Seitenwind Woche 7: Mach eine Szene!

Schon das zweite Klopfen ließ Meister Midas zusammenfahren und mit Schrecken blickte er beim dritten Klopfen auf den vollständig eingefahrenen Kolben der Spritze in seinem Arm. Das war zuviel des Guten. Er hatte das Elixier doch nur testen wollen. Wer mochte ahnen, welche Wirkung es in seinen Adern entfalten würde?
Beim nächsten Klopfen schließlich eilte er zur Tür. Die dunkle Stube war in das Licht der einzigen Kerze auf seinem Schreibtisch getaucht und vom Kamin her drang der flackernde Schein des kleinen Feuers. Der träge Schatten des Katers streckte sich ungeduldig, als er sah, wie sein Besitzer in Richtung der schweren Eichenholztür eilte, durch deren winziges Butzenfenster das Licht des Vollmonds ein fahles Abbild auf den staubigen Steinboden malte.
Midas schob den schweren Riegel zurück und wagte einen vorsichtigen Blick hinaus.
„Mauritius“, schimpfte er, als sich der Kater durch die Ritze quetschte und mit hoch erhobenem Schwanz in der Nacht verschwand. Das Elixier begann schon zu wirken. Sein Herz schlug bereits deutlich schneller und er spürte, wie ihm die Hitze den Kragen hinaufstieg.
„Meister Midas, ich brauche eure Hilfe!“
Es brauchte einen Moment, bis der Meister die Gestalt in dem dunklen Mantel erkannte. Die Frau – nein, das Mädchen – hatte ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen und versteckte so die goldenen Locken vor neugierigen Blicken.
„Loreley?“
Midas kannte die Maid. Sie arbeitete seit ein paar Monaten in der Schenke unten am Marktplatz. Ein oder zwei Mal hatte sie ihn bisher aufgesucht um Mittelchen gegen die Leibschmerzen nach der Monatsblutung oder ein einfaches Zahnpulver bei ihm zu erstehen. Wenn sie so spät nachts noch erschien, musste etwas Schlimmes passiert sein. Ein ungünstiger Zeitpunkt. Midas zerrte an seinem Kragen und spürte, wie sich auf seiner Stirn trotz der kühlen Nachtluft Schweißtropfen bildeten.
„Meister, es… es ist etwas passiert.“ Loreley sah sich nervös um, aber die Nacht schien absolut still und friedlich. Noch – denn aus der Ferne grollte bereits tiefer Donner.
„Es… es ist jetzt kein guter Zeitpunkt, mein Kind. Magst Du nicht morgen wiederkommen?“ Spürte er seine Füße noch? Midas hielt sich schwer am Türflügel fest. Sein Körper begann zu kribbeln. Niemand durfte von seinen Experimenten wissen – andererseits… wenn seine Sinne ihn verließen, war diese Maid vielleicht die Letzte, die noch Schlimmeres verhindern würde. Eine Schankmaid, ausgerechnet.
„Nein!“ Loreleys Erwiderung kam ungewöhnlich scharf und laut. Es mochte nur die Furcht vor Zurückweisung sein, aber leise drängend fügte sie hinzu: „Bitte, ich brauche eure Hilfe noch heute, Meister.“
Midas spürte die Wirkung immer stärker, nickte aber schließlich, als er ihren Blick bemerkte. Er öffnete die Tür gerade so weit, dass es Loreley der Katze gleichtun konnte und sich geschmeidig und schnell in die Stube zwängte.
„Bitte Meister“, platzte es aus ihr heraus, kaum dass sie die Stube betreten hatte, „es ist etwas Schreckliches passiert…“
Midas sah sie mit glasigem Blick an und deutete auf einen dreibeinigen Schemel am Feuer, doch Loreley blieb stehen. Auch Midas erinnerte sich noch an die Freuden des Fleisches und hätte der schlanken Gestalt der jungen Frau sicherlich den ein oder anderen Blick geschenkt, wären die Umstände anders gewesen. Loreley war ausnehmend hübsch und von märchenhafter Anmut. Doch in diesem Moment hatte Midas alle Mühe, den Blick überhaupt auf ihr zu halten. Die Stube begann sich zu drehen.
„…Arguantes´ Knappe - auf dem Julfest. Wir waren betrunken und…“ Die Worte sprudelten geradezu aus Loreley heraus, während sie ihm die Geschichte einer Liebesnacht erzählte, der Midas nur mehr mit sehr viel Anstrengung zu folgen vermochte.
„Und nun ist es weg!“, schloss Loreley.
„W…was ist weg?“, presste Midas hervor.
„Das Monatsblut.“ Ihre Augen waren groß wie Teller. „Bitte Meister, ihr müsst mir etwas geben“, drängte sie. „Ich weiß, dass ihr es könnt.“
Der Alchemist ließ sich auf seinen Arbeitsstuhl sinken. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Blick glitt nervös hinüber zu der unschuldig wirkenden, kleinen Phiole mit der blauen Flüssigkeit. Das Antidot.
„Hat er Dir Gewalt getan?“, fragte er, so ruhig er vermochte.
„Was?“, entfuhr es Loreley. „Natürlich nicht, wir lieben uns. Aber Arguantes wird niemals zulassen, dass sein Knappe eine einfache Magd heiratet.“
„D…du…“, Midas keuchte hörbar und fühlte, wie das Kribbeln seine Finger erreichte. Fast panisch langte er nach der Spritze, konnte sie aber nicht mehr greifen. Klappernd fiel sie auf die Bank, blieb aber heil. „Du liebst ihn?“
Sie schwieg und schlug die Augen nieder.
„Er… weiß es also gar nicht?“
„Er nicht…“, gab sie leise zu, „… aber ich. Er hat es mir gestanden, noch bevor sie aufbrachen. Nur ich…“
„Du konntest es ihm nicht sagen. Und jetzt hast du Angst vor dem, was passieren würde, wenn du es doch tust.“ Das Herz schien ihm in seinem Leib zerspringen zu wollen. Das Elixier raste durch sein Innerstes und fegte wie ein brennender Dämon durch seine Venen. Langsam schob sich Dunkelheit von den Seiten in sein Blickfeld.
„Loreley…“ Er deutete zitternd auf die blaue Phiole. „Loreley, ich…“

Stunden später spürte Midas, wie das Leben seinen Körper wieder umarmte. Er lag auf dem Boden seiner Stube und neben ihm kauerte das Mädchen mit rotgeränderten Augen am mittlerweile erloschenen Kamin. In ihrer Hand glänzte etwas Gläsernes. Es dauerte eine Weile, bis Midas die Spritze erkannte.
„Meister! Ein Segen, ihr lebt. Den Göttern sei Dank.“
Midas fühlte, wie ihn unendliche Erleichterung umfing.
„Dank sei dir, mein Kind. Nicht die Götter haben mich heute Nacht gerettet.“
„Ich wusste nicht, ob ich es richtig gemacht habe…“ Loreley begann wieder zu weinen.
Midas´ Arm schmerzte höllisch, aber das Antidot schien seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.
„Woher wusstest Du es?“
Sie sah ihn mit verweinten Augen an und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich wusste es nicht. Ich sah euch den Büttel mit diesem Ding versorgen und da ihr danach gegriffen hattet…"
„Und das Antidot?“ Midas hob einen Finger und deutete auf die Phiole, die zwischen ihnen lag.
„Es war euer letzter Fingerzeig, bevor ihr auf den Boden aufschlugt.“
„Du hättest gehen können“, stellte Midas ruhig fest.
„Das hätte ich…“, sagte Loreley tonlos.
„…aber Du hast es nicht getan“, ergänzte er. Sein Körper schmerzte noch, aber er gehorchte langsam wieder. Mühsam setzte er sich auf und strich sich den Staub aus dem Bart und den grauen Haaren.
„Ich konnte euch doch nicht sterben lassen.“ Loreley schluchzte wieder. Er zog das Mädchen väterlich zu sich und strich ihr über die blonden Locken.
„Sch… sch… Nein, mein Kind. Du…“, er machte einen bedeutungsschwere Pause, "… du hast dich für das Leben entschieden.“ Er rappelte sich langsam und schwerfällig auf und zog sie auf die Füße. Dabei hielt er ihre Hände fest und sah ihr entschlossen in die Augen. „Lass mich dir einen Rat geben, Loreley.“
Sie sah ihn an und nickte stumm.
„Geh und rede mit deinem Knappen. Sie kehren bald zurück. Ist er aufrichtig, dann geht zusammen fort und blickt nicht zurück. Geht bei Nacht und macht euch keine Sorgen um Arguantes oder darüber, was die Leute sagen werden.“
Er drückte ihre Hände.
„Ist er es aber nicht, und stellt sich heraus, dass der Schuft in jeder Schänke eine andere freit, dann steht dir meine Tür jederzeit offen. Egal, wofür du dich am Ende entscheidest.“

Mit den Strahlen des ersten Morgenlichts verließ Loreley seine Stube. Nur der Kater sah ihr nach, wie sie in die schwindenden Morgennebel eintauchte und verschwand.

Vom Fluch des Goldes
Die Tür zum weitläufigen Hoflabor des Alchemisten Gottwenn war angelehnt. Das war ungewöhnlich. Normalerweise war diese Tür mit den mächtigen, durch Feuchtigkeit angelaufenen Scharnieren, fest verschlossen. Der Adlatus, der seit drei Monden bei Gottwenn in Diensten stand, wagte nicht, sie vollends zu öffnen. Zu oft war er wegen seines neugierigen Ungestüms vom Meister zurechtgewiesen worden. Deshalb verlegte er sich auf ein schüchternes Klopfen. Von innen kam kein Widerhall, es war vollkommen still bis auf ein kaum vernehmbares Tropfen. Erneut klopfte der junge Mann, dann ein drittes Mal. Noch immer erhielt er keine Antwort. Ein unseliges Gefühl beschlich ihn. Er sollte umkehren, wusste auf der Stelle, dass es besser für ihn wäre. Doch seine unbändige Neugier trieb ihn vorwärts.
„Meister Gottwenn?“
Nichts. Nur jenes merkwürdige Tropfen, ebenso ungewöhnlich, wie die offenstehende Tür. Sein Lehrherr ließ keine Flüssigkeiten tropfen. Dazu war er viel zu umsichtig.
„Meister Gottwenn, ich komme jetzt zu Euch hinein. Auch wenn Ihr mich nicht hereingebeten habt…“
Beklommen legte der Adlatus seine Hand in die protzige Mitte jenes aufwändig geschnitzten Wappens, welches das massive Türblatt nahezu erdrückte, stieß die Tür auf. Die Luft, die ihm aus dem unbeleuchteten Raum entgegendrang, roch nach den Elementen, Mineralien und Salzen, mit welchen sie tagtäglich zu tun hatten und über welche sie die Transmutation von Metallen erreichen sollten, in der Absicht, für den Kurfürsten Gold herzustellen. Aber es roch nicht allein danach. Ein ihm nicht bekannter Geruch hatte sich darunter gemischt, der ihn an die Schlachtbänke auf dem Markt erinnerte. Nicht nur diese Tatsache erschien ihm ungewöhnlich, auch die Dunkelheit im Raum bereitete ihm höchste Sorge. Wenn Meister Gottwenn arbeitete, musste stets für gute Beleuchtung gesorgt sein.
„Meister?“ wiederholte er, seine Stimme ein Flüstern.
Seine Schritte wollten ihm nicht gehorchen, als er sich in die Dämmerung hineintastete, seine Augen gewöhnten sich nur schwer an die Dunkelheit, die alle Gegenstände im Labor, die Phiolen, Gläser und sogar den dreibeinigen Brenner farblos zurückließ. Er blickte sich nach Gottwenns gebückter Gestalt um, konnte sie jedoch nirgendwo ausmachen. Als er sich weiter in den Raum hineinbewegte, stieß sein rechter Fuß an etwas Weiches. Sein entsetzter Schrei brach sich an der hohen Decke des Gewölbes. Am Boden vor ihm lag sein Meister. Gottwenn stöhnte schwach, während sein Leben mit metallischem Glanz über unzählige aufgeplatzte Wunden aus seinem gekrümmten Körper tropfte. Sein Atem rasselte.
„Bleib‘ weg von mir, mein Junge. Es ist ein Fluch…das Gold…“ Gottwenns Worte kamen gurgelnd, es schien, als sei sogar seine Lunge voll von Blut. „Es bringt Unglück über die Menschen.“
Der gewaltige Schreck ließ den Adlatus keuchen. Aufgewühlt ging er neben dem Sterbenden in die Hocke, betrachtete ihn entsetzt, vermochte nicht zu begreifen, was dessen Worte bedeuteten.
„Was habt Ihr getan, Meister? Habt Ihr die transmutio erreicht?“
Mit letzter Kraft nickte Gottwenn. Der Adlatus brachte sein Gesicht tief zu ihm herab, um zu verstehen, was er ihm sagen wollte.
„Du darfst dich mir nicht nähern….die Dämpfe bewirken die transmutio in den Körpern der Menschen.“ flüsterte der Sterbende. „Ich habe die Rezeptur vernichtet. Berichte dem Kurfürsten, es gibt keine Möglichkeit, Gold herzustellen…“
Die Stimme erstarb, während Gottwenn seinen letzten gequälten Atemzug ausstieß, der sich gleich einem goldenen Hauch in die Luft erhob, den Raum in ein schwaches Leuchten tauchte und sich breit machte in der Dämmerung des Todes. Unbeweglich blickte der Adlatus auf den Toten nieder. Im Schein des goldenen Hauchs, der die Luft mittlerweile zur Gänze erfüllte, erkannte er es. Gottwenns Blut bestand aus purem Gold. In diesem alles verändernden Bewusstsein atmete er tief ein, sprang mit einem Jubelschrei auf, suchte in dem Raum nach geeigneten Gefäßen, in welchen er das pure Gold, das die Haut seines Meisters ihm in jener wunderbaren Unvorhersehbarkeit zur Verfügung gestellt hatte, aufzufangen vermochte. Unvermittelt begann seine Haut zu spannen, als wolle sie sich von seinem Knochengestell und seinen Muskeln trennen. Ein Netz von brennenden Schmerzen dehnte sich über ihre Oberfläche aus, ein Konglomerat an Empfindungen, auf die er keinen Einfluss mehr zu haben schien. Hilflos musste er dabei zusehen, wie sich seine Haut mit blutenden Platzwunden zu überziehen begann.

Eine höhere Wahrheit

Marius hämmerte vehement an die Tür. Dies war bereits der fünfte Tag, dass Ludwig nicht zur Arbeit im Gildenhaus angetreten war. Und da Marius sein bester Freund war und mit ihm gemeinsam vor drei Jahren die Lehre angetreten hatte, befand ihr Meister es nur für richtig das Marius sich nach dem Verbleib seines Lehrbruders und Kindheitsfreundes erkundigen sollte. Missmutig hatte Marius zugestimmt. Es wäre ohnehin nicht so gewesen, dass er eine Wahl gehabt hätte.

Er wartete eine Minute, 5 Minuten. Dann hämmerte er noch mal. Lieber handelte er sich Ärger mit den Nachbarn ein als mit den Oberen der Gilde.

Langsam öffnete sich die Tür einen Spalt. Im Halbdunkeln erkannte Marius Ludwigs Gesicht, den Ausdruck darauf hatte er so jedoch noch nie gesehen. Eine Fratze gezeichnet von purer Angst.

„Ludwig? Allmächtiger, was ist mit dir geschehen?“

Statt zu antworten riss Ludwig die Tür auf zog Marius mit einem kräftigen Ruck hinein.

Marius stürzte in das kleine Zimmer, fiel hin, rappelte sich sofort wieder auf. Panisch wie ein gehetztes Tier sah Ludwig auf die Gasse, bevor er die Tür wieder zuschlug. Marius betrachtete ihn mit weit aufgerissenen Augen. War er betrunken? In Gefahr? Was konnte seinen Freund nur in diesen Zustand versetzt haben?

Marius versuchte Ludwig zu beruhigen.

„Ludwig, setzt dich doch erst mal. Atme durch. Trinke etwas. Dann erzähle mir was los ist.“

Ludwig riss den Kopf herum und sah Marius an, als hätte er bis eben vergessen, dass dieser überhaupt anwesend war.

Er begann zu wimmern. „Marius, oh Marius, ich habe einen Fehler gemacht, einen schlimmen Fehler…“

Marius bildete sich ein, zu wissen, was seinen Freund plagte. Ludwig hatte einen Hang zum Glücksspiel, und es wäre nicht das erste Mal, das er mit Geld gespielt hätte, welches er nicht wirklich besaß.

Marius seufzte „Schuldest du den Halsabschneidern im weißen Ross wieder etwas? Meine Güte, für einen klugen Mann bist du manchmal wirklich…“

Er hatte keine Zeit aus zu reden. Ludwig packte ihn am Kopf und sah ihm direkt in die Augen. „Nein, du verstehst nicht“ zischte er. „Das Rezept. Ich habe es entschlüsselt!“

Marius verstand nicht gleich, was sein Freund da von sich gab, doch langsam besann er sich. Vor einigen Monaten hatten sie gemeinsam im Keller des Gildenhauses aufräumen müssen. Unter den Bergen nutzloser alter Korrespondenzen befand sich auch ein Kästchen. Und in dem mit Samt ausgeschlagenen Kästchen ein einzelnes Dokument. Was genau dieses Dokument war, blieb jedoch ein Geheimnis, da es sich nur um Kauderwelsch handelte den weder für ihn noch für Ludwig Sinn ergeben hatte.

Bisher offenbar.

Zögerlich frage Marius „Du hast es also entziffert? Aber wie?“

Ludwig hatte die Hände auf die Augen gepresst. Seine Stimme bebte „Das ist jetzt egal. Ich hätte es nicht tun dürfen, nie tun dürfen! Ich habe es gebraut! Das offene Auge, so heißt es! Gebraut, und getrunken! Und jetzt…“

Marius hatte Angst zu fragen. „Und jetzt…?“

Ludwig fiel auf die Knie, kratze sich mit den Fingernägeln durch sein Gesicht, so tief das Blut hervortrat. Er schrie „Jetzt sind sie überall!“

Marius wich zurück. Der Ausbruch seines Freundes hatte ihn vollkommen überrascht. Unauffällig fühlte er nach dem Griff des Messers, welches er stets im linken Ärmel seines Gewandes mit sich trug.

Ludwig sah zu ihm auf. Dort wo seine Finger entlang gefahren waren, hatten sie Haut und Fleisch abgerissen. Das Blut lief in dicken Strömen herab.

Er begann hysterisch zu kichern. „Marius, oh Marius. Wir sind blind. Wir haben Augen zum sehen, doch wir sind blind. Aber ich nicht mehr. Meine Augen wurden geöffnet. Jetzt sehe ich. Bei Gott, ich sehe die Engel. Und sie sind überall!“

Das unmenschliche Kichern ging in lautes Schluchzen über. Mit flehender Stimme würge Ludwig hervor „bitte, hilf mir…“

Panik überkam Marius. Er stemmte sich mit dem Rücken zur Wand und zog das Messer aus dem Ärmel. Mit zitternder Hand richtete er es auf Ludwig.

„Bleib wo du bist“ stotterte er. „Der Teufel hat von dir Besitz ergriffen. Komm mir nicht zu nahe!“

Plötzlich stand Ludwig auf. Er blickte das Messer in Marius Hand an, als sähe er so ein Ding zum ersten Mal im Leben. Ein Lächeln machte sich auf seinem Gesicht breit.

Mit ruhiger Stimme, mehr zu sich selbst stammelte Ludwig „Aber natürlich. Die einfachste Lösung. Warum bin ich nicht selbst darauf gekommen?“

Ohne einen weiteren Moment zu zögen schritt Ludwig auf Marius zu. Dieser schrie „Bleib stehen“, doch es brachte nichts. Mit einer schnellen Bewegung riss Ludwig seinem Freund das Messer aus der Hand. Und stieß es sich in sein linkes Auge. Marius verließ jegliche Kraft. Langsam gaben seine Knie nach, und er fand sich auf dem Boden sitzend wieder. Er sah zu, wie Ludwig das Messer ohne die kleinste Gefühlsregung aus dem Fleischwulst riss, was einst sein linkes Auge gewesen war und es sich in das rechte Auge stieß. Mit klaffenden Löchern, dort wo vor eben noch seine Augen gewesen wahren wandte Ludwig seinen Kopf zu Marius und flüsterte:

„Fürchte das alte Wissen.“

Einen Moment später fiel er in sich zusammen.

Ein heftiger Schwall Übelkeit überkam Marius, und er spie alles aus, was sich in seinem Magen befunden hatte. Das letzte, was er sah, war die Leiche seines besten Freundes, bevor eine gnädige Ohmacht ihn umfing.

Die Gier des Königs

Die Flamme des Kaminfeuers warf ihr flackerndes Licht auf die brodelnde Flüssigkeit in dem Glas, das auf dem Holztisch inmitten des Raumes stand. Der Alchemist warf einen zweifelnden Blick darauf. Was hatte er da hergestellt? Sollte er den Trank wirklich in einem Selbstversuch leeren? Alles in ihm sträubte sich dagegen, die Farbe erinnerte ihn an ein tödliches Gift. Er nahm das vergilbte Pergament und überflog das Rezept, das er in einem alten Buch entdeckt hatte. Sämtliche Zutaten hatte er so abgewogen und zusammengerührt, wie es dort beschrieben war. Es gab keinen Zweifel, dass die Tinktur genauso aussah, wie sie vor vielen hundert Jahren von einem unbekannten Meister niedergeschrieben worden war.

Entschlossen nahm er das Glas und trank es in einem Zug leer. Die Wirkung traf ihn wie ein Faustschlag und schleuderte ihn zu Boden. Hitzewellen glühten in seinem Körper und ließen seine Glieder unkontrolliert zucken. Vor allem seine Zähne schmerzten und fühlten sich an, als würden seine Eckzähne wachsen. Die Minuten zogen sich zu einer Ewigkeit, bis sich der Kampf endlich in ihm beruhigte. Geschwächt wankte er auf einen Stuhl und griff in seinem Mund. Dabei verletzte er sich an einem Eckzahn den Zeigefinger. Ein dicker Blutstropfen bildete sich und löste in ihm eine Gier aus, wie er sie noch nie erlebt hatte. Welche herrliche Farbe der Tropfen hatte, wie eine rote Blutperle! Er saugte an seinem Finger, es schmeckte besser als alles, was er je zuvor probiert hatte.

Er war versucht, sich eine weitere Verletzung zuzufügen, um noch mehr von dem Blut zu bekommen, da klopfte es forsch an der Tür. „Mach auf, Alchemist!“ Es war die Stimme des Königs. Im Aufstehen warf er einen Blick in den Spiegel, seine Augen waren blutrot und aus seinem Mund ragten zwei lange Reißzähne. Wie bei einem Vampir! Schlagartig wurde ihm klar, was passiert war. Es pochte noch energischer an der Tür. Er griff nach einem Tuch und hielt es sich vor den Mund, bevor er die Tür öffnete.

„Wurde auch Zeit. Ich wollte schon die Tür aufbrechen lassen!“ Der König lief an ihm vorbei, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und ließ sich auf einen Holzstuhl fallen. Er war ein untersetzter Mann mit einem runden Wanst. Kerben der Missgunst hatten sich in sein Gesicht gefressen, in seinen Augen lagen Neid und Gier.

Der Alchemist betrachtete ihn genauer. Es war ihm noch nie aufgefallen, dass er einen langen Hals mit zarter Haut hatte und dass seine Lippen rosig und gut durchblutet waren.
„Was starrst du mich an?“, blaffte der König. „Und warum sind deine Augen so rot?“
„Eine Augenentzündung.“
„Deswegen leuchten auch die Pupillen wie Feuer?“
„Ja, eine schwere Entzündung, sehr schmerzhaft.“
Der König sah ihn zweifelnd an. „Was soll das Tuch vor deinem Mund?“
„Zahnfleischentzündung.“ Dem Alchemisten fiel auf, dass der Monarch nicht fett war, er wirkte eher wie ein angerichteter Braten, saftig und zart.
„Du hast eine neue Erfindung gemacht“, stellte der fest.
„Woher wisst Ihr das, Majestät?“
„Ich habe überall meine Ohren. Man trug mir zu, dass du endlich die Rezeptur für die Goldherstellung gefunden hast“, vor Aufregung pulsierte eine Ader an seiner Schläfe. Sie war prall gefüllt mit Blut, das kräftig und vor allem in großer Menge durch sie hindurchfloss. „Dir läuft Speichel aus dem Mund!“
„Entschuldigt mich, Durchlaucht!“, er wischte mit dem Tuch über sein Gesicht, dabei blitzten die langen Reißzähne auf.

Der König warf ihm einen entsetzten Blick zu. „Du gefällst mir heute nicht. Aber egal. Wir werden jedenfalls von dem Gold Söldner anheuern und unsere Nachbarn angreifen. Ich werde der mächtigste Herrscher der Welt!“
„Aber sie sind unsere Freunde.“ Ob royales Blut besser schmeckte als gewöhnliches? Schließlich nannte man es blaues Blut, es musste etwas Besonderes sein.
„Zerbrich dir deinen Kopf nicht über Politik und zeig mir das Gold!“
„Natürlich.“ Er holte eine eisenbeschlagene Holztruhe und stellte sie auf den Tisch. „Du musst dich tief darüber beugen, um das Gold zu sehen.“ Mit einer schwungvollen Bewegung öffnete er den Deckel und der König senkte seinen Kopf in der Truhe.

Langsam und mit großer Vorfreude beugte sich der Alchemist zu ihm herab und schlug die Zähne in den Hals seines Opfers. In seinen Armen spürte er dessen Widerstand, aber es gab kein Entrinnen, denn das Elixier verlieh ihm übermenschliche Kräfte. Das warme Blut füllte seinen Mund und er trank es in tiefen Zügen. Er wusste, dass er Einhalten musste, wenn er das Leben seines Opfers retten wollte. Aber wie ein schwerer Rotwein benebelte es seine Sinne und er trank immer weiter, während die Bewegungen des Königs in seinen Armen schwächer wurden.

Vielleicht war es gut so und er verhinderte gerade einen großen Krieg. Auf seine Art! Durch sein jüngstes Elixier!

Das Geheimnis des Arnaldus de Villanova

„Hm-m?“ Irgendwo wummerte es.
Zweifünftelwach versuchte Arnaldus zu sortieren, wie ihm gerade geschah.

Sein Versuch, den Kopf einfach tiefer ins Kissen zu drücken, ließ das Wummern nicht weniger werden. Statt dessen meldete sich zusätzlich ein mehr als unangenehmer Druck in seinem Schädel, der verdächtige Ähnlichkeit hatte mit den Nachwehen eines heftigen Schlags, wie er ihn zuletzt von der Feier zur Verleihung des Phosphorkreuzes in Erinnerung hatte. Damals war’s zuviel von des Hofgärtners ungenügend filtriertem Met gewesen.

Arnaldus versuchte sich mit Hilfe beider Ellbogen im Bett aufzurichten.

„Ouuuuh!“

Etwas in seinem Kopf hatte sehr ungnädig auf den Verlagerungsversuch reagiert. Das Puckern in seinem Schädel hatte sich verdoppelt, nur das Wummern entfernte sich langsam.

Arnaldus blinzelte.
Dann blinzelte er nochmals.
Das Wummern kam nicht aus seinem Kopf, so viel stand fest.
Jetzt nur noch zwei Fünftel entfernt von einem Zustand, den eine wache Person wohl als „standfest“ bezeichnet hätte, atmete Arnaldus ein paar Mal tief ein. Ganz langsam, durch beide Nasenlöcher. Mit jedem Atemzug wurde das Puckern schwächer.

Nach einer Pause kam das Wummern deutlich verstärkt wieder. Jetzt hörte er auch Rufe.

„Magister!“

„Magiiiiister!!!“

Geister?

Was, um der weisen Steine von Korinth willen, hatte er vergangene Nacht bloß zu mazerieren versucht? Seinen Verstand???

Dunkel erinnerte er sich daran, in der königlichen Bibliothek auf ein Pergament unbekannter Herkunft gestoßen zu sein. Es war nicht nur mit feinsten floralen Mustern verziert gewesen, die darin aufgeführten Zutaten und Anweisungen hatten äußerst vielversprechend geklungen, wenn auch seine Kenntnis des Arabischen immer noch lückenhaft war. Obwohl er sich an rein gar nichts erinnern konnte, was nach dem Lesen des Pergaments geschehen war, musste er wohl alle Vorsicht seriösen Alchemistentums fahrengelassen und sich in einen Selbstversuch gestürzt haben, anstatt die geheimnisvolle Rezeptur zunächst im Kreise erfahrener Standesbrüder einer examinatio radicalis zu unterziehen, wie es einem kritischen Geist seines Formats wohl angestanden hätte: Der Verstand gehe voraus, pflegte er zu Beginn jeder Disputation zu repetieren, auch wenn seine discipuli dabei allzu gerne die Augen verdrehten. Oh Santissima Madre, dachte er, wenn die das bloß nicht erfahren.

Mühsam schwang er seine nackten Füße aus dem Bett, hob den unordentlich am Boden liegenden Mantel auf und warf ihn über. Dann tapste er zur Tür.

„Mag…!!!“

„Schrei’ nicht so, Philotropus, ich bin nicht taub!“

Spitz fügte er hinzu, denn Kopfschmerzen machten ihn immer leicht giftig:
„Und wäre ich tot, würde auch das Volumen deiner Stimme nichts mehr retten.“

„Ja-jawohl, Magister.“

Philotropus, der ihm als Sekretär zugeteilt war, und der sich damit sein Schulgeld verdiente, beeilte sich, die unordentlich herumliegenden Kleidungsstücke in das Regal aus poliertem Pinienholz zu ordnen.

Arnaldus kratzte sich am Kopf.

„Welchen Tag haben wir, Philotropus?“

„Den 6. im Monat September, Magister, im Jahre unseres Herrn 1311“ antwortete der Sekretär, in der Hoffnung, durch überkorrektes Verhalten möglichst keine weiteren Spitzen von den Launen seines Meisters abzubekommen.

Es schien zu funktionieren. Arnaldus hob seine Nase und schnupperte in den Luftzug, der an dem von Philotropus eben geöffneten Fensterladen vorbei ins Zimmer strömte.

„Ein guter Tag, um ihn auf dem Wasser zu verbringen“, sagte er, „lass den Kyrener seeklar machen.“

„Sofort, Magister.“

Während Philotropus geschäftig zwischen den Räumen hin und her wirbelte, vergaß er auch nicht, in der Küche einen reichhaltig gefüllten Picknickkorb zu bestellen. Vergnügt dachte er, dass trotz gelegentlicher Anraunzer ein Sekretariatsposten bei einem Magister, der so fest in der Gunst seines Königs stand, dass er eine von dessen Segeljachten benutzen durfte, das schlechteste Los nicht war, zumal für einen Waisenjungen aus Melfi.

Unbeeindruckt von den Gedanken seines Sekretärs schlurfte Arnaldus, die Füße jetzt in den fein bestickten Pantoffeln, die ebendieser Sekretär noch schnell unter dem Bett hervorgezaubert hatte, hinüber in die Bibliothek.

Auf dem Tisch in der Mitte des Raums stand, neben einigen unordentlich herumliegenden Pergamenten, eine Phiole. Arnaldus grübelte. Wie war die dahin gekommen? Und was war das für ein merkwürdig ölig anmutender Inhalt?

„Ouuuh!“

Arnaldus fasste sich an den Kopf. Denken schien seinem Wohlbefinden gerade weniger bekömmlich zu sein.

Er beschloss, das Geheimnis der Phiole erst näher zu untersuchen, nachdem er seinen Verstand einer frischen Brise der zu dieser Jahreszeit milden, sizilianischen Küstenluft ausgesetzt hatte. Vorzugsweise im Liegen unter dem schattenspendenden Sonnenbaldachin auf dem Hinterdeck der königlichen Jacht.

Er rief nach Philotropus und gab ihm noch ein paar Anweisungen, welche Kleidung er mitzunehmen gedachte. Philotropus nickte und packte mehr als geräuschvoll, was Arnaldus bewog, sich bis zum Ablegen in die Bibliothek zurück zu ziehen. Wenn nur dieses Puckern unter seiner Schädeldecke endlich nachlassen würde. Trotzdem gelang es ihm, die Phiole, ohne sie fallen zu lassen, vom Tisch in die weite Tasche seines Mantels zu verlagern. Er seufzte. Seine Neugier war schon wieder dabei, die guten Vorsätze zu überholen.

Eine Stunde später saß er, vergnügt mit den Beinen baumelnd, unter dem Sonnenbaldachin im Heck der königlichen Segeljacht. Der Steuermann, der das Schiff am Seitenruder zuverlässig im Wind hielt, blickte betont desinteressiert hinaus auf See.
Über ihnen blähte sich das Rahsegel und zog das schlanke Boot durch die Wellen.

Aus dem kleinen Verschlag im Vorschiff war geschäftiges Werken zu hören. Philotropus packte wohl gerade den Picknickkorb aus.

Arnaldus schob seine Hand in die Tasche und befühlte die Phiole darin.
Jetzt war die Zeit reif. Er holte das mysteriöse Fläschchen vorsichtig aus der Tasche, entkorkte es, roch daran und nahm einen Schluck.

‚Hm. Süß. Leicht alkoholisch und sehr süß.‘

Das konnte eigentlich nicht sein.

Wie hatte er das gestern gemacht? Wein, der länger herumstand, wurde normalerweise bald sauer. Er nahm noch einen Schluck.

Und noch einen.

Dann verkorkte er die Phiole wieder, setzte seine Füße aufs Deck und drehte sich vergnügt um sich selbst, was ihm umso leichter wurde, als der Steuermann immer noch konzentriert ihinaus auf See blickte.

'Was für ein Wetterchen heute", dachte Arnaldus.

Er tappte zur Reling. In der Ferne waren die Dunstschleier der Küste gerade noch zu erkennen. Arnaldus machte einen Schritt nach vorne, um besser zu sehen, bis seine Knie von dem über die Bordwand gespannten Tau aufgehalten wurden. Plötzlich stand die Welt Kopf. Der Primus Magister spürte überraschend frische Kühle, die sich wie ein lindes Tuch um seinen schmerzenden Schädel legte.

‚Ach‘, dachte er, immer noch die Süße des geheimnisvollen Absuds auf der Zunge, ‚soo küühl …‘

„Magister?“

„Magister!!“

„Steuermann!!!“

„Hm?“

Der Steuermann drehte den Kopf zu Philotropus, der seinen Kopf gerade aus dem Verschlag im Vorschiff steckte.

„Wo ist der Magister?“

Der Steuermann sah sich auf Deck um, stand schließlich auf und warf auch einen Blick am Sekretär vorbei in den Verschlag im Vorschiff.

Kein Arnaldus zu sehen.
Er kratzte sich am Kopf.

„Da bleibt eigentlich nur eine Möglichkeit: Er muss über Bord gegangen sein.“

„Über Bord gegangen?“ Philotropus’ Stimme hatte verdächtige Ähnlichkeit mit dem Quieken einer Maus.

„Tja“, sagte der Steuermann, „und keiner hat’s gemerkt“.

Philotropus blickte immer noch hektisch in alle Ecken des Decks, in der Hoffnung, das Antlitz seines Meisters vielleicht doch noch hinter einem Taubündel auftauchen zu sehen. Aber da war nur diese Phiole, die im leichten Seegang von einer Seite des Decks auf die andere rollte. Philotropus machte das Geräusch nervös. Er ging hin, hob sie auf und packte sie in den Picknickkorb.

„Wieso hat er bloß nicht um Hilfe gerufen?“
Philotropus’ Stimme verriet Verzweiflung.

„Tja“, meinte der Steuermann, und Philotropus dachte in stiller Aufsässigkeit, dass solches Phlegma einem Schlachtochsen weit besser angestanden hätte als einem Steuermann, „aus den gelehrten Herren bin ich noch nie schlau geworden.“

Gleich darauf zeigte er jedoch erheblich mehr praktischen Sinn, als Philotropus solch einem Ochsengemüt zugestanden hätte: „Es bleibt uns wohl nichts übrig als zu wenden und schauen, ob irgendwo sein Kopf aus den Wellen guckt.“

Der Steuermann packte den Griff des Seitenruders fester. „Klar bei Segel, Studiosus!“


Namensregister und Glossar

Arnaldus de Villanova, geboren um 1235 bei Valencia und aufgewachsen in Katalanien, war zuletzt von König Friedrich II. von Aragonien als Primus Magister in dessen Schola Critica Alchimiae auf Sizilien berufen worden. Die vorliegende Anekdote über das Ende seiner Laufbahn wurde nach jüngsten Erkenntnissen auf Erlass seines königlichen Herrn zum Reichsgeheimnis erklärt worden, bei strengster Strafandrohung im Falle ehrverletzender Aufdeckung. Erst zweihundert Jahre später entdeckte ein ungenannt gebliebener Bibliothekar im Dienste des französischen Königs Ludwigs XII., nach einer, wie es heute wohl heißen würde, „feindlichen Übernahme“ der Staatsgeschäfte kurzzeitig Herrscher über das Königreich Sizilien, beim Sichten eroberter Bibliotheksschätze das beiliegende Pergament, dessen Inhalt möglicherweise Ungereimtheiten über die Begleitumstände des Ablebens von Arnaldus de Villanova zu erklären vermag, und ebenso, weshalb die Schola Critica Alchimiae am 13. September 1311, eine Woche nach dem Verschwinden ihres Primus Magister, sang- und klanglos aufgelöst worden war, woraufhin deren Schüler sich - angeblich - auf Nimmerwiedersehen in alle Winde verstreut hatten.

Obwohl dem Gelehrten aufgrund seines widerspruchsfreudigen Lebenswandels später manche Schrift über die Geheimnisse der Alchemie zu Unrecht untergeschoben worden sein soll, ist der Einfluss des Arnaldus de Villanova auf die Alkoholdestillation, insbesondere seine experimentellen Beiträge für die Herstellung der Süßweine, unter späteren Generationen seines Standes unbestritten.

Das vorliegende Pergament verschwand im Gepäck des französischen Bibliothekars aus Sizilien und wurde erst kürzlich bei einer Revision alter Urkunden aus der Zeit des Hauses Valois durch eine Expertenkommission der Academie Francaise wiederentdeckt. Seither sind erbitterte Debatten über die Echtheit des Dokuments entbrannt, die durch Rückforderungen der italienischen Regierung als Rechtsnachfolger der Königreiche von Neapel und Sizilien wegen „unrechtmäßiger Inbesitzhaltung“ durch den französischen Staat auch politisch erhebliche Brisanz zu entwickeln drohen.

discipuli: Schüler

Disputation: Unterrichtseinheit mit Diskussion zum vermittelten Lehrstoff

examinatio radicalis: grundlegende Untersuchung

Kyrener: ca. 14 Meter langes und etwa vier Meter breites Segelboot aus dem Mittelmeerraum, in der Regel betakelt mit einem Rahsegel und per Seitenruder gesteuert, ausgelegt für bis zu vier Mann Besatzung. Bautypisch wahrscheinlich ein Vorläufer des italienischen Grippo (dieses belegt ab dem 15. Jhdt.)

Friedrich II. von Aragonien: (* um 1272; † 25. Juni 1337) war von 1296 bis zu seinem Tod 1337 König von Sizilien.

Magister: Lehrer

mazerieren: auslaugen

Philotropus: sinngemäß: „(Überraschende) Wendungen Liebender“, gelegentlich als Eigenname

Philotropus von Melfi: (* um 1285; ab 1309 erwähnt als Studierender in der Schola Critica Alchimiae, weiterer Werdegang nach deren Auflösung im Jahre 1311 unbekannt)

Phiole: birnenförmiges Glasgefäß mit langem, engem Hals, das bereits in den Tagen der Antike in der Alchemie verwendet wurde.

Phlegma: Mangel an Erregbarkeit, unerschütterliche Ruhe

Primus Magister: Erster Lehrer

repetieren: wiederholen

Santissima Madre: spanisch für „Heilige Mutter (Gottes)“

Schola Critica Alchimiae: Schule der kritischen Alchemie

studiosus: Student

Der Fluch

Verkrampfte Augenlider heben sich, grau schimmernder Nebel wabert durch den Spalt des Deckels einer uralten Eichentruhe und nähert sich der gekrümmten Gestalt auf dem Boden.

Nicolas atmet flach während er versucht, der nebeligen Energie zu entfliehen.

Zentimeter um Zentimeter nähert sich die formlose Gefahr.

Der Alchemist kannte sie alle, die letzten Jahrhunderte hatten sie ihm ihre Schrecken in tausenden Gesichtern gezeigt.

Wieder lässt er die Lider über seine dunkelgrünen Pupillen fallen und konzentriert sich. Sein Magen krampft, droht seine ganze Kraft in einem Klumpen nach Innen zu ziehen, ihn innerlich zu erdrücken.

Winzige weiße Pünktchen in seiner Iris beginnen zu leuchten, er ergreift das Licht und zieht die aufflammende Energie in sein Hände. Die linke Faust öffnet sich und läßt den Blick durch seine plötzlich weit aufgerissenen Augen auf den kleinen Stein darin fallen.

„Gott sei Dank“ sagt Nicolas zu seiner Geliebten, „Du bist noch da. Geht es dir gut?“

Ein leises Wispern steigt aus der Goldfassung des gelben Steins hervor und die Silhouette einer Frau erscheint inmitten des Turmalins.

„Ich verlasse dich doch nicht, ganz gleich, welche Form du auch wieder annehmen magst. Hörst du? Hörst du es? Pass auf dich auf - und auf mich. Ich warte auf dich. Wir sehen uns. Bald“.

Der Glanz des Steins erlischt und die Gestalt darin löst sich auf.

Nicolas schließt die Linke wieder zur Faust und starrt von einer Hand zur anderen. Sein Körper windet sich, die Gliedmaßen möchten ihm nicht gehorchen. Sein Schädel scheint sich auszudehnen und wieder zusammenzuziehen, die Gedanken darin springen disharmonisch wie durch leeren Raum, machen es unmöglich, sie zu greifen.

„Halt“! schreit es in ihm. Hatte sein Herzblatt nicht gerade gesagt, „Pass auf“?

Seine Ohren lauschen in die Stille hinein. Da, jetzt kann er es auch hören.

Schritte, alte Eichendielen knarzen und ein leises Klopfen gegen das Holz verrät ihm, dass es sich wohl nur um eine Person handeln kann. Bei fast jeder Anderen wäre ein metallenes Scheppern durch den Raum gedrungen und der Messingring des Türklopfers mit dem Dschinngesicht hätte einen Zünder ausgelöst. Jeder, der nicht in die Magie des darin enthaltenen Dschinns eingeweiht wäre, hätte ihn benutzt und dies hätte ihn in den Abgrund gestürzt. Nicht viele Wissende klopften an Nicolas` Tür und fanden den Weg in sein Reich.

„Einen Moment“, versucht sich Nicolas an einer Antwort, „ich komme sofort“ ersticken die Worte in seiner Kehle. Wann auch immer das sein wird, denkt er und schaut auf die rechte Faust, die sich begleitet durch Krämpfe zitternd öffnet.

Es klopft ein zweites Mal, diesmal energischer. Nicolas spürt, wie einige Tropfen zäher Flüssigkeit aus seinem linken Mundwinkel hinab gleiten. Die braune Glasflasche in seiner Hand ist leer.

Wie konnte es nur geschehen, dass er den ganzen Inhalt der Flasche getrunken hatte? Ein Schluck sollte es sein, ein weiterer Versuch von Hunderten. Ein Schritt, eine Möglichkeit, den Fluch zu brechen.

Es musste der Nebel gewesen sein, der ihn eingefangen hatte, als er die Flasche ansetzte und trank.

„Ihr verdammten Biester“ formen seine Lippen. Elendige Seelensammler, die sich durch die Zeit stehlen.

Seine Gedanken formen große Blasen. Darin schwingen Gestalten. Eine hält sich mit beiden Händen den dicken Bauch und scheint sich alle Innereien nach Außen zu brüllen, während ein schallendes Gelächter durch Nicolas Schläfen sticht.

„Ihr kriegt mich nicht, noch nicht.“

Sekunden werden zur Unendlichkeit.

Es klopft ein drittes mal.

Wenn Nicolas sich jetzt nicht zur Tür schleppen kann, wird der Zauber ausgelöst und die einzige Person, die ihn jetzt noch retten kann, wird verschwinden.

„Wieviel Zeit bleibt mir noch?“ fragt er den bunten Falter, der auf einem seiner merkwürdig verformten Füße herumspringt und von einer Beule zum nächsten Fellbüschel hüpft, bis er endlich auf einer dicken, gelben Zehenkralle sitzen bleibt.

„Du solltest dich beeilen. Aber für dich würde ich noch ein paarmal mit den Flügeln schlagen und dir etwas Kraft und Zeit schenken. Aber was gibst du mir dafür? Magst du mir endlich den Schwur leisten, dass du mich mit in die Menschenwelt nimmst oder muss ich wieder 100 Jahre und unzählige Verwandlungen durchmachen? Sieh doch ein, dass du mich brauchst.“

Listig klappern die bunten Augen des Falters auf und zu, als wollten sie Nicolas hypnotisieren. „Du hast gewonnen,“ kratzt es aus einer viel zu rauen Kehle hervor. „Ich werde dich mitnehmen auf meine nächste Reise in die Menschenwelt, sollte ich dies überleben. Aber dafür wirst du mir dienen Cami, abgemacht?“

„Ja Nicolas Flemel, das verspreche ich“, ehrfürchtig breitet Cami ihre Flügel aus, lässt sie größer, kraftvoller werden und schiebt sie unter die gekrümmte Gestalt, hüllt Nicolas ein wie in einen Cocoon und haucht ihm etwas von ihrer Energie ein.

„Wie eine Umarmung,“ denkt Nicolas und spürt, wie einmal mehr Kraft in seinen Körper strömt. Einen Wimpernschlag später ist es ihm möglich, sich aus der Ummantelung zu lösen. Mit schweren dicken Füßen stapft er zur Tür, öffnet diese, schaut in das Gesicht Elisas und lässt sich von ihren Armen auffangen.

Was wäre geschehen, wenn Elisa nicht diese kleinen spitzen Elfenohren hätte, sie seinen Ruf nicht wahrgenommen hätte? Er wäre verloren gewesen.

Doch nun ist Eile geboten. Cami zupft mit zarten Beinchen an Elisas rechtem Ohr, hängt sich an den silbernen Ring darin.

Elisa öffnet die verkrampfte rechte Hand. Dünne Fäden spannen sich entlang der Finger bis hin zu ihrem zartem Handgelenk mit den zwei Querstreifen. Es wirkt wie ein Spinnennetz. Ein Karabinerhaken, an dem etwas Kantiges befestigt ist, schlingt sich um die freigeriebenen Adern aus denen langsam Blut hervor sickert. Sie lässt ihre lange Zunge über das Gewirr in ihrer Handfläche streifen, wischt Blut und Krusten auf und ein geschliffener Diamant strahlt ihr entgegen. Wie Sonnenstrahlen spiegeln sich die glatten Oberflächen des Edelsteins in ihrem Gesicht. Schnell löst sie den Karabinerhaken, befestigt Haken und Stein für ein paar Momente am Türklopfer.

Ein Klopfen im Rhythmus von Flügelschlagen, eine lautlose Frage an Golo den Dschinn.

„Ja“, schreit Dschinn Golo, „seit mehr als 1000 Jahren musste ich nicht mehr so viel arbeiten wie jetzt, seit Nicolas mein Herr Ist. Es wird Zeit Herr, dass du mir eine Pause gönnst und dich für eine Weile woanders rumtreibst“.

„Sehr gerne und danke für alles treuer Golo“ antwortet Nicolas während Tränen durch die tiefen Rillen seiner Fratze fliessen.

Ein verlegenes Räuspern später lässt der Dschinn weißes Licht erstrahlen. Vorhänge flattern im Wind, geben den Blick auf beleuchtete Stufen frei, dahinter einen Weg, der wie eine Startbahn erscheint.

So schnell sie können erklimmen Elisa, Nicolas und Cami die Stufen.

Cami breitet ihre Flügel aus, lässt sie wachsen und Nicolas und Elisa auf ihren Rücken steigen. Mit einem breitem Grinsen heftet der Dschinn das Licht an Cami’s Flügelspitzen und ihre Reise in die Menschenwelt beginnt.

Diesmal ist Nicolas nicht allein.

Eine Zeitspanne später flackert das Licht, wird schwächer und die Gefährten wissen, die Menschenwelt ist nah.

Cami’s bunte Augen klimpern aufgeregt und doch sehr achtsam. „Da ist der Spalt. Schnell Elisa lass den Stein glühen, damit wir hineinfliegen können.“ Elisa hatte ihn nicht vergessen. „Wir müssen pusten, soviel wir können.“ Die Elfe pflückt den Diamanten aus dem Ring hinter ihrem Ohr und hält ihn vor sich in die Höhe.

Gemeinsam blasen sie ihre so unterschiedlichen Gesichter auf, beginnen zu pusten, konzentrieren ihre Atemluft, sammeln sie in einer Art Ball bis ihnen selbst nichts mehr bleibt und Elisa katapultiert diesen in einer fliessenden Bewegung in den Stein. In der Menschenwelt werden sie diese Form des Atems nicht benötigen.

Augenblicklich beginnt der Stein zu glühen und öffnet das Tor in eine andere Welt. Geschickt gleitet Cami durch das Portal.

„Geschafft!“ Träge purzeln die Worte aus Nicolas’ Mund. „Hier kann sich der Zauber lösen“.

Aufgedreht und erleichtert schauen der Falter und die Elfe zu, wie sich aus dem verbogenen Oval wieder ein Kopf bildet. Aus zwei knollenförmigen Ohren formen sich feine Ohrmuscheln und aus filziger Mähne dazwischen wird gewelltes braunes Haar mit silbernen Strähnen. Das Gesicht, welches zur Fratze verunstaltet war, glättet sich und hinterlässt nur winzige Sorgenfalten, wie hauchzarte Umrisse einer Landkarte der letzten 200 Jahre. Der Körper windet und streckt sich, formt muskulöse Arme, Beine, Oberkörper und auch Füße auf denen Nicolas wieder lautlos durch Zeiten und Welten reisen kann. Auch in eine Welt in der der Fluch seiner Geliebten aufgehoben wird, da ist er ganz sicher.

„Wir sehen uns bald, geliebte Anna, bis dahin passe ich auf dich auf.“ Seine Faust öffnet sich und durch das gelbe Licht des Turmalins wird die Silhouette der schönsten Frau aller Welten erkennbar.

„Bis gleich“, flüstert Anna, „Bis gleich…

Ambago

»Ambago!« Cupitus klopfte zum wiederholten Mal an die Tür. »Ambago mach auf! Ich weiß, dass du zuhause bist!«
Es war schon der fünfte Tag in Folge, an dem er seinen Freund besuchen wollte. Ambago schien wie vom Erdboden verschluckt. Und doch musste er in seinem Alchemistenlabor sein. Er forschte wie versessen nach allem und nichts seit sein Vater ihm die Räumlichkeiten vor wenigen Jahren vererbt hatte.
»Ambago! Es reicht! Wenn du jetzt nicht aufmachst, dann rufe ich die Wachen, damit sie die Tür einschlagen!« Cupitus zitterte. So weit pflegte er nicht zu gehen. Aber die Sorgen um seinen Freund brachten ihn zum Äußersten.
Gerade wollte er seine Faust erneut auf das Holz schmettern, als das Schloss leise klickte und die Tür sich einen Spalt weit öffnete. »Seid nicht so laut, werter Herr«, hörte er eine helle Stimme. »Ambago fühlt sich schon seit Tagen nicht wohl und lässt sich entschuldigen.«
Eine Frau? In den Räumen des ewigen Junggesellen? Cupitus runzelte die Stirn. »Wer seid ihr?«
»Ich …« Die Stimme zögerte. »Ich bin … bin Vera. Ambagos Nichte.« Cupitus hörte ein Aufseufzen. »Mein Onkel rief mich, um ihn zu versorgen, bis es ihm wieder besser geht.«
»Ich wusste gar nicht, dass er Geschwister hat.«
»Ein entfernter Halbbruder. Kein Mensch, über den man stolz sein kann. Ich bin froh, nun hier zu sein. Im Gegensatz zu meinem Vater ist mein Onkel ein warmherziger Gastgeber.«
»Ah, verstehe. Ist es möglich, Ambago einen kurzen Besuch abzustatten?«
»Nein, leider nicht. Er schläft schon seit Tagen, wacht nur gelegentlich auf, um seine Bedürfnisse zu stillen. Ihr wisst schon …«
»Jaja, nun gut. Habt Dank und richtet ihm Grüße aus.« Cupitus wollte sich schon abwenden, da fiel ihm noch etwas ein. Energisch hielt er Vera davon ab, die Tür vollständig zu schließen. »Moment, junge Dame! Woher weiß ich, dass es stimmt, was ihr sagt? Ihr könntet ihn ebenso gemeuchelt haben. Warum öffnet ihr die Tür wie ein Dieb, der sich verstecken will?«
»Ihr müsst mir glauben!« Die Stimme bekam einen verzweifelten Tonfall. »Bitte, hoher Herr! Kommt in ein paar Tagen wieder! Dann wird es Ambago bestimmt schon besser gehen.«
»Als Freund möchte ich in seinem Haus nach dem Rechten sehen. Und kein Weib wird mich daran hindern können!« Damit rammte Cupitus seine Schulter an die Tür, sodass diese mit einem Schreckensquietschen den Weg in das Labor freigab. Vera sprang einige Schritte zurück, gab zu seiner Verwunderung aber keinen Laut von sich.
Endlich im Inneren schaute sich Cupitus um. Alles erschien ihm wie immer: Der Ingredienzienschrank war ordentlich bestückt, seine Schubladen und Türen akribisch mit Beschriftungen versehen. Selbst am Kamin loderte ein munteres Feuer. Daneben – auf einem kleinen Tischchen – warteten die Teekanne und eine Tasse auf ihren Einsatz. Cupitus’ Blick fiel auf Vera, die abwartend und mit ängstlichen Augen neben einem alchemistischen Kolben stand. Er schluckte. Sie war etwa in Ambagos Alter, noch nicht alt, aber auch nicht mehr allzu jung. Und wäre die Sorge um den Freund nicht so groß gewesen, hätte Veras Anmut und Schönheit ihn bezaubern können. Stattdessen versuchte er, sein inneres Gleichgewicht wiederzuerlangen. »Wo … wo schläft er?«
»In der Schlafstube. Aber sie ist abgeschlossen. Er möchte keinen Besuch.«
Ihr scheuer Blick entkräftete seinen Verdacht nur wenig. »Ihr schließt von außen zu?«
»Nein, das tut er selbst.«
Cupitus ging zur Stubentür und öffnete sie ohne Hindernis. Fragend sah er Vera an, bevor er sich dem Stubeninneren widmete. »Das Bett ist leer«, stellte er nach einem kurzen Blick mit Bitterkeit fest.
»Ihr müsst genauer hinsehen! Ambago ist ganz klein geworden.«
Nicht ohne Argwohn wagte sich der Freund weiter in die Schlafstube. Vera folgte ihm, gab ihm einen Schubs und verschloss hinter sich die Stubentür. Schon wollte Cupitus schreiend an das Holz poltern, da merkte er, dass Vera mit ihm im Zimmer stand. Sie legte den Finger an ihre Lippen. »Bitte schrei nicht! Ich will nicht, dass es jemand erfährt. Das Labor ist zu unsicher! Du musst mir helfen!«
»Was? Wo ist Ambago?«
»Hier!«, flüsterte Vera. »Er steht direkt vor dir.«
»Das ist ein schlechter Scherz!« Cupitus lachte böse auf. »Hab ich mir doch gedacht, dass du ihn auf dem Gewissen hast! Mörderin! Raus mit der Sprache! Was hast du mit ihm gemacht?«
»Cupitus! Ich bin es!« Vera klammerte sich an seinen Arm, schien den Tränen nahe. »Ich bin Ambago! Schau mir in die Augen! Siehst du es nicht? Bitte! Schau mich genau an!«
Der Freund zögerte, fühlte ihre haltsuchenden Hände auf der Haut seines Unterarms, was sein Herz berührte. »Komm ans Licht, Vera!« Behutsam nahm er sie an den Schultern und zog sie zu dem kleinen Fenster, das ein wenig Licht vom Hinterhof spendete.
In ihren Augen spiegelte sich große Angst. Die Iriden hatten tatsächlich die gleiche Färbung wie in Ambagos Augen. Die Form der Wimpern, der Brauen … Cupitus schluckte. Sie waren schmaler als die Züge von seinem Freund. Und doch war eine gewisse Ähnlichkeit, wenn nicht Gleichheit …
Unwillkürlich begann er zu zittern. »Welches Elixier habe ich von dir erbeten, als mich der Büttel bat, seine Tochter sicher nach Godenheim zu geleiten?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern.
»Oh, ja!« Veras Mund verzog sich zu einem lüsternen Grinsen. »Das ist eine gute Idee, mich das zu fragen! Und ich weiß es noch, als wäre es gestern gewesen. Du hast von mir einen Trank erbeten, der es deinen Augen ermöglicht, durch Kleidungsstoff hindurchzusehen. Ich meine, mich auch zu erinnern, dass du damit eine Menge Spaß hattest. Nicht wahr, mein lieber Freund?«
»Unglaublich!« Zu mehr Worten war Cupitus nicht fähig. Er setzte sich aufs Bett, atmete tief durch. »Unglaublich! Ambago, was hast du getan?«
Vera zuckte mit den Schultern und warf die Arme nach oben. »Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat!« Sie begann im Kreis vor dem Bett herumzulaufen. »Ich dachte, ich probiere mich mal an etwas noch nie Dagewesenem. ›Warum sich nicht mal als Frau fühlen?‹, dachte ich. Ich mixte Geranie mit Mönchspfeffer, schnitt einem jungen Mädchen auf dem Markt unbemerkt eine Locke ab … Und so probierte ich das ein oder andere Elixier aus. Manchmal hätte ich mich in jeden Ritter verlieben können, ohne äußere Anzeichen einer Weiblichkeit an mir zu entdecken, manchmal wusste ich nicht mehr, wer oder was ich war und manchmal fühlte ich einfach gar nichts. Es war zum Verzweifeln! Dabei wollte ich so gerne wissen, wie Frauen sich fühlen. Vor einer Woche hatte ich die Schnauze voll und mischte alle Elixiere zusammen, die ich bis dahin erstellt hatte. Alles! Ein ganzer halber Liter war das!« Vera setzte sich neben Cupitus. »Ich habe alles getrunken. In einem Zug. Bis zum letzten Tropfen.«
Er legte den Arm um sie. »Und dann? Was ist dann passiert?«
Sie sah ihn an. »Schmerzen! Entsetzliche Schmerzen! Ich stürzte in meine Schlafstube, um ins Kopfkissen zu schreien. Meine Barthaare fielen mir aus. Mein ganzer Körper brannte wie Feuer! Wie lange ich dort lag? Ein Tag? Zwei Tage? Ich weiß es nicht. Irgendwann übermannte mich die Ohnmacht.«
»Oh, wie entsetzlich! Ambago! Warum hast du mich nicht um Hilfe gerufen?«
»Ich konnte nicht! Mein Körper war entstellt, mitten in einer Art Metamorphose, die ich nicht aufzuhalten vermochte. Eines Tages wachte ich auf. Schmerzfrei. Verändert. Und ich fühlte mich … fühlte mich …«
»Was war geschehen, Ambago? Wie hast du dich gefühlt?«
Sie sah ihn an und lächelte. »Ich fühlte mich vollkommen. So vollkommen wie in meinem ganzen Leben nicht.« Vera griff sich an ihre Brüste und knetete sie liebevoll. »Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so wunderbar anfühlen. Sie sind nicht nur weich und kuschelig, mein lieber Freund. Sie sind auch für das Weib ein reiner Lustgewinn, wenn man sie berührt.«
Cupitus schluckte. »Das kommt jetzt ein wenig unerwartet, mein lieber … äh, meine … meine liebe Vera.« Er versuchte, nicht auf die lockere Schleife an ihrer Bluse zu schauen.
»Dann machte ich eine andere, allerdings weniger erfreuliche Erfahrung.« Sie biss sich in einer lasziven Art auf die Lippen, die Cupitus beinahe um den Verstand brachte. »Ich stellte mich nackt vor den Spiegel und war erst einmal entsetzt.«
»Warum?«
»Er war weg! Einfach weg! Verstehst du?« Vera zeigte auf ihren Schoß. »Des Mannes liebstes Spielzeug! Einfach verschwunden!«
»Oh, du Armer!«
»Nein, nein! Beruhige dich! Der Schreck ereilte mich nur im ersten Moment. Denn dann begann ich, meinen neuen Körper zu untersuchen.« Vera fasste sich zwischen die Beine. »Und du glaubst nicht, welch wunderbare Spielwiese das weibliche Geschlecht verbirgt!«
Cupitus sprang auf. Er keuchte. Nun war er derjenige, der im Kreis vor dem Bett herumlief. »Ambago, hör auf! Das … ist … recht …« Er seufzte inbrünstig. »… interessant, was du da erfahren hast. Was meinst du? Wann wird der Zauber wieder beendet sein?«
Vera sah ihn entgeistert an. »Das alles wieder zurück? Oh nein, nicht mit mir! Ich fühle mich so wohl, so glücklich. Und ich glaube auch nicht, dass sich mein Körper wieder zurückverwandeln wird. Es war eine brachiale Transformation! Ich glaube, ich habe ein Metamorphosenelixier gefunden. Schade nur, dass ich es komplett ausgetrunken habe. Ich kann dir gar nichts davon anbieten.«
»Ich will es auch nicht haben!«
»Oh, das ist schön!« Vera stand auf und legte die Arme um Cupitus’ Hals. »Denn ich finde dich äußerst attraktiv. Hättest du nicht Lust, mit mir noch weitere Untersuchungen durchzuführen?«

Jahrestag
Schon nach dem dritten Klopfen öffnete der Alchimist die Tür.
Ein kleines Mäuschen huschte an ihm vorbei.
„Meine Liebste! Endlich bist du hier.“
Er bückte sich, nahm die kleine Maus vorsichtig hoch und trug sie zu dem großen hölzernen Tisch, der in der Mitte des Raumes stand.
„Ich hole dir schnell dein Elixier, meins habe ich schon getrunken. Danach können wir essen.“
Das Mäuschen beobachtete ihn genau. Er sah noch genau so jung aus, wie vor zwanzig Jahren. Auf den Tag genau zwanzig Jahre! Keinen Tag älter ist er geworden. Er schien ein wenig unsicher zu gehen. Er füllte den Fingerhut, der ihr als Trinkgefäß diente, zur Hälfte mit der für sie bemessenen Dosis. Verschloss alle Phiolen sorgfältig und brachte den Fingerhut, leicht wankend zu ihr.
„Du machst seit damals keinen Fehler mehr“, sagte sie.
„Nein, ich verzeihe mir das bis heute nicht. Ich wollte doch nur, dass du mich liebst“, seine Worte wurden leicht undeutlich.
„Dein angeblicher Liebestrank hat mich in eine Maus verwandelt. Seit zwanzig Jahren muss ich jetzt jeden Morgen das Jugendelixier gemeinsam mit dir einnehmen, damit du genügend Zeit für die Erforschung eines Gegenmittels hast, das ich dann jeden Abend trinken muss.“
Sie sah ihn eindringlich an. Er war blass, Schweißperlen standen auf seiner Stirn.
„Und so manche Nacht war ich durch deine Tränke dem Tod näher, als dem Leben“, fuhr sie fort.
Er wollte etwas erwidern, aber seine Zunge versagte ihren Dienst.
„Oh, mach dir keine Sorgen. Du wirst nicht lange leiden. Ich habe den ganzen Schierling, den ich über Jahre gesammelt habe heute Morgen in den Trank gegeben. Ab jetzt darf ich altern, ab jetzt bin ich frei.“

Steuererklärung

„Schmeckt ein wenig nach Hustensaft“, sagt sich der Alchemist und stellt den Becher zurück auf den Tisch. Dann wischt er sich über den grauen Bart, ob sich dort nicht ein Tropfen verfangen hat.
Er hat gerade seine neueste Kreation gekostet, sein Werk nach einem langen Arbeitstag. Wenn er Erfolg hat, dann wird sie der beste Feind seiner Rückenschmerzen werden, die ihn seit Wochen plagen.
Sein Blick wandert hinüber zur Treppe, die er nur mit leeren Händen bewältigen kann, denn für jede noch so kleine Last zahlt er einen hohen Preis.
Sollte er dem Elixier mehr Minze beigeben?
Am besten ausprobieren! Glucksend schwappt eine weitere Lage seines Mittels in den Becher. Er sollte es nicht übertreiben, denn eine Zutat ist beileibe reichlich in dem Trank enthalten: Alkohol. Das muss sein, denn oft genug entfalten seine Produkte keine heilsame Wirkung beim Kunden. Sind jedoch wenigstens ein paar Prozente dabei, dann spürt der Patient zumindest eine Veränderung – und sei es nur das beglückende Gefühl, leicht erheitert zu sein. Oft genug kaufen sie dem Alchemisten allein daher schon etwas ab.
Angenehm rinnt die dickflüssige Mischung seine Kehle hinab. Stimmt, eine Prise getrocknete Minze kann nicht schaden. Er wird sie in die Flasche streuen und diese danach gut schütteln, sofern das sein Rücken zulässt. Dann ist die Hustensaft-Anmutung weg.
„Mist!“, flucht er, als er bemerkt, dass er nicht genug von der Beigabe hier in seinem Labor hat, das hinter einem Vorhang gleich neben der guten Stube liegt.
Wieder wandert sein Blick die Treppe hinauf. Eine Etage höher lauert Nachschub. Oh, und die Frau hat sich gewünscht, dass er den alten Korb nach oben bringt, weil sie noch schlechter beisammen ist als er.

„Es muss sein!“, gibt er sich selber einen Befehl. Behutsam setzt er einen Fuß auf die erste Stufe. Das geht meistens noch gut. So auch heute. Ab der fünften bemerkt er dann spätestens, wie ihn die Schmerzen mit ihren Reißzähnen packen. Schließlich schleppt er einen Korb.
Doch der liegt heute ungewöhnlich leicht in seiner Hand. Und die Wirbelsäule hat sich auch noch nicht gemeldet. Komisch.
Er hält inne und zählt die zurückgelegten Stufen. Zehn! Die erste Hälfte ist geschafft. Bald darauf steht er oben und ist entzückt. Keine Beschwerden!
Mit der freien Hand fühlt er über den Rücken. Ja, der ist tatsächlich noch da.
Im Überschwang pfeffert er den Korb in die Ecke.

In der Geräuschkulisse des polternden Flechtwerks überhört er das Klopfen an der Tür.
Schnell ist Minze gefunden.
Klopft da jemand?
Er lauscht.
Es klopft abermals, diesmal lauter.
„Ich komm ja schon!“, schreit er nach unten, was seine altgediente Stimme hergibt. Sie hat unter all den verkosteten Tränken seiner Alchemistenkarriere gelitten.
Liegt es an der Eile oder der Ablenkung? Er gleitet wie auf Schwingen die Treppe hinab. Zum ersten Mal seit langem muss er nicht bei jeder Bewegung an seinen Rücken denken.
Draußen räuspert sich jemand. Ungeduld spricht aus dieser Geste.
„Ein alter Mann ist keine Expresskutsche!“, ruft der Alchemist, dann öffnet er die schwere Tür.
Vor ihm steht ein Herr in offizieller Kleidung. Das muss ein Bediensteter sein. Oh, ist das vielleicht sogar ein …
„Ich komme vom Amt für Steuern“, schafft der Fremde schnell grausame Gewissheit.
Heute ist also der Tag. Der Alchemist hat das schon lange befürchtet, dass er Besuch bekommt. Er ist mit seinen Abgaben im Verzug – und das nicht nur einmalig und knapp, sondern beträchtlich!

Es läuft immer nach dem gleichen Schema ab: Erst schicken sie einen einzelnen Beamten, um die Steuern einzutreiben. Wenn das nicht klappt, dann kommt der Bedienstete zurück, diesmal allerdings mit Soldaten in Rüstung und mit Hellebarde. Die mittelalterlichen Werkzeuge der Überzeugung sind grob, aber effektiv. Da drüben im Balken kündet noch eine Kerbe von so einem Besuch. In der dritten und letzten Eskalationsstufe landet man im Verlies – kein guter Platz für ältere Leute mit einem schlechten Rücken.
Der Alchemist deutet eine Verbeugung an und bittet den Gast herein hin zu seinem Tisch und dem bequemsten seiner Stühle, denn Freundlichkeit kann deeskalierend wirken. Unter der Wirkung des Mittels bekommt er diese Bewegung hin und friert nicht wie sonst bei dieser Gelegenheit in einer Art Froststarre und unter Wehklagen ein. Sein Rückgrat fühlt sich heute wie eine biegsame Gerte an. Er muss unbedingt diesen Trank verkaufen, der offensichtlich etwas taugt, sofern er diesen Termin hier überlebt!
Der Besucher schreitet langsam durch die Stube. „Der Rücken“, ächzt er.
„Dagegen habe ich was!“, macht der Giftmischer, denn so wird er in der Stadt genannt, ein Angebot, während der Amtsschimmel sich auf die Sitzgelegenheit fallenlässt und eine Schriftrolle auf den Tisch klatscht. Er antwortet nicht auf die Frage, sondern setzt eine ernste Miene auf.
Sicher üben die das: den dunklen Blick, der zur Steuerbegleichung animiert. Aber er widerspricht auch nicht. „Hat das Nebenwirkungen?“, fragt er lediglich.
Nebenwirkungen? Nicht, dass der Alchemist wüsste. Oder doch? Warum steht er gerade hier und hat einen Becher in der Hand? Geschwind setzt er das Behältnis ab, greift sich sein eigenes Trinkgefäß und gießt sich dort schnell ein bewährtes Elixier gegen das Vergessen ein. Sicher ist sicher. Und Nebenwirkungen sind schlecht für das Geschäft!
Gut, die Erinnerung kehrt zurück. Der Alchemist stellt einen vollen Becher des brandneuen Mittels im Kampf gegen den schmerzenden Rücken auf den Tisch.
Der Beamte trinkt. „Ist da …“
„… nur Gutes drin!“, vollendet der Wirt den Satz. Klar, der Alkohol bedeutet eine Gratwanderung. Allein schon wegen des Versuchs, Bedienstete der Stadt zu beschwipsen, ist mancher arme Sünder im Verlies gelandet. Dieser Kelch geht heute an ihm vorbei.

Es folgt eine längliche Unterhaltung: über die Zahlen und noch mehr Zahlen. Bis auf Heller und Pfennig rechnet der Amtsschimmel dem Alchemisten vor, was der dem Stadtsäckel schuldet. „Und Sie wollen doch nicht jenseits unserer sicheren Mauern im Dreck des Waldes draußen praktizieren, oder?“
Nein, das möchte der Steuersünder nicht und so erzählt er davon, dass sein Famulus für die Abgabenberechnung zuständig ist. Der Junge sei dauernd krank und überhaupt ist es schwer, gutes Personal zu bekommen und die Jugend von heute hat sowieso nur Flausen im Kopf und das alles hat es früher nicht gegeben. Wenn sein Gegenüber wüsste, dass er gar keinen Famulus halten kann, weil ihm hinten und vorne das Geld fehlt?

Der Blick des Beamten driftet zusehends ins Leere. Er wühlt in seinen Taschen nach einer Schreibfeder und findet sie einige Versuche später.
Beflissen stellt ihm der Alchemist ein Fass Tinte hin.
Jetzt ist er da, der entscheidende Moment. Gebannt ruht der Blick des Delinquenten auf dem Papier, das immer noch den Tisch ziert. An dessen Ende stehen drei Sätze, die alle möglichen Ausgänge eines solchen Säumigen-Gesprächs beschreiben:
„Steuern wurden entrichtet“, lautet der erste. „Mit Soldaten zurückkehren“ der zweite. „Bürger ist fortan nicht steuerpflichtig“ der dritte.
Der Beamte schaut abwechselnd auf das Papier und auf den Angeklagten. Dann steht er auf.
Warum sagt er nichts? Größer als die Qualen des Verlieses ist nur die Pein der Ungewissheit!
Der Steuer-Häscher dreht in Ruhe eine ganze Runde um den Tisch.
Dann setzt er sich wieder. „Mein Rücken“, haucht er.
Der Alchemist blickt an ihm herab. „Ja was? Der ist noch da, soweit ich sehen kann.“
„Er tut nicht mehr weh“, spricht der Dienstmann. Ein unscheinbares Lächeln zeichnet sich auf seinen Lippen ab. Mit einem Ruck tunkt er die Feder in das Fass und macht einen dicken Haken unter Nummer 3 der möglichen Ausgänge auf dem Papier.

Der Alchemist unterdrückt einen Freudenschrei. Eifrig dienernd begleitet er den Gast zur Tür. Schwer fällt sie anschließend ins Schloss. Erleichtert lehnt sich der Alte dagegen, atmet in glücklicher Erschöpfung.
Jenseits der Pforte steht ein genauso froher Beamter in der Gasse, denn er ist frei von Schmerzen. Morgen wird er zurückkehren und sich eine Flasche von dem Trank kaufen. Von Nebenwirkungen war ja keine Rede.
Komisch nur, dass ihm ums Verrecken nicht einfällt, ob er sich nach rechts oder nach links wenden muss, um nach Hause zu kommen.

Ein Auftrag mit Folgen

„Jaaa doch, ich komme!“. Stirnrunzelnd stellte der Alchemist die Phiole auf den Holztisch. Irritiert darüber, dass die Wirkung des Elixiers ausblieb.
Mit einem Knarzen öffnete er die alte Holztür und sah … niemanden. „Seltsam“, murmelte er. Gerade, als er die Tür wieder schließen wollte, vernahm er eine Stimme.
„Meister Hubulus?“
Verwundert blickte sich der Alchemist um. „Wenn das ein Scherz sein soll…“, begann er, wurde aber von einem zarten Fauchen unterbrochen.
„Hier unten.“
Als der Alchemist dieser Aufforderung nachkam, blickte er in die wachsamen grünen Augen einer schwarzen Katze. Ein paar Sekunden lang herrschte Schweigen.
„Ähm“, begann der Alchemist, „ich bin ein wenig irritiert.“ Wirkte das Elixier doch?
„Davon war auszugehen. Aber, dürfte ich eintreten, Meister Hubulus?“
„Äh, sicher“, antwortete der Alchemist, trat einen Schritt zur Seite und ließ die Katze an ihm vorbeilaufen.
Die Katze betrat den Raum und steuerte direkt auf einen der Arbeitstische zu, sprang elegant hinauf, setzte sich hin und wartete. Sobald der Alchemist die Tür hinter sich geschlossen hatte, folgte er der Katze.
„Nun, was kann ich für Euch tun…“, begann der Alchemist und ließ ungewollt, aber hörbar eine Pause folgen, aus der die Unsicherheit darüber sprach, wie er sein Gegenüber ansprechen sollte.
„Bandia. Anführerin des Katzenvolkes, Nachtschatten, Allessehende, Rattenjägerin, Mäusefängerin“, stellte sich die Katze vor und blickte dem Alchemisten selbstsicher in die Augen.
„Nun, was kann ich für Euch tun, Bandia, Anführ…“, begann der Alchemist, wurde aber von Bandia unterbrochen, die ihre Pfote hob.
„Bandia ist ausreichend, Meister Hubulus, sonst sitze ich noch morgen hier.“
Der Alchemist nickte und fragte noch einmal: „Was ist Euer Anliegen, Bandia?“.
Bandia blickte ihn wachsam an, dann sprach sie: „Nun. Es ist so. Seit Ihr in der Stadt seid – und nehmt es mir nicht übel, Ihr seid sicher eine Bereicherung für das Menschenvolk - nun aber seitdem geht der Ratten- und Mäusebestand zurück. Und ich weiß aus vertraulichen Quellen, dass das etwas mit Eurer Zauberei hier zu tun hat.“ Bandia sah den Alchemisten erwartungsvoll an.
„Nun zuerst einmal betreibe ich hier keine Zauberei“, begann der Alchemist, „sondern Alchemie. Es ist aber richtig, dass ich den Auftrag erhalten habe, ein wirksames Gift gegen diese Nagetiere herzustellen, um dem wachsenden Befall in der Stadt entgegenzuwirken.“
„Das Problem ist, dass Ihre Alchemie dazu führt, dass mein Volk dadurch weniger Nahrung findet, weniger wichtig wird für die Nagetierbekämpfung und, und das setzt viele meines Volkes unter Druck, sich weniger Geschenke für Menschenfreunde finden lassen“, erklärte Bandia.
„Ah“, war das Erste, das dem Alchemisten herausrutschte und er musste tief atmen, damit er der Katze nicht die Illusion nahm, dass Menschen für tote Nagetiere vor ihrer Tür oder in ihrer Bleibe nicht unbedingt dankbar waren. Bandia schaute den Alchemisten weiterhin aufmerksam an und wartete auf eine Antwort.

„Nun, ich denke wir könnten einen Kompromiss finden“, setzte der Alchemist nach kurzem Nachdenken an, „Ich stelle weiterhin ein Gift her, das den Anschein erweckt, die Nagetiere zu töten. Damit ich meinen Auftrag behalte. Das Gift wird die Nagetiere aber nur erstarren lassen, sodass ihr sie immer noch lebendig fangen könnt.“ Abwartend blickte nun der Alchemist in die grünen Augen von Bandia. Bandia entfuhr ein leises Fauchen, danach war es ein paar Minuten still.

„Gut. Ich hatte auch nicht erwartet, dass Ihr auf diese Goldstücke verzichten würdet, die Ihr für Euren Auftrag erhaltet“, unterbrach Bandia das Schweigen, „Ich nehme das Angebot an.“ Der Alchemist nickte. „Gut.“
Bandia erhob sich, sprang vom Tisch, streifte dabei rein zufällig mit ihrem Schwanz eine Reihe von Phiolen. Die Phiolen fielen klirrend auf den Boden, zerbarsten und verloren ihren Inhalt an den Holzfußboden. Dem Alchemisten entfuhrt ein bedauernder Schrei mit den Worten: „Das waren die bestellten Phiolen für den Auftrag…“. Von Bandia kam nur ein: „Ich weiß“. Dann strich sie schnurrend an den Beinen des Alchemisten entlang, sprang an der Tür hoch, hing sich an die Klinke und verschwand leise wie ein Schatten durch den geöffneten Türspalt. Dabei rief sie, immer noch schnurrend, ein paar Worte zum Abschied: „Kontrolliert beim nächstem Mal, ob alle Zutaten in den Phiolen von Euch sind. Und nehmt vielleicht nur einen kleinen Schluck.“ Dann war sie fort.
Sprachlos stand der Alchemist zwischen den zerbrochenen Phiolen und der offenen Tür und blickte dabei auf die leere Phiole, aus der er vorhin getrunken hatte.

Ein paar Tage später klopfte es dreimal an der Tür. Der Alchemist, immer noch beschäftigt mit den jüngsten Ereignissen, öffnete vorsichtig die Tür. Da war niemand. Aus einem Impuls heraus blickte er nach unten. Dort lagen eine Phiole und eine tote Ratte. Der Alchemist nahm die Geschenke mit hinein, auch die Ratte. Dann setzte er die Experimente an seinem neuen Elixier fort. Sein Katzenschwanz zuckte dabei hin und her. Bandia beobachtete ihn amüsiert.

Alles in bester Ordnung

„Tock, tock, tock“
„Ohjeh, auch das noch. Wieso klopft es denn so früh schon an meiner Tür? Das kann nur die verrückte Onora sein“ flucht Uvys völlig nervös vor sich hin. „Wieso ausgerechnet jetzt? Herrjemineh, herrjeh, doch nicht jetzt.“

„Tock, tock, tock“

„Onora, ich weiß, dass du das bist. Jetzt spiel nicht verrückt! Was machst du für einen Lärm?!
Ohjehmineh, wo ist sie nur? Gerade war sie doch noch da? Ich kann nicht denken wenn dieses Weib so laut klopft.“
„TOCK! TOCK! TOCK! „ ertönte es nun ganz energisch.
„Onora. Hör auf, immer zu sagen was du tust! Ich höre doch, dass Du klopfst. Es dröhnt in meinen empfindlichen Ohren! Ich höre auch dass du mit den Fäusten hämmerst. Du musst es nicht immer extra noch tock tock tock dazusagen!
Ich habe gesagt ich komme, also komme ich auch. Dränge mich also nicht!“

„Oh weh, oh weh, oh weh. Keine Tür. Wo kann sie nur sein? Warum muss mir das immer passieren? Keine Tür. Kein Fenster. Wo ist nur alles hin?“ Orientierungslos irrte Uvys durch sein Haus.

„Ach Uvys, findest du die Tür wieder nicht? Du wirst ja immer merkwürdiger du verrückter Vogel“ rief Onora erzürnt.

Krawumm, mit lautem Getöse kam der zerstreute Uvys kopfüber direkt vor Onoras Füße gefallen. Wie aus dem Nichts. Sein silbergraues Haar stand in alle Himmelsrichtungen als hätte er einen Stromschlag bekommen. Klein und schmächtig, mit buschigen Augenbrauen und im smaragdgrünen Morgenmantel…so lag er Onora zu Füßen.
Unter allen Alchimisten des Landes gilt Uvys als der experimentierfreudigste. Nicht selten geht aber auch mal das ein oder andere Experiment schief.

Gequält rappelt er sich auf und steht nun auf seinen wackligen dünnen Beinchen. Autsch, mein Po. Autsch. Nur wegen dir du verrückte Hexe. Was willst du zu so früher Stunde von mir, lästiges Weibsbild?“

„Da springt doch der Hahn gleich wieder aus der Pfanne! Du nennst mich verrückt und kommst selbst gerade wieder aus deinem Notausgang weil du deine Tür nicht mehr findest?
Hier von außen ist sie doch gut zu sehen. Tür und Fenster, alles da. Hast du keine Augen im Kopf? „
Erst jetzt stellte sie fest, dass mit Uvys etwas ganz und gar nicht stimmte.

„Das ich nicht lache. Was hast du denn diesmal wieder zusammengepanscht?“
Wie siehst du überhaupt aus? Was ist mit deinen Augen passiert?“

„Das geht dich gar nix an. Was willst du von mir?“ Uvys fuchtelte wild mit den Händen um sich als müsste er lästige Insekten verjagen. Er schien ein wenig orientierungslos. Kein Wunder. Seine buschigen Augenbrauen wuchsen wie Büsche vor seinen ohnehin schon kleinen Augen. Sie schienen immer dichter zu werden, bald würde sein ganzes Gesicht darin verschwinden.

Natürlich hatte Onora recht.
Er hat wohl etwas übertrieben mit der Verkostung seines neuesten Reinigungselixiers.

Dabei wollte er doch nur sein Häuschen ein wenig auffrischen. Und weil es diesmal auch geschmacklich vorzüglich gelungen ist, gönnte er sich selbst auch gleich eine innere Reinigung. Fleißig versprühte er sein Gebräu im Haus und trank gleichzeitig großzügig davon.

„Hmm, irgendwie schien wohl was mit der Dosierung schief gelaufen zu sein.“ murmelte er vor sich hin.

„ Uvys, Schluss jetzt mit dem Firlefanz!“
Mit ihrer schrillen Stimme riss Onara den völlig verwirrten Uvys aus seinen Gedanken.

„Irgendwas hast du doch angestellt. Ich bin hier weil im Dorf alles verqueert ist.
Alle Straßen und Häuser sind durcheinander. Wie durch Geisterhand plötzlich woanders hingeschoben.
Selbst in der Tierwelt herrscht ein einziges Chaos. Katzen legen plötzlich Eier und die Fische sitzen auf den Bäumen.
Ich kann mein eigenes Haus nicht mehr finden weil unser Dorf jetzt völlig anders aussieht. Mein Haus ist weg!
Was hast du dir dabei nur gedacht?“
Ihr Kopf lief hochrot an, so sehr regte sie sich auf.
„Nur dein Haus scheint das einzige zu sein, was immer noch hier steht. Bring das gefälligst wieder in Ordnung sonst gibt es ein riesiges Tohuwabohu. Hast du gehört?“
Onora war außer sich vor Wut.

Während sie ohne Unterlass vor sich hin wetterte, schlich sich Uvys davon.

Kurze Zeit später brach ein Gewitter ein wie es selbst Onora vorher noch nie erlebt hatte. Unzählige Blitze zuckten gleichzeitig senkrecht vom Himmel, begleitet von Ohren betäubendem Donner. Sturm fegte durch die Straßen. Onora klammerte sich am Laternenmast fest und schloss ganz fest die Augen. Bei jedem Donnerschlag zuckte sie zusammen.
„Was hat er nun wieder angestellt?“ jammerte sie.
Als der Spuk zu Ende war öffnete sie zaghaft ihre Augen.
Blitzblank und ordentlich zeigte sich das Dorf von seiner besten Seite. Fast so, als hätte hier jemand Frühjahrsputz gemacht. Die Leute gingen ihren gewohnten Tätigkeiten nach als wäre nichts gewesen. Nachbars Katze lag gemütlich in der Sonne und in den Bäumen zwitscherten die Vögel.
„Na also. Warum nicht gleich so“ murmelte Onora vor sich hin als sie ganz selbstverständlich in ihrem Haus verschwand.

Kreascribum

Der Raum war eine Mischung aus Küche und Labor. Kochplatten, Mixer, Reagenzgläser, diverse Präzisionswaagen, Behältnisse mit Kräutern, diverse Früchte und Gemüse lagen herum.
Ein Mann im weißen Laborkittel, groß gewachsen, seit Tagen unrasiert, hantierte mit den Gerätschaften.

„Erst das Wasser, dann die Säure, sonst geschieht das Ungeheure!“, murmelte der selbsternannte Alchemist, während er den Inhalt diverser Reagenzgläser in einen der Mixer schüttete.

Hieronymus Buchfink unterbrach seine Tätigkeit, um sich einen Smoothie zu bereiten. Er hatte die ganze Nacht durchgearbeitet. Das Kräuterlein, das nur in den Anden wuchs, war schwer zu bekommen, die letzte Lieferung hatte sich um Wochen verspätet.
Dabei ist es ein unverzichtbarer Bestandteil seines Verkaufsschlagers, auf das einige seiner Kunden sehnsüchtig, ja verzweifelt warteten.
Sein wichtigster Abnehmer war der Anbieter eines Fernlehrganges: „Kreatives Schreiben“, der eine hohe Potenzierung seines Elixiers, er nannte es „Kreascribum levis“, mit den monatlichen Lehrbriefen versandte.
Viel spannender waren bekannte Autoren mit Schreibblockade, denen ihr Verlag im Nacken saß. Hier lag die Herausforderung in der richtigen Dosierung: Präzisionsarbeit!

Mit großen, gierigen Schlucken trank Hieronymus das Glas leer, in das er seinen Smoothie aus dem Mixgefäß gegossen hatte.

„Ah, das tut gut!“

Er setzte sich für einen Moment auf einen Stuhl, stützte die Ellenbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht mit den Händen. Er war sooo müde.

Als er aufwachte, stand er wie in Trance auf und setzte sich an seinen Computer. Er hatte das unaufschiebbare Bedürfnis zu schreiben. Er schrieb und schrieb, die Finger flogen nur so über die Tasten. Über Stunden hinweg ging das so.

Es klopfte an der Tür. Hieronymus nahm es kaum wahr. Er ignorierte das Geräusch in seinem Hinterkopf.
Es klopfte wieder und wieder, immer lauter, bis es nicht mehr zu ignorieren war. Schlafwandlerisch ging er zur Türe und öffnete sie.

„Herr Buchfink, ich bin Carlo Gebert, der Verleger. Mein Starautor hat eine Schreibblockade …“

Aber der Angesprochene schenkte ihm keine Beachtung. Sofort setzte er sich wieder an seinen Rechner und schrieb.

Der Verleger folgte dem Alchemisten und schaute ihm über die Schultern. Seine Augen weiteten sich mehr und mehr vor Erstaunen …

Katzen gefällig?

Im Licht einer tönernen Tranfunzel, die er in einer Hand hält, schlurft Theoderich Hasenfratz, den alle nur ‚Alchimistus‘ nennen, zur Tür seiner windschiefen Hütte, denn jemand klopft und klopft und klopft. Er ist seit vielen Jahren damit beschäftigt, neben allerlei Salben und Tinkturen zur Heilung von Menschen und Tieren auch den großen Durchbruch zu finden, der ihn reich und mächtig machen sollte.

„Wer ist da? Warum macht er einen solchen Krach mitten in der Nacht?“, krächzt er mit heller, rauer Stimme. Er stolpert über seine eigenen Füße, die in löchrigen Filzschlappen stecken und wäre fast gegen die hölzerne Türe gekracht. Im letzten Moment fasst er mit der freien Hand zum eisernen Riegel, schiebt ihn beiseite und reißt die Tür auf. Offensichtlich hat das neue Elixir, von dem er gerade genascht hatte, eine unerwünschte Wirkung, denn seine Wahrnehmung der Umgebung war nicht wie gewohnt.

Das taumelnde Licht der Funzel beleuchtet ein zernarbtes Gesicht, das von einem zotteligen, roten Bart umrahmt wird. Die Augen funkeln. Die ganze Gestalt ist in einen dunklen Umhang gehüllt.

„Was willst du hier, Katzenfänger!“, zischt der Alchimist den Besucher an. „Ich habe gehört, du brauchst noch eine weiße und eine schwarze Katze“, brummt der Bärtige. „Ich könnte sie dir besorgen.“

„Katzen, immer nur Katzen! Was stellst du dir vor? Ich brauche keine Katzen, nie und nimmer.“ Theoderich kommt in Rage und schreit immer lauter. „Hexen brauchen Katzen. Bin ich ein Hexenmeister? Nein, ich bin kein Hexenmeister!“

„Entschuldige, aber im Dorf sagte man, du brauchst Ka…“

„NEIN! ICH BRAUCHE KEINE KATZEN!“

Das Gesicht des Alchimisten wird rot, seine Halsadern schwellen an, seine Hände verkrampfen sich so, dass Tran aus der Funzel läuft und sich entzündet. Die feurigen Tropfen fallen auf seine Filzschlappen, die nun auch zu brennen anfangen. Er wähnt sich wegen der zunehmenden Wirkung des Elixiers in der Hölle.

Wie ein Irrwisch springt der Alchimist nun vor der Türe herum, schleudert die Tranfunzel weg - genau auf das Dach seiner Hütte. Das Dach ist zu allem Übel mit Schilfstroh und Reisig gedeckt. Die Flammen lecken am trockenen Schilfstroh und im Nu breiten sie sich auf dem Dach aus.

„Verdammter Kerl, was hast du getan“, schreit Theoderich den Katzenfänger an, der mit erschrockenem Gesicht dasteht, ohne jede Regung. Dann reißt der Katzenfänger die Hände vor das Gesicht, springt in die Höhe, dreht sich um und verschwindet laut „Feuer, Feuer!“ schreiend in den nahen Büschen.

Theoderich Hasenfratz ist plötzlich ganz still, sieht völlig entgeistert, wie seine Hütte in Minuten niederbrennt. Zwischendurch gibt es immer wieder einmal einen Knall, gefolgt von aufstiebenden Flammenzungen, die eine Spur feuriger Funken in den dunklen Himmel speien.

Inzwischen sind einge Leute aus dem Dorf eingetroffen, die versuchen, das lodernde Feuer mit Holzeimern und Wasser aus einem Bach in der Nähe zu löschen. Vergebens. Das völlig trockene Holz der Hütte brennt wie Zunder.

Theoderich kauert auf einem modrigen, mit Moos überwachsenen Baumstumpf neben seiner heruntergebrannten Hütte und schaut dem Treiben schweigend zu. Die letzten Flammen werfen zuckende Lichter auf seine Gestalt. Er beginnt zu zittern. ‚War es das jetzt mit meinem Leben? Nichts ist mir geblieben. Was soll ich nun tun?‘, streifen seine Gedanken umher.

Die ersten Sonnenstrahlen lugen über den Horizont, als Theoderich Hasenfratz, seines Zeichens Alchimist, sich in Bewegung setzt. Die schmutzigen, nackten Füße führen ihn der Sonne entgegen, ohne Ziel, ohne Ahnung, was ihn erwarten wird.

Im Gebüsch kauert der Katzenfänger und jammert: „Nie wieder Katzen, niemals nicht wieder!“

Verlegmichnicht

Ungeduldig diese Besucher heutzutage, das vierte und fünfte Klopfen ertönte, mehr wie ein Hämmern als ein höfliches Klopfen. Egal welche Zeit, egal welche Menschen, sie blieben unleidlich. Ein wehleidiger Blick zu den Reagenzgläsern, mit roter Flüssigkeit gefüllten Kolben und blubbernden Mulchelsäuren. Gerade war ihr noch die Idee durch den Kopf gerannt, wie sie die Toxide von der zähen Masse trennen konnte. Aber sie war verschwunden. Genauso wie das, was sie vor wenigen Minuten noch gesucht hatte. Etwas betreten kratzte sie sich am Kopf.
WUMM.
Das Klopfen war übergegangen in ein Einprügeln der Tür.
„Ich komme schon!“, knurrte die Alchemistin und ging die knarzenden Vorstufen hinunter zur Tür. Woher kam der unausgesprochen ungeduldige Gast? Rot, Grün, blau oder gelb? Blau leuchtete kurz auf und sie stellte den Pfeil auf die Farbe.
Was war das nochmal für ein Land?
Sie hatte es vergessen.
Die Tür wurde aufgerissen. Man hatte auf sie gewartet.
Noch bevor sie das Gesicht sah, wurde ihr schon die Hand entgegengestreckt.
„Kamiranta!“, knarrte eine hölzerne Stimme und ein großgewachsener Mann trat in das warme Zimmer.
„Kamiranta?“, fragte die Frau?
Ein Zögern in der Bewegung des Mannes.
„Wer ist Kamiranta?“, fragte die Frau.
„Warum stellen sie solch sonderbare Fragen?“ Seine Augenbraue hob sich skeptisch.
„Sie! Sie sind doch Kamiranta!“ Der Mann schien nun mehr als nur ungeduldig. Verärgert auch noch. Das brauchte sie im Moment nicht.
Sie hatte Besseres zu tun.
Was nochmal? Ihr fiel es nicht ein.
„Ich bin nicht Kamiranta ich bin…!“ Oh, da fehlte doch irgendwas. Sie überlegte, aber kein Name sprang ihr ins Gedächtnis.
Der Mann riss die Augen auf. Schaute sich hinter ihr um, als wollte er sichergehen, dass er im richtigen Haus war. Einer ihrer Tinkturen köchelte so stark, dass sie übersprudelte. Ach herje, dass durfte nicht passieren. Sie ließ den verwirrten Mann stehen und rannte zu ihren Gebräuen.
Für was waren sie nochmal gewesen? Sie starrte auf die Rote, sich immer mehr ausbreitende Flüssigkeit.
Mandelmus, Apfelwein, Fiebrichkeitstrank? Sie zwinkerte.
Was machte sie überhaupt hier? Sie hatte es vergessen.
„Ich brauche …“, fing der fremde Eindringling an, doch die Frau hatte etwas anderes entdeckt.
Einen kleinen schnell hingekritzelten fast verschmierten beschriebenen Zettel, der langsam von der Flüssigkeit aufgelöst wurde.
„Test 4: Verlegmichnicht Elexier. Erinnert dich daran, wo du Sachen hingelegt hast, die du suchst. Ergebnisse der Vorherigen Tests: Vergessen.“ Daneben eine leere kleine Testflasche.
Verdammt, das hatte wohl nicht geklappt.

Löwen haben Zähne
„Wie verrückt hüpft er durch sein schauriges Labor, das unterirdisch unter den Toten angelegt ist.
„Ohja, bravo, bravissimo, es wirkt, es wirkt!!“
Hugo reißt einige Reagenzgläser vom Tisch. Seine penibel aufgestellte Versuchsanordnung ist ihm nun total egal. Er stürzt sich auf die Maschine, die ihn portieren sollte, und küsste sie laut schmatzend. Dann erstarrt er. Aus seinem Kopf treten die Ohren heraus, winden sich, um zu orten, von wo dieses aufdringliche Klopfen stammt. In Windeseile schlängeln sie sich Richtung Tür. Oben auf dem Friedhof muss jemand sein. Wer? Wieder klopft es, diesmal energischer, aufdringlicher. Hugo streift mit seinen knochigen Fingern an den Ohrenseilen entlang. Tiefe Seufzer dringen aus seinem Innersten hervor. Schmerzenslaute. Die Schlangenohren färben sich rot vor Zorn und zucken hin und her. Wieder ertönt ein dumpfes Hämmern an der oberirdischen Tür.
„Fahre aus, fahre aus, fahre aus, und schmeiß den Mist hinaus!“
Hugos rechter Arm zieht sich in die Länge wie ein Kaugummi. Die Fingerknochen schwellen bedrohlich an, aus der Handinnenfläche erwächst ein altertümlicher Schlüssel. Laut knarrend landet er in dem Schlüsselloch, aus dem eine dicke Wolke fürchterlichen Gestanks entweicht. Knarrend schlägt die schwere Tür mit ihren verrosteten Eisenbeschlägen dem Besucher ins Gesicht.

Er hört nichts mehr und das Sehen fällt ihm schwer. Er hustet und will sich die Nase zuhalten, doch er hat nicht mit Hugos Fingern gerechnet. Einzeln schlagen sie dem Fremden die Fingerknöchelchen, die sich gerade zierlich das Näschen reiben wollten, in Stücke, als wären sie in flüssiges Eis getaucht worden. Dem Fremden vor der Tür verschlägt es die Sprache, sein Sinn verdüstert sich, aus seinem Mund quellen Schleimfäden. Grün und gelb, gepunktet mit lila Flecken.

Hugo ist außer sich vor Lust. Genau so hatte er sich sein Elixier gedacht. Es sollte ihm so vieles mehr ermöglichen, was ihm zuvor im Gefängnis seines Körpers niemals möglich gewesen ist. Dass es nun auch auf andere direkt übertragbar ist, faszinierte ihn. So war das nicht geplant. Er hatte keine Lösung parat, für das, was da nun vor ihm stand. Es röchelte, es stank und wie es schien, wollte es sich in sein unterirdisches Labor hinein ausbreiten.

„Nein, nein!“, schrie es aus ihm heraus, als wäre er selbst nicht mehr der Herr seiner Sinne. Kläglich verstummte er. Seine Ohren zogen sich als erstes zurück in seinen Schädel, der ihn nun fürchterlich schmerzte. Es folgten die Arme. Auch sie zogen sich hinein, viel weiter, als sie sollten. Wider schrie es aus Hugo, oder aus dem, was einst mal Hugo gewesen war, hinaus: „Nein, nein!“ Das half nicht. Die Arme kräuselten sich wie Girlanden und verschwanden in seiner Brust.

Noch viel schlimmer allerdings erschien dem Etwas, das von Hugo noch übrig war dass diese Schleimfäden mit den lila Punkten sowohl den Ohren als auch den Armen gefolgt waren, als wären sie magisch miteinander verbunden.

Aus dem sabbernden Maul des Besuchers tropften Worte: „So, jetzt hast du, was du wolltest!“ Du wolltest mich besetzen, mit Haut und Haaren sogar, nun bin ich du. In dir bin ich.“
Hugos Augen rollten beinahe aus den Höhlen, die unter den buschigen Raupen versteckt heraus blitzten. Das letzte bisschen Etwas, das von ihm noch übrig war, versuchte, zu denken oder wenigstens irgendeinen wie auch immer gearteten Gedanken zu erfassen. Es gelang ihm nicht. Denn, kaum hatte er nur den kleinsten Ansatz gefunden, musste er erkennen, dass es nicht er selbst war, der da dachte. Es war dieser schleimige Besucher, der unerwartet über ihn hereingebrochen war. In ihn hinein gebrochen war! Hinein geschleimt.

Das war es! Endlich ein klarer Gedanke! Schleim ist die Lösung. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen, sammelte die allerletzten Reste davon aus seinem Gehirn, verknotete sie miteinander, so dass sie ihm nicht mehr entwischen konnten. Und kämpfte den letzten Kampf seines Daseins.

„Schleim, Schleim, muss es sein!“ Dieses Zauberwort drang mit klarer Stimme aus ihm hervor. Mit seinem Mund schlürfte er den Rest seines Elixiers und fraß das Glas auf. Das Knirschen drang zu seinen Ohren hervor, die sich in seinem Innersten unter Schleim verkrochen hatten. Dieser begann, sich auszubreiten, zu wuchern wie eine bösartige Geschwulst. Er dehnte sich aus, in Hugo und um ihn herum, erfasste diesen Fremden und stopfte ihm seine eigenen lila Schleimtentakel ins Maul. Der übrig gebliebene Haufen an Schleim stank erbärmlich, hatte aber die Kraft, das gesamte Labor zu eliminieren, bis es sich mit der Erde, und vielleicht mit zahlreichen Gebeinen vereint hatte, um den Frühling abzuwarten. Dann würde er einfach ganz bescheiden der Löwenzahn sein, den irgendjemand achtlos ausriss.

Jeder macht Fehler

Eine kleine Prise hiervon und eine kleine Pri…oh, verdammte Krötenhaut das kann nicht wahr sein!
Mit schnellen Händen versuchte der Alchemist die restlichen neu gefundenen Wildgelbblatt-Kräuter aus dem Kelch heraus zu angeln.
„Wie konnte mir nur so ein Maleur passieren?“ Nun muss ich sehen wie ich das noch retten kann. „Schon das dritte mal diese Woche!“ schimpfte er vor sich hin. Plötzlich klopft es an seiner Tür. „Poff, poff!“ Wer kann das sein ? „Poff, poff!“ Ein erneutes Klopfen durchdrang den hellhörigen Raum. Kurz hintereinander ertönte auch ein drittes und ein viertes mal. “Wusch!" Der Alchemist riss die Tür auf. „Was wollt Ihr?“ Erzürnt versuchte er den nervenden Gesellen zu erblicken, doch niemand war da?! Er rief erneut: „Wer seid ihr?“, „Wo habt ihr euch versteckt?“,
„Hier bin ich!“ rief es hinter ihm aus seinem Zimmer heraus. Er blicke sich um. Niemand war zu sehen. Hatte er jetzt gänzlich seinen Verstand verloren? Er wusste dass er nicht der beste Alchemist seines Faches war, jedoch konnte auch er die ein oder andere Warze mit Krötenelexier und Wurzelerde verbannen. Wieder ertönte es, “hier auf deinem Tisch bin ich!" Die Sache wurde zunehmend unangenehm.
Er blickte auf seinen Tisch und endlich sah er ihn. Der keine Zauberlehrling vom Nachbarwald. Er hatte wohl das Schrumpfelixir gefunden. Nun, wie kann ich Euch helfen, fragte er und grinste verschmitzt in seinen Bart hinein. „Mein Herr!“, rief der kleine Geselle, Ihr müsst mich groß werden lassen. „Seit Tagen stecke ich nun schon hier fest. Keiner meiner Gefährten findet mich und ich kann mich nicht bemerkbar machen.“ Der Geselle fuhr weiter aus, "ich habe nur mit einem neuen Elixir experimentiert, ganz galant aus meiner Hand, Kümmel und Wildgelbblatt-Kräuter in den Trank und schon war es geschehen!“ Plötzlich verstummte der Alchemist. „Oh, die habe ich vorhin auch in meinen Tr…“ “poff!!!“ machte es und der Alchemist schrumpfte auf des Zauberlehrlingsgröße hinab. „Schweigen“! Beide sahen sich nun an. Fassungslosigkeit trat aus ihren Augen, denn sie wussten das erst ein Dritter sie befreien konnte. Wenn er sie denn fand.

Ein unangemeldeter Besucher klopft an die Tür des Alchemisten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Der Alchemist, der sich versehentlich eine Überdosis seines jüngsten Elixirs verpasst hat, öffnet die Tür.

„Was will er?“, raunzt der Alchemist harsch, noch bevor die Tür auch nur zur Hälfte geöffnet ist. Himmel, wie er es hasst, bei seiner Arbeit unterbrochen zu werden! Noch dazu, wenn er mit flüssigen Elixieren auf Alkoholbasis arbeitet, und diese innerlich anzuwenden sind. Es kann doch nicht angehen, dass diesen angeblich so klugen Köpfe, welche dicke Wälzer mit zu vielen Buchstaben gefüllt haben und sich darin über das Wesen der Stoffe und ihr Verhalten ausließen immer nur wieder Destillate herstellten. Alles eitle Famulanten! Er schüttelt verärgert den Kopf. Wenn ihm nur der Kopf nicht so brummen würde! Und von irgendwoher zieht es ihm nun auch noch unangenehm kalt den Rock hinauf! Wer hat denn nur wieder die Türe aufgelassen? Und wieso steht da eine in einen schwarzen Umhang gehüllte Gestalt, noch dazu reglos und allem Anschein nach stumm wie ein Fisch?
„Was?“, keift er erneut, „was will er?“.

„Ähm… ihn abholen?“, antwortet die Gestalt im Umhang zögernd.

„Wen, zum Teufel?“, schnappt der Alchemist, gefolgt von einem kieksenden Schlucksen, das ihm aus der Kehle entwischt. Die kalte Nachtluft macht seinen Zustand nicht gerade besser, nun verschwimmt ihm auch noch die Sicht, und er fühlt, wie sich seine Beine knieabwärts in eine weiche Masse zu verwandeln scheinen.

„Na… ihn!“, kommt es aus dem Umhang, diesmal mit ein wenig mehr Überzeugung. Unterstrichen werden seine Worte mit einer leichten Vorwärtsbewegung seines rechten Armes in Richtung des Alchemisten.

Der Blick des Alchemisten folgt dieser Andeutung, sein Kopf fällt nach Erkenntnis suchend nach vorne und sein Blick auf seinen Gürtel, an dem wie üblich eine Auswahl an Lederbeuteln, sein Dolch und ein Fetzen Stoff hängen. Von dieser Bewegung nun vollständig aus dem Gleichgewicht gebracht, kippt sein ganzer magerer Körper nach vorne und wird unsanft durch den Türstock gebremst, der tapfer den in eine Lederhaube gehüllten Kopf vor einem allzu tiefen Absturz bewahrt. Dem Klang beim Aufprall nach muss es trotzdem weh tun, was dem Türstock jedoch nicht anzulasten ist.

„Sachte, sachte!“, mahnt die Gestalt, „es wäre leichter, wenn er mit mir zum Karren liefe, auch ich werde nicht jünger, und das Hinaustragen versuche ich wann immer es möglich ist zu vermeiden. Auch wenn nicht viel an ihm dran zu sein scheint.“, meint die Gestalt abschätzend beim Blick auf den Alchemisten.

„W…ww…wieso? Mir ist nicht bekannt…“ – hier muss der Alchemist inne halten, sicherlich seiner momentanen körperlichen Verfassung geschuldet. Seine Knie geben nun der Schwerkraft nach, der magere Körper schließt sich dieser Entscheidung ohne Zögern an. Der Türstock gibt sein Bestes und lässt den Kopf des Alchemisten ein Stück an sich herabgleiten, bevor auch er ausgedient hat. Ein weiterer dumpfer Knall, und der Alchemist liegt dahingestreckt zu Füßen der Gestalt am Boden, in Mitten einer aufwallenden Staubwolke, und seufzt ein letztes Mal tief über die Unwissenheit der Welt.

Der Tod seufzt auch, beugt sich hinunter, und schultert mühsam das dünne Bündel Stoff und Knochen. „Und wieder zu spät!“, brummt er verstimmt, und macht sich langsam auf den Weg.

Er ließ die Tür einen Spalt geöffnet. „Du bist’s, komm rein. Was machst du für einen Lärm?“ Während er in den Raum zurück schlurfte, wanderte seine Hand wie von selbst an seine Schläfe. Verdammt, sein Kopf fühlte sich an wie eine Wassermelone. Er hatte geahnt, dass es unangenehm werden könnte, aber das hier war beängstigend.

Trotzdem lehnte Pete sich betont lässig an seinen Küchentresen und schob dabei unauffällig die Phiole mit dem klitzekleinen Rest der dunkelgrauen Flüssigkeit hinter den Topf mit der Petersilie.

„Alles gut bei dir, Pete?“, fragte Tom und sah ihn stirnrunzelnd an. „Du siehst irgendwie blass aus.“

Pete und Tom waren seit Jahren befreundet, aber seine Vorliebe für die Alchemie hatte Pete seinem Freund verschwiegen. Warum genau, das wusste er selber nicht. Tom war so bodenständig, so stinknormal und dabei auch noch so verflucht glücklich. Pete hatte das Gefühl, wenn er ihn aus dieser exakt vermessenen Realität herausreißen würde, würde er ihm sein Glück rauben.

Bestimmt könnte dieser mit einer Welt, wie der von Pete nicht umgehen. Einer Welt, in der alles aus Energie und Intention bestand, die wandelbar und ganz und gar nicht beständig war.

Er musste sich zusammenreißen. Sicherlich würde dieser schummrige Zustand und das Wummern in seinem Kopf gleich besser werden. Mit dem erweiterten Bewusstsein, das sich ihm dann zeigen würde, konnte er umgehen. Er hatte es unzählige Male mit anderen Tinkturen hervorgerufen. Es war immer nur ein Übergang. Dann folgte Stille und dann kamen die Bilder und Eingebungen, die ihm halfen das Leben zu verstehen. So würde es auch hier sein. So musste es sein!

Normalerweise war er besonnener. Warum hatte er auch gleich die ganze Phiole zu sich genommen? Verzweiflung machte sich in seinem Bauch breit. Verflucht, warum dauerte das so lange? Seine Finger kniffen fest in die Nasenwurzel, dann schloss er die Augen und atmete tief ein.

Er spürte Toms sanfte Berührung an seinem Arm und Wärme suchte sich den Weg durch seinen Körper. Langsam, ganz langsam zog sich der Schmerz zurück und verebbte schließlich ganz. Endlich!

Erleichtert hob er den Kopf. „Es ist alles gut. Magst du ein Bier?“

Bereits halb zum Kühlschrank gedreht, ruckte er verwundert zurück zu seinen Freund. Vor ihm stand Tom, sein alter Freund Tom und doch stand er dort nicht.

Wie in Trance ging Pete auf ihn zu, streckte zögernd die Hand aus und berührte fasziniert die Lichtstrahlen, die diesen jetzt umgaben. Helles Licht pulsierte von der Mitte seines Kopfes ausgehend um den ganzen Körper. Ja, Menschen hatten eine Aura, aber das hier war das wundersamste Lichtspiel, das er je gesehen hatte. Silberne Fäden liefen von Toms Herzgegend bis in seine Fingerspitzen und als Strahlen darüber hinaus. Alles schien sich zu bewegen, floss in den menschlichen Körper und von dort wieder zurück in den Energiekokon, pulsierte wie ein Herzschlag und war einfach nur faszinierend schön.

Tränen liefen Pete über die Wangen und als er Tom ansah, erkannte er erstaunt, dass auch sein Freund weinte.

„Du kannst es sehen?“, fragte Tom flüsternd und Hoffnung blitzte in seinen Augen auf.

„Es ist wunderschön!“, erwiderte Pete voller Ehrfurcht. „Warum hast du nichts gesagt?“

Statt einer Antwort wurde Pete abrupt vorwärts gezogen und fand sich in einer stürmischen Umarmung wieder. „Es tut mir so leid, alter Freund“, murmelte Pete an seiner Schulter. „Es tut mir so leid, ich hatte Angst, du würdest es nicht verstehen.“

»Habt Ihr es fertig?«
»Was?«
»Das Elixier, das Ihr mir brauen solltet.«
»Wozu?«
»Besser, Ihr stellt keine Fragen.«
»Warum?«
»Weil ich Euch sonst töten müsste.«
»Mich?«
»Ja, Euch. Also, wo ist es?«
»Wer?«
»Das Elixier, das Ihr mir brauen solltet.«
»Wozu?«
Keine Fragen. Ich hatte Euch gewarnt.«
»Wieso? … … … Argh!«

Grünes Blut floss aus der Wunde des Alchemisten.

»Was zum Teufel …?«
»Ihr habt meinesgleichen gerufen?«
»Verdammt, ich wollte doch nur mein Elixier abholen.«
»So schnell kommt man in Teufels Küche.«

»Was sind das hier für Küchenexperimente?«
»Schwefelexperimente, Rot wird zu Grün, wenn sich der Sauerstoff mit Schwefel verbindet. Grünes Blut lässt die Bösen noch besser in der Hölle schmoren.«

»Himmel, in was bin ich da hineingeraten?«
»Euch schickt tatsächlich der Himmel. Ich brauche neues, unverdorbenes Blut.«
»Argh …!«

Blaues Blut floss aus dem Arm der Botin.

»Wer zum Henker seid Ihr?«
»Vampirin.«
»Malt den Teufel nicht an die Wand!«
»In meinen Adern fließt blaues Blut, weil mein Sauerstoff an Kupfer gebunden ist.«
»Argh!«

Rotes Blut floss aus der Kehle des Hexenmeisters, die Farbe des Teufels und seiner Dämonen. Die Vampirin trank, bis sie satt war.

»Das beste Elixier, das ich je hatte.«

Nur unter großer Konzentration war es dem Alchemisten gelungen, den Riegel zu lösen und die schwere Holztür zu öffnen. Krampfhaft hielt er sich am Türblatt fest und betrachtete den edel gekleideten Herrn auf der Schwelle. Er war ordentlich rasiert und steckte in feinem Stoff und polierten Stiefeln. Wie bei dessen erstem Besuch verspürte der Alchemist eine innere Abscheu gegen den Mann.

»Guten Abend, der Herr, was verschafft mir die Ehre?«, fragte er so höflich, wie er es vermochte, und deutete dabei eine Verbeugung an. »Was wagen Sie es, mich inmitten meiner Forschung zu unterbrechen, Sie elender Störenfried!«, hörte er seine eigene Stimme wütend den Türrahmen ausfüllen. Verwirrt und immer noch berauscht von dem Elixier schüttelte er den Kopf. Es wirkte.

»Verzeihen Sie bitte die Störung zu unangemeldeter Stunde, aber ich komme in der Hoffnung, dass Sie meinen Auftrag bereits ausgeführt haben. Schon morgen kurz nach Sonnenaufgang soll Recht gesprochen werden über den üblen Wirt, der mich so schändlich bestohlen hat. Wenn er nicht gesteht, wird er freikommen.«

»Schon morgen, schon morgen«, murmelte er, wohl wissend, dass er Zeit gewinnen musste. »Kommen Sie morgen in der Früh wieder, dann habe ich das Serum fertig«, wollte er vorschlagen, doch klangen seine Worte erneut anders. »Treten Sie ein, Sie galanter Fatzke.« Immerhin spukte das Wort „Verleumder“ nur still in seinem Kopf herum. Die Wirkung des Tranks ließ langsam nach. Der Ratsherr setzte ein mildes Lächeln auf, hinter dem eine fiese Siegesgewissheit zu schlummern schien.

»Wir wollen doch höflich miteinander bleiben. Ich nehme an, Sie haben von dem Wahrheitsserum bereits gekostet, Sie kleiner Scharlatan. Das ist sehr gut. Her mit dem Zeug! Hier haben Sie die vereinbarten zehn Taler.« Mit einer großzügigen Geste warf er das Geld auf den Tisch, wobei eine der Münzen auf den Boden kullerte.

Mit zittrigen Händen verkorkte der Alchemist das Fläschchen und überreichte es seinem Auftraggeber. »Es wirkt … anders«, brachte er unter Anstrengung hervor. Der Alchemist gewann nach und nach wieder Oberhand über seine Worte. »Ihr müsst es selbst trinken, um ihm die Wahrheit zu entlocken. Sonst hätte Ihr mich niemals einen Scharlatan genannt.«

»Ich sehe, ich sehe.« Der Besucher nickte bedächtig. »Gut, dass Ihr es sagt! Es soll zu Eurem Schaden nicht sein.« Mit diesen Worten kramte der Ratsherr zwei weitere Taler aus seinem Geldbeutel, die der Alchemist dankend annahm.
Mehr konnte er für seinen Freund nicht tun.