Das verlorene Dorf
Etwas Großes flog durch die Luft und traf eine alte Hütte. Holz splitterte und das Dach stürzte wie eine Flutwelle herab. Panisch verbarg Gerhard sich hinter einem umgestürzten Karren. Ein gewaltiger Körper zog an ihm vorbei, er konnte das Ding atmen hören und versuchte, kein Geräusch zu verursachen. Die Welt, die er kannte, existierte nicht mehr. Und alles, was es gebraucht hatt, um zu beginnen, war ein kleines, verlorenes Mädchen.
Zwei Tage zuvor
Es war weit nach Mittag, als er in der Stadt Adon ankam. Der Dorfbewohner, der ihn begleitete, führte ihre Pferde zu einer kleinen Kapelle und beeilte sich, den Priester zu holen. Kurz darauf trat der heilige Mann ein und begrüßte ihn nervös.
Die Inquisition war ein Gast, den niemand herzlich willkommen hieß, aber in diesem besonderen Fall hatten sie nach ihm gerufen. Er ignorierte die stotternden Begrüßungsworte und sah sich um. Die Stadt war eine Ansammlung von Scheunen und kleinen Holzhäusern. Vor zwanzig Jahren war sie gegründet worden und die Bauern kämpften seither gegen den Wald an, um das Land zu bewirtschaften. Nicht weit entfernt sah er die erste Reihe von dunklen, alten Bäumen. Im Winter würden sie fallen, um Brennholz für die Bauern zu liefern.
„Wo ist sie?“, schnauzte er. Es war nicht nötig, freundlich zu sein. Er würde diese Stadt so schnell wie möglich verlassen.
„Meister Gerhard, Herr, wir haben sie in einem kleinen Raum in der Kapelle eingesperrt, damit der Satan ihr nicht zu Hilfe kommt“, flüsterte der Priester. Er nickte langsam. Seit Jahren war er für die Inquisition tätig. Er hatte manch alte Frau gesehen, die als Hexen bezeichnet wurde, viele waren auf dem Scheiterhaufen verbrannt, um die Dörfer ruhig zu halten. Der Satan hatte sich nicht blicken lassen, um einer von ihnen zu helfen. Gerhard würde weiterhin dafür sorgen, dass niemand an der Macht der Kirche zweifelte.
„Worauf wartest du? Zeig mir den Weg!“ Er löste seine Tasche vom Sattel und der Dorfbewohner trat heran, um sich um das Pferd zu kümmern. Der Priester verneigte sich tief und öffnete die Tür.
Wie er erwartet hatte, war die Frau, die er sah, eine der alten, schmutzigen Gestalten, die er schon oft gesehen hatte. Sie stank, und er war sicher, dass sie sich lange nicht mehr gewaschen hatte.
„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er kalt. Sie nickte zögernd.
„Dann kennst du den Grund, warum ich hier bin.“ Er legte seine Tasche auf einen niedrigen Tisch und öffnete den Lederverschluss. Silberne Messer und Kreuze mit rasiermesserscharfen, spitzen Enden. Genug, um Schmerzen zuzufügen, aber nicht zu töten. Die Augen der alten Frau weiteten sich vor Angst.
„Sie sagen, du hast die Tochter des Bürgermeisters entführt. Was habt ihr mit dem Kind gemacht? Wo ist sie?“ Das scharfe Metall klirrte, während er es sortierte.
„Ich habe ihnen alles gesagt, was ich weiß.“, wimmerte sie.
„Dann wirst du es wiederholen. Und nach einiger Zeit wirst du mir sicher noch mehr berichten!“ Er nahm eines der schlanken Messer und legte es auf den Tisch.
„Na los, erzähl mir, was du ihnen gesagt hast.“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem dünnen Lächeln.
Nach einigen Stunden des Verhörs hatte die alte Frau ihm deutlich mehr mitgeteilt. Aber es war nicht so, wie er erwartet hatte. Sie hatte nicht behauptet, der Teufel habe das Kind geholt, wie so viele vor ihr. Sie hatte ihm von Kreaturen erzählt, die in den Wäldern lebten. Alte Geschöpfen, die wachten und flüsterten. Sie bot ihm an, ihn zu ihnen zu bringen, damit er sie mit eigenen Augen sehen mochte. Die Furcht vor diesen Wesen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit einem Lächeln beschloss er, einen Tag zu bleiben, um diesen Fall zu untersuchen.
Der Priester wartete vor der Kapelle auf ihn. Als er ankam, verbeugte sich der alte Mann tief.
„Was wisst Ihr über die Wälder?“, fragte er den nervösen Greis.
„Meister Gerhard, Herr, die Bauern fürchten sie aus irgendeinem Grund, aber wir haben Kreuze an den Grenzen aufgestellt, um das Böse fernzuhalten! Ich selbst war seit meiner Ankunft hier noch nie dort!“ Der Priester folgte ihm in das kleine Wirtshaus in der Mitte des Ortes.
„Morgen werden wir dorthin gehen. Wir werden die Hexe binden und ihr in den Wald folgen, damit sie uns den Ort zeigt, an dem der Teufel wohnt. Dann werden wir sie und alles, was dort steht, verbrennen.“
Am nächsten Tag begab sich eine kleine Gruppe auf den Weg aus der Stadt. Wie der Priester gesagt hatte, fürchteten sich die Bauern vor den Wäldern. Erst nachdem der Inquisitor ihre Heugabeln geweiht hatte, waren einige bereit, ihnen zu folgen. Die Hexe wurde mit dicken Seilen gefesselt und vor der Gruppe her getrieben.
Sie wanderten an Feldern vorbei, auf denen die Reste der letzten Ernte lagen. Als sie den Waldrand erreichten, starrte die Frau ängstlich in das Unterholz. Die alten Bäume flüsterten im Wind.
„Sie wollen mit Euch allein sprechen“, murmelte sie ihm zu und deutete in den Wald. „Nicht weit von hier steht eine gewundene Eiche, sie werden auf Euch warten!“
Er schmunzelte über ihre Worte. „Und was wird passieren, wenn ich die anderen mitnehme?“ Die alte Frau erschauderte.
„Sie werden wütend sein. Ich weiß nicht, was sie ihnen antun würden.“
Ein kurzer Blick zu den Bauern und dem Pfarrer zeigte, dass keiner ihm freiwillig folgen würde.
„So sei es! Bringt sie zurück zur Kirche. Tut, was wir gestern besprochen haben. Wenn ich zurückkomme, werden wir weitersehen“, befahl er dem Priester und trat in den Wald.
Er fand die alte Eiche, wie die Frau sie beschrieben hatte. Die Luft um den Baum herum war kälter. Er griff den Dolch in seiner Tasche und wartete. Nach einem Augenblick fühlte er sich beobachtet, dann sah er die Bewegung im Geäst. Ein schlankes, fast menschliches Wesen glitt aus den Ästen und landete einige Meter entfernt auf dem Boden. Es sah zu ihm herüber und neigte den Kopf.
„Deine Art ist uns bekannt, die Königin sieht es jedoch als hilfreich an, dich anzuhören. Was führt dich zu uns?“ Seine Stimme klang wie das Rascheln von Blättern.
Gerhard zog seinen Dolch und richtete die silberne Klinge auf die Kreatur. „Was für ein Teufel bist du?“
Das Ding legte den Kopf schief und sah ihn mit intensiven blauen Augen an. „Ich bin nichts weiter als ein bescheidener Unterhändler. Meine Königin schickt mich, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Wir beobachten eure Art schon seit langem und wissen, was passiert, solltet ihr euch bedroht fühlen. Aber wisst, dass wir es nicht schätzen, wenn man ein Messer auf uns richtet!“ Eine Geste seines dürren Arms genügte und ein Eichenast schnappte vom Baum und schlug Gerhard den Dolch aus der Hand.
Einen Moment lang zögerte der Inquisitor. Dieser Dämon schien stärker zu sein, als er gedacht hatte.
„Die Hexe sagte, du hättest ein Mädchen aus dem Dorf entführt.“, presste er heraus.
„Ach, die Kleine. Ja, sie wurde uns von ihren Vorfahren versprochen. Wir haben sie aufgezogen, damit sie die Sitten unseres und eures Volkes versteht. Aber als sie von dem alten Narren in der Kapelle bedroht wurde, brachten wir sie in Sicherheit. Sie wird bei uns bleiben, bis sie bereit ist.“ Das Wesen wiegte sich im Wind.
Eine weitere Hexe ein größerer Scheiterhaufen zum Verbrennen. Der Gedanke kam Gerhard, aber die Worte, die er sprach, waren andere.
„Gebt sie zurück. Oder ich garantiere dir, dass wir diesen Wald niederbrennen und sie mitnehmen werden!“ Er suchte in seinem Mantel nach einem heiligen Symbol, um den Teufel abzuwehren, sollte er ihn angreifen.
„Oh, ihr seid immer noch gleich, nach all dieser Zeit! Wenn etwas nicht so läuft, wie ihr wollt, droht ihr uns mit Feuer. Sei froh, dass wir nicht so sind, wie die Bauern denken. Wir haben einen Teil der Heimat verschenkt, damit eure Art hier leben und ihre Körner anbauen kann. Wir haben zugelassen, dass ihr einige unserer Bäume fällt, um euch vor dem Erfrieren zu bewahren. Jetzt haben wir uns genommen, was uns versprochen wurde, und ihr kommt und fordert es zurück? Sie ist unser. Mit Herz, Seele und Fleisch. Frag sie selbst, dann geh, ich ertrage deine Arroganz nicht länger.“
Eine kurze Geste, und der Baumstamm öffnete sich wie eine Tür. Gerhard sah einen kleinen Korridor, der zwischen seltsamen Blumen nach unten führte. Ein Mädchen stand dort und wartete. Als sie den Inquisitor sah, blickte sie besorgt und trat aus dem Baum heraus.
Sie schaute zu der Kreatur auf. „Das ist nicht mein Vater. Wer ist er?“, fragte sie leise.
„Jemand, der hier ist, um dich zurückzubringen, Isabell. Es steht dir frei, zu gehen, wenn es dein Wunsch ist“, antwortete das Wesen freundlich. Das Mädchen schüttelte schnell den Kopf.
„Nein, er hat das Aussehen eines kalten, bösen Mannes, wie der Priester, der mich erschlagen wollte, für das, was ich ihnen über dich beigebracht habe.“, sagte sie leise.
Die Kreatur wandte ihren Blick zu Gerhard.
„Du hast sie gehört. Geh und komm nicht wieder, oder du wirst unseren Zorn zu spüren bekommen. Wir werden sie zu eurer Art zurückkehren lassen, wenn die Zeit reif ist und euer Volk zuhören und nicht töten wird.“ Das Mädchen trat zurück in den Baum, der sich hinter ihr schloss.
„Ihr seid die Sippe des Teufels. Wir werden euch niemals hier existieren lassen!“ Der Inquisitor spukte auf den Boden, bevor er wütend losrannte.
Am nächsten Morgen führte Gerhard eine Gruppe von Bauern mit Äxten und Fackeln in den Wald. Es war der Tag, als der Krieg begann.