Schon das zweite Klopfen ließ Meister Midas zusammenfahren und mit Schrecken blickte er beim dritten Klopfen auf den vollständig eingefahrenen Kolben der Spritze in seinem Arm. Das war zuviel des Guten. Er hatte das Elixier doch nur testen wollen. Wer mochte ahnen, welche Wirkung es in seinen Adern entfalten würde?
Beim nächsten Klopfen schließlich eilte er zur Tür. Die dunkle Stube war in das Licht der einzigen Kerze auf seinem Schreibtisch getaucht und vom Kamin her drang der flackernde Schein des kleinen Feuers. Der träge Schatten des Katers streckte sich ungeduldig, als er sah, wie sein Besitzer in Richtung der schweren Eichenholztür eilte, durch deren winziges Butzenfenster das Licht des Vollmonds ein fahles Abbild auf den staubigen Steinboden malte.
Midas schob den schweren Riegel zurück und wagte einen vorsichtigen Blick hinaus.
„Mauritius“, schimpfte er, als sich der Kater durch die Ritze quetschte und mit hoch erhobenem Schwanz in der Nacht verschwand. Das Elixier begann schon zu wirken. Sein Herz schlug bereits deutlich schneller und er spürte, wie ihm die Hitze den Kragen hinaufstieg.
„Meister Midas, ich brauche eure Hilfe!“
Es brauchte einen Moment, bis der Meister die Gestalt in dem dunklen Mantel erkannte. Die Frau – nein, das Mädchen – hatte ihre Kapuze tief ins Gesicht gezogen und versteckte so die goldenen Locken vor neugierigen Blicken.
„Loreley?“
Midas kannte die Maid. Sie arbeitete seit ein paar Monaten in der Schenke unten am Marktplatz. Ein oder zwei Mal hatte sie ihn bisher aufgesucht um Mittelchen gegen die Leibschmerzen nach der Monatsblutung oder ein einfaches Zahnpulver bei ihm zu erstehen. Wenn sie so spät nachts noch erschien, musste etwas Schlimmes passiert sein. Ein ungünstiger Zeitpunkt. Midas zerrte an seinem Kragen und spürte, wie sich auf seiner Stirn trotz der kühlen Nachtluft Schweißtropfen bildeten.
„Meister, es… es ist etwas passiert.“ Loreley sah sich nervös um, aber die Nacht schien absolut still und friedlich. Noch – denn aus der Ferne grollte bereits tiefer Donner.
„Es… es ist jetzt kein guter Zeitpunkt, mein Kind. Magst Du nicht morgen wiederkommen?“ Spürte er seine Füße noch? Midas hielt sich schwer am Türflügel fest. Sein Körper begann zu kribbeln. Niemand durfte von seinen Experimenten wissen – andererseits… wenn seine Sinne ihn verließen, war diese Maid vielleicht die Letzte, die noch Schlimmeres verhindern würde. Eine Schankmaid, ausgerechnet.
„Nein!“ Loreleys Erwiderung kam ungewöhnlich scharf und laut. Es mochte nur die Furcht vor Zurückweisung sein, aber leise drängend fügte sie hinzu: „Bitte, ich brauche eure Hilfe noch heute, Meister.“
Midas spürte die Wirkung immer stärker, nickte aber schließlich, als er ihren Blick bemerkte. Er öffnete die Tür gerade so weit, dass es Loreley der Katze gleichtun konnte und sich geschmeidig und schnell in die Stube zwängte.
„Bitte Meister“, platzte es aus ihr heraus, kaum dass sie die Stube betreten hatte, „es ist etwas Schreckliches passiert…“
Midas sah sie mit glasigem Blick an und deutete auf einen dreibeinigen Schemel am Feuer, doch Loreley blieb stehen. Auch Midas erinnerte sich noch an die Freuden des Fleisches und hätte der schlanken Gestalt der jungen Frau sicherlich den ein oder anderen Blick geschenkt, wären die Umstände anders gewesen. Loreley war ausnehmend hübsch und von märchenhafter Anmut. Doch in diesem Moment hatte Midas alle Mühe, den Blick überhaupt auf ihr zu halten. Die Stube begann sich zu drehen.
„…Arguantes´ Knappe - auf dem Julfest. Wir waren betrunken und…“ Die Worte sprudelten geradezu aus Loreley heraus, während sie ihm die Geschichte einer Liebesnacht erzählte, der Midas nur mehr mit sehr viel Anstrengung zu folgen vermochte.
„Und nun ist es weg!“, schloss Loreley.
„W…was ist weg?“, presste Midas hervor.
„Das Monatsblut.“ Ihre Augen waren groß wie Teller. „Bitte Meister, ihr müsst mir etwas geben“, drängte sie. „Ich weiß, dass ihr es könnt.“
Der Alchemist ließ sich auf seinen Arbeitsstuhl sinken. Das Blut rauschte in seinen Ohren und sein Blick glitt nervös hinüber zu der unschuldig wirkenden, kleinen Phiole mit der blauen Flüssigkeit. Das Antidot.
„Hat er Dir Gewalt getan?“, fragte er, so ruhig er vermochte.
„Was?“, entfuhr es Loreley. „Natürlich nicht, wir lieben uns. Aber Arguantes wird niemals zulassen, dass sein Knappe eine einfache Magd heiratet.“
„D…du…“, Midas keuchte hörbar und fühlte, wie das Kribbeln seine Finger erreichte. Fast panisch langte er nach der Spritze, konnte sie aber nicht mehr greifen. Klappernd fiel sie auf die Bank, blieb aber heil. „Du liebst ihn?“
Sie schwieg und schlug die Augen nieder.
„Er… weiß es also gar nicht?“
„Er nicht…“, gab sie leise zu, „… aber ich. Er hat es mir gestanden, noch bevor sie aufbrachen. Nur ich…“
„Du konntest es ihm nicht sagen. Und jetzt hast du Angst vor dem, was passieren würde, wenn du es doch tust.“ Das Herz schien ihm in seinem Leib zerspringen zu wollen. Das Elixier raste durch sein Innerstes und fegte wie ein brennender Dämon durch seine Venen. Langsam schob sich Dunkelheit von den Seiten in sein Blickfeld.
„Loreley…“ Er deutete zitternd auf die blaue Phiole. „Loreley, ich…“
Stunden später spürte Midas, wie das Leben seinen Körper wieder umarmte. Er lag auf dem Boden seiner Stube und neben ihm kauerte das Mädchen mit rotgeränderten Augen am mittlerweile erloschenen Kamin. In ihrer Hand glänzte etwas Gläsernes. Es dauerte eine Weile, bis Midas die Spritze erkannte.
„Meister! Ein Segen, ihr lebt. Den Göttern sei Dank.“
Midas fühlte, wie ihn unendliche Erleichterung umfing.
„Dank sei dir, mein Kind. Nicht die Götter haben mich heute Nacht gerettet.“
„Ich wusste nicht, ob ich es richtig gemacht habe…“ Loreley begann wieder zu weinen.
Midas´ Arm schmerzte höllisch, aber das Antidot schien seine Wirkung nicht verfehlt zu haben.
„Woher wusstest Du es?“
Sie sah ihn mit verweinten Augen an und schüttelte langsam den Kopf.
„Ich wusste es nicht. Ich sah euch den Büttel mit diesem Ding versorgen und da ihr danach gegriffen hattet…"
„Und das Antidot?“ Midas hob einen Finger und deutete auf die Phiole, die zwischen ihnen lag.
„Es war euer letzter Fingerzeig, bevor ihr auf den Boden aufschlugt.“
„Du hättest gehen können“, stellte Midas ruhig fest.
„Das hätte ich…“, sagte Loreley tonlos.
„…aber Du hast es nicht getan“, ergänzte er. Sein Körper schmerzte noch, aber er gehorchte langsam wieder. Mühsam setzte er sich auf und strich sich den Staub aus dem Bart und den grauen Haaren.
„Ich konnte euch doch nicht sterben lassen.“ Loreley schluchzte wieder. Er zog das Mädchen väterlich zu sich und strich ihr über die blonden Locken.
„Sch… sch… Nein, mein Kind. Du…“, er machte einen bedeutungsschwere Pause, "… du hast dich für das Leben entschieden.“ Er rappelte sich langsam und schwerfällig auf und zog sie auf die Füße. Dabei hielt er ihre Hände fest und sah ihr entschlossen in die Augen. „Lass mich dir einen Rat geben, Loreley.“
Sie sah ihn an und nickte stumm.
„Geh und rede mit deinem Knappen. Sie kehren bald zurück. Ist er aufrichtig, dann geht zusammen fort und blickt nicht zurück. Geht bei Nacht und macht euch keine Sorgen um Arguantes oder darüber, was die Leute sagen werden.“
Er drückte ihre Hände.
„Ist er es aber nicht, und stellt sich heraus, dass der Schuft in jeder Schänke eine andere freit, dann steht dir meine Tür jederzeit offen. Egal, wofür du dich am Ende entscheidest.“
Mit den Strahlen des ersten Morgenlichts verließ Loreley seine Stube. Nur der Kater sah ihr nach, wie sie in die schwindenden Morgennebel eintauchte und verschwand.