setzte ich so schnell ich konnte, meinen Weg fort.

Als ich die Höhle am Waldsee erreichte, krähte der Hahn des Dorfes den Sonnenaufgang herbei. Er war spät dran, aber auch nicht mehr der Jüngste. Wie dem auch sei, es war noch genug Zeit, um den Trank Ex Dracyr zu brauen, mit welchem ich Yalkon zurückschicken könnte - zurück ins Nichts.

“Es ist alles vorhanden, Meister Bronwyn, wie ihr es angewiesen habt.”, begrüßte mich Malvin mit einem verunsicherten Lächeln. “ Ich habe schon Feuer gemacht und das Wasser kocht bereits.”

“Danke, mein getreuer Gefährte. All die Jahre habe ich dich immer unterschätzt. Bitte, verzeih mir. Aber ich weiß, dass ich mich stets auf dich verlassen kann.”, entgegnete ich ihm und war erleichtert, dass er den Ernst der Lage erkannt hatte.

Als Yalkons Flügelschlag sich hörbar näherte und sein blutrünstiges Fauchen zu uns Drang, war der Sud bereits, Mashelwi sei Dank, fertig gebraut. Yalkon schwebte nur noch circa fünfzig Meter über uns, als ich eine, der wenig verbliebenden Perlen von Holgast in den Kessel warf. Hunderte, tausende von Feuerflammen sprangen aus dem Kessel heraus und stürmten Richtung Himmel, auf Yalkon zu. Es gab kein Entkommen. Sie züngelten um ihn herum, tänzelnd, lodernd und vernichtend. Wir hatten es geschafft. Yalkon zerfiel zu Staub und wurde vom Herbstwind weggetragen, bevor er den Boden erreichte. Malvin und ich lagen uns jubelnd in den Armen.

“Na, mein Lieber, hast du auch Lust auf Apfelsirup und frisch gebrühtem Sonnenblumentee mit Lavendelhonig?”, fragte ich Malvin dankbar und erleichtert.

“Ja, Meister, sehr gerne. Und wenn ihr mögt, dann können wir gemeinsam auch noch eine Fensterscheibe zerbrechen.”

Lachend fielen wir uns in den Arm. Drachenstaub lag in der Luft. Aber auch der Duft von Sonnenblumentee mit Lavendelhonig.

Die Rezeptur

Das bittere Elixier hinterlässt in ihrem Rachen ein pelziges Gefühl und erhitzt den Magen unangenehm. Aber was hatte sie erwartet? Der Trank mit Beeren zu vermischen, würde den Effekt abschwächen, das stand fest. Die Herausforderung ihres Lehrmeisters Jacobo spornt sie an, Tag und Nacht an der Perfektion des Gebräues zu arbeiten. Sie steht vor dem trüben Spiegel und betrachtet sich im Schein des Feuers. Die faltigen Wangen, die eingefallenen Augen, deren einstiges Grün war mittlerweile verblasst zu einem Steingrau beinahe so hell wie ihr langes Haar, das schlaff über ihre Schultern fiel. Die knorrigen Finger umfassen die Phiole, mit der sie die Essenz aus der Retorte aufgefangen hatte. Die Wärme strömt jetzt - ihrer Schärfe genommen - durch die Arme und Beine. In den Ohren beginnt es zu rauschen.
„Hab ich zuviel von davon getrunken?“
Gerade will sie ihre Rezeptur überprüfen, als es an der Tür klopft. Es klopft noch zweimal, diesmal ungeduldiger und deutlich lauter.
„Ich komme, etwas Geduld!“
Sie stellt die Phiole ab, durchquert mit ein paar Schritten die Hütte und greift nach dem Riegel, verwundert wie wenig Kraft sie braucht, um ihn zu heben.
„Jacobo, was für eine Ehre! Seid gegrüßt!“ Verlegen streicht sie mit der Hand über ihre von Flecken übersäte Schürze. „Kommt herein, Ihr seid immer herzlich willkommen!“
Schon ist sie am Weg zurück zur Herdstelle und nimmt den Wasserkessel von der Flamme, um Tee aufzugießen.
„Felice, Ihr seht blendend aus! Um Jahre jünger!“
„Jacobo, wie charmant! Seid Ihr sicher, dass Ihr nicht doch eine Brille braucht?“
Lächelnd stellt sie die dampfenden Tassen auf den Tisch.
„Ihr Extrakt hat mir gute Dienste geleistet. Ich bin, glaube ich, der Quinta Essentia einen großen Schritt nähergekommen.“
Sie zuckt mit den Schultern und seufzt,
„Aber bisher war die Wirkung nicht anhaltend“, sie dreht sich um und deutet auf ihre Apparaturen und Gefäße, „hier erwartet mich viel Arbeit.“
Ein Stöhnen entkommt ihr noch bevor sich Jacobos Hände wie stählerne Zangen um ihren Hals legen und zudrücken, bis sich ihr Körper dem Sauerstoffmangel ergeben muss. Er fängt ihren schlaffen Leib auf und legt sie behutsam auf den alten Tisch in der Stube. Ihre langen Haare fallen in üppigen blonden Locken über den Tischrand, die Augen starren an die Decke, so grün wie Jade im Sonnenschein.
Gierig schaut Jacobo sie an, bewundert die makellose Haut in ihrem Gesicht und die zarten feingliedrigen Finger.
„Wie schade! Dass du so eine hübsche junge Frau warst, habe ich nicht erwartet“, murmelt er. Mit flinken Händen schlitzt er ihre Pulsader am rechten Handgelenk auf und lässt das heraustropfende Blut in ein Gefäß mit der Aufschrift „Aurum Potabile, contra senescentis et morbos omnis generis“ fließen.
Beim Verlassen des Hauses kichert er und flüstert,
„Wer hätte gedacht, dass nicht Rotwein gemeint war in der alten Rezeptur.“

Wenn das Schicksal klopft

Boom. Boom. Frederick hob ruckartig den Kopf, nur um ihn gleich darauf mit schmerzverzerrtem Gesicht wieder auf den Tisch sinken zu lassen. „Aua…“ Die Augen fest zugepresst, massierte er sich die Schläfe. Boom. Boom. Boom.
Die krachenden Schläge hallten dröhnend in seinem schmerzenden Schädel wieder. „Ich bin nicht da!“, brummte er benommen und dachte gar nicht daran, aufzustehen und zu schauen, wer da zu solch unheiliger Stunde gegen seine Tür hämmert. Frederick war viel zu sehr damit beschäftigt, sich selbst leid zu tun. „Mein Kopf… oh man. Der explodiert noch, wenn dieser dämliche Idiot nicht aufhört zu auf die Tür einzudreschen.“ Dabei hatte er sogar ausnahmsweise nicht einmal gebechert. Letzte Woche, nach dem denkwürdigen Abend in der Dorfschenke, an den er sich leider beim besten Willen nicht mehr erinnern konnte… ja, da hatte er den Kater vielleicht verdient gehabt. Aber heute? „Dieser Trank gestern muss schlecht gewesen sein… Vielleicht, hätte ich ihn nicht selbst ausprobieren sollen…“ Fahrig zog er ein vergilbtes, abgegriffenes Buch mit welligen Seiten unter seinem Kopf hervor. Frederick stöhnte gequält, als die eh krakelige Schrift vor seinen Augen ganz gar verschwamm. Rückblickend war es wohl keine gute Idee, einen Trank zu testen, bei dem der Name und die Wirkung nicht mehr lesbar waren, weil sie entweder von Flecken unbekannter Herkunft unkenntlich gemacht oder einfach ganz weggebröselt waren.

BOOM! BOOM! Der junge Alchemist zuckte erschrocken zusammen und landete schmerzhaft neben seinem Hocker auf dem Hosenboden. Der Besucher an seiner Tür wollte scheinbar wirklich dringend etwas von ihm. „Ja, ja, schon gut! Ich komme doch.“ Widerstrebend rappelte sich Frederick auf und schlurfte zu der schweren Holztür. Das quietschende Geräusch, als er die schmiedeeisernen Riegel zurückzog, schoss wie ein Blitz durch seinen Schädel. „Ach verdammt…“ Er riss die Tür unwirsch auf und setzte bereits zu einer ziemlich unfreundlichen Schimpftirade an, doch die Worte blieben ihm im Halse stecken.

Im Schneetreiben vor seiner Haustür stand ein gebeugter alter Mann mit wirrem weißen Bart, der irgendwie grotesk aus der grauen Kapuze seiner Kutte herauswuchs. Er ließ langsam den knorrigen Stab sinken, mit dem er auf das Holz der Eichentür geschlagen hatte. Bei genauerer Betrachtung war es eigentlich mehr eine Wurzel, denn ein Stab. „Was zum…“, hob Frederick an, doch eine Handbewegung brachte ihn sofort zum Verstummen. Zu perplex, um eine schlagfertige Antwort hervorzuzaubern, ließ sich der junge Alchemist von dem Fremden in seine eigene Hütte hinein scheuchen. Er wich immer weiter zurück und fiel schließlich rücklings über die Armlehne in einen der Ohrensessel vor dem Kamin. Frederick schnaubte empört. Niemand hatte ihn je in seinem eigenen Zuhause so herum gescheucht. Niemals.

Auch jetzt konnte er sich nicht erklären, warum ihm die bloße Anwesenheit des Fremden so viel Gehorsam abnötigte, obgleich dieser noch nicht einmal ein Wort gesagt hatte. „Das reicht jetzt aber, wirkl…“ Der Fremde hob die Hand und Frederick verstummte sofort wieder. Verflixt, was war das nur mit diesem Typen? Schwer auf seinen Stab gestützt, ließ sich der alte Mann in den Sessel sinken, der Frederick gegenüberstand. „Folterinstrument!“, schoss es dem Alchimisten durch den Kopf. Überempfindlich durch seine Kopfschmerzen, klang jede Feder des Möbelstücks, die sich unter dem Gewicht des Alten dehnte, wie eine grausame mechanische Apparatur, die quälend langsam aufgezogen wird.

BOOM. Krachend landete der Stab des Alten auf dem steinernen Fußboden. Sofort hatte er Fredericks ungeteilte Aufmerksamkeit. „Verdammt nochmal, was soll das? Zum Teufel, ich habe Kopfschmerzen!“ Der Blick des Alten sagte: „Und das geschieht dir ganz recht.“ Zumindest interpretierte Frederick die zusammengezogenen Brauen seines Gegenübers so. Was war das nur mit seinen Augen? Frederick blinzelte angestrengt. Die Augen des Alten waren braun. Haselnussbraun hatte seine Mutter immer gesagt, und tatsächlich war es die gleiche Farbe, die Frederick aus dem morgendlichen Blick in den Spiegel kannte. Perplex schüttelte er den Kopf. „Verrückter Gedanke“, schielt er sich.

Der geheimnisvolle Fremde streifte langsam die Kapuze zurück und blickte den jungen Alchemisten ernst an, während er noch immer den knorrigen Stab fest umklammert hielt. „Frederick“ Dem Angesprochenen klappte augenblicklich die Kinnlade herunter. „Woher kennst du meinen Namen?“
Die Mundwinkel des Alten umspielt ein wissendes Schmunzeln. Unwillkürlich tastet Frederick nach dem Grübchen auf seiner rechten Wange. „Das sieht doch genau aus, wie…“ Die Ähnlichkeiten zwischen ihnen war schon beinahe gruselig. „Wer bist du?“, hob Frederick misstrauisch an. Er fühlte sich auf einen Schlag stocknüchtern.
Der Alte bebte vor unterdrücktem Lachen. „Frederick… Weißt du das wirklich nicht?“ Der junge Alchimist schüttelte verdattert den Kopf. „Doch, ich glaube schon. Ich bin Schicksal.“ Der jüngere Mann japste: „Was?!“ „Naja, genau genommen bin ich DEIN Schicksal. Du hast mich gerufen. Nebenbei, das war eine deiner besseren Entscheidungen in letzter Zeit, wer weiß, was sonst passiert wäre.“ Frederick der Ältere lehnte sich ächzend in dem Sessel zurück und genoss das Entsetzen im Gesicht seines jüngeren Selbsts sichtlich. „Mund zu, es zieht“, grinste er und stieß ihm mit dem Stock kräftig vors Schienbein. Die alten Augen funkelten lebendig und glichen dem jungen Frederick nun noch mehr. „Wie… was… Hä?“ Frederick war immer noch außer Stande, seine Gedanken sinnvoll zu artikulieren.

„Zu deiner Frage: Der Trank, den du gestern glücklicher-, wenn auch höchst unvorsichtigerweise zusammengepanscht hast, war der Trank der Zukunft. Ich BIN deine Zukunft, deshalb bin ich hier.“ „Meine… Zukunft…?“ Fredericks Kopf rollte unstet zwischen den Ohren des Sessels hin und her. „Natürlich deine Zukunft. NOCH lässt dein Bartwuchs ja auch ehrlich zu wünschen übrig, aber das kommt schon noch. Nur hier unten am Kinn solltest du… Ach lassen wir das.“ Die entstandene Stille könnte man mit einem Messer schneiden. Fredericks Mund klappt tonlos auf und zu, ehe er irgendwann einfach nur völlig verwirrt in das Gesicht starrt, dass ihm zugleich so vertraut und doch so fremd ist.
„Na, geht’s langsam wieder?“, fragte der Alte und kichert spitzbübisch in sich hinein. Doch Frederick schüttelt nur sprachlos den Kopf. Der alte Frederick setzt sich etwas gerader im Sessel hin. „Wie dem auch sein mag. Wir haben leider nicht so viel Zeit, wie ich eigentlich bräuchte, also sieh zu, dass du deine sieben Sinne wieder zusammen bekommst und spitz die Ohren!“
Der plötzliche, strenge Tonfall wirkte auf Fredrick, wie ein Eimer eiskaltes Wasser. „Och, nun reiß dich zusammen! Ich bin hier, um dich zu warnen.“
Da platzte dem Jungen Mann der Kragen. „Warnen? Du mich? Warum?“ Frederick der Ältere setzte eine altehrwürdige Miene auf: „Du rennst sehenden Auges in dein… ähm ich meine … unser Unglück.“ Frederick stieß ein ungläubiges Lachen aus und lehnte sich provokativ nach vorne. „Ach. ICH renne in unser Unglück? Soso. Also hältst du mir jetzt einen Vortrag darüber, dass du dich mit der Weisheit deines Alters dazu herablässt, um MIR den rechten Weg zu weisen?“ Der Alte wollte zu einer Antwort ansetzen, wurde jedoch gleich wieder unterbrochen. „Warte! Ich habs. Gleich kommt ein Vortrag dazu, dass ich nicht so viel Alkohol trinken und die Finger von der Zaubertrankbrauerei lassen soll, richtig?“ Wieder öffnete das Schicksal den Mund zu einer Antwort, kam jedoch nicht weit. „Nein, noch besser! Am besten soll ich gleich den Beruf des Alchemisten an den Nagel hängen und Mönch werden. Die Kutte habe ich in der Zukunft ja schon. Na, hab ich recht?“ Erwartungsvoll schaute er sein älteres Ich an und als der stumm blieb, stieß er ihm auffordernd gegen das Schienbein. „Na sag schon, alter Mann. Welche Strafpredigt ist es?“
Frederick der Ältere lüpfte eine seiner weißen Augenbrauen. „Ach, bist du nun fertig?“ „Ja, irgendwie schon.“ Ächzend beugte sich der Alte nach vorn, sodass ihre Nasen sich beinah berührten. „Himmel war ich mal ein ätzender Zeitgenosse.“ „Naja, manche Dinge ändern sich, wie es scheint, nie“, konterte der jüngere Frederick und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust. Der Alte seufzte tief, sparte sich aber die Antwort. „Du rennst in unser aller Unglück, wenn du so weitermachst, wie bisher. Du darfst nicht mit dem Tränkebrauen aufhören, das ist wichtig, hörst du! Egal, was passiert. Außer, wenn du uns, ähm, dich in die Luft sprengst, aber sonst musst du weitermachen.“ Frederick stutzt. Damit hatte er nun wahrlich nicht gerechnet. „Aber…?“ Der Alte piekte ihm mit seinem Stock gegen die Brust. „Aber du musst dabei endlich dein Gehirn benutzen! Lies genau was dasteht und such dir deine Kunden sorgfältiger aus!“ Frederick rieb sich die schmerzende Stelle auf seinem Brustbein. „Warum?“ Doch der Alte stemmte sich bereits aus seinem Sessel hoch und wandte sich zum gehen. „Weil das Schicksal einen Faden in deine Hände gelegt hat und du bist auf dem besten Weg, es nach allen Regeln der Kunst zu versauen!“ Und mit den Worten „Also streng dich gefälligst an!“ war der Alte zur Tür hinaus und verschmolz mit der Finsternis der Raunacht.

Frederick starrte dem Schicksal noch lange hinterher, bis der Wind die schwere Tür zuschlug und ihn mit seinen Gedanken allein zurück ließ.