Der Alchimist und das Weihnachtswunder
„Mein Gott, wer begehrt so dringend Einlass in dieses bescheidene Heim?
Oder geht es mal wieder nur um meinen Wein?“
Kichernd über seinen gelungenen Reim, betrachtete Michael Flanell seine sich unter ihm drehenden Filzlatschen. Dann die schmalen, abgewetzten und löchrigen Galoschen im Schnee, vor seiner geöffneten Haustür. Einem inneren Ablaufplan folgend, drückte er seine krummen Beine durch, kniff den Hintern zusammen und erinnerte sich düster, auch den Bauch einziehen zu müssen um dann die Brust aufzurichten, bevor er …
„Verdammt, Kind, bist du klein! Solltest du nicht längst im Bette sein?“, rief der Alchimist überrascht aus, als er begriff, dass er den Kopf gar nicht heben musste. Es wartete kein bärtiges Gesicht eines Mannes von Welt, zwei Etagen über seiner Schlafanzughose, auf ihn. Auf Höhe des Gürtels, der, über seinem von Wohlstand bestens gewölbten Bauch, den kuschelig warmen Morgenmantel zusammenhielt, hatten seine unruhig umherirrenden Augen bereits das von Kälte gerötete und tränenverschmierte Gesicht eines kleinen, abgemagerten Jungen entdeckt.
„Entschuldigen Sie bitte vielmals… die nächtliche Störung… Herr Flanell, sie haben ganz Recht… ich gehöre …natürlich…, eigentlich… ins Bett, aber…“, stammelte der Bursche nur mühsam unter weiterem Schluchzen. Seine schmalen Schultern bebten unter dem kurzen, schwarzen Wollmantel, der augenscheinlich viel zu dünn für die eisige Kälte dieser Dezembernacht war, die auch Flanell mittlerweile garstig in die Nase zwickte.
„Komm erst einmal herein, in mein warmes Heim!“, bot Flanell dem Jungen an und öffnete weiter die Tür. Dabei dachte er sich: Was mache ich hier? Wieso reime ich immerzu? Und warum zum Teufel fühle ich mich bei allem so unverschämt gut?
An den Weihnachtstagen und dem Punsch konnte es nicht liegen, denn das hatte in all den vergangenen Jahren nie so eine Stimmung in ihm ausgelöst. Und wenn sonst jemand zum Himmel stank, wie gerade dieses Kind, dass sich ganz langsam näherte, hielt er für gewöhnlich angewidert den Atem an, und trollte sich so schnell er konnte. Seit wann war das so? War er nicht selbst aus den Tiefen der Gosse wie eine hungrige Ratte hervorgekrochen?
Das Mittel, welches er gerade erst eingenommen hatte, schien so einige Sinne zu trüben!
In diese Gedanken eifrig verstrickt, betrachtete Flanell den Jungen mit einem Anflug von ungewohnter Heiterkeit und Wärme im Herzen, während dieser unsicher die Türschwelle überquerte und mit dem Saum seines Jackenärmels ein grüngelbes Gemälde mit grauschwarzen Schlieren in seinem Gesicht malte. Einzigartig, dachte Flanell und verkniff sich ein Lachen, als er die Tür hinter sich und dem Jungen schloss. Denn dieses Weinen und Schniefen klang zu laut, zu traurig, gar nicht passend in seinen Ohren.
Dass musste schnellstmöglich aufhören, denn es störte immens Flanells sonst so wundervolles, ungetrübtes Befinden.
„Na, na, wer wird denn in meinem Haus so weinen, ein Alchimist, wie ich, hilft natürlich auch den Kleinen.“
Flanell wusste, dass er gerade völligen Unsinn erzählte, gab er sich wie gerade erst festgestellt, schon lange nicht mehr mit dem gemeinen Volk und ihren Nöten ab. Die Suche nach dem Elixier des Lebens ließ ihm dafür einfach keine Zeit und keinen Raum mehr. Aber vielleicht hatte er es ja gerade gefunden, dann würde sich alles ändern, einfach alles… Wann eigentlich genau hatte er es gefunden? Er zog, etwas schwankend seine Taschenuhr aus den Tiefen seines grauen Morgenmantels. Der störrische Deckel öffnete sich erst nach dem dritten Versuch. Er studierte intensiv die Zeiger, dabei stieß seine Nase einmal beinahe direkt an die Zeiger, dann wieder war sein Arm nicht lang genug.
Er konnte beim besten Willen nicht erkennen, was sie zeigten. Hm, was sollten sie ihm noch einmal zeigen?
„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte der Knabe nun höflich und schaute mit auf die Uhr.
„Nein, nein, nicht so wichtig, eine dumme Angewohnheit nur.“
Flanell war so in seiner eigenen Welt gefangen, dass er beim Angebot des Jungen gar nicht stutzte.
Er war damit beschäftigt, die Minuten zu schätzen. Doch er kam zu dem Schluss, es müsste ihn nicht mehr interessieren. Sein Geist, sein grandioser, alles überragender Geist sagte ihm, von nun an hätte er, dank des neuen Gebräues, unendlich viel Zeit.
Unendlich, bedeutete das, nach dem Ende kam kein Ende oder es gab wirklich kein Ende? Aber wenn es kein Ende gab, was passierte dann mit dem Anfang? Egal. Alles was zählte war: er fühlte sich jetzt und hier leicht und beschwingt wie eine Feder, natürlich herrlichste Daunen. Er bestand nur noch aus dem Bedürfnis, alle um sich herum genauso glücklich, zufrieden und frei von Zweifeln und Nöten zu sehen, wie er sich selbst in diesem Augenblick sah.
Die Welt war schön und er unsterblich! Er war Gott! Und Gott würde dem Jungen jetzt eins, zwei, fix helfen.
„Eins, zwei, fix - jetzt bist du glücklich, hix“, säuselte Flanell.
Dabei hätte er die Türklinke lieber nicht loslassen sollen, um mit der nun freien Hand vor den Augen des Buben herumzufuchteln. Alles geriet ins Schwanken, die Uhr rutschte Flanell aus den Fingern und bei dem Versuch sich zu bücken, drehte sich plötzlich alles. Flanell wurde gleichzeitig furchtbar übel und schwarz vor Augen. Das letzte, was er spürte, war der harte Kuss des Garderobenschrankes an seinem linken Schläfenlappen.
Der Junge aber warf den Mantel von sich, so dass ein strahlend weißes Hemd mit einer reinen Seele zum Vorschein kam.
Er wuchs und wuchs, wuchs über sich hinaus.
Dann breitete er seine Flügel aus und hüllte Michael Flanell in sein Licht und seine Wärme.
Und mit der Stimme eines Weihnachtsengels sprach er ruhig zu dem Mann zu seinen Füßen:
"Du hast mich trotz meiner Erscheinung ins Haus gebeten,
allein aus diesem Grunde gewähre ich dir bereits weiter dein Leben.
Morgen wirst du dich kein bisschen mehr an mich erinnern,
aber Dankbarkeit wird durch dein Handeln schimmern.
Gott wirst du nicht, auch nicht ewig leben,
doch ab heute wirst du deine Zeit wieder den Armen geben.
Denn so hast zu begonnen, das war dein Ziel,
diesen Weg erneut zu beschreiten, erfordert nicht viel.
Am Ende wirst du reicher beschenkt als mit Weihnachten oder ewigem Leben,
dies eine wird dir Liebe, Freundschaft und Zufriedenheit geben.
Wenn wir uns eines Tages dann wieder sehen,
wirst du erfüllt sein, von allem, was ab diesem Moment geschehen."
Leise, ohne das es Flanells Welt nochmals berührte, schloss sich die Tür hinter dem unerwarteten, nächtlichen Gast.