Seitenwind Woche 7: Mach eine Szene!

Mächtiges Elixier

Ein unangemeldeter Besucher klopft an die Tür des Alchemisten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Der Alchemist, der sich versehentlich eine Überdosis seines jüngsten Elixiers verpasst hat, öffnet die Tür.

Draußen steht ein seltsam gewandetes Weib. Dicklich und in grellbunte Kluft gekleidet. Noch dazu trägt sie Hosen – eng wie Strümpfe. Wie unschicklich! Zum Überfluss ist ihr Haupthaar mit kleinen bunten Walzen (Fetischen?) übersät.

„Was treibt dich her, zu später Stund‘“, fragt der Alchemist mit schwerer Zunge. „Bedürftest du der Hilfe meiner mächtigen Hexenkunst?“. Er blickt sie an. Schwankt leicht. „Doch vergib mir meine unbeholf’ne Sprache, denn ich habe des außerordentlichen Elixiers in ungewollt hoher Dosis empfangen“.

Sie greift ihn sanft am Arm.
„Es ist Zeit“, sagt sie. „Du und deine Rollenspiel-Gesellen… Immer das Gleiche. Und das ‚Elixier‘ nehm‘ ich mal lieber“.
Sie nimmt ihm die Schnapsflasche aus der Hand, hakt sich unter und zieht ihn nach draußen.

„Nächste Woche dann wieder bei mir“, ruft er noch ins Zimmer zurück. Werwolf und Barbar nicken und heben die Gläser zum Abschied. Der Elf ist lange eingeschlafen.

Vor seiner Tür steht Laurenz, sein junger Gehilfe. »Meister Hubertus, ich habe alle Aufträge erledigt, alles ausgeliefert.« Unwirsch streicht der alte Alchemist sich durch den Bart und poltert: »Das kann doch gar nicht sein du Flegel. Du solltest bis nach Mayenfeld und das Wachstumselixier dem Gutsherren bringen. Wärest du dort gewesen, könntest du noch gar nicht wieder zurück sein.« Der junge Bursche weicht instinktiv einen Schritt zurück, außer Reichweite seines Meisters. »Der Fluss,«, stottert er, »der Fluss!«. Mürrisch blickt der Alchemist den Jungen an, während er einseltsames Kribbeln bemerkt, das von seinem Körper Besitz zu ergreifen scheint. »Der Fluss ist nicht passierbar.«, würgt Laurenz hervor. Hubertus streicht sich durch den langen, grauen Bart und hat immer mehr das Gefühl, dass etwas Seltsames mit ihm im Gange ist. Besser den Jungen loswerden, beschließt er. »Nun gut, Laurenz. Dann lauf jetzt und besorge mir Folgendes: ein Körbchen mit Erdbeeren, eine frische Bachforelle, Salbei, Engelwurz und ein paar Steckrüben. Und bring auch etwas Speck mit. Aber alles von ordentlicher Qualität hörst du, du Lümmel. Die Kräuter dürfen nicht welk sein.« Mit der Hand kramt er in seiner Börse und reicht dem verdatterten Burschen ein paar Münzen. »Und jetzt scher dich weg.«
Krachend lässt er die Tür ins Schloss fallen und betrachtet stirnrunzelnd seine Hand. Hatte er immer schon so viele Haare auf dem Handrücken. Und warum ist ihm so heiß? Der alte Mann wischt sich den Schweiß von der Stirn und schlurft zurück in sein Laboratorium. Nachdenklich betrachtet er den Becher, den er auf seinem Arbeitstisch stehen gelassen hat. Irgendetwas scheint beim letzten Experiment schiefgelaufen zu sein. Etwas genauer untersucht er den Rest seines Gebräus. Plötzlich stutzt er. Was ist das? Es sieht aus wie ein Katzenhaar …
»Lucretia! Du vermaledeites Mistvieh. Wie oft habe ich Dir gesagt, dass du dich von meinem Tisch fernhalten sollst.«, donnert er, während er hektisch versucht, sich daran zu erinnern, wie viel von den Nelken er genau in den Trank gegeben hat. Und versucht angestrengt, zu kalkulieren, wie sie wohl mit dem Katzenhaar reagiert haben. Hubertus streicht sich wieder den Schweiß aus der Stirn. Noch mehr Haare auf seinem Handrücken. Er schluckt. Irgendwas kitzelt ihn an der Nase. Er tastet mit seiner haarigen Hand danach. Sind das … Schnurrhaare? Voller Panik stürzt er zum Spiegel und entdeckt tatsächlich Schnurrhaare in seinem Gesicht, das auch irgendwie haarig aussieht. Und seine Ohren sind auf einmal so spitz. »Hubertus,«, hört er es schnurren und spürt, wie sich seine schwarze Katze um seine Beine schmiegt. »Lu … lu … cretia?«, stammelt er. »Das Elixier funktioniert, ich kann dich verstehen!« »Natürlich kannst du das,« antwortet die schwarze Katze und ihre grünen Augen blitzen. »Aber die Schnurrhaare, meine Ohren, wieso … ?«, geschockt beobachtet der Alchemist, wie er immer katzenähnlicher wird. Die schwarze Katze streckt sich genüsslich und fängt in aller Ruhe an sich zu putzen. Dabei beobachtet sie interessiert die langsame Verwandlung des alten Alchemisten in einen graugetigerten Kater. Missmutig sitzt dieser vor dem Spiegel. »Und jetzt? Was machen wir jetzt?«, knurrt er. Tänzelnd kommt die Katze auf ihn zu. »Wie wäre es mit Mäuse fangen?«, schlägt sie vor. »Oben auf dem Dachboden wohnen ganz fette, schmackhafte Exemplare.« Sie leckt sich das Maul. Der Graue schüttelt sich. »Mäuse, wie widerlich. Wie verwandele ich mich zurück? Das ist viel wichtiger!« Ungelenk springt er auf seinen Arbeitstisch und dabei purzeln die ersten Phiolen herunter. »Nein, nein!«, panisch versucht er, sie mit seinen Pfoten aufzufangen. Dabei stößt er mit seinem Schwanz die nächsten Kolben herunter und auch sein Mörser segelt in die Tiefe und zerspringt. Verzweifelt sitzt er vor den Scherben seiner Arbeit und sieht keine Möglichkeit, dass Geschehene rückgängig zu machen.
Die Schwarze stupst ihn herausfordernd an. »Na komm schon, Hubertus. So schlimm ist das nicht. Katzen haben ein tolles Leben.«, sagt sie, während sie sich zufrieden die Pfote leckt. »Immerhin wolltest du doch unbedingt mit mir reden. Jetzt können wir uns für den Rest unseres Lebens miteinander unterhalten.« Der graue Kater stöhnt auf. »Aber meine Arbeit, meine Forschung!«, bringt er gequält heraus. »Vielleicht entziffert Laurenz ja irgendwann mal deine Formeln.«, kichert die Katze höhnisch. »Und etwas Gutes hat es ja auch. Du brauchst dir keine Sorgen mehr um deine Schulden zu machen.« Nachdenklich blickt Hubertus auf seinen verwüsteten Arbeitstisch und streift dabei auch den Stapeln unbezahlter Rechnungen mit einem Blick. Schließlich nickt er langsam. »Vielleicht hast du da nicht ganz Unrecht.« Er wirft noch einen letzten wehmütigen Blick auf seinen Arbeitsplatz, dann gibt er sich einen Ruck und springt auf. »Dann zeig mir mal das tolle Leben!«
Als Laurenz kurze Zeit später mit müden Armen und seinen Besorgungen zurückkehrt, wird er an der Tür von zwei Katzen fast zu Fall gebracht, als diese an ihm vorbei ins Freie schießen. In der Einen erkennt er die pfiffige Katze des alten Alchimisten, die Andere, ein großer behäbiger Kater mit graugetigertem Fell ist ihm aber gänzlich unbekannt.

Produktentwicklung

»Es gibt keinen Zaubertrank!«, rief Miraculix ungeduldig, nachdem es das dritte Mal an der Tür gepocht hatte. »Weder heute noch morgen noch übermorgen! Nicht solange nicht mindestens tausend Römer vor dem Dorfwall stehen!«
Miraculix kicherte leise in seinen schneeweißen Bart und murmelte: »Es gibt etwas viel besseres! Lange wird es nicht mehr dauern, bis es wirkt!«
An der Tür war es verdächtig still geworden. So schnell hatten Asterix und Obelix noch nie aufgegeben. Ungläubig schlurfte der Druide zur Tür und zog sie lautlos einen schmalen Spalt auf.
Nichts.
Noch ein Stück.
Draußen goss der Mond sein fahles Licht über die menschenleere Gasse. Niemand war zu sehen. Das Dorf schien wie ausgestorben. Miraculix steckte den Kopf ganz zur Tür hinaus und blickte nach links. Nach rechts.
Nichts.
Plötzlich begann sich alles zu drehen und das merkwürdige Kichern, das dem Druiden entwich, seit er von seinem neuesten Elixier gekostet hatte, verstärkte sich zusehends. Ein Lachanfall folgte dem nächsten und wurde von Mal zu Mal heftiger.
Plötzlich griff eine Hand nach seinem Bart und riss ihn aus seiner Hütte.
»Na, wen haben wir denn da?«, brummte eine tiefe Stimme.
Miraculix, der seine Lachsalven für einige Sekunden unterbrach, ließ seinen Blick nach oben schweifen. Caesar. Julius. Daran gab es keinen Zweifel. So eine markante Nase trug niemand sonst mit sich herum.
»Kommt der Chef persönlich?«
Cäsar grinste.
»Was bleibt mir über? Meine Leute werden mit euch Galliern ja nicht fertig!«
Plötzlich begann Julius Cäsar zu schnuppern. Seinem Riechkolben schien nichts zu entgehen. Er gab den Bart des Druiden frei und betrat gebückt die Hütte.
»Da komme ich wohl genau richtig. Zaubertrank. Ein ganzer Kessel Zaubertrank!«
»Finger … weg«, kicherte Miraculix, begleitet von einem immer heftiger werdenden Schluckauf. »Der ist … noch … noch … nicht … getestet!«
Doch da war es schon zu spät. Der römische Kaiser hatte sich eine ganze Kelle davon einverleibt. Und schon sprang eine ganze Legion Römer in die Hütte und vergriff sich am neuen Elixier des Druiden. Einer nach dem anderen begann zu kichern und wurde von immer heftigeren Lachkrämpfen geschüttelt.
»Was ist den hier los?«
»Römer! Hunderte von Römern! Weshalb sagt mir keiner was? Ich bin doch als Kind in den Zaubertrank gefallen.
Asterix und Obelix standen rätselnd neben dem Druiden, der sich langsam zu erholen schien.
»Was hast du denen gegeben?«, wollte Asterix wissen. »Nach Zaubertrank sieht es nicht aus.«
»Nun ja, ich habe ein neues Elixier gebraut. Ein Lachzauber. Bei Überdosierung lacht man sich tot. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ich bin wohl gerade noch mal davon gekommen.«
„Tot!“, rief Obelix entsetzt, „hast du gehört, Asterix! Tot! Die Römer! Und wie soll ich ohne Römer die Zeit vertreiben?“
„Na ja“, murmelte Miraculix. „Vielleicht nicht ganz tot. Nur beinahe. Ich habe dich doch nicht vergessen, Obelix …“

Die geöffnete Tür

Ein unangemeldeter Besucher klopft an die Tür des Alchemisten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Der Alchemist, der sich versehentlich eine Überdosis seines jüngsten Elixirs verpasst hat, öffnet die Tür.

Türen haben eine unangenehme Eigenschaft: Wenn sie mal offen sind, ist es zu spät. Man kann nicht mehr so tun, als sei man nicht zuhause. Man kann sie auch nicht mehr zuschlagen. Jedenfalls nicht, wenn draußen ein mannshohes zweibeiniges Wesen mit enormer Muskelkraft steht, das unbedingt reinwill.

„Mfff … sie müffen mir helfen!“ nuschelte das Wesen.

Ich wusste zwar im ersten Moment mal nicht, wer sich da in mein Labor drängte, aber ich hatte einen Verdacht, was seine Muskeln so übermäßig hatte schwellen lassen. Keins von meinen Elixieren, soviel war klar. Nein, das sah nach Evlolan Meri aus. Der verkaufte solchen Kram.

Vorsichtig fragte ich: „Sie haben ein Kraft-Elixier eingenommen, vermute ich?“

Meri war gut, aber die Wirksamkeit seiner Elixiere variierte zu sehr. Und immer wenn seine Kunden unzufrieden waren, dann gingen sie natürlich zu ihm, um sich zu beschweren. Aber er war reich, daher seine Eichentür unüberwindlich und sein Diener wachsam. Also kamen sie danach immer zu mir.

Grundsätzlich war das ja in Ordnung. Es verdeutlichte mein Renommé, und ich verdiente an meinen Gegengiften. Leider ging dabei allerdings oft erst mal irgendwas zu Bruch. Diesmal war es zwar nur ein Haarwasser, zum Glück, aber da es im Raum völlig dunkel war, würde sicher noch das eine oder andere Fläschlein fallen. Warum passierte das ausgerechnet heute?!

„Iff braufe ein Gegengift,“ erklärte das Wesen mit soviel Würde, wie man eben aufbringen kann, wenn alle Muskeln unnatürlich angeschwollen sind - sogar die in Zunge, Lippen und Augenlidern.

„Selbstverständlich. Leider habe ich gerade nichts lagernd, ich muss es also erst brauen. Sie verstehen?“

Das Dumme war nur, dass ich grade nur sehr schlecht arbeiten konnte. Ich hatte in den letzten Wochen mein „Eulenblick“-Elixier perfektioniert und gerade im Selbstversuch angewendet. Es schien nun viel besser zu wirken. Damit hatte ich nicht gerechnet - jetzt sah ich nicht nur fast so gut im Finstern wie eine Eule, sondern noch viel besser. Also viel zu gut, als dass es noch angenehm gewesen wäre. Das Licht einer Kerze an der Straße draußen blendet mich! Herrje, was waren wir für ein schönes Paar, ich und mein neuester Kunde!

Ich guckte mir das Wesen genauer an, und dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Das war nicht irgendwer, nein, das war der Prinzregent! Also, jetzt durfte wirklich nichts schiefgehen! Sofort schob ich den größten und weichsten Sessel heran, den ich besaß. „Bitte, nehmen Sie doch Platz!“ Bestimmt kam ihm die Dunkelheit im Zimmer sehr gelegen, aber zur Sicherheit behauptete ich, „Bitte entschuldigen Sie, manchmal ist absolute Finsternis für meine Arbeit notwendig.“

Der Prinzregent nickte ungeduldig. „Beeilung, Beeilung!“

Ich zog noch die Vorhänge zu, dann eilte ich im Raum umher, holte Zutaten, mischte, erhitzte, reduzierte und so weiter. Ich hatte ja Übung damit.

Plötzlich hörte ich hinter mir, also aus der Richtung des Prinzregenten, ein undefinierbares Geräusch, das mir Gänsehaut bereitete. Was war das? Die Vorstufe zum Schnarchen? Oder … Nein! Erstickte da etwa gerade Prinzregent Jülich Heach Ellewap Alleredelster Herzog von Wegnis-Vornei in meiner vermaledeiten Arbeitswohnung?!

Oh. Er schlief nicht, und er rang auch nicht um Atem, sondern um seine Fassung. Er … weinte.

Drucksachen

„Hallo? Haallooo? Verdammt! Papetto? Meister? Nun macht doch auf! Ich mache mir Sorgen um euch!“ Mit einem leisen Seufzer legte Ricarda ein Ohr an die Tür und lauschte. Alles ruhig … oder? In einem besonders leisen Moment, in dem gerade keine Gänse schnatterten, Pferde wieherten oder Marktleute lautstark ihre Waren anpriesen, meinte Ricarda ein leises Stimmchen zu hören: „.omm .ein, .i .ür i… o…en!“

„Aber …“ Skeptisch schaute die junge Assistentin von Meister Papetto auf ein großes, leuchtend grünes Schild an der Eingangstür. „NIEMALS BETRETEN, WENN NIEMAND DIE TÜR ÖFFNET! NIEMALS! NIEMAND! AUF GAR KEINEN FALL!“, stand da in großen schwarzen Buchstaben geschrieben. Außerdem war das das allererste, auf das der Meister sie eingeschworen hatte.

„.un .omm .on!“, piepte es hinter der schweren Eichentür.

Einen tiefen Atemzug später drückte Ricarda langsam die verschnörkelte Türklinke herunter. Aus der Sache mit dem geplanten ‚vorsichtig öffnen‘ wurde allerdings nichts. Im Gegenteil. Ricarda schaffte es gerade noch so, zur Seite zu springen, als die Tür – den Halt durch das Lösen der Falle verloren – mit Wucht aufgestoßen wurde und gegen die Hauswand krachte.

„Was zum …“, Ricaradas Blick, der sich für einen Augenblick auf die Tür fixiert hatte, sprang zu einer Bewegung, die sie im Labor wahrgenommen hatte. Der Rest dessen, was auch immer sie hatte sagen wollen, blieb ihr im Halse stecken. Auf einem Labortisch, ganz in der Nähe der Tür saß eine kleine, violette Ratte, die nun augenscheinlich mit jedem Herzschlag ihre Größe verdoppelte, dabei gleichzeitig transparenter wurde, während ihre Konturen sich mehr und mehr auflösten. Nun war Ricarda bereits das zweite Jahr bei Meister Papetto und einiges gewohnt, so dass sie zumindest nicht sofort die Flucht ergriff, sondern nur die Hände vors Gesicht warf und vorsichtig durch die Finger lugte.

Die violette Ratte indes füllte inzwischen fast das komplette Labor aus, als sie schließlich mit einem leisen >Plopp< ihre fragwürdige Existenz aufgab und auf dem Tisch stattdessen ein ziemlich ramponiert aussehender Papetto hockte. Nackt.

Das war selbst für Ricarda zu viel. Mit einem leisen Quieken schloss sie die Lücke zwischen ihren Fingern. „Alle guten Geiser Papetto! Zieht euch um Himmels Willen etwas an!“, krächzte sie heiser, da sich ihre Stimme noch immer im Schockzustand befand.

Papetto, der zu all dem bisher so gar nichts gesagt hatte, sah zuerst an sich hinunter, dann einmal rund um sich, bevor er unvermittelt vom Tisch sprang. „Es hat funktioniert, es hat funktioniert!“ Jubelnd und hüpfend verließ er kurzfristig Ricardas Gesichtsfeld, um nur Augenblicke später in einen schrecklich klischeehaften, schwarzen Umhang gehüllt wieder darin zu erscheinen. Übers ganze Gesicht strahlend baute er sich vor ihr auf. „Es hat funktioniert!“, wiederholte er inzwischen zum etwa elften Mal und grinste wie das berühmte Honigkuchenpferd.

„Dass ihr euch in eine violette Ratte verwandelt, die sich aufbläht und auflöst, wenn jemand die Tür öffnet?“ Ricarda hatte durchaus schon das ein oder andere Mal an Papettos Verstand gezweifelt, aber so nah an eine Gewissheit dessen, wie in diesem Moment, war sie bislang noch nie gekommen.

„Was? Nein! Was redet ihr denn da?“ Papetto schüttelte seine weißen Haare, die ihm noch immer wirr um den Kopf standen. „Nein, nein, das lag nur an der Mischung mit dem Wandlungstrank. Und an der Dosis. Aber das Prinzip! Siehst du das denn nicht?“ Papetto war vor Begeisterung noch immer kaum zu bremsen. „Es war der Druck. Der Druck muss stimmen! Wenn er hoch genug ist, dann kann man Dinge Schrumpfen und wenn er niedrig ist, dann wächst es wieder. Das ist unglaublich! Ricarda, wir werden reich, wir werden reich! Stell dir nur vor. Wir sperren kleine Kugeln in Hülsen mit dem Richtigen Druck und wenn man sie dann dort heraus holt, dann platzen sie. Die nennen wir dann Platzpatronen. Und wir bauen Kartuschen, in denen der Druck so hoch ist, dass alles darin ganz klein wird und die nennen wir dann Druckpatronen. Und wir bauen einen Druckfilter aus Druckpapier! Ich bin jetzt ein erfolgreicher Erfinder Riccarda!“ Und damit drehte er sich um und begann, die Stirn in Denkerfalten gelegt, in seinem Labor auf und ab zu laufen und wichtige Formeln aufzusagen.

„Platzpatronen, Druckpatronen, Druckfilter …“, murmelte Riccarda hingegen, während sie sich daran machte das Labor aufzuräumen, „wer sollte sich für etwas, für das es solche Wortmonster braucht, denn je interessieren?“

Ein warmes Plätzchen am Kamin

Das wird wohl der Besuch sein, den sein Geschäftspartner ihm schriftlich angekündigt hatte.
Vor ihm stand eine halbnackte Frau, die dünnen Ärmchen um den schlanken Leib und die zerfetzte Kleidung geschlungen und den geröteten Wangen nach eindeutig unterkühlt.
„Es ist so kalt“, flüsterte sie mit kaum hörbarer Stimme. „Bitte… Bitte, darf ich eintreten?“
Der Alchemist strich sich über den dunklen Bart, während Schneeflocken auf die Schulter und das rote Haar der Bittstellerin niedergingen.
„Was habe ich davon?“, fragte er geradeheraus und versuchte die Tür zuschließen, doch sie rammte einen Fuß dazwischen und verzog dabei vor Schmerz das Gesicht. Sie war barfuß und ihre Füße wirkten als würde es nicht mehr lange dauern bis die ersten Zehen dem kalten Tod erlagen. „Ich tue alles“, stöhnte sie, halb flehend, halb fordernd. Ein Rinnsal Blut lief ihren Schenkel entlang, ausgehend von der Stelle, an der das Türholz über ihre Haut gekratzt war. „Alles.“
„Alles, sagst du?“, antwortete der Alchemist nachdenklich. „Nun, ich könnte jemanden gebrauchen, der meine Elixiere für mich testet. Der Hund ist im Frühjahr gestorben und die Vögel fallen mir schneller von der Stange, als ich neue Exemplare nachkaufen kann.“
Die Frau runzelte verwirrt die Stirn. „Was seid Ihr von Beruf?“
„Hast du das Schild nicht gesehen? Ich bin Alchemist.“
„Ihr wollt mich vergiften? Ich dachte daran, euren stattlichen Leib mit meinem Körper zu wärmen.“
Der Alchemist ließ die Augen über ihre Statur wandern. „Hübsch bist du ja“, räumte er ein. „Mir dünkt aber, du willst nicht mein Bett wärmen, sondern dich darin ausruhen. Für faules Gesindel habe ich keine Verwendung.“
„Ich kann kochen und putzen“, schoss es aus ihrem Mund.
„Und mir meine Utensilien und Ingredienzien durcheinanderbringen? Das lass mal schön sein. Wenn ich dich in diesem Haus aufnehme, dann nur wenn du dich bereit erklärst, mir bei meinen Experimenten behilflich zu sein. Andernfalls scher dich zurück auf die Straße. Aber sei gewarnt, der Winter hat erst begonnen. In deinem Zustand wirst du Neujahr nicht mehr erleben.“
„Ihr seid ein Monster“, zischte sie. „Ein Monster.“ Sie zögerte, dachte offenbar einen Moment angestrengt nach, die Kälte im Rücken. Schließlich nickte sie widerwillig. „Lieber sterbe ich in einer warmen Stube als dort draußen. Ich bin mit dieser Bedingung einverstanden. Nun lasst mich schon ein, sonst bin ich bald zu nichts mehr zu gebrauchen.“
Der Alchemist wich zurück, die Frau wankte hinein, völlig entkräftet stolperte sie und fiel hin. Ihre Augen fanden den brennenden Kamin, sie kroch darauf zu und rollte sich, wie eine Katze, auf dem von Asche verschmutzen Dielenboden zusammen.
Der Alchemist verriegelte die Tür, zog ein verschmutztes ehemals weißes Laken von einem Objekt in der Ecke, das sich als schmiedeeiserner Käfig offenbarte und ließ es über den zitternden Frauenleib fallen, wie der Schnee, der draußen die Welt unter sich begrub. Dann nahm er einen Laib Brot aus der Küche, riss ein Stück ab und warf es ihr hin.
„Stärke dich ein wenig. Ich werde dir derweil eine Tinktur zubereiten, die deinen Körper von innen wärmt und verhindert, dass deine Zehen absterben. Dieser Käfig“, er deutete darauf. „Wird deine Schlafstätte sein. Wenn du im Frühjahr noch lebst, werde ich dich gehen lassen. Du hast mein Wort.“
Sie drehte sich um und sah zu ihm auf, das sommersprossige Gesicht von flackernden Schatten und dem Schein der Flammen umspielt. „Und wenn ich sterbe?“
„Werde ich dich neben dem Hund im Garten begraben.“
Schwerfällig stapfte er hinüber zu seinem Labortisch, riss eine Schublade auf, nahm einen Flachmann heraus, der das Gegengift enthielt und nahm einen großen Schluck. Er seufzte wohlig, zog ein leeres Pergament, ein Tintenfässchen und eine Feder zu sich heran und begann aufzulisten, welche seiner Tränke, er in welcher Reihenfolge an ihr testen würde und welche Nebenwirkungen eintreten könnten. „Erst das Gift, dann das Abführmittel“, murmelte er. „Und natürlich das Serum für Brustwachstum, das ich für die Damen vom Königshof entwickelt habe. Das wird ein kleines Vermögen kosten, wenn ich es auf den Markt bringe, aber du meine Schöne, bekommst es umsonst. Schließlich ist es nur anständig von mir, deinen abgemagerten Körper etwas mehr Fülle zu verleihen.“ Und wenn ich mit dir fertig bin, dachte er, verkaufe ich dich an das Hurenhaus. Denn schließlich muss mir jemand Kost und Logis ersetzen.
So in Gedanken versunken bemerkte er nicht, wie sein Gast ihn hasserfüllt anstarrte und darüber nachsann, wie sie es am besten anstellte, sich aus diesem Käfig zu befreien und ihn eines Nachts mit dem Schürhaken zu erschlagen. Doch verwarf sie diesen Gedanken. Ihr Auftraggeber bezahlte sie dafür die Geheimnisse dieses Mannes zu stehlen. Dafür musste sie sein Vertrauen gewinnen und unauffällig seine Aufzeichnungen lesen. Um eines Nachts, wenn sie alles, was er über den Stein der Weisen in Erfahrung gebracht hatte, wusste, würde sie die Hütte unter ihm in Brand stecken. Wenn sie so darüber nachdachte, fiel ihr kein Grund ein, die Informationen an ihren Auftraggeber weiter zu leiten. Ein Elixier, das sie ewig jung und schön hielt und so viel Gold schuf, dass sie wie eine Königin in einem Schloss leben konnte, warum sollte sie das verkaufen und nicht für sich selbst verwenden? Sie drehte sich zum Kamin und starrte in die Glut. Diese Vorstellung gefiel ihr weitaus besser.
Der Alchemist nahm die versprochene Arznei und trat der Frau wie einem Hund in die Seite. „Hoch mit dir“, schnauzte er. „Trink das und dann ab mit dir in den Käfig. Vorher aber ziehen wir dir das hier an.“ Er zeigte ihr ein abgetragenes Hundehalsband.
Die Schamesröte stieg ihr angesichts dieser Erniedrigung in die Wangen.
„Das wagt ihr nicht“, knurrte sie.
„Oh doch“, seine Augen funkelten boshaft vor Freude. „Oder möchtest du zurück vor die Tür?“
Ihre Augen weiteten sich vor Schreck. Ergeben senkte sie ihr Haupt und er legte ihr das Halsband um. Sie fluchte leise vor sich hin.
Er zog sie zu sich heran, hielt das Fläschchen an ihre Lippen und leerte es in ihren unwilligen Mund. Es schmeckte fürchterlich. Danach verfrachtete er sie ohne Vorwarnung in den Käfig, verriegelte die Tür mit einem Vorhängeschloss und ließ sich in seinem Schaukelstuhl am Kamin nieder.
Sie fühlte eine heiße Wärme, die von ihrem Bauch ausstrahlte und bis in ihre Zehen wanderte. Zugleich rumorte ihr Magen und sie presste die Beine an ihren Oberkörper, um sie nicht einzusauen. Was zur Hölle hatte er ihr gegeben?
Der Alchemist griff nach einem dicken Buch. „Es wird Zeit, dir eine Geschichte vorzulesen. Eine Geschichte von einer Diebin, die glaubte ihren Meister bestehlen zu können. Ich will nicht zu viel verraten, aber nur so viel sei gesagt: sie nimmt ein böses Ende.“
Die Gefangene verlor die Kontrolle über ihre Notdurft und ein unangenehmer Geruch füllte die Hütte.
Der Alchemist tat, als bemerke er es nicht. Erst als er drei Kapitel laut vorgelesen hatte, brachte er ihr eine Schüssel Wasser und einen Lappen. „Bis zum Frühjahr ist es noch lang“, sagt er. Dann löschte er die Lampen, stapfte die Stiege hinauf und legte sich schlafen. Die junge Frau aber lag in der Dunkelheit eingezwängt in ihrem Käfig und mühte sich, vergeblich ihren Leib von ihren Ausscheidungen zu reinigen. „Er weiß es“, murmelte sie immer wieder und „er wird mich töten.“
In dieser Nacht verlor sie ihren Verstand und als der Alchemist am Morgen hinunter kam, um sie zu füttern, bellte sie ihn freudig an wie eine Hündin, die ihr Herrchen begrüßt. Der Alchemist nahm es lächelnd zur Kenntnis und setzte einen Haken hinter das erste Stichwort: Hundeelixier. Er griff nach einer leeren Seite und begann zu schreiben: Vielen Dank lieber Freund. Du hattest Recht. Diese bildhübsche, aber mittellose Schauspielerin ist ein passender Ersatz für den Knaben, den ich im Frühjahr totschlug. Ich denke, sie wird mir zeitweilig gute Dienste leisten. Zumindest bis ich sie weiterverkaufe. Du weißt ja, ich halte es nie lange mit ein und demselben Haustier aus. Ich freue mich schon auf deine nächste Lieferung und bin gespannt, welche Geschichten du noch erzählen wirst. Der Stein der Weisen ist bisher unser bestes Lockmittel. Hochachtungsvoll, dein guter Freund, der Alchemist.

Es klopfte.
Es klopfte noch einmal.
Wie lange eigentlich schon?
Mühsam stemmte sich der Alchemist von seinem alten Strohsack hoch. Der Schädel brummte ihm so sehr, dass er kaum geradeaus sehen konnte.
Herrje, wieso hatte er das Zeug eigentlich sofort selbst getrunken und nicht lieber eine der vielen Ratten gefangen, die hinten im Schuppen seine Vorräte auffraßen, um sein neuestes Gebräu an ihr zu testen? Die Rezeptur aus dem Buch des alten Meisters, das ganz hinten in der verschlossenen Schublade gelegen hatte, war widerlich gewesen. Hätte bestimmt sämtliche Ratten vertrieben.

Es klopfte schon wieder.
Wurde das denn wirklich jedes Mal lauter?
Schwerfällig schlurfte der Alchemist zur Tür, kam sich dabei vor, als wäre er noch älter als sein Meister, der vor einer Woche gestorben war. Wobei dieser längst nicht so alt gewesen war, wie er ausgesehen hatte.
Jetzt hatte der junge Mann hier das Sagen, alles in dieser schäbigen kleinen Hütte war nun sein. Endlich redetet ihm auch niemand mehr drein, wenn er sich gewagte Experimente ausdachte. Endlich hieß es nicht mehr, er müsse noch viel mehr lernen, wäre ein lausiger Schüler und dürfe dieses noch nicht und sollte von jenem die Finger lassen.
Wenn nur diese Schmerzen nicht wären.
Was hatte er gerade noch erledigen wollen? Wieso war er überhaupt aufgestanden?
Ach ja, da war es wieder. Dieses fürchterliche Geklopfe, das seinen Kopf in tausend Stücke zerspringen lassen wollte.

Der Alchemist schlurfte weiter in Richtung der Tür, übersah den Tisch, stieß sich schmerzhaft den Oberschenkel an der Kante an, geriet ins Straucheln und wäre beinahe gestürzt. Im letzten Moment fing er seinen Sturz an der Türklinke ab, riss damit ungewollt schwungvoll die Tür auf und kam halb an das Türblatt geklammert zum Stehen.

Jemand kreischte. Der Alchemist blinzelte verwirrt und sah verständnislos der Gruppe Kinder hinterher, die Hals über Kopf die Straße hinunterrannten.
Was hatten die nur?
Er drehte sich um, wollte die Tür wieder schließen, dabei fiel sein Blick in den winzigen Spiegel, den sein alter Meister vor ewigen Zeiten neben dem Eingang aufgehängt hatte.
Der Alchemist erstarrte bei dem schrecklichen Anblick, das Kinn sank ihm herab. Schlagartig fühlte er sich völlig ernüchtert, sah wieder klar, betastete vorsichtig sein Gesicht.
Das durfte nicht wahr sein.
Aus dem Spiegel sah ihm ein alter Mann entgegen, der seinem alten Meister verdächtig ähnlich sah.
Eine Welle der Wut, vermischt mit Entsetzen und Enttäuschung, spülte über den jungen alten Alchemisten hinweg. Kurz sank er in sich zusammen, dann straffte er sich und tappte zum Tisch zurück. Mit zitternden Fingern nestelte er den kleinen Schlüssel aus der Tasche, schloss die Schublade auf, kramte das vermaledeite Buch hervor, las noch einmal den verführerischen Titel »Verwandlungen für Fortgeschrittene« und warf es in hohem Bogen ins Feuer.

Onkel Hermes
Wohl oder übel hatte er zu viel von dem Elixier getrunken. Mit zitternder Hand öffnete der Alchemist die Tür. Ein Windzug fegte an ihm vorbei und wurde in seiner Kammer zu einem Wirbel. Verärgert drehte der alte Mann sich um und starrte den Strudel an.
Schimpfend erhob er seinen Zeigefinger:
„Kann man nicht wie jede vernünftige Fee die Kammer betreten?“
Der Wirbel drehte sich mehrmals um Hermes den Alchemisten, bis dieser mit einem Gekicher vor ihm zum Stillstand kam.
Eine elfenhafte weibliche Gestalt stand vor ihm.
„Ihr vergesst Onkel Hermes, ich bin die einzige Fee, die es gibt.“
Langsam ging Hermes Verärgerung in Fröhlichkeit über. Ein leises Summen setzte sich in seiner Kehle fest. Irritiert schaute Elle den Alchemisten an.
„Hast du es wieder getan?“, fragte sie mit Entsetzen, dabei rümpfte sie ihre Nase.
„Ich rieche Thymian wie bei meiner Geburt, Onkel. Sie hatten mir versprochen, ich würde die Einzige bleiben.“ Mit der Nase schniefend ließ die Fee ihren Blick umherschweifen.
„Wo ist die Feder, wo ist sie versteckt? Sag schon Onkel!“ Zorn breitete sich in Elle aus. Doch als sie zurück zu Hermes sah, schlug der Zorn in Erstaunen um. Mehrmals rieb sie sich über ihre Augen, ob sie auch ihren Sinnen Glauben schenken konnte.
Der Alchemist tanzte in gebückter Haltung und auf einem Bein vor der offenen Feuerstelle. Er schien viel kleiner zu sein und rief in seinem Wahn: „Heute back ich, morgen brau` ich, übermorgen …!“

„Ich komm ja schon, ich komm ja schon“, flötete der Professor während er den Flur entlang hastete. Wer mag wohl zu dieser frühen Stunde stören? Zögerlich öffnete er die Tür. „Oh, mein lieber Herr Oberst, was führt Sie so früh hierher?“
„Es ist bereits später Nachmittag“, entgegnete der Oberst verwundert.
„Tatsächlich?“ Der Professor kicherte.
„Geht es Ihnen gut?“ Der Oberst zog fragend die buschigen Brauen zusammen.
„Ganz vortrefflich. Kommen Sie.“ Er zog seinen Besucher in den Flur. „Ich fühle mich 30 Jahre jünger. Ach, was sage ich, 40 Jahre, mindestens.“ Er kicherte erneut und blickte die kleine Flasche in seiner Hand anerkennend an.
„Was haben Sie nun schon wieder zusammengebraut?“
„Ich habe keine Ahnung.“ Der Professor steckte die Flasche in die Tasche seines Morgenmantels.
Der Oberst schüttelte den Kopf und folgte dem Professor in Richtung Labor, aus dessen Tür ein bestialischer Gestank nach faulen Eiern drang. „Großer Gott!“ Hastig hielt sich der Oberst sein Taschentuch vor die Nase.
„Das ist mein Mittagessen, fürchte ich. Ich habe es vor ein paar Tagen irgendwohin gestellt und kann es nicht wiederfinden. Weshalb sind Sie hier?“ Der Professor drehte sich zu seinem Gast um.
„Sie haben mir ein Düngemittel versprochen.“
„Düngemittel?“
„Für meine Zimmerpflanzen.“ Der Oberst wurde ungedulig.
„Ach ja, ich erinnere mich. Wo habe ich es bloß?“ Suchend schaute sich der Professor um.
Er suchte bald eine halbe Stunde, während der Oberst die Fenster öffnete, um frische Luft hereinzulassen.
„Jetzt weiß ich es wieder!“ Der Professor griff in die Tasche des Morgenmantels. „Ach herrje, ich fürchte …“ Er blickte den Oberst erschrocken an, dann kicherte er wieder. „Kommen Sie nächte Woche um die selbe Zeit.“

Rattiges Gold

Basilius starrte in die dunklen Augenhöhlen des Schädels, den er vor vielen Jahren von einem fahrenden Händler erworben hatte und der ihm inzwischen ein liebgewonnener Gefährte war. „Du bist wohl auch unter dem Einfluß des Saturns geboren worden, du Unglücksmensch“, bedauerte er seinen kahlen und leider stummen Gefährten. Sechs Jahre schon war er in diesem Turmzimmer gefangen zwischen dicken ledergebundenen Büchern, Glaskolben, Kräutern, Phiolen und Tinkturen. Eine kleine Apothekerwaage stand auf seinem Schreibtisch mit den Resten des Pulvers, das heute in der Lieferung aus Ägypten endlich mitgekommen war. Sein Fürst hatte keine Mühen und Kosten gescheut er hatte ihm die Zutaten besorgt, die er angeblich für das Pulver benötigte, das er für die Verwandlung von Blei in Gold benötigte. Dabei hatte er nur Zeit schinden wollen, weil er nicht zugeben konnte, dass er nicht dieses Wissen besaß. Er hatte in einem der ledergebundenen Folianten gelesen, dass Anubispulver, Alraune und ein Löffelchen Quecksilber ziemlich alles in Gold verwandeln könnte, wenn der Saturn im Steinbock stand, wie es heute der Fall war.

Schwere Schritte schleppten sich den Turm hinauf. Es pochte fordernd und ungeduldig an die eisenbeschlagene Tür, die nur von innen zu öffnen war. „Lässt du deinen Herrn hier warten?“, rief eine befehlsgewohnte Stimme. Bist du zu feige zu bekennen, dass du nicht kannst, was du versprochen hast?“ Schwer atmend und mit gerötetem Gesicht stand sein Fürst in feinem Brokat vor ihm, und der Alchemist vermutete, dass gleich ein cholerischer Anfall folgen würde. „Aber setzt Euch doch, Majestät, alles ist Bestens!“, rief er, ohne zu wissen, wie er jetzt noch zu retten sei. Die Frist war abgelaufen. Er war gescheitert, so gut wie tot. Ihm fiel nichts mehr ein

Heute war es so weit, der Fürst hatte es tatsächlich geschafft, die schier unmöglichen Zutaten zu besorgen und stand nun in seinem Turmzimmer und erwartete Resultate von seinem Alchemisten. Basilius starrte auf seinen Schreibtisch, eine schöne Arbeit mit feinen Intarsien, der ein Geschenk aus der Zeit war, als der Fürst noch an seinen Alchemisten glaubte. Wenn er es heute nicht schaffte, etwas in Gold zu verwandeln, würde er in den Kerker geworfen werden als Scharlatan, und dort vermutlich vergessen werden.

Er starrte unter den Schreibtisch, wo die Ratte, die vorhin von dem Pulver gefressen hatte, das er heute zusammengemischt hatte, eben noch emsig umhergerannt war. Nun blickte sie starr mit goldenen Augen wie verwundert zu ihm auf. Unbemerkt von seinem fürstlichen Besucher nahm das Fell eine goldene Färbung an und die Bewegungen der Ratte wurden langsamer, bis sie golden und starr in der letzten Regung verharrte. Basilius spürte eine große Verwunderung und schließlich stellte sich ein Gefühl der Erleichterung ein. Hatte er es doch geschafft, etwas in Gold zu verwandeln! Im Hochgefühl des Triumphes war ihm klar, dass er selber in großer Gefahr war, lebendig in diesem Turmzimmer eingesperrt zu bleiben, versklavt um Gold für den Fürsten zu produzieren. Er wollte wieder die feine Luft des Waldes riechen, Wolken über den blauen Himmel ziehen sehen gehen, wohin es ihm beliebte. Sechs Jahre Gefangenschaft waren genug!

Er ließ etwas von dem neuen Pulver in das Weinglas des Fürsten rieseln. „Nun denn, mein Fürst, bekommst du endlich, was du so sehr begehrst, trinke noch einen Schluck Wein mit mir und genieße das Schauspiel“. In feierlicher Geste nahm er das Glas schweren Rotweins, drückte es dem Fürsten und die Hand und begann, etwas Quecksilber in einen Glaskolben zu gießen. Der Fürst trank den Wein und blickte gespannt auf die umständlichen Rituale seines Alchemisten, bis ihm der Kopf schwer und die Augen golden wurden. Der Alchemist wartete, bis die Verwandlung vollständig geschehen war, steckte das restliche Pulver und die goldene Ratte in die tiefen Taschen seines Gewandes und eilte die abgetretenen Steinstufen des Turmes hinunter. Auch er hatte sich verwandelt, dachte er. Aus einem rechtschaffenen Mann war ein Mörder geworden. Er staunte, dass ihn kein Gewissen plagte, so einfach ist das also, dachte er und trat mit federleichten Schritten aus dem Turm hinaus in die Nacht.

Es klopfte. Wie konnte das sein? Es gab keine Türe in seiner Höhle. Anesius ließ die Augen geschlossen, drehte sich erschöpft auf dem Nachtlager, glaubte sich im Traum.

„Eh, Alter, mach auf! Ich weiß, dass du da bist!“

Seltsam, so verständlich sprachen die Schlafgenien sonst nicht zu ihm. Und dieses erneute, fordernde Hämmern – normalerweise machten sie keinen Lärm. Vielmehr liebten sie es, ihn mit schemenhaften Bildern zu verwirren, von Dingen und Substanzen, deren Verbindungen des nächtens Sinn ergaben, ihn morgens jedoch rätseln, deuteln, oft genug verzweifeln ließen. Er hörte sich seufzen. Seit Wochen hoffte er auf ihre Eingebung, fand keine Lösung für den neuen Auftrag des Königs. Wie sollte er dessen Gemahlin nur wieder die verblichene, jugendliche Schönheit zurückgeben? Selbst für einen überragenden Alchemisten wie ihn schien diese Aufgabe …

„Mach endlich die verdammte Tür auf oder ich trete sie ein! Ich will meinen Stoff!“

Nein, dieses Poltern war nicht in seinem Kopf, sondern kam von außen an das Ohr. Er hob die schweren Augenlider. Im selben Moment zwei Donnerschläge, als keilte ein Kaltblüter gegen die Stallwand, etwas splitterte, schlug krachend auf den Boden.

Anesius fuhr hoch. Zu spät. Schon waren Hände an seinem Kragen, zerrten ihn empor, wirbelten ihn herum, warfen ihn wie einen halb gefüllten Hirsesack fort. Er knallte mit dem Rücken gegen eine Tischkante, Glas fiel herunter, zerbrach, augenblicklich stank es nach verwestem Rattenfleisch und ätzendem Taubendreck. Dieser Geruch. Ein Gedankenblitz. Er kannte ihn. Gestern Abend …

Über ihm Licht, kalt als käme es vom Mond, doch greller als die Mittagssonne. In seiner Höhle gab es nur Öllampen.

„Also, du kleine Pissnelke, was ist? Die Zeit ist um! Hast du meinen Stoff jetzt endlich fertig?“

Ein Hüne kniete auf ihm. Kein Haupthaar, schwarzer, akkurat gestutzter Bart, die Haut dunkel wie die der osmanischen Teppichhändler, am Hals eine Tätowierung, ähnlich denen der Walfänger aus der Hafenschänke. Ein reicher Hüne schoss es Anesius durch den Kopf, beim Anblick einer dicken, goldenen Halskette und zahlreicher Goldringe an der geballten Faust seines Angreifers. Er musste einen sehr mächtigen Fürsten erzürnt haben. Aber welchen? Und womit?

Eine zweite Gestalt schob sich vor das weiße Licht, das auf wundersame Weise aus länglichen Röhren von der Decke herabblendete.

„Scheiße Mann, der sieht aus als hätte er keinen Dunst wovon du sprichst.“

„Bullshit! Ich war doch wohl gestern deutlich genug, oder?!“

Ein ovales, junges Gesicht kam näher. „Boss, schau mal. Was is’n das für grünes Zeug da auf seinem Mund?“

Der Hüne beugte sich vor, wich angewidert zurück, sprang auf. „Eh krass, wie der stinkt!“

Frei, kein Gewicht mehr auf der Brust, Atem! Anesius schnappte nach Luft. Und plötzlich war alles wieder da. Wie ein sterbender Stern explodierten die Erinnerungen hinter seinen Augen, Abermillionen Bilder – gesammelt in 493 Jahren.

Verflucht die eine, letzte Nacht damals in der Höhle, als er die Becher verwechselt und anstelle des Weins sein neuestes Elixier getrunken hatte.

Verflucht sein größter Erfolg, der ihm seither den Tod verwehrte.

Damir und Chico würden ihm nichts anhaben können. Leider. Er würde ihnen einfach die Drogen fertigmachen und dann weiter an einem Gegenmittel für seine Unsterblichkeit arbeiten.

Geburtsstunde

Szene streift Historie, ist jedoch frei erfunden.

Ein unangemeldeter Besucher klopfte an die Tür des Alchemisten. Einmal, zweimal, ein drittes Mal. Der Alchemist, der sich versehentlich eine Überdosis seines jüngsten Elixiers verpasst hatte, öffnete die Tür.

„Willkommen Freund Samuel, dein Erscheinen bringt Rettung in dunkler Nacht. Komm schnell herein!“

„Welch Unglück bedarf meiner Taten? Sprich, Meister Alchemus!“

„Du kennst mich lange, Samuel. Meine Kunst ist mir wertvoller als mein Leben. Nie verließ ein Geheimnis meine Lippen.“

„Wohl wahr, Alchemus, wohl wahr. Was drängt dich also, dich zu öffnen?“

„Ich werde sterben, mein Werk darf es nicht! So höre meine Worte und versprich, die Weisheit zu verkünden!“

„Oh Meister, ich schwöre bei Kleopatra, der Alchimistin. Was geschah, sprich?“

„So sei es, Samuel. Eingeweiht bist du in die belebende Wirkung des Bohnenextrakts Coffea Arabica. Bekannt ist dir ebenso, dass ich schlecht schlafe.“

„Verzeiht Meister, das sind keine Mysterien…“

„Geduld, Samuel. Der alte Theophrastus wusste: Ähnliches wird durch Ähnliches behandelt und nicht Gegensätze durch Gegensätze.“

„Das verstehe ich nicht.“

„Das bedeutet, liebster Samuel, ich besiegte meine Schlaflosigkeit durch Coffea arabica! Das Ermunternde dämpft die Munterkeit.“

„Und das ist das ganze Geheimnis?“

Alchemus lächelte: „Nein, in der legendären Tabula Smaragdina steht geschrieben: ‚Nimm das Feine von dem Groben!‘ Die hohe Kunst ist, den Wirkstoff zu verdünnen. Gibt man einen Tropfen in ein Fass, wirkt er. Gießt man das Fass in einen See, verstärkt sich die Wirkung. Ich habe verdünnt und verdünnt, Wirkungen potenziert und potenziert. Ich erschuf das vollendete Schlafmittel.“

„Und worin, verehrter Meister, liegt die Tragik?“

„Mir fiel ein Tropfen des Vollendeten in mein Met, welches ich trank. Der Potenzen waren nun zu viele, nie wieder werde ich erwachen. Bitte umarme mich ein letztes Mal, Freund Samuel, und rette mein Werk!“

Samuel Hahnemann umarmte Alchemus innig. Darauf er trat ins Freie und verbreitete die Kunde. Weit erklang fortan sein Name. Alchemus, legte sich nieder, bereit zu sterben. Leider konnte er vor Aufregung nicht schlafen.

.

Tempus Tergum

In der Wohnung des Alchemisten, gegen Mittag:

Es klopft an der Tür. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.

Der Alchemist hält einen Glaskolben und einen schweren Messingmörser in der Hand. Er stellt den Kolben mit dem Rest eines metallisch glänzenden Sirups auf den Labortisch und öffnet die Tür.
Draußen steht … der Alchemist.

„Es funktioniert. Das Tempus Tergum funktioniert“ sagt der Alchemist vor der Tür (nennen wir ihn Alchemist ex futuro, oder der Einfachheit halber A2) mit unsicherer Stimme und schiebt unseren Protagonisten zurück ins Zimmer.
„Zwiefellos“ murmelt der.

A2 schwankt leicht und hält sich am Türrahmen fest und spricht (mit schwerer Stimme): „Bleib bitte ruhig dann wird alles gut“.

A1: „Ich wusste es, beim Trismegistos. Was…“.

A2: „Wir haben wenig Zeit, denn die Dosis war zu hoch und es gibt Nebenwirkungen. Lass mich erklären“.
Er lässt sich schwer auf einen Stuhl fallen, kaum noch fähig, aufrecht zu stehen.
„Bitte bleib ruihig, denn du… ich … wir haben einen Fehler gemacht. Sei achtsam.“

A1: „Hast Du getrunken?“.

A2 (schweigt zunächst und scheint fast einzuschlafen:„Egal. Du hast das Tempus Tergum akzipiert – aber in zu hoher Quantität. Nähmest du jetzt das Reaktivum, iterest du per Quant etwa drei Stunden zurück in tempore.“

A1: „Quid voluimus“.

A2: (Atmet schwer und ist kaum in der Lage klar zu sprechen): „Aber die substantia induziert das Animalische, reduziert den Intellekt und - vor allem – übersteigert die Libido.“ Er lacht lasziv. „Ach, Greta …“

A1: „Meine Greta?“ (Läuft unruhig hin und her.) „Was hast Du getan?“

A2: „Nicht deine – meine Greta, vergangenes Ich. So unschuldig, so leidenschaftlich. Nie habe ich der Fleisches Lust so hemmungslos…“

(Blende. Man hört einen Schlag, einen gedämpften Schrei).

A2 liegt mit gebrochenem Blick auf dem Boden. Neben ihm der blutige Messingmörser. Blut breitet sich unter seinem Kopf aus.

Der Alchemist, sichtlich erschrocken verlässt panisch das Haus.

Später, im Wirtshaus:

Der Alchemist sitzt grübelnd am Tisch und trinkt.
Er trinkt viel. Sehr viel.

Greta, seine Geliebte kommt dazu und setzt sich zu ihm, Sie bemerkt seinen Kummer hat und tröstet ihn.
Gemeinsam trinken sie weiter.
Greta: „Komm mit zu mir“.
Sie gehen.

Gretas Zimmer, nachts:

Der Alchemist kämpft sich aus dem zerwühlten Bett.
Er zieht sich an (mühsam), kramt die Phiole mit dem Reaktivum aus der Tasche und atmet schwer.
„Das wollen wir doch Mal sehen.“
Er leert die Phiole.

Vor dem Haus des Alchemisten, gegen Mittag:

Der Alchemist schwankt zur Haustür. Er klopft an der Tür. Einmal, zweimal, ein drittes Mal.

Panazee | Wegweiser ins Paradies

Donnernd krachte eine riesige Faust gegen die Holztür. Aber der Alchemist versuchte den rohen Eindringling zu ignorieren und weiter das zu tun, was er in diesem Moment für wichtiger hielt. Als jedoch kurz darauf wieder gegen die Tür gestoßen wurde, war die Wucht dieses Mal so heftig, dass das Holz splitterte und Eisenbeschläge umherflogen. Gleißendes Licht blendete ihn, ehe im nächsten Moment ein starker Windstoß ihn erfasste und tief in den Raum schleuderte. Alle Teile seines Körpers verkrampften und schienen innerlich zu brennen. Verblüfft sah er an sich herunter. Nur jetzt nicht aufgeben, dachte er. Das Experiment nicht vergessen. Er griff in seine Hemdtasche, zog die kleine Spritze hervor, führte deren spitze Injektionsnadel an seinen Hals und drückte die Flüssigkeit durch die feine Kanüle in seine Blutbahn.

Einen kurzen Moment später erlebte er sich dabei, wie er die zersplitterte Tür öffnete und eine Reihe von Gestalten auf ihn zuflogen. Von Kopf bis Fuß umschwirrten sie ihn, wobei sie ständig ihr Aussehen veränderten. Einmal waren es nur bloße Namen, die ihn umschwebten, ein anderes Mal umflorten sie ihn als glühende Herzen, wieder ein anderes Mal strahlten sie ihn als glücklich lachende Frauengesichter an. Er erkannte sie alle, jede Einzelne von ihnen. Eine schöner als die andere. Er staunte. Denn so viel sollten es doch gar nicht sein. Nur die eine sollte erscheinen, die, die er mehr als alle anderen liebte. Die Dosis war zu stark, dachte er. Aber nun war es zu spät. Er konnte es nicht mehr ändern. Und so genoss er, wie sie ihn alle herzlich umarmten, eine nach der anderen ihn zärtlich berührte, über die Wangen streichelte, seinen Kopf zu sich heranzog und ihn leidenschaftlich küsste. Es schien ihm, als würden sie wieder eins mit ihm, so wie damals in erfüllten Liebesnächten. Er fühlte, wie heilsam die Gedanken daran waren, wie die Erinnerung zu einer glücksbringenden Begleiterin wurde und eine innere Wandlung in ihm bewirkte auf dem Weg hin zu der neuen Existenz.

„Kanntest du ihn?“, fragte der junge Soldat. Er saß mit angezogenen Beinen ängstlich zitternd in der hintersten Ecke des Unterstandes, während draußen das Höllenfeuer der pfeifenden und explodierenden Artilleriegeschosse anhielt.
„Er war unser Stabsapotheker“, erwiderte der Sanitäter und brach mit leisem Knacken die eine Hälfte der Erkennungsmarke des Toten ab. „Als er Verbandsmaterial aus der Baracke holen wollte, hat ihm eine Granate die Beine weggehauen und die Därme aus dem Bauch gerissen. Er war ein etwas verrückter Kerl, ein Draufgänger. Wir nannten ihn den Alchemisten, weil er ein Präparat gemischt hat, das wir spritzen können, wenn bei Verwundeten das Ende unabwendbar ist. Er hat ihm den Namen Panazee gegeben, die erlösende Universalmedizin, den Wegweiser ins Paradies.“
„Darf man das?“
„Was meinst du? Die Spritze?“
Der Junge nickte.
Der Sani zuckte mit den Achseln. „Darf man Krieg führen?“

Potio Adulescens

Beschwingt im Tanze drehte sich
der Neualchemist Karl-Friederich.
Der neue Trank, er war fürwahr
ein ganz besonderes Exemplar.
»Seid willkommen, ihr fröhlichen Geister!«,
sprach zu den Flaschen der Trankesmeister.
Doch ihr munt’res Lachen wurde gestört,
welch garstig’ Geräusch hatte ihn gerade gestört?
Es klang seltsam, überlegte er kurz.
Hatte sein Kessel etwa gefurzt?
Wieder der Misston, vom Eingang her!
»Öffnet! Oder ihr bereut es sehr!«
Anselmus, Herr der Burg zu Rabenstein,
war erzürnt und trat herein.
»Habt Ihr gebraut, worum ich Euch bat?
Einen Trank, der Jugend zur Folge hat?«
Der Alchimist tänzelte zurück an den Tisch.
»Kerl, Ihr seid heute wunderlich!«
»Ah, ein neuer Trank, du holde Maid,
er schärft die Sinne und macht den Geist weit.«
Zu weit, so schien es Herrn Anselmus,
denn nun erhielt der Mörser einen Kuss.
»Oh, sage mir, du Stein der Weisen,
wie werden Jünglinge aus hutzligen Greisen?«
Mit einem Kichern sank Friederich zusammen,
»Oh, diese Wogen, die Stürme, die Flammen!«
Mit diesen Worten versank er in Schlaf,
Vergeblich schüttelte ihn der Graf.
»Genug mit dieser Narretei,
auf dem Tisch ist sicher das Richtige dabei.«
Anselmus wühlt sich durch die Flaschen
und hofft, die Richtige zu erhaschen.
»Potio Adulescens, das wird es sein!
Heranwachsender heißt das, nur auf Latein.«
Zufrieden zieht Anselmus von dannen,
mischt es mit Wein in silbernen Kannen,
kredenzt es sich und seiner Frau,
wie er selbst schon faltig und grau.
»Liebste, ein Schlummertrunk!«, er sprach.
»Ziehen wir uns zurück ins Schlafgemach.«
Im Bette dann, bei Kerzenschein,
fährt ihm ein Brennen ins Gebein.
Auch der Gemahlin entfährt ein Wimmern,
ihr Haar beginnt wieder bräunlich zu schimmern
und ihr Angesicht wird eben,
auch er fühlt lang vergeß’nes Leben.
Der Trank, er wirkt, es verschwinden die Falten!
Der trunkene Panscher hat Wort gehalten!
Er spürt ein gänzlich neues Verlangen,
auch sein Weib hat glühende Wangen.
Sie neckt ihn und streicht ihm über den Bauch:
»Ich brauch einen Mann jetzt!«
»Komisch, ich auch!«

Das Mündel

Der weltbeste Alchemist starrte mit verklebten Augen auf das Wappen auf dem Schild des Eindringlings. Man hätte ihn auch Besucher nennen können, gewiss. Aber die wenigsten Besucher wissen, dass sie derart unerwünscht sind und stellen deshalb noch vor Beginn der Unterhaltung einen bestiefelten Fuß in die Tür.
„Alchemist Abraham?“, die Stimme des Soldaten kam schroff unter dem zu eng sitzenden Helm hervor.
„Wie vielen Männer des Königreiches kennt Ihr denn noch, denen König Albrecht es gestattet Bart zu tragen?“, gab der Angesprochene zurück und fuhr sich stolz durch die lange, aber zunehmend verfilzte Gesichtsbehaarung. König Albrecht hatte vor mehr als zwei Dekaden eine Rasierpflicht eingeführt, vermutlich aus Neid, da seine Gesichtsbehaarung mehr als kümmerlich spross. Nur der Alchemist der Stadt war davon ausgenommen. Mit diesem Klischee hatte selbst der König nicht brechen wollen.
„Ihre Miete. Wir benötigen die volle Summe sofort.“
Der Alchemist kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und sah sich währenddessen in seiner Behausung um. Alles von Wert hatte er bereits verkauft. Mit der Alchemie lief es seit Längerem nicht so gut. Stein konnte er noch nicht zu Gold verwandeln und das Volk wandte sich zunehmend einer neuen Wissenschaft zu, die sich Medizin nannte. Eine Quacksalberei.
„Damit werde ich nicht dienen können.“
Der Soldat zögerte kurz, als ob er seine Möglichkeiten überdachte. Doch selbst der Alchemist war sich bewusst, dass der König ihm einen dritten Aufschub nicht gewähren würde. Er seufzte. Dann erzählte ihm der Soldat, was er schon wusste:
„Wenn Ihr nicht zahlen könnt, ist das Diebstahl. Und da Ihr in einer Unterkunft des Königs nächtigt und in seinem Dienste steht, ist es Hochverrat.“
Er zückte sein Schwert und hielt es die Kehle des Alchemisten. Zumindest dort, wo er die Kehle vermutete. Dazwischen war eigentlich noch jede Menge Bart.
„Sieht der König keine Möglichkeit mein Leben zu verschonen?“
Obwohl der alte Mann benebelt und müde vom Leben und vor allem von seinem letzten Gebräu war, regte sich nun doch Überlebenswille in ihm. Beinahe erleichtert gewährte der Soldat den Barthaaren wieder mehr Raum.
„Tatsächlich gibt es etwas.“
Ein Dekret, dass der Soldat die ganze Zeit unter seinem Brustpanzer gewärmt hatte, wechselte den Besitzer.
„Ich soll bitte was?“, dem belesenen Alchemisten fiel keine Kombination an Wörtern ein, um seinem Entsetzen Ausdruck zu verleihen.
„Ihre Mutter verstarb vor zwei Wochen. Sie ist fortan das Mündel des Königs. Jedoch weiß er nicht Recht, was er mit ihr anfangen soll. Sie soll ein… Wildfang sein.“
„Bei Albrechts Barte!“, rutschte es dem Alchemisten raus. Normalerweise war diese Verunglimpfung des Königs für spätere Stunden im Wirtshaus gedacht. Aber was hatte er noch zu verlieren? Offensichtlich die wenige Lebenszeit, die ihm noch zur Verfügung stand. Die Klinge des Soldaten war nun definitiv in der Nähe seiner Kehle. Einige kostbare Barthaare segelten langsam zu Boden.
„Verzeiht mein Mundwerk, ehrenwerter Herr. Selbstverständlich komme ich den wünschen unseres Königs nach und werde mich sogleich auf den Weg machen. Er kann sein Mündel gut versorgt wissen.“
Zufrieden grinsend, beobachtete der Soldat, wie der Alchemist das Dekret unterzeichnete und damit seinen Lebensweg für die nächsten fünfzehn Jahre besiegelte. Dann verabschiedete er sich und der alte Mann blieb alleine zurück.
Was hatte er sich nur dabei gedacht? Warum wollte der König, dass er sich in seinem Alter um ein junges Balg kümmerte? Gab es keine Ammen mehr für so etwas? Er streckte seinen knackenden Rücken durch und packte seine wenigen Habseligkeiten für die Reise.
Dann verließ das weltbeste Kindermädchen sein Zuhause.

Der Tod des Alchimisten

Es klopft.
„Hallo? Meister Alchemist? Alles in Ordnung da drinnen?“
Ein Stöhnen, zu leise um den Klopfer vor der Tür zu erreichen.
„Ich habe Schreie vernommen? Höret Ihr mich?“
Es klopft weiter.
Ein grausiges würgendes Hecheln aus dem Laboratorium:
„J…a… a…b…e…r…“
Wie??
Lautes Klopfen.
Die röchelnde Stimme:
„O…h… G…o…t…t…! … I…c…h… k…o…m…m…e…“
Etwas schabt innen am Holz. Die Klinke geht langsam nach unten.
Der Klopfer versucht, die Tür nach innen zu drücken.
Etwas leistet Widerstand.
Der Alchemist liegt drinnen, auf dem Gesicht, zuckend und wimmernd.
„Um des Himmels Willen, Meister! Was ist Euch geschehen?“
Unter konvulsivischen Krämpfen kommt es über die sterbenden Lippen:
„D.a.s… E.l.i.x.i.r… Z.u… s.t.a.r.k…!“
Eine kleine blaue Pille rollt aus der verkrampften Faust des Toten auf den Boden.
Laut schluchzt da der Besucher auf:
„Welch ein Unglück. Meister Pfizer ist nicht mehr!“

Der Anschlag

Er spürte heißen Zorn, der ihn übermannte. Härter und eindringlicher hämmerte er an die Tür. Es blieb ihm nur noch einen Tag Zeit!
„Mach endlich auf, alter Kauz! Wir müssen reden!“
Eine weitere Sekunde verstrich. Gerade wollte er erneut an die Tür schlagen, da öffnete sie sich langsam, ja beinahe zögerlich.
Eine junge, rothaarige Frau, eingehüllt in den viel zu großen Mantel des alten Alchemisten, starrte ihm entgegen. Verblüfft erwiderte er ihren Blick.
„Entschuldigt. Ich dachte … “, kam es ihn überrascht über die Lippen, ehe er sich wieder fasste. „Und wer seid nochmal ihr?“
Er betrachtete sie näher. Ihre grünen Augen, ihre mittellangen Haare. Sie wirkte, wie aus einem Gemälde gekrochen, mit dem Titel ‚Verführerisches Hexenmädchen‘. Er spürte, dass sein Zorn verflog, einfach weil sie ihn schüchtern anlächelte.
Er hatte diese Frau nie in diesem Ort gesehen. Und bei 76 Seelen war das praktisch unmöglich. Hatte der alte Kauz Besuch? War sie seine Tochter? Über den Plan reden wollten sie heute! Heute! Und er empfing Besuch?
„Ich musste dir öffnen, ehe noch die Nachbarn vorbeischauen. Bei dem Lärm“, meinte sie langsam.
„Ihr sprecht mit mir, als ob wir uns kennen? Wie heißt ihr?“
Sie griff plötzlich seinen Arm, zog ihn in Innere das Laboratoriums. Süßlicher Geruch nach Sandelholz lag in der Luft. Irgendwo seitlich in einer gläsernen Apparatur gluckerte eine violette Substanz. Die schwere Eichentür fiel mit einen Schubs von ihr ins Schloss.
„Ich glaube, ich sollte euch etwas anbieten.“
Diese Worte zogen ihn direkt in die Wirklichkeit. Er starrte sie an, zwang sich, nicht ihre weiblichen Züge zu taxieren. Was konnte sie ihm schon anbieten? „Wie … ehm … gerne?“
Sie lachte glockenhell. „So war das nicht gemeint.“ Sie legte einen Finger auf ihre Lippen, sprach leiser, als sei es ein Geheimnis. „Ich bin es. “
„Wer?“
„Na ich. Kotanros der Mächtige.“
Fassungslos sah er sie an. Sagte sie gerade, dass sie der 120 jährige alte Kauz sei?
„Wie meint ihr das? Ihr beliebt zu scherzen!“
„Jetzt reißt euch zusammen!“, mahne sie ihn schärfer. „Dieses Elixier! Es gehört zum Plan. Aber es funktioniert besser als gedacht.“
Der Plan. Ja richtig. Langsam kamen seine Gedanken wieder zurecht. Es ging darum seinen Widersacher, den Lüstling Polantris zu Fall zu bringen. Dieser machte seiner Frau schon zu lange schöne Augen. Er hatte sich die Hilfe des Alchemisten erkauft, aber er hatte nicht geliefert. Langsam lief die Frist ab. Denn Polantris hatte seine Frau unter einem Vorwand bei sich eingeladen. Morgen.
Und jetzt war der Alchemist verschwunden! War das eine Falle?
„Gehört ihr wirklich zum Alchemisten?“, meinte er argwönig. Vielleicht, so dachte er sich, hatte der alte Kauz geplaudert und nun lauerte man ihm auf.
„Mensch! Jungspund. Denkt mit eurem Kopf.“ Sie pausierte kurz. „Dieses Elixier verändert die Gestalt. Und das ziemlich gut, nicht wahr?“
Er kniff die Augen zusammen, betrachtete sie.
„Muss ich meinen Mantel öffnen, damit du mir glaubst?“, fragte sie etwas vertraulicher.
„Bewahre!“
Sie ging beschwingt, ja amüsiert zum gläsernen Konstrukt. Das Gluckern war eindringlicher geworden. Sie füllte eine kleine Phiole mit einer Flüssigkeit ab, die an violetten Honig erinnerte.
„Hier für dich.“
„Ich soll mich verwandeln?“
„Du wolltest einen Weg, an deinen Widersacher heranzukommen. Ihn zu meucheln, nachts, in seinem Schlafzimmer! Das ist der Weg Junge! Der Weg nah an ihn heranzukommen!“
„Als Frau?!“, meinte er ungläubig und hob das Elixier vor seine Augen. Violett und geheimnisvoll schimmerte es wie von einem schwachen inneren Feuer beseelt.
„Wann lässt die Wirkung nach?“
Der Alchemist, oder die Hexe, in die sie sich verwandelt hatte – schien einen Augenblick zu lange zu zögern.
„Nach einer kleinen Weile. Eine Stunde, vielleicht zwei“, meinte sie beschwichtigend. Etwas Verschlagenes lag in ihren schönen grünen Augen.
„Gut!“, sagte er leichthin und wandte sich zur Tür. „Das reicht mir.“ Er ließ seinen Beutel Gold an der Tür fallen. „Es ist perfekt.“

Am Tag darauf hörte man Geschrei. Der Schönling Polantris war verschwunden. Aber inmitten von verschütteten Wein, in seinem Haus, fand man allerdings ein junges Mädchen vor. Sie war schwarzhaarig und naiv – bestimmt aus dem Nachbardorf. Sie rief immer Seltsames wie: „Ich bin es! Ich bin es, verdammt! Man hat mich verzaubert!“ Das Mädchen fluchte wie ein Wegelagerer.
Sie wurden jedenfalls aus dem Dorf verstoßen.
Gerüchten zur Folge arbeitet sie nun als Tagelöhner beim Müller am Waldesrand.

Begierden

Mit einer Hand am Türrahmen festhaltend, die andere auf den Bauch pressend, stand er da. Geblendet von der untergehenden Sonne, die die Umrisse des Gastes in ein romantisches Licht tauchten.
„Ich hörte, ihr seid der Beste.“ Engelsglocken könnten nicht schöner in seinen Ohren klingen. Überall hätte er diesen sanften, melodischen Hall wieder erkannt.
In seinem Bauch rumorte es lautstark, aus seiner Kehle schlüpfte ein krächzender Laut, mit dem er eigentlich Fragen wollte ‚Worin?‘
Stattdessen vernahm sein Gast „Wohin?“

„Uh, so bestimmend, das gefällt mir.“ Ein zarter, langer Finger strich über seine Brust, vollführte eine Piruette und tat mit seinem Herzen dasselbe. „An deinem Lieblingsort.“ Ihre nach Honig duftenden Haare wehten ihm ins Gesicht, als sie grazil an ihm vorbeischritt.

Konnte das wahr sein?, ging es ihm durch den Kopf. Yenefer war zu ihm gekommen? Ihm? Kurze, schwere Atemzüge pumpten Luft in seine engen Lungen. Seine Lippen öffneten sich, wollten die Fragen in seinem Kopf loswerden. Ein „Puuuuuh“ entwich seinem Mund. Er schaffte es gerade noch, sich mit dem Rücken gegen eine Wand zu lehnen. Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn. Yenefer blickte nur kurz über ihre Schulter, mit einem Lächeln, welches ihm die Knie so weich werden ließ, wie der Brei, den er zuvor gegessen hatte.
Seine Kleidung fühlte sich plötzlich fiel zu eng auf seiner Haut an. Rinnsale strömten über seinen Körper und seine Finger wurden taub. Was war nur los mit ihm?

Yenefer ging unterdessen weiter. Ihre Fingerspitzen glitten dabei ebenso sanft über die dunklen Holzmöbel, wie zuvor über seinen Körper. „Pool, so so. Wo geht’s lang?“
Fragend drehte sie sich zu ihm um, streckte ihren linken Arm von sich und begann ganz langsam ihre Jacke hinab zu schieben. Die Träger ihres spitzenbesetzten Shirts fielen als nächstes, während ihre großen, braunen Augen ihn betrachteten, als sei er die leckerste Frucht, die sie je gegessen hatte.

Dampf stieg aus seinen Ohren und seinen Nasenlöchern. In seinem Inneren quetschten sich seine Organe gegeneinander, als würden sie um die Vorherrschaft kämpfen. Seine Augen huschten zum Esstisch, über seine angeschlagene, graue Porzellanschüssel, in der die Reste seines Mittagsbreis zu sehen waren. Daneben stand ein schmales, lilafarbenes Fläschchen. Seine neueste Kreation. Ein Auftrag von einem unbekannten Spender. Wie immer eigentlich. Siedend heiß erkannte er in diesem Augenblick seinen Fehler.
Ziegenmilch. Er kochte seinen Brei damit. Eine Zutat, die die Wirkung des Elixier verzehnfachte. Seinen Trank, der doch eigentlich nur die Arbeitskraft stärken und den Hunger stillen sollte… Aber in dieser Menge…
Ein Geräusch, als würden seine Gedärme einen Alarm auslösen wollen, dröhnte aus seinem Körper. Und vermutlich war es auch genau als solches zu verstehen.

"Was ist mit dir?“ Yenefers puppengleiches Gesicht wirkte plötzlich verstört. Auf ihrer Stirn bildeten sich Wellen, die ihr junges Antlitz altern ließ.
Im selben Moment, als sie mit ausgestrecktem, nackten Arm nach vorne trat, bemerkte er, wie sich die Hölle höchstpersönlich aus ihm befreien wollte. Er schaffte es im letzten Moment, die Holztür erneut zu öffnen und hinter sich ins Schloss fallen zu lassen, als genau das geschah. Geschichtsbücher werden von einem Knall berichten, wie ihn die Götter selbst nicht hätten hervorbringen können. Die Erde begann zu beben, Fenster und Türen wurden aus den Angeln gerissen, Dachziegel stürzten auf die mit Kopfsteinpflaster bedeckte Straße. Und in der nächsten Sekunde war alles still.
Er wagte es nicht, sich zu rühren, wagte es nicht, sich umzublicken.
Irgendwann tat er es doch.
Hinter ihm klaffte ein Loch in der Wand. Dahinter lagen nur Trümmer. In dessen Mitte jedoch stand eine helle Gestalt mit rotglühenden Augen. Die Arme weit von sich gestreckt umgab sie eine durchscheinende Sichel.
„Ich wollte mich selbst überzeugen. Du bist der Beste.“ Die Gestalt verdunkelte sich, ein schwarzer Umhang legte sich über die nackten Schultern. „Das ist die perfekte Waffe für meine Feinde.“ Spitze Zähne blitzen hervor, als ein dröhendes Lachen ertönte, welches nichts mehr von dem anmutigen Klang der Schönheit hatte.
„Fang an zu brauen, Alchemist.“ hörte er noch, bevor die Gestalt verschwand.

Der Alchimist und das Weihnachtswunder

„Mein Gott, wer begehrt so dringend Einlass in dieses bescheidene Heim?
Oder geht es mal wieder nur um meinen Wein?“
Kichernd über seinen gelungenen Reim, betrachtete Michael Flanell seine sich unter ihm drehenden Filzlatschen. Dann die schmalen, abgewetzten und löchrigen Galoschen im Schnee, vor seiner geöffneten Haustür. Einem inneren Ablaufplan folgend, drückte er seine krummen Beine durch, kniff den Hintern zusammen und erinnerte sich düster, auch den Bauch einziehen zu müssen um dann die Brust aufzurichten, bevor er …
„Verdammt, Kind, bist du klein! Solltest du nicht längst im Bette sein?“, rief der Alchimist überrascht aus, als er begriff, dass er den Kopf gar nicht heben musste. Es wartete kein bärtiges Gesicht eines Mannes von Welt, zwei Etagen über seiner Schlafanzughose, auf ihn. Auf Höhe des Gürtels, der, über seinem von Wohlstand bestens gewölbten Bauch, den kuschelig warmen Morgenmantel zusammenhielt, hatten seine unruhig umherirrenden Augen bereits das von Kälte gerötete und tränenverschmierte Gesicht eines kleinen, abgemagerten Jungen entdeckt.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals… die nächtliche Störung… Herr Flanell, sie haben ganz Recht… ich gehöre …natürlich…, eigentlich… ins Bett, aber…“, stammelte der Bursche nur mühsam unter weiterem Schluchzen. Seine schmalen Schultern bebten unter dem kurzen, schwarzen Wollmantel, der augenscheinlich viel zu dünn für die eisige Kälte dieser Dezembernacht war, die auch Flanell mittlerweile garstig in die Nase zwickte.
„Komm erst einmal herein, in mein warmes Heim!“, bot Flanell dem Jungen an und öffnete weiter die Tür. Dabei dachte er sich: Was mache ich hier? Wieso reime ich immerzu? Und warum zum Teufel fühle ich mich bei allem so unverschämt gut?
An den Weihnachtstagen und dem Punsch konnte es nicht liegen, denn das hatte in all den vergangenen Jahren nie so eine Stimmung in ihm ausgelöst. Und wenn sonst jemand zum Himmel stank, wie gerade dieses Kind, dass sich ganz langsam näherte, hielt er für gewöhnlich angewidert den Atem an, und trollte sich so schnell er konnte. Seit wann war das so? War er nicht selbst aus den Tiefen der Gosse wie eine hungrige Ratte hervorgekrochen?
Das Mittel, welches er gerade erst eingenommen hatte, schien so einige Sinne zu trüben!
In diese Gedanken eifrig verstrickt, betrachtete Flanell den Jungen mit einem Anflug von ungewohnter Heiterkeit und Wärme im Herzen, während dieser unsicher die Türschwelle überquerte und mit dem Saum seines Jackenärmels ein grüngelbes Gemälde mit grauschwarzen Schlieren in seinem Gesicht malte. Einzigartig, dachte Flanell und verkniff sich ein Lachen, als er die Tür hinter sich und dem Jungen schloss. Denn dieses Weinen und Schniefen klang zu laut, zu traurig, gar nicht passend in seinen Ohren.
Dass musste schnellstmöglich aufhören, denn es störte immens Flanells sonst so wundervolles, ungetrübtes Befinden.
„Na, na, wer wird denn in meinem Haus so weinen, ein Alchimist, wie ich, hilft natürlich auch den Kleinen.“
Flanell wusste, dass er gerade völligen Unsinn erzählte, gab er sich wie gerade erst festgestellt, schon lange nicht mehr mit dem gemeinen Volk und ihren Nöten ab. Die Suche nach dem Elixier des Lebens ließ ihm dafür einfach keine Zeit und keinen Raum mehr. Aber vielleicht hatte er es ja gerade gefunden, dann würde sich alles ändern, einfach alles… Wann eigentlich genau hatte er es gefunden? Er zog, etwas schwankend seine Taschenuhr aus den Tiefen seines grauen Morgenmantels. Der störrische Deckel öffnete sich erst nach dem dritten Versuch. Er studierte intensiv die Zeiger, dabei stieß seine Nase einmal beinahe direkt an die Zeiger, dann wieder war sein Arm nicht lang genug.
Er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was sie zeigten. Hm, was sollten sie ihm noch einmal zeigen?
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Knabe nun höflich und schaute mit auf die Uhr.
„Nein, nein, nicht so wichtig, eine dumme Angewohnheit nur.“
Flanell war so in seiner eigenen Welt gefangen, dass er beim Angebot des Jungen gar nicht stutzte.
Er war damit beschäftigt, die Minuten zu schätzen. Doch er kam zu dem Schluss, es müsste ihn nicht mehr interessieren. Sein Geist, sein grandioser, alles überragender Geist sagte ihm, von nun an hätte er, dank des neuen Gebräues, unendlich viel Zeit.
Unendlich, bedeutete das, nach dem Ende kam kein Ende oder es gab wirklich kein Ende? Aber wenn es kein Ende gab, was passierte dann mit dem Anfang? Egal. Alles was zählte war: er fühlte sich jetzt und hier leicht und beschwingt wie eine Feder, natürlich herrlichste Daunen. Er bestand nur noch aus dem Bedürfnis, alle um sich herum genauso glücklich, zufrieden und frei von Zweifeln und Nöten zu sehen, wie er sich selbst in diesem Augenblick sah.
Die Welt war schön und er unsterblich! Er war Gott! Und Gott würde dem Jungen jetzt eins, zwei, fix helfen.
„Eins, zwei, fix - jetzt bist du glücklich, hix“, säuselte Flanell.
Dabei hätte er die Türklinke lieber nicht loslassen sollen, um mit der nun freien Hand vor den Augen des Buben herumzufuchteln. Alles geriet ins Schwanken, die Uhr rutschte Flanell aus den Fingern und bei dem Versuch sich zu bücken, drehte sich plötzlich alles. Flanell wurde gleichzeitig furchtbar übel und schwarz vor Augen. Das letzte, was er spürte, war der harte Kuss des Garderobenschrankes an seinem linken Schläfenlappen.

Der Junge aber warf den Mantel von sich, so dass ein strahlend weißes Hemd mit einer reinen Seele zum Vorschein kam.
Er wuchs und wuchs, wuchs über sich hinaus.
Dann breitete er seine Flügel aus und hüllte Michael Flanell in sein Licht und seine Wärme.
Und mit der Stimme eines Weihnachtsengels sprach er ruhig zu dem Mann zu seinen Füßen:

"Du hast mich trotz meiner Erscheinung ins Haus gebeten,
allein aus diesem Grunde gewähre ich dir bereits weiter dein Leben.
Morgen wirst du dich kein bisschen mehr an mich erinnern,
aber Dankbarkeit wird durch dein Handeln schimmern.
Gott wirst du nicht, auch nicht ewig leben,
doch ab heute wirst du deine Zeit wieder den Armen geben.
Denn so hast zu begonnen, das war dein Ziel,
diesen Weg erneut zu beschreiten, erfordert nicht viel.
Am Ende wirst du reicher beschenkt als mit Weihnachten oder ewigem Leben,
dies eine wird dir Liebe, Freundschaft und Zufriedenheit geben.

Wenn wir uns eines Tages dann wieder sehen,
wirst du erfüllt sein, von allem, was ab diesem Moment geschehen."

Leise, ohne das es Flanells Welt nochmals berührte, schloss sich die Tür hinter dem unerwarteten, nächtlichen Gast.