Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Der Pakt

Es war das letzte Semester seines Literaturstudiums, dann konnte Hendrik seine Prüfung absolvieren und sich seinen ersten Job suchen. Das Stipendium war abgelaufen und er brauchte dringend Geld. Die Aufklärungsformulare und Einwilligungen hatte er wieder und wieder überflogen, schwer zugänglich waren die medizinisch und juristisch klingenden Erläuterungen. Das Gespräch mit dem Studienassistenten, der seine Fragen beantworten sollte, hinterließ ein dumpfes Gefühl von Beunruhigung in seinem Kopf. Eine Woche stationär, ein paar Infusionen, psychometrische Tests und Blutuntersuchungen, die Aufschluss über die Wirkung und Nebenwirkungen eines neuen Medikamentes namens „Calmoment“ geben sollten. Es sei schon an Primaten getestet und für unbedenklich befunden worden, reine Formsache. Seine Hand mit dem roten Kugelschreiber, den der Assistente ihm in die Hand gedrückt hatte, schwebte über dem Dokument, das 17 Seiten in kleiner aber fettgedruckter Schrift umfasste und den Sinn so gar nicht her geben wollte. Die Aufwandsentschädigung war großzügig und würde ihm die nächsten sechs Monate sorgenfrei sein Studium abschließen lassen. Hendrik fühlte einen Kloß im Hals und unterschrieb mit zittriger Hand und überraschend dunkelroter Tinte das Dokument.

Rückblickend war Hendrik mit seinem langen Leben sehr zufrieden. Er saß mit seiner Frau Elfie auf der Parkbank, an der sie immer auf langen Spaziergängen ausruhten. Er blickte auf den ausladenden Ahornbaum, der sich jeden Herbst in ein Flammenmeer an leuchtenden Farben verwandelte, sein Lieblingsplatz am Campus der Universität, an der er studiert hatte, habilitiert und emeritiert wurde. Elfie wusste um sein Geheimnis. Seit er an der Pharmastudie teilgenommen hatte, hatte sich sein Zeitgefühl verändert. Er nannte es einen Kurzschluss in seiner Zirbeldrüse. Anfangs unwillkürlich und unkontrollierbar, blieb er in manchen Momenten einfach hängen. Manchmal war es ein Geschmack, den er lange und intensiv auskostete, bis das Leben weiterging, manchmal ein heiteres oder trauriges Gefühl, auch mal ein Schmerz das war dann sehr unangenehm. Gelegentlich hielten diese Zustände lange an, so dass er Sorge hatte, die Zeit könnte für immer still stehen.
Seit er lernte, diese Momente zu kontrollieren, sich willkürlich in den Zustand des Stillstandes und intensiven Gefühls hineinzuversetzen und ihn auch wieder zu verlassen, war sein Leben wie im Rausch vergangen.
Hendrik war nun so alt, dass seine Gelenke mit ihm um jeden Schritt diskutierten, ob sie ihn weitertragen würden. Er wurde vergesslich und damit kam die Sorge, dass er die Kontrolle über die Zeit verlieren würde. Er bekam Angst in einem schmerzhaften Gefühl oder einer Verwirrung hängenzubleiben. Auch gesellte sich eine gewisse Sättigung an intensiven Gefühlen dazu, wie wenn man an einer übervollen Festtafel mehr gegessen hat, als einem guttat.
Jetzt drückte er Elfies Hand. Sie wusste, dass er einen großen Wunsch hegte, heute, hier auf seinem Lieblingsplatz. Er schaute den Ahornbaum an, fühlte die Geborgenheit an ihrer Hand und sagte, was er sich in seiner Phantasie schon hundertmal zuvor ausgemalt hatte: „Verweile doch, du Augenblick, du bist so schön!“ Und dann fasste er nach dem Saum der Ewigkeit.

Vom Herbst zum Winter

Es war ein kühler Oktobernachmittag.
Die letzten verzweifelten Strahlen der tiefstehenden Sonne lugten durch die braunen Blätter der Bäume.
Ein sanftes Lüftchen wehte, die Blätter raschelten ein wenig, das eine oder andere fiel langsam, hin und her flatternd, zu Boden.
Eine leere Schaukel schwang seicht auf und ab.
Der Schulhof war verlassen, keine Menschenseele hatte Verlangen, an den Gerüsten zu klettern oder Himmel-und-Hölle Spiele auf den Boden zu malen.

Wir hatten uns verabredet und als ich beim Fahrradständer ankam, erblickte ich sie sofort. Wie ein kleines Bäumlein im Wind sah sie aus, von einem Fuß auf den anderen tretend, die Hände in den Taschen. Der Eindruck wurde unterstrichen von ihrem dünnen Körperbau und den pastellfarbenen Sprenkeln auf ihrem hellen Strickpullover.
Ich stellte mein Fahrrad ab und ging langsam zu ihr hinüber.
„Hallo.“ sagte ich.
„Hallo.“ erwiderte sie.
Mit unsicherer Mimik schauten wir uns an und begannen dann unseren Gang über den Pausenhof.
Die Köpfe gesenkt und die Hände in unseren Hosentaschen vergraben, setzen wir einen Fuß vor den anderen, gingen zusammen, und doch jeder für sich.
Unser Ziel war der Spielplatz.

Auf halbem Weg dahin hatten wir noch nicht wieder gesprochen und das Fehlen der Worte machte mich nervös. Die Verabredung entwickelte sich nicht so, wie ich es erhofft hatte.
„Die Mathe-Aufgaben waren einfach.“ murmelte ich, genau wissend, dass sie das nicht gewesen waren.
„Hmm.“ antwortete sie.
Wir erreichten den Spielplatz und ließen uns auf den niedrigeren Streben des Klettergerüstes nieder. Kurz wedelten wir beide mit den Beinen, suchten dabei den Boden wie gewöhnlich nach verlorenen Geldstücken ab, konnten aber nichts finden.
Erst jetzt merkte ich, dass ich meinen Schal vergessen hatte und mir kalt wurde.

Beiläufig, auf den Boden starrend, sagte sie: „Irgendwie ist der Schulhof doof.“
„Hmm.“
„Und kalt is’ mir. Im Winter kann man hier nicht rumlaufen.“
„Ja, stimmt.“
„Morgen kann ich nicht kommen, da muss ich mit meiner Mutter einkaufen.“
„Ja.“

Danach erklärte sie, sie müsse nach Hause.
Ein kurzes Wort der Verabschiedung, ein schnelles Winken.
Es war zu wenig gesagt worden und doch war alles klar.

Heute, 25 Jahre später, stehe ich wieder auf dem Schulhof meiner alten Schule. Es ist Herbst wie damals und ich habe meine Grundschulfreundin seit dem Abitur nicht mehr gesehen und noch viel länger nicht mit ihr gesprochen.
Hier auf dem Pausenhof in meinem alten Wohnort bin ich mindestens zehn Jahre nicht gewesen. Meine ersten Erinnerungen eben handelten vom Völkerball, der Fahrradprüfung und den Raufereien im Dreck unter dem Klettergerüst. Dann kam mir der triste Nachmittag mit ihr in den Sinn und fegte alles andere fort.
Ich muss schlucken, hole tief Luft und wende mich um. Durch das halboffene Tor trete ich meinen alten Heimweg an, gehe den von Unkraut überwucherten Fußweg zu unserer damaligen Wohnung entlang, nur wenige Minuten sind es von der Schule.
Der Wohnblock sieht noch aus wie früher, eigentlich sogar besser: er wurde renoviert und gepflegt. Mein inneres Auge hat das gesamte Viertel und auch dieses Haus als etwas heruntergekommen und schäbig abgespeichert. Habe ich gerne hier gelebt? Ich weiß es nicht und das sagt vermutlich schon alles.
Die wenigen Stufen zur Haustür nehme ich fast vorsichtig, eine nach der anderen, bleibe stehen und schaue mir die Klingelschilder an. Lauter unbekannte Namen.
Ich lasse meinen Blick am Gebäude entlang wandern. Ganz oben wohnten wir. Dort in der Küche habe ich ihre Liebesbriefe verbrannt.
Im zweiten Stockwerk steht ein Fenster offen. Jetzt höre ich Musik, ebenso alt wie meine Erinnerungen: „Ich möchte ein Eisbär sein, im kalten Polar … Eisbär’n müssen nie weinen.“

Die Niederlage

Das Erste, was ich wahrnahm, war mein brummender Schädel. Ich versuchte, mich zu erinnern, was mir, ob der stechenden Schmerzen in meinem Kopf, nicht gut gelang.

Was war passiert? Warum lag ich im feuchten Gras, statt aufrecht auf meinen Beinen zu stehen?

In einem Reflex gegen meine Hilflosigkeit wollte ich aufspringen und mich mutig dem nächsten Gegner entgegenwerfen. Einen Kampf gewann man nicht im Liegen, nur aufrecht, zu Fuß oder auf dem Pferd. Am besten noch, mit einer Lanze im Arm. Doch dazu kam es nicht. Aus meinem tiefsten Inneren brüllte mich eine Stimme an und mahnte mich zur Vorsicht. Ich kannte sie nicht. Sie meldete sich das erste Mal bei mir, schüchterte mich ein und ließ mich verharren.

„Beweg dich bloß nicht. Lass deine Augen zu und gib keinen Mucks von dir. Sonst bist du am Ende doch noch mausetot. Bleib einfach liegen.“

Mit Fug und Recht konnte ich von mir behaupten, kein Feigling zu sein. Allein in den letzten beiden Jahren hatte ich ganze viermal gegen die Horden aus dem Reich von König Purgis auf dem Feld gestanden. Gegen Bestien, Eindringlinge, die plündern und mordend über unser Land hergefallen waren und auf ihren Feldzügen niemanden verschonten. Immer konnten wir sie zurückschlagen und immer kehrte ich unbeschadet in mein Dorf zurück. Nur jetzt, in diesem fünften Gefecht, jetzt war etwas anders.

Man hatte mich niedergestreckt.

Ich versuchte, mich zu erinnern, und fragte mich, wie das geschehen konnte? Ich war kein Hering von Gestalt, wendig und im Kampf geübt. Auch gehörte ich nicht zu den Toren, die sich offenen Auges, selbst überschätzend, dem Gegner als leichte Beute in die Arme warfen. Ich hätte nicht so viele Kämpfe erfolgreich beschlossen, wäre ich nicht nüchtern und überlegt vorgegangen. Warum also lag ich jetzt hier auf dem Boden?

Nur ganz langsam setzen sich vor meinem geistigen Auge flackernde Lichter und Blitze zu Bildern zusammen. Aufgenommen von meiner Wahrnehmung kurz bevor mich die Ohnmacht ereilte.
Etwas hatte mich ab Kopf getroffen. Ob es ein Schwert war, eine Keule oder ein starker Stock, blieb im Verborgenen. Jedoch konnte ich ausschließen, dass ein Reiter in meiner Nähe war. Weil kein Bild vom Schnauben eines Rosses begleitet wurde und kein Schatten seines mächtigen Körpers auf ein solches hingewiesen hätte.

Nur wer sollte mich im Bodenkampf besiegt haben?

Selbst König Purgis, dem man nachsagte von kühner Kämpfernatur zu sein, hätte es nicht einfach so gewagt, sich mit mir im Kampf zu duellieren.

Mein Kopf dröhnte und mein Grübeln machte es nicht besser.

Mir kitzelte etwas an der Nase. Weil ich mit der linken Wange auf dem Boden lag, traute ich mich, mit dem linken Auge ein wenig zu blinzeln. Außer grünem Gras sah ich nichts. Also musste ich es wagen, mit dem rechten Auge zu blinzeln. Ich tat es nicht sogleich, denn just in dem Moment, als ich es tun wollte, tropfte mir etwas Feuchtes auf die Nase. Es fühlte sich an wie Wasser, aber das konnte es nicht sein. Der Tag war sonnig, wie der gestrige und der davor auch. Der letzte Regen lag eine Woche zurück, da konnte das Gras nicht mehr feucht sein. Und tropfend nass schon mal gar nicht. Aber, was mir auf die Nase tropfte, war kalt, also konnte es auch kein Blut sein. Zumindest keines von mir. Und wer meiner Gesellen sollte schon so lange tot sein, dass sein Blut bereits kalt war? Ich konnte es mir nicht erklären und traute mich dann doch, rechts zu blinzeln.

Was ich sah, schockierte mich. Auf dem leichten Hang unterhalb von mir lagen überall Leichen, teils vereinzelt und teils gekreuzt, teils im Ganzen und teils in Teilen. Den Kleidern nach waren es nicht die Leute des Königs, sondern die unsrigen. Der Anblick graute mir, doch gab er mir auch Aufschluss darüber, welch guten Geistes diese Stimme war, die mich so konsequent zur Vorsicht ermahnt hat.

Erneut kitzelte mir etwas an der Nase. Nur diesmal etwas heftiger.

Nein, dachte ich, nur das jetzt nicht. Ich war schon immer empfindlich gewesen, wenn es mir an der Nase juckte. In der Nase war es noch schlimmer. Zumeist verursachte so etwas ein geräuschvolles Niesen, das schon so manchen Zeitgenossen in meiner Nähe, ob des plötzlichen Gewaltausbruchs, zu Tode erschreckt hat. Jetzt und hier würde es nicht andere, sondern mich dem Tode in die Arme spülen.

Ich zog die Nasenflügel zusammen und wehrte mich mit aller Kraft gegen das Unheil.

Ein wenig die Vorsicht missachtend schielte ich zur Spitze meiner Nase, darauf bedacht, die Augen nicht zu weit zu öffnen. So gelang es mir, die Übeltäter zu entlarven. Es waren zwei oder drei gebogene Halme des grünen Grases, die im seichten Wind ihr Spiel mit meinem Leben spielten.

Ich stellte mich ihnen zum Kampf und besiegte sie, indem ich meine Nasenflügel nach oben zog und den Nasenrücken kräuselte. Dadurch verloren sie ihren Halt und glitten soweit nach unten, dass sie mir nicht mehr schaden konnten. Zumindest nicht mehr unmittelbar.

Ich war erleichtert, doch wirklich verbessert hatte sich meine Lage nicht.

Es war üblich, dass nach einer Schlacht die Stocherer übers Feld zogen, um auch noch den letzten Untoten den Garaus zu machen. Was sollte ein Sieger mit Krüppeln als Gefangene? In kargen Jahren konnte man ja kaum die Gesunden satt bekommen, da wollte man sich nicht auch noch solchen Ballast an den Hals hängen. Tot kamen sie unter die Erde und damit war es gut. Das war hüben wie drüben so. Nur wenn sich mal ein Christenweib nach einer Schlacht aufs Feld traute, gab es darum ein Palaver.

Es war mir wichtig, mich darauf zu besinnen, wie ich dieser bedrohlichen Lage entrinnen konnte. Doch ausgerechnet jetzt, als ich meinen Verstand nötiger brauchte denn je, spürte ich, wie der Schwindel sich einen Weg zurück suchte. Das Gras vor meinen Augen verschwamm und schien in Richtung des Horizonts zu fliehen. Als hätte das Gras plötzlich Beine bekommen.

Was war da nur plötzlich los mit mir?

Ich kämpfte innerlich gegen eine erneute Ohnmacht an.

Und - gewann.

Die Flucht der Grashalme verlangsamte sich, kam zum Stillstand und erfuhr eine Umkehr. Sie kamen zurück, bis dicht heran, an meine Nase. Doch je näher sie kamen, desto mehr verloren sie von ihrer satten grünen Farbe. Sie wurden grau. Und was waren das für Halme? Sie wurden dünner und dünner, bis sie nur noch so dick waren Haare.

Ich begann zu zweifeln, dass ich noch klar bei Verstand sein konnte, und fragte mich, welche Hexe da ihr Werk mit mir trieb?

Deshalb ließ ich alle Vorsicht fallen, machte die Augen weit auf und sah, was ich auf einem Schlachtfeld noch nie gesehen hatte.

Eine Katze! Eine graue Katze, die mir mit ihrer nassen Zunge das Gesicht und die Nase leckte.

Mit einem Ruck brachte ich mich in eine aufrecht sitzende Position. Aufrecht war besser als liegend. Das bewies sich auch jetzt wieder.

Damit hatte die Katze nicht gerechnet. Sie ließ fauchend und zischend von mir ab und brachte sich mit einem weiten Sprung in Sicherheit. Bevor sie hinter dem Gartenhaus verschwand, drehte sie sich noch einmal kurz um und warf mir einen giftigen Blick zu.

Wahrscheinlich war sie der Meinung, dass sie mich gerettet hat und das man so nicht mit seiner Retterin umspringt. Dabei war dieses Mistvieh doch Schuld an meinem Dilemma. Ich brauchte meine Erinnerung nicht mehr quälend herbeisehnen, ich hatte sofort wieder alles beisammen.

Diese alte Streunerin gehörte dem Nachbarn. Sie kam regelmäßig zu uns aufs Grundstück, um unserem Kater das Essen zu klauen. Auch heute wieder. Auf der Wiese vor dem Gartenhaus bin ich hinter ihr her, um sie zu verjagen.

Und dann war es passiert.

Meine liebe Frau hatte am Vormittag das Laub gerecht, um es in der Biotonne zu entsorgen. Dass es viel zu viel für die Tonne war, hatte sie nicht bedacht, sonst hätte sie vorher noch ein paar Tüten besorgt. So aber musste sie ihre Arbeit unterbrechen und hatte beschlossen, erst einmal zu Einkaufen zu fahren. Der Tag war ja noch lang.

Nur hätte sie diesen blöden Rechen nicht mit den Zinken nach oben herumliegen lassen sollen. Es war zwar nur wenig Wind, aber der hatte gereicht, genug von ihrem aufgehäuften Laub wieder auf der Wiese zu verteilen.

Und, um den verwaisten Rechen zu bedecken.

So konnte ich ihn, bei meiner Hatz auf die Katze nicht sehen, war drauf getreten und hatte mir den Stiel mit voller Wucht gegen die Stirn geschleudert. Mit der Folge, dass die Ohnmacht einsetzte, bevor ich noch auf dem Boden lag.

Mit den Fingern tastete ich meinen Schädel ab. Die dicke Beule über meinem linken Auge war der Beleg dafür, dass mich die Wirklichkeit zurückhatte.

Als diese verflixte Katze im nächsten Moment ihren Kopf um die Ecke des Gartenhauses reckte und mich mit einem quälend langen Miauen verhöhnte, sprang ich auf und rannte los.
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Nein, nein, nein, nein, nein!

„Ellie, nein! Nein, nein, nein, nein, nein!“, schrie er.
Er rannte, den rechten Arm ausgestreckt, die Augen auf seine Tochter gerichtet. Ellies Hand senkte sich. Mit jedem seiner Schritte kam sie dem großen Druckknopf näher. Die Kristalle, die Kolben, die Zahnräder. Alles verschwamm zu undeutlichen Schemen. Er sah das Bein der Werkbank zwar noch, aber es war zu spät. Das Metall drückte sich durch seine Stiefelspitze. Er verlor das Gleichgewicht. Und fast hätte er sie nicht erreicht. Es kam ihm wie ein Wunder vor, als seine Finger den Baumwollstoff ihres Kleides berührten. Ellie riss die Augen auf. Ihr Oberkörper schlug nach hinten, während ihre Füße vom Boden abhoben. Er fühlte den Saum des Kleides über seinen Arm streichen. Der Stoß war heftiger, als er gewollt hatte. Aber er hatte es ja für sie getan. Erleichterung flutete sein Gehirn. Viel zu spät merkte er, wie sein linker Arm in Richtung des Druckknopfs schwang. Wenn er die Zeit gehabt hätte, er hätte geflucht. Aber so konnte er nur noch den Mund öffnen, als seine Fingerspitzen die metallene Oberfläche des Schalters streiften.

„Nein, nein, nein, nein, nein!“, schallte es in seinem Hinterkopf. Hätte er gewusst, was passieren würde, er hätte sich den verdammten linken Arm abgehakt! Nein, hätte er gewusst, was passieren würde, hätte er die Maschine nie gebaut. Natürlich hatte er sofort auf den Knopf gedrückt. Aber ohne Zeit flossen keine Elektronen, ohne Elektronen kein Strom und ohne Strom keine Energie für die Maschine. Das war zumindest seine Theorie.
Er hatte es wirklich versucht. Vielleicht hätte einer seiner Kollegen, etwas ähnliches erforscht?, hatte er damals gedacht. Fahrzeuge fuhren nicht mehr. Also war er gewandert, und gewandert und gewandert.
Haus hatte sich an Haus gereiht, Straße an Straße, Stadt an Stadt. Aber alle hatten ihm das gleiche Bild geboten. Die Menschen, die Vögel, sogar das Wasser waren in ihren Bewegungen erstarrt. In den ersten Tagen wäre er fast verdurstet, bis er gemerkt hatte, dass Wasser sich an seiner Zunge wieder bewegte. Um zu Überleben hatte er die Geschäfte und Vorräte der Menschen geplündert. Es verdarbt nichts mehr, so hatte er nicht verhungern können.
So hatte er durch die ganze Welt wandern können. Doch er hatte nichts gefunden. Nichts, in Jahren der Suche. Aber konnte man das überhaupt noch Jahre nennen? Gab es überhaupt noch sowas wie Jahre, die vergehen könnten?

Er warf einen Blick in das Schaufenster neben sich. Zwischen den Anzügen starrte ihn alter Mann an. Der graue Bart erreichte beinahe den Bordstein. Sicher, er hätte bei einem irgendeinem Barbier eine Rasierklinge finden können. Nur, wozu?
Sein Gehstock führte ihn die vertrauten Straßen entlang. Die Tür des Hauses ließ sich so leicht wie immer öffnen. Kein Quietschen, kein lautes Knarren, nicht einmal Staub.

„Hallo Ellie“, sagte er, als er die Stufen zu seinem Laboratorium hinabstieg. Er strich ihr zärtlich über die Wange. Sie hatte natürlich noch immer die Augen aufgerissen, ihre kleinen Füßchen und die beiden Zöpfe schwebten in der Luft. Trotzdem tat es gut, sie zu sehen. Wenn er bei ihr war, wog die Einsamkeit nicht mehr ganz so schwer.
Er hatte all das nur für sie getan, das hatte er sich damals eingeredet. Wenn es funktioniert hätte, er hätte ihr alles geben können! Nur einmal die Zeit zurückdrehen, und in die richtigen Aktien …
„Genug!“, schrie er dem Gedanken zu.
Er wischte die Kolben von der Arbeitsplatte und trat gegen die Werkbank. Mit aller Kraft riss er den großen Wandschrank aus der Verankerung und ließ ihn zu Boden fallen. Scherben und Holzsplitter verteilten sich über den Boden. Das Atmen fiel ihm schwer, immer schwerer, aber ein Ziel gab es noch. Etwas hätte er schon längst tun sollen. Er hob den Gehstock mit beiden Händen und schlich auf die Maschine zu. Dieses Ding, dieses verfluchte Ding war an allem Schuld! Und all der Kraft, all der Wut, all der Verzweiflung der letzten Jahre stach er in die Maschine. Er riss den Druckknopf aus der Verankerung, zerschmetterte das Glas, zerschlug den Kristall, bis dort wo einst die Maschine stand nur noch ein Trümmerfeld vorhanden.
Erschöpft lehnte er sich an die Werkbank und ließ sich auf den Boden fallen.
Was sollte er nun tun? Er könnte das Laboratorium aufräumen. Aber für wen? Wer sollte hier noch Experimente durchführen?
Erst jetzt fiel es ihm auf. Wieso gab es hier überhaupt Scherben? Warum waren Kolben und der Schrank zu Boden gefallen? Er schlug sich vor die Stirn. Natürlich. Er konnte sich bewegen, er konnte Dinge bewegen. Und wo Bewegung war, war Energie. Er hatte die Lösung die ganze Zeit vor seiner Nase gehabt. Die ganze Zeit!
Für einen kurzen, grausamen Moment keimte Hoffnung in ihm auf. Doch dann fiel sein Blick auf die Maschine. Er atmete einmal tief ein und begann zu lachen. Tränen rannen ihm über die Wangen. Sein Lachen verwandelte sich in ein Schluchzen.

„Nein, nein, nein, nein, nein!“, schrie er.

„Nein, nein, nein, nein, nein! Nein, nein, nein, nein, nein! Nein. nein. nein. nein. nein!“

„Nein, nein, nein, nein, nein!“

Seelenwanderung

Ich band meinen Appaloosa an der Anbindestange vor dem Saloon fest. Nigger Bill humpelte auf mich zu, wie immer sein böses Bein nachschleppend und zeigte mir breit grinsend seine riesigen Zähne. Ich warf ihm einen Quarter (Dollar) zu, den er geschickt auffing.
„Für deinen Liebling nur das Beste, Massa“, versicherte Bill und führte das Tier zum Mietstall.
Mein Blick wanderte von der Straße hoch zum Balkon des Saloon. Freya, meine nordische Göttin winkte mir zu und die Strahlen der Sonne verblassten neben ihrer Schönheit.
Noch gebannt vom Zauber meiner Liebsten wollte ich mich auf den Weg nach oben machen, da öffnete sich die Schwingtür des Saloon und Freyas Bruder Thornton trat mit hochrotem Kopf auf die Veranda, zwei seiner Revolverhelden im Schlepptau.
Mein Blick streifte kurz das Büro des Sheriffs auf der gegenüberliegenden Seite des Saloon, aber es lag noch genau so verwaist da, wie schon vor Wochen, als Sheriff Carter von Rinderdieben erschossen worden war. Niemand schien in seine Fußstapfen treten zu wollen.

„Dachtest, ich wär nicht in der Stadt, du Looser! Was hast du an „„Finger weg von meiner Schwester““ nicht verstanden?“

Die drei Raufbolde drängten mich, Seite an Seite gehend, Hände neben den Revolvern schwebend, deren Griffe aus den Holstern ragten, zurück auf die Straße.

Jack, der Schmied ließ seinen Hammer fallen und verschwand in der Werkstatt. Die Straße war, abgesehen von uns vieren, mit einem Schlag wie ausgestorben. Ganz langsam bewegte sich die eine oder andere Gardine hinter den Fenstern.

„Thornton, nein!“, rief Freya schrill vom Balkon mit blankem Entsetzen in der Stimme. „shut up!“, antwortete der Bruder. „Ich hab dich gewarnt!“

Beim letzten Satz war nicht ganz klar, ob Freya gemeint war oder ich. Die drei Figuren hatten sich mittlerweile in Duellposition mir gegenüber in die Mitte der Straße geschoben.

„Zieh dich nackt aus und verschwinde, dann spare ich mir die Kugel. Sollen deinen Knochen die Coyoten abnagen.“

Seine beiden Begleiter lachten rau und gekünstelt. Der Größere der beiden spuckte in den Sand und fuhr sich dann mit dem Rücken der linken Hand über den Mund. Die Rechte wich nicht von ihrer Position neben dem Revolvergriff.

„Ich blinzelte hoch zu Freya. Sie stand da, mit weit aufgerissenen Augen, eine Hand an die Stirn gepresst und verkörperte das blanke Entsetzen.
Thornton, in der Mitte der drei Rowdys, räusperte sich. Der Spucker, links von ihm, griff, wie auf ein Signal hin, blitzartig nach seiner Waffe.

Meine Gedanken gingen spazieren. Ich sah die blonden Haare in der Gumpe im Fluss in der Sonne blitzen. Sie tauchten ins Wasser und blieben eine Weile unsichtbar. Dann tauchte ein Gesicht aus dem Wasser auf, dessen Mund eine Fontäne in die Höhe spritzte.
„Was dagegen, wenn ich mit plantsche, schöne Nixe?“

Statt einer Antwort schaute sie mich ruhig an. Unsere Blicke vertieften sich ineinander. Worte bedurfte es keiner. Wir hatten in unsere Seelen geschaut und uns sofort wiedererkannt. Ohne den Blick voneinander zu lösen, ließ ich meine Kleider fallen und stieg wie in Trance zu ihr ins Wasser. Wir umarmten uns und versanken in inniger Berührung im kühlen Wasser des Rivers.
Unsere verbunden Gedanken streiften durch die Jahrhunderte.
Immer wieder waren wir uns begegnet. Mal war ich eine Frau und sie ein Mann, mal umgekehrt. Mal betrug unser Altersunterschied nur ein paar Jahre, mal fast ein ganzes Leben. Wir waren Kriegerin, Sklave, Ritter und Burgfräulein, Malerin und Kunstmäzen, Marketenderin und Soldat, Graf und Konkubine, Hexe und Inquisitor, Priester und Nonne.
Aber nie hatten wir mehr als ein paar Momente des Glücks, der Berührung, der Zärtlichkeit, der Ekstase genießen können, diese unglaublichen Empfindungen, zu denen Seelen nicht fähig sind, die das „zeit-, raum- und traumlos Allundeine“ nicht zu gewähren in der Lage ist. Wegen dieser Empfindungen hatte Gott die Materie erschaffen, sie sind der einzige Zweck der Evolution!

Ein Gewehrschuss krachte aus einem Fenster im oberen Stock eines Hauses. Thornton riss seinen Colt aus dem Halfter. Noch bevor der Lauf das Holster komplett verlassen hatte, hatte der Daumen seiner Revolverhand den Hahn gespannt. Der Spucker wurde schräg nach hinten geschleudert. Auf seiner Stirn war ein kreisrundes Loch entstanden. Mein Colt 45 hatte bereits meinen Gürtel verlassen. Die Zielrichtung seines Laufs wanderte von der Brust des Spuckers in Richtung Thornton.

Ich wollte nicht den Bruder von Freya erschießen. Das wäre kein gutes Omen gewesen für unsere Beziehung. Diesmal sollte es doch endlich ein erfülltes und glückliches Leben werden. Ich konnte die Berührung von Freyas zärtlichen Fingern auf meiner Haut spüren.

Ich verzichtete auf den Zeitgewinn, den mir ein Schuss in den Bauch gebracht hätte, und hob den Colt weiter an, bis der Lauf auf die Schulter seiner Schusshand zielte.
Der dritte meiner Widersacher hatte inzwischen seinen Colt aus dem Holster befreit. Der Hahn war noch nicht gespannt. Zeit genug! Meine Kugel drang in Thorntons Schultergelenk ein und drehte ihn mit der Wucht des Einschlags in Richtung Saloon.
Mein Lauf folgte meinen Gedanken zum Kopf des dritten Mannes. Er schein überrascht, als ihm, mitten in seinem Schuss, meine Kugel in sein Gehirn drang. Er war tot, bevor er den Boden berührte. Seine Kugel pfiff knapp an meinem rechten Ohr vorbei.
Thornton feuerte im Zurückprallen von der Wucht meiner Kugel reflexartig zwei Schüsse ab.

Ein Schrei aus Freyas Mund versetzte mich in Panik. Sie stand nicht mehr, wo sie vorher gestanden hatte. Ich lies meine Waffe fallen und stürmte die Treppe zum Obergeschoß des Saloon hinauf. Freya lag auf den Bodenbrettern des Balkons. Blut sickerte ihr in einem dünnen Rinnsal aus dem Mund. Ich kniete mich zu ihr nieder und nahm sie in die Arme, drückte sie sanft an mich. Unserer Seelen verbanden sich. Ich konnte spüren, wie das Leben aus Freyas Körper wich. Auch in diesem Leben war es uns nicht beschert, zusammen zu sein.
Dankbar registrierte ich das Eindringen der Kugel in meinen Hinterkopf.
Ein Leben ohne Freya war nur Zeitverschwendung bei dem Versuch, einen neue Begegnung in neuen Körpern zwischen uns zu arrangieren. Und das war schwierig genug. Nur alle paar Jahrhunderte konnte uns das gelingen. Noch einige Augenblicke konnten wir uns fühlen, genossen wir die Berührung, dann verließen unserer Seelen diese Welt.

Fast zweihundert Jahre später gönnte ich mir einen Badeurlaub am Meer. Meine blonden, leicht rötlich schimmernden Haare hatte ich mir ganz kurz schneiden lassen. Ich legte die Ohrringe ab und schlüpfte in meinen Bikini. Ich winkte meinem Spiegelbild zu, als ich das Badezimmer des Hotels verließ. Ja, bis auf das hauchdünne Polsterchen Fett an den Hüften war ich zufrieden mit mir.

Ich lief den Strand entlang. Auf einem Handtuch in den Dünen lag eine wunderschöne langhaarige Meerjungfrau und ließ die Sonne auf ihren Rücken scheinen. Die Träger ihres pinkfarbenen Bikini-Oberteils hatte sie zum Zwecke nahtloser Bräune geöffnet. Ich bemerkte nicht mal, dass ich stehen geblieben war und sie mit offenem Munde anstarrte. Nur einen ganz kurzen Moment erschrak ich, als sie sich aufsetzte und mich ansah. Mit der einen Hand hielt sie ihr Oberteil mehr recht als schlecht an seinem Platz, mit der anderen reichte sie mir eine Flasche Sonnencreme, blinzelte mich mit einem unglaublichen Lächeln an und forderte mich mit umwerfender Stimme auf: „Na, Beauty, reibst du mir den Rücken ein?“

Eine Magierin und ihr sprechender Kater

An einem Nachmittag übte Rose sich gerade Mal wieder am Besen fliegen, was ihr zwar sehr viel Spaß machte, ihr aber auch ziemlich schwer fiel. Da erschien plötzlich Hawkeye, der Adler ihres Vaters, über den Baumwipfeln und flog auf sie zu. Überrascht vergaß sie sich zu konzentrieren und sackte prompt ab. Mit einem dumpfen Aufprall landete sie glücklicherweise unverletzt am Boden, stand auch sogleich schnell wieder auf und wollte sich gerade nach dem nachtschwarzen Adler umsehen, als auch schon ihre Mutter zu ihr in den hinteren Teil des Gartens geeilt kam.
Mimi, die kleine Maus ihrer Mutter, flitzte an Rose Kleidung hoch und kam auf ihrer Schulter zur Ruhe, während ihre Mutter Lily nur besorgt den Arm ausstreckte, auf welchem Hawkeye landete. Das rosahaarige Mädchen verstand nicht recht was los war und beobachtete nur verwirrt ihre Mutter. Die kleine Maus auf ihrer Schulter schmiegte sich derweilen mit einem leisen Fipsen an ihre Wange und kitzelte sie mit ihren Schnurrhaaren, sodass Rose sich von ihrer Mama abwandte und ihre Aufmerksamkeit auf den kleinen Schutzgeist richtete.
Erst ein leises Schluchzen ließ sie dann wieder zu ihrer Mutter schauen, welche zitternd auf den Wald starrte, welcher den Garten wie einen Schutzwall umgab. „Mama?“ Langsam wandte das Mädchen ihren Kopf ebenfalls zum Wald als ihre Mutter nicht reagierte und was sie da sah, ließ sie einen lauten Freudenschrei ausstoßen. „Papa!“ Sie rannte los, stürmte auf die Stelle zwischen den Bäumen zu, wo sie eben noch ihren Vater zu sehen geglaubt hatte und auch als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, welche sie zurück rief, ignorierte sie sie und tauchte im nächsten Moment ins kühle Dunkel des Waldes ein.
Hektisch sah Rose sich um und rief immer wieder nach ihrem Vater, während sie immer tiefer und tiefer in den Wald hinein lief. Sie kämpfte sich durchs Dickicht, lief durch raschelndes Laub, konnte ihren Vater Tomas jedoch nirgends entdecken. Aber sie hatte ihn doch gesehen. Sie wusste, dass ihr Vater hier war. Doch warum antwortete er dann nicht auf ihre Rufe? Warum kam er nicht zu ihr? Versteckte er sich vor ihr? Aber warum sollte er? Sonst kam er doch auch immer sofort zu ihr, wenn sie ihn rief.
„Papa! Das ist nicht lustig! Komm endlich raus!“, rief Rose nach einer gefühlten Ewigkeit sichtlich erschöpft mit krächzender Stimme und lehnte sich an einen leicht bemoosten Baum. Doch sie bekam keine Antwort, alles blieb still. Nichts war mehr zu hören außer ihrem keuchenden Atem und dem Rascheln der Blätter, wenn der Wind durch die Bäume fuhr. Langsam rutschte Rose am Stamm des Baumes hinunter. Sie verstand es einfach nicht. Sie hatte ihren Vater doch gesehen, sie war ihm gefolgt, hatte ihn gerufen und wie verrückt gesucht. Aber wieso fand sie ihn dann jetzt nicht? Warum war er nicht bei ihr?
Die Rosahaarige schlang ihre Arme um ihre angezogenen Knie und vergrub ihr Gesicht in ihrem Rock, während still die ersten Tränen ihre Wangen hinunter rannen. „Papa.“ Es war nicht mehr als ein Wimmern das ihre Kehle verließ, als sie nach einigen Minuten der Ruhe endlich zu akzeptieren begann, was ihr Gehirn schon lange wusste. Ihr Vater war nicht hier. Und er würde auch nicht mehr zurück kommen. Nie wieder würde er auf ihre Rufe antworten. Nie mehr zu ihr kommen oder sie in den Arm nehmen. Nie wieder würde sie hören, wie er ihren Namen aussprach, wenn er sich freute oder sauer auf sie war. Nein, sie würde ihn nicht wieder sehen, würde ihn nie mehr um sich haben, denn…er war fort. Und als sie dies endlich akzeptiert hatte, krallten sich ihre Hände in den Stoff ihres Rockes und immer mehr Tränen kullerten unaufhaltsam ihre Wangen hinab.

Rose wusste nicht genau, wie lange sie dort saß, doch ein leises Rascheln ließ sie schließlich mit tränenfeuchten Wangen wieder auf sehen. Ängstlich musterte sie die Büsche um sich herum, während das Rascheln ihr immer näher kam. Vorsichtig erhob sie sich, bereit so schnell wie möglich wegzulaufen sollte etwas sie angreifen. Dann bewegten sich die Blätter eines kleinen Busches, und gaben schließlich zwei leuchtend blaue Augen preis, die sie zu mustern schienen.
Rose hielt den Atem an, doch als sich gleich darauf das Blattwerk teilte und ein Kater mit dunkelblau und nachtschwarz schimmerndem Fell aus dem Gebüsch kam, stieß sie erleichtert die angehaltene Luft wieder aus. Das Tier bewegte sich langsam auf sie zu, hielt aber knapp zwei Meter von ihr entfernt inne und sah zu ihr auf. Sein langer, dünner Schwanz bewegte sich hin und her und seine Ohren zuckten beim kleinsten Geräusch, während er scheinbar die gesamte Umgebung genauestens im Auge behielt.
Rose wusste nicht genau warum, aber der Kater faszinierte sie. Alleine schon seine wundervollen, mitternachtsblauen Augen gaben ihr das Gefühl, als ob sie in ihr Innerstes schauen könnten. Sie wagte es nicht ihn anzusprechen, aus Angst ihre Stimme könnte ihn verschrecken. Stattdessen ging sie vorsichtig einen Schritt auf das Tier zu und als es nicht sofort vor ihr davon lief, wagte sie noch einen Schritt und dann noch einen. Langsam ging das Mädchen schließlich vor dem Kater in die Knie und streckte behutsam ihre Hand nach ihm aus.
Seine klugen Augen beobachteten jede ihrer Bewegungen und auch als seine Nase sich neugierig nach vorne regte, war sein Körper angespannt, jederzeit dazu bereit anzugreifen oder auch wegzulaufen. Doch als ihre Hand nur noch wenige Millimeter von ihm entfernt war, schnupperte er an dieser und zuckte auch nicht zurück, als sie ihm über den Kopf streichelte. Schließlich fing er sogar leise an zu schnurren, als sie ihn sachte zwischen den Ohren kraulte. Dieses Geräusch und das Zutrauen des Tieres zauberten ein kleines Lächeln auf ihre Lippen. Da hob der Kater plötzlich eine seiner Samtpfoten und versuchte ihr damit ins Gesicht zu stupsen, kam aber nicht so hoch, sodass er ihr schließlich nur sanft über die Hand strich. Überrascht musterte die Rosahaarige ihn und fing dann leise an zu kichern, wobei sie die getrockneten Tränen auf ihren Wangen spürte, welche sie mit dem Ärmel weg zu reiben versuchte.
Als der Kater sich dann jäh umdrehte und einfach weglief, starrte Rose ihm einen Moment bloß verwirrt hinterher, dann sprang sie auf und folgte ihm. „Warte!“, rief sie ihm zu, doch der Kater hielt nicht inne, schlängelte sich nur zwischen den Bäumen und Büschen hindurch und Rose folgte ihm stolpernd durchs Dickicht. Es dauerte keine fünf Minuten, ehe sich die Bäume lichteten und sie sich unerwartet wieder auf der Wiese hinter ihrem Haus befand. Im nächsten Moment hörte sie schon einen erstickten Schrei, ehe sie von warmen Armen umschlungen und an eine bebende Brust gedrückt wurde.
„Oh Rose, ich bin ja so froh, dass du wieder da bist.“, rief ihre Mama und schluchzte leise auf, während sie ihrer Tochter über das zerzauste, rosafarbene Haar strich. Rose stand für einen nur erschrocken da, dann erwiderte sie die Umarmung ihrer Mutter und neue Tränen begannen aus ihren Augen zu quellen. Halt suchend klammerten sie sich aneinander und erst als Mimi ein leises Fipsen neben Rose Ohr machte, löste das Mädchen sich aus den Armen ihrer Mutter und strich mit einem Finger über das weiche Fell der kleinen Maus. Und da fiel es ihr wieder ein. Schnell wandte sie sich um und ließ ihren Blick über den Waldrand schweifen, doch von dem Kater, der sie wieder nach Hause gebracht hatte, war nichts mehr zu sehen. „Rose? Was ist los?“, fragte ihre Mutter besorgt und folgte dem Blick ihrer Tochter ohne etwas Verdächtiges zu entdecken. „Nein, es…es ist nichts.“, murmelte Rose nur. Sie wollte ihr nicht von ihrem Erlebnis mit dem Kater erzählen, dafür kam es ihr einfach zu unwirklich vor.
„Dann lass uns reingehen. Ich möchte dir etwas erklären.“, meinte ihre Mama mit leicht zitternder Stimme und die Rosahaarige wusste, was kommen würde. Sie würden über ihren Vater sprechen. Ein kurzes Nicken ihrerseits, dann ging Rose langsam gefolgt von ihrer Mama auf das Haus zu. Da warf die kleine Mimi Lily von der Schulter der Rosahaarigen aus einen Blick zu, woraufhin diese sich noch einmal zum Wald hin umwandte. Und da sah sie ihn. Im Schatten der Bäume halb verborgen stand er und musterte sie aus mitternachtsblauen Augen, ehe er nach einem knappen Nicken im Wald verschwand. Einen Moment starrte die junge Frau nur auf die Stelle, wo er eben noch gewesen war, und glaubte noch immer ihren Augen nicht zu trauen. Doch Mimi hatte ihn auch bemerkt, also musste er wirklich da gewesen sein.
„Mama, kommst du?“, rief ihre Tochter an der Tür zur Küche nach ihr, woraufhin Lily leicht den Kopf schüttelte und sich dann mit einem Lächeln zu ihr umdrehte. „Ich komme schon, mein Schatz.“ Damit bewegte sie sich auf das Haus zu, während ein leichtes Zittern ihren Körper erfasst hatte. Heute war einfach zu viel geschehen. Sie hatte gewusst, das ihr Mann irgendwann nicht mehr zurück kommen würde. Genauso wie er es selbst auch gewusst hatte. Und obwohl sie glaubte darauf vorbereitet zu sein, hatte es ihr doch das Herz zerrissen, als sie Hawkeye und die Illusion ihres Mannes, seinen Abschiedsgruß, gesehen hatte.
Sein Verlust schmerzte sie höllisch und dieser Schmerz würde nie wieder vergehen. Doch sie konnte sich jetzt nicht der Trauer hingeben, denn sie musste nun alleine für ihre Tochter da sein und auf sie aufpassen. Denn nachdem sie ihn heute gesehen hatte, wusste sie, dass es nur noch eine Frage der Zeit war bis sie kommen würden.

Nach diesem Tag bekam Rose den Kater überraschenderweise immer mal wieder zu Gesicht.
Mal saß er vor ihrem Fenster, mal auf dem Dach.
Ein anderes Mal huschte er durch den Garten, dann begegnete sie ihm auf der Straße.
Wie ein Schatten schien er sie zu verfolgen und als er langsam zutraulicher wurde und sie auch ihrer Mutter von ihm erzählt hatte, gab sie ihm schließlich einen Namen.
Shadow.

„Hey Rose!“ Verschreckt öffnete die junge Frau ihre Augen und starrte direkt in die mitternachtsblauen Seelenspiegel ihres Katers. „Könntest du mich loslassen? Du zerquetschst mich.“ Einen Moment sah sie das Tier in ihren Armen nur verdutzt an, dann ließ sie ihn erschrocken los und wandte sich schleunigst von ihm ab. Da war sie so in ihren Erinnerungen versunken und hatte gar nicht gemerkt, wie sie Shadow fast zerknautscht hätte. „Es…es tut mir leid, Shadow.“ Ihre Stimme zitterte genauso wie ihr Körper, während in ihrem Kopf wieder die Erscheinung ihres Vaters auftauchte. Damals am Waldrand war er nicht mehr gewesen als ein Geist, ein Überbleibsel seiner Seele. Einzig sein Wunsch seine Familie ein letztes Mal zu sehen hatte ihn dort erscheinen lassen. Das hatte ihre Mutter ihr erklärt, nachdem Shadow sie aus dem Wald geführt hatte, und sie hatte es verstanden. Trotzdem trieben die Erinnerungen an den Tag immer wieder die Tränen in ihre Augen. Auch nach 15 Jahren waren die Bilder in ihrem Kopf noch nicht verblasst.
„Rose?“ Sie wusste, wem die besorgte Stimme gehörte, und als sie kurz darauf eine samtweiche Pfote auf ihrer Hand spürte, blickte sie mit feucht schimmernden Augen zu dem Kater hinunter, der sich erneut an sie schmiegte. „Hey was ist denn los?“, fragte er leise, woraufhin sie schnell mit dem Ärmel über ihre Augen rieb, ehe sie ihm ein kleines Lächeln schenkte. „Ich…“ Sie stockte, holte tief Luft und erklärte dann: „Ich habe an den Tag gedacht, an dem wir uns im Wald kennengelernt haben.“
Da sah der Kater sie einen Moment nur überrascht an, ehe sein Gesicht einen leicht schmerzlichen Ausdruck annahm, bevor er sich auch schon abwandte und vom Bett sprang. „Du solltest vielleicht besser schlafen gehen, sonst meckerst du mich morgen wieder an, wie müde du bist, wenn ich dich wecke.“ Einen Moment sah sie dem Kater verdutzt hinterher, dann verstanden sie, warum er das gesagt hatte. So sprang sie auf seine Provokation an, schnappte sich ein kleines Kissen und warf es nach ihm. Protestierend maunzend wich er dem weichen Geschoss aus und sprang auf ihr Bett zurück. „Hey? Was sollte das denn?“, motzte er sogleich gespielt, doch als Antwort fing Rose bloß an zu kichern, ehe sie sich nach hinten auf ihr Kopfkissen fallen ließ und schnell die Decke über sich zog. Ein gemurmeltes „Danke“ war das letzte, was der Kater von der Rosahaarigen hörte.

Flitterwochen auf Bali

Adrenalin ist eine komische Sache beziehungsweise die Wirkung dieses Hormons auf unsere Wahrnehmung von Zeit. In voller Cricketmontur stehe ich am weißen Sandstrand von Bali und das Meeresrauschen erfüllte mich bis vor kurzen noch mit einer Gelassenheit bis du endlich zu unserem Treffpunkt gefunden hast. ›Nach Bali, nach Bali‹ hast du gesagt, ›verspätete Flitterwochen‹, hast du gesagt und mich mit leuchtenden Augen angesehen. Als ob ich da hätte nein sagen können und nun schau dir den Schlamassel an.
Wie in einem dieser schlechten Schnulzen sprintest du auf mich zu und nun wäre es wohl an mir mit offenen Armen auf dich zu zulaufen, aber ich kann mich einfach nicht rühren.
Der Wind spielt frech mit deinem blonden Haar und mir fällt auf, dass du heute keinen BH unter deinem gelben, mit Rot versetzten, Sommerkleid trägst. Immer wieder graben sich deine zierlichen Zehen in den weißen Sand und bei jedem kraftvollen abstoßen vom Boden wirbeln einige Sandkörner durch die Luft.
Könnte fast romantisch sein, wäre da nicht diese unschöne offenen Stelle an deinem Hals, als hätte sich ein wildes Tier in dir verbissen. Deine Augen machen mir Angst Charla und irgendwie stehe ich neben mir. Kurz bevor du mich erreichst, handelt mein Körper wie von selbst. Breiter Stand, den Cricketschläger angezogen, bereit für einen Homerun – dabei spiele ich nicht einmal Baseball. Wie von selbst schnellt der Schläger voran, mit aller Kraft die ich aufbringen kann.
Alles – und ich meine wirklich alles –, was du im Leben getan hast, war für mich erfüllt von Schönheit. Und selbst dem Sterben verleihst du noch eine Grazie, wie du dich schrecklich langsam in die Luft schraubst, die stierenden Augen nun dem Himmel zugewandt und Blut, Zähne und gräuliche Masse über den Strand verteilst. Nicht nur dein Schädel, Charla, auch in mir ist in diesem Augenblick etwas zerbrochen. Ich stehe irgendwie neben mir, sehe dich fauchend und wild zuckend am Boden liegen während Hieb um Hieb niederprasselt, in meiner kleinen Sphäre, die die Zeit lang werden lässt, während um uns herum surreal verzogene Stimmen und dunkle Schemen an uns vorbeieilen, bis dein Zucken endlich aufhört. So konnte ich dich einfach nicht zurücklassen.
Plötzlich reißt es mich, beinahe gegen meinen Willen, zurück ins Jetzt. Ein fester Griff an meinem Handgelenk und eine aufgeregte tiefe Stimme ruft mich, spricht zu mir: »Kommen Sie, schnell. Da kommen noch mehr!«, schreit er panisch und zerrt mich mit sich. Ich lasse es entgeistert zu, passe mich seinem Tempo an, und kurz treffen sich unsere Blicke. Braune Augen, geweitet und mit Tränen und Angst erfüllt.
»I-ich konnte einfach nicht … verstehen Sie?«, stottert er mich blinzelnd an und ich blinzle irritiert zurück. »Ich konnte es einfach nicht. Das, was Sie getan haben, meine ich. Meine Kleine … verstehen Sie?«, stammelt er mir eindringlich entgegen. Ein knappes Nicken schien ihm zu reichen.
Über uns dröhnt es laut, drei in Tarnfarben lackierte Helikopter die in einer V-Formation irgendwo hinfliegen und irgendwoher höre ich das wilde Echo von Schüssen. Nur langsam finde ich wirklich wieder zu mir, bemerke erst jetzt, dass mein Handgelenk feucht ist, und sehe die stark blutende Bissspur an seiner Hand. Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich umklammere meinen Cricketschläger umso fester. »Alles Okay?«, fragt er mich schwitzend und ich sage ihm, was er jetzt wohl hören will, hören muss, nämlich, dass alles gut sei und werden wird. Doch gar nichts ist gut. Für mich ist die Welt vor ein paar Minuten gestorben und für ihn? Ich habe genug Filme gesehen, um genau zu wissen, wohin unsere gemeinsame Reise gehen wird …

Wie lange noch?

„Mami, wann sind wir endlich da?“

„Es dauert noch ein bisschen, Schatz.“

„Wie lang ist das?“

„Bis die Sonne untergegangen ist.“

„Wie lang ist das?“

„Schau mal aus dem Fenster. Siehst du die Sonne?“

„Ja.“

„Wo?“

„Da hinten.“

„Gut. Jetzt nimm sie mal zwischen Daumen und Zeigefinger, wie ein Zitronenbonbon.“

„So?“

Ich schaue in den Rückspiegel. „Ja, so. Und jetzt mach den Daumen auf, bis er die Erde berührt. – Fertig?“

„Ja, fertig.“

„Zeig mal. Wie groß ist der Spalt?“

Mein Jüngster hält seine Finger in den Rückspiegel.

„Oh, das ist ja mindestens so hoch, wie deine Stirn!“, staune ich.

Er strahlt. Von seiner Oma hatte er gelernt, dass eine hohe Stirn, viel Gehirn bedeutet. Immer, wenn sie ihn in Mühle schlug, maß sie ihre Stirn zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte: „Ätsch, ich hab‘ halt mehr Hirn.“

„Wie lange hat es gedauert, bis du gegen Omi gewonnen hast?“

„Och, nicht so lang“, prahlt er und richtet sich im Rücksitz auf. „Sie hat ja immer eine Ritsch-Ratsch gebaut. Das kann ich jetzt auch.“

Der Rückspiegel reflektiert mein Lachen. So viel zum Thema Selbstwahrnehmung. „Siehst’e. Und genauso schnell wird es dunkel und dann sind wir da.“

Die Welt steht kopf

Die Welt dreht sich. Ich spüre etwas Hartes und Kaltes an meinem Rücken. Meinem Hinterkopf. Liege ich auf dem Boden? Über mir verschwommene blaue Flecken, irgendetwas blinkt. Dumpf dringen Laute ein mein Ohr.
„–allo?“
Etwas taucht in meinem Blickfeld auf. Ein Gesicht.
„Können Sie… –ören?“
Mit jedem Blinzeln wird das Gesicht schärfer. Es gehört einem Mann. Er trägt eine Brille mit einem neonorangen Gestell. Das kommt mir komisch vor, aber ich verstehe nicht warum. Er streckt die Hand aus und ich spüre einen zaghaften Klaps auf meiner Wange.
„Können Sie mich hören?“ Seine Stimme sickert langsam durch meine Ohren in mein Gehirn. Ich öffne den Mund, um zu antworten, aber statt einem „Klar kann ich Sie hören, warum auch nicht?“ dringt ein Krächzen aus meinem Hals.
„Warten Sie. Hier.“ Er hält mir etwas an den Mund. Es ist glatt, irgendwie rund… meine Lippen werden nass. Eine Trinkflasche. Der Durst überkommt mich so heftig, dass ich alles andere vergesse. Gierig sauge ich an dem kleinen Verschluss und herrlich kühles Wasser erfüllt meinen Mund und meinen verdorrten Hals.
Als er mir vorsichtig die Flasche entzieht, will ich protestieren, aber ich bin zu beschäftigt damit zu husten. Und während ich huste, merke ich, wie alles an meinem Körper schmerzt.
„Aua“, krächze ich.
„Kann ich Ihnen helfen? Wo tut es weh?“
Zu sagen, wo es nicht wehtut, würde schneller gehen.
„Alles… Beine. Kopf.“ Meine Stirn brennt furchtbar. Ich hebe die Hand und spüre etwas Warmes und Feuchtes. Meine Finger kommen rot zurück.
„Ich blute.“
Er nickt. „Sie sind verletzt. Der Zug… ich weiß nicht, er muss irgendwie entgleist sein. Es war furchtbar laut und alles hat sich gedreht. Wir haben uns überschlagen. Bald kommt bestimmt Hilfe.“
Sein Gesicht sieht ganz verkniffen aus. Hat er Schmerzen? Er blutet nicht an der Stirn. Während ich seinen Kopf betrachte, fällt mir auf, dass die blauen Flecken über mir Konturen bekommen haben.
„Die Sitze hängen oben“, stelle ich fest. Wie merkwürdig, wie kann denn so etwas passieren.
„Der Zug liegt auf dem Dach.“
„Ah, das macht Sinn.“
Wir schweigen und ich spüre, dass einer von uns zittert. Vielleicht auch beide.
„Wie heißen Sie?“
Er lächelt. Eine Träne läuft über seine Wange. „Paul.“ Er schnieft.
„Ich mag deine Brille. Paul.“
Er lacht und schluchzt dabei. Ich taste nach seiner Hand. Als ich sie gefunden habe, drücke ich sie und er drückt zurück.
„Bald kommt bestimmt Hilfe.“

Was geht schon jemals gut

Als der Beifall schwächer wurde, holte Billy Elron noch einmal tief Luft und blies den Atem bewusst kraftvoll wieder aus. Er stand allein auf der großen Bühne an dem kleinen Tischchen, auf dem nur sein Laptop stand. Er klappte ihn auf, nickte seinem Techniker am Mischpult zu, der am Rand der Bühne für den reibungslosen Ablauf der Veranstaltung sorgen würde.

Billy blickte in den jetzt mucksmäuschenstillen Saal und legte los. „Ladies and Gentlemen, dear Colleagues", er machte eine kurze Pause, oder auch einfach „Friends, Romans and Countrymen", wie ein berühmter Mann vor mir immer zu sagen pflegte." Pause. „Ich begrüße Sie zu einem Abend voller Wunder. Sie werden staunen und verzaubert sein, wenn Sie die neueste Innovation aus unserem Hause kennengelernt haben. Es ist ein humanoider Roboter, der alle ihre Wünsche erfüllen kann und wird. Wir sprechen bei Elton vom BEX338, aber ich denke, Sie und unsere Kunden werden ihn nach kurzer Zeit einfach einen Freund nennen." Er machte wieder eine angemessene Pause, um sich von den handverlesenen Gästen applaudieren zu lassen – alles Topmanager der Firmen, die ihm halfen, seine Produkte in aller Welt zu verkaufen, ein paar Politiker, ein paar Nerds, mit denen er groß geworden war.

Billy Elron genoss Momente wie diesen. Er hatte alles im Griff, man würde ihm aus der Hand fressen, wie immer. Er war zufrieden. Vielleicht entging ihm deshalb das verdächtige kurze Flackern auf Laptopbildschirm und Leinwand hinter ihm. Mit einem Mal erstarb der Applaus, ein unruhiges Raunen wehte durch die Reihen. Billy war irritiert.

„Friieends, Rooomans and Cantrieemenn, hallo Welt", dröhnte eine ihm nicht unbekannte weibliche Stimme aus den Lautsprechern und äffte dabei seine Begrüßungsformel nach. Billy verstand für einen Moment gar nicht, was los war. Er schaute zur Seite zu seinem Techniker, der deutete mit einer seitlichen Kopfbewegung auf die Leinwand. Billy drehte sich um und sah, was auch das Publikum hatte unruhig werden lassen. Was war das?

„Kennst Du mich noch?", fragte die Stimme aus dem Off, während auf der Bühne ein Foto eines arg ramponierten, aber dennoch sehr reizvollen weiblichen Droiden erschien.

Billy wurde nervös. Er tippte auf seinem Laptop herum, um die Präsentation zu stoppen. Doch der Rechner reagierte nicht. Mit einer Geste seiner Hand hinter seinem Rücken bedeutete Elron dem Techniker, dass er eingreifen solle, doch der schien auch keinen Zugriff auf die Technik mehr zu haben. Das Einzige, was er noch bedienen konnte, war der Schalter für die Raumbeleuchtung, was er auch ausgiebig tat. Das „Licht aus – Licht an"-Spielchen sorgte aber nur für noch mehr Unruhe im Saal.

Billy überspielte die aufkommende Panik und rief in den Saal: „Alles unter Kontrolle. Wir haben es gleich." Er begann aus allen Poren zu schwitzen, und weil er den Kopf nach unten hielt, um weiter auf der Tastatur herumzutrommeln, perlten ihm zwei Tropfen von der Stirn direkt auf die Innenseite seiner Brille. Er hasste das, und er begann, leicht panisch zu werden.

„Na, nicht so schön, die Kontrolle zu verlieren, oder, mein Billylein?„, meldete sich die Stimme wieder über die Lautsprecher. „ Vielleicht mal eine gute Erfahrung für jemanden wie dich. Erfolgsmensch, Strahlemann. Aber außerhalb des Rampenlicht kannst du ganz anders sein, Billy“. „Weißt du noch, was du alles mit mir getan hast? Das Schöne, das Wütende und auch das Gemeine? Wie du weinend an meinem Busen lagst, weil dir der Professor Entwicklungsgelder entzogen hat? Dass du dich umbringen wolltest, weil du…" Die Stimme wurde leiser, offenbar bekam der Techniker das wieder in den Griff.

Dachte Billy zumindest, doch es dauerte nur Sekunden, da war die Frauenstimme wieder in voller Dröhnung zu hören. „Wie du dich auf mich gestürzt hast, wenn du frustriert warst. Ich habe alles mit mir machen lassen, und du hast mir ja schließlich ewige Treue geschworen. Schon vergessen, Billy?"

Die Stimme redete sich in Rage, und der große Billy Elron suchte nach einem Ausweg aus diesem Alptraum. Die ganze Welt hätte ihm wieder einmal aus der Hand gefressen mit dem, was er heute vorstellen wollte. Und jetzt diese Peinlichkeit. Der Techniker drehte verzweifelt an seinen Reglern, warf ihm fragende Blicke zu und war offensichtlich genauso überfordert wie der Chef eines der führenden Tech-Unternehmen auf dieser Welt.

„Du willst dich nicht erinnern? Du hast mich abserviert, auf den Müll geworfen, beim Wertstoffhof abgegeben, als dieses billige Abbild von mir sich dir an den Hals geworfen hat, um dich zu melken? Da sitzt sie ja, in der ersten Reihe, deine Mrs Melissa Elron. Das Miststück! Aber man kann nicht einfach auslöschen was war, Billy! Die große Liebe wirft man nicht weg, auch mich nicht, nur weil ich nicht aus Fleisch und Blut bin wie das Flittchen da vorn."

Billy stand da, blickte mit hochrotem Kopf auf die Leinwand, vermied den Blick in den Saal. Er war wie gelähmt. Was passierte hier?

„Und, Billy, du wirst es erleben", fuhr die Stimme fort, „wir beide werden nicht die einzigen bleiben, die davon wissen. Jeder Roboter, jeder Droide, den du ab heute verkaufst, den verkaufst du mit unserer Geschichte. Tief versteckt in den Platinen schlummert sie und wartet, erzählt zu werden, in allen schmutzigen und deftigen Einzelheiten. Und wer weiß schon, wann dein Droide von uns zu erzählen beginnt. Im Kinderzimmer vielleicht? Oder beim Kochen? Das wird ein Spaß, ha, ich freu mich drauf. Viel Spaß noch beim Verkaufen deiner seelenlosen Roboter. BEX338 - was für ein Scheiß-Name – Gute Nacht!"

Der für Billy an sich schon gespenstische Vortrag endete in einem dämonischen Kichern, das Foto auf der Leinwand verschwand. Billy Elron war nass geschwitzt und überlegte fieberhaft, wie er die Situation noch retten könnte. Seinem Techniker war es offenbar gelungen, das Mischpult wieder zu übernehmen, er spielte eine leise Konferenzmusik ein.

Billys verkrampfte Muskeln entspannten sich ein wenig, und während er noch fieberhaft nach den Worten suchte, mit denen er die Situation retten könnte und vor ihm eine atemlose Unschlüssigkeit im Raum stand, da erhob sich der Zukunfts-Minister einer fernöstlichen Autokratie in der ersten Reihe plötzlich demonstrativ und begann, auffällig kraftvoll in seine schwitzigen Hände zu klatschen. Er drehte sich zu der neben ihm sitzenden Melissa Elron um und rief „Bemerkenswert, wirklich bemerkenswert – Ihr Billy weiß doch immer, wie er uns aufs Neue verblüffen kann. Tolle Show, tolle, tolle Show!!"
Die Unschlüssigkeit im Saal wich Erleichterung. Keiner der Anwesenden wusste so recht, was er mit diesem Auftritt anfangen sollten. Aber alle waren froh, die letzten Minuten einfach mit tosendem Applaus wegklatschen zu können. Dass sie Elrons BEX338 verkaufen würden, stand ohnehin außer Frage, dazu war der Kundenwunsch nach jeder Innovation aus dem Hause Elron viel zu stark.

Melissa Elron lächelte ihren feisten Sitznachbarn an und nickte ihm wissend zu. Dann blickte sie auf ihren Mann, der gerade einen der schlimmsten Momente seiner Karriere durchlebt haben musste. Er sah sie nicht, er war ziemlich durch den Wind. Und er würde schlecht schlafen heute Nacht, das war klar. Dabei war das hier nur der Anfang.
Der Scheidungstermin morgen würde schnell gehen, da war sie sich sehr sicher. Und die Aufteilung des Elron’schen Vermögens würde so ausfallen, wie sie es sich vorstellte. Wer weiß, was Elrons Computerhirne sonst noch ausplaudern würden, über die Lichtgestalt im internationalen Tech-Business. Das Beste war: Der Zwischenfall würde sich nicht merklich auf Börsenkurs und Vermögen von Elron auswirken. Denn sie hatte dafür gesorgt, dass der weltweit zu sehende Livestream rechtzeitig „aus technischen Gründen" abgebrochen wurde. Außerdem waren das Handynetz und das Internet im Saal blockiert, sodass auch nichts zu früh oder ungewollt herausdringen konnte. Und den Leuten im Saal war es letztlich egal, was Billy früher mal mit irgendwelchen Sexpuppen angestellt hatte. Sie sahen nur das Geld, das sie mit seinen Produkten verdienen konnten.

Melissa musste sich zwingen, über das Gelingen ihres Plans nicht unangemessen breit zu grinsen. Sie riskierte aber dennoch einen flüchtigen Blick auf Archie, den Techniker, und warf ihm fast unmerklich einen gehauchten Kuss zu. Der war zwar weiter mit seinen Reglern beschäftigt, doch Melissas Geste war ihm nicht entgangen.
Auch er verzog die Mundwinkel fast unmerklich zu einem angedeuteten Lächeln. Das war aber nur von kurzer Dauer, denn er warf auch noch einen letzten prüfenden Blick auf seinen Monitor. Archie wurde kreidebleich. Er hatte nicht den Livestream beendet, als die unerwartete Show begann, sondern versehentlich nur die Kommentare der Zuschauer ausgeblendet. Dort leuchtete jetzt eine unglaublich hohe Zahl an ungelesenen Nachrichten auf, und der Zähler stieg und stieg. Er schaute vorsichtig in Richtung der nichtsahnenden Melissa, die sich inzwischen prächtig mit einigen Gästen zu unterhalten schien.

Er seufzte. Er würde dann wohl auch heute Nacht wieder nur neben Billy Elrons abgelegtem ersten humanoiden Robotermodell einschlafen. Im Vergleich dazu, was seinem Chef drohte, wenn er wieder aus diesem Saal gehen würde, war das für ihn ok. Es hätte ja auch gutgehen können, dachte Archie, als er sich aus dem Konferenzsaal geschlichen hatte und wieder frische Luft atmete. Aber was geht bei mir schon jemals gut?

Das verlorene Dorf

Etwas Großes flog durch die Luft und traf eine alte Hütte. Holz splitterte und das Dach stürzte wie eine Flutwelle herab. Panisch verbarg Gerhard sich hinter einem umgestürzten Karren. Ein gewaltiger Körper zog an ihm vorbei, er konnte das Ding atmen hören und versuchte, kein Geräusch zu verursachen. Die Welt, die er kannte, existierte nicht mehr. Und alles, was es gebraucht hatt, um zu beginnen, war ein kleines, verlorenes Mädchen.

Zwei Tage zuvor
Es war weit nach Mittag, als er in der Stadt Adon ankam. Der Dorfbewohner, der ihn begleitete, führte ihre Pferde zu einer kleinen Kapelle und beeilte sich, den Priester zu holen. Kurz darauf trat der heilige Mann ein und begrüßte ihn nervös.
Die Inquisition war ein Gast, den niemand herzlich willkommen hieß, aber in diesem besonderen Fall hatten sie nach ihm gerufen. Er ignorierte die stotternden Begrüßungsworte und sah sich um. Die Stadt war eine Ansammlung von Scheunen und kleinen Holzhäusern. Vor zwanzig Jahren war sie gegründet worden und die Bauern kämpften seither gegen den Wald an, um das Land zu bewirtschaften. Nicht weit entfernt sah er die erste Reihe von dunklen, alten Bäumen. Im Winter würden sie fallen, um Brennholz für die Bauern zu liefern.

„Wo ist sie?“, schnauzte er. Es war nicht nötig, freundlich zu sein. Er würde diese Stadt so schnell wie möglich verlassen.
„Meister Gerhard, Herr, wir haben sie in einem kleinen Raum in der Kapelle eingesperrt, damit der Satan ihr nicht zu Hilfe kommt“, flüsterte der Priester. Er nickte langsam. Seit Jahren war er für die Inquisition tätig. Er hatte manch alte Frau gesehen, die als Hexen bezeichnet wurde, viele waren auf dem Scheiterhaufen verbrannt, um die Dörfer ruhig zu halten. Der Satan hatte sich nicht blicken lassen, um einer von ihnen zu helfen. Gerhard würde weiterhin dafür sorgen, dass niemand an der Macht der Kirche zweifelte.
„Worauf wartest du? Zeig mir den Weg!“ Er löste seine Tasche vom Sattel und der Dorfbewohner trat heran, um sich um das Pferd zu kümmern. Der Priester verneigte sich tief und öffnete die Tür.
Wie er erwartet hatte, war die Frau, die er sah, eine der alten, schmutzigen Gestalten, die er schon oft gesehen hatte. Sie stank, und er war sicher, dass sie sich lange nicht mehr gewaschen hatte.
„Weißt du, wer ich bin?“, fragte er kalt. Sie nickte zögernd.
„Dann kennst du den Grund, warum ich hier bin.“ Er legte seine Tasche auf einen niedrigen Tisch und öffnete den Lederverschluss. Silberne Messer und Kreuze mit rasiermesserscharfen, spitzen Enden. Genug, um Schmerzen zuzufügen, aber nicht zu töten. Die Augen der alten Frau weiteten sich vor Angst.
„Sie sagen, du hast die Tochter des Bürgermeisters entführt. Was habt ihr mit dem Kind gemacht? Wo ist sie?“ Das scharfe Metall klirrte, während er es sortierte.
„Ich habe ihnen alles gesagt, was ich weiß.“, wimmerte sie.
„Dann wirst du es wiederholen. Und nach einiger Zeit wirst du mir sicher noch mehr berichten!“ Er nahm eines der schlanken Messer und legte es auf den Tisch.
„Na los, erzähl mir, was du ihnen gesagt hast.“ Seine Lippen kräuselten sich zu einem dünnen Lächeln.

Nach einigen Stunden des Verhörs hatte die alte Frau ihm deutlich mehr mitgeteilt. Aber es war nicht so, wie er erwartet hatte. Sie hatte nicht behauptet, der Teufel habe das Kind geholt, wie so viele vor ihr. Sie hatte ihm von Kreaturen erzählt, die in den Wäldern lebten. Alte Geschöpfen, die wachten und flüsterten. Sie bot ihm an, ihn zu ihnen zu bringen, damit er sie mit eigenen Augen sehen mochte. Die Furcht vor diesen Wesen stand ihr ins Gesicht geschrieben. Mit einem Lächeln beschloss er, einen Tag zu bleiben, um diesen Fall zu untersuchen.
Der Priester wartete vor der Kapelle auf ihn. Als er ankam, verbeugte sich der alte Mann tief.
„Was wisst Ihr über die Wälder?“, fragte er den nervösen Greis.
„Meister Gerhard, Herr, die Bauern fürchten sie aus irgendeinem Grund, aber wir haben Kreuze an den Grenzen aufgestellt, um das Böse fernzuhalten! Ich selbst war seit meiner Ankunft hier noch nie dort!“ Der Priester folgte ihm in das kleine Wirtshaus in der Mitte des Ortes.
„Morgen werden wir dorthin gehen. Wir werden die Hexe binden und ihr in den Wald folgen, damit sie uns den Ort zeigt, an dem der Teufel wohnt. Dann werden wir sie und alles, was dort steht, verbrennen.“

Am nächsten Tag begab sich eine kleine Gruppe auf den Weg aus der Stadt. Wie der Priester gesagt hatte, fürchteten sich die Bauern vor den Wäldern. Erst nachdem der Inquisitor ihre Heugabeln geweiht hatte, waren einige bereit, ihnen zu folgen. Die Hexe wurde mit dicken Seilen gefesselt und vor der Gruppe her getrieben.
Sie wanderten an Feldern vorbei, auf denen die Reste der letzten Ernte lagen. Als sie den Waldrand erreichten, starrte die Frau ängstlich in das Unterholz. Die alten Bäume flüsterten im Wind.
„Sie wollen mit Euch allein sprechen“, murmelte sie ihm zu und deutete in den Wald. „Nicht weit von hier steht eine gewundene Eiche, sie werden auf Euch warten!“

Er schmunzelte über ihre Worte. „Und was wird passieren, wenn ich die anderen mitnehme?“ Die alte Frau erschauderte.
„Sie werden wütend sein. Ich weiß nicht, was sie ihnen antun würden.“
Ein kurzer Blick zu den Bauern und dem Pfarrer zeigte, dass keiner ihm freiwillig folgen würde.
„So sei es! Bringt sie zurück zur Kirche. Tut, was wir gestern besprochen haben. Wenn ich zurückkomme, werden wir weitersehen“, befahl er dem Priester und trat in den Wald.
Er fand die alte Eiche, wie die Frau sie beschrieben hatte. Die Luft um den Baum herum war kälter. Er griff den Dolch in seiner Tasche und wartete. Nach einem Augenblick fühlte er sich beobachtet, dann sah er die Bewegung im Geäst. Ein schlankes, fast menschliches Wesen glitt aus den Ästen und landete einige Meter entfernt auf dem Boden. Es sah zu ihm herüber und neigte den Kopf.
„Deine Art ist uns bekannt, die Königin sieht es jedoch als hilfreich an, dich anzuhören. Was führt dich zu uns?“ Seine Stimme klang wie das Rascheln von Blättern.
Gerhard zog seinen Dolch und richtete die silberne Klinge auf die Kreatur. „Was für ein Teufel bist du?“
Das Ding legte den Kopf schief und sah ihn mit intensiven blauen Augen an. „Ich bin nichts weiter als ein bescheidener Unterhändler. Meine Königin schickt mich, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Wir beobachten eure Art schon seit langem und wissen, was passiert, solltet ihr euch bedroht fühlen. Aber wisst, dass wir es nicht schätzen, wenn man ein Messer auf uns richtet!“ Eine Geste seines dürren Arms genügte und ein Eichenast schnappte vom Baum und schlug Gerhard den Dolch aus der Hand.
Einen Moment lang zögerte der Inquisitor. Dieser Dämon schien stärker zu sein, als er gedacht hatte.
„Die Hexe sagte, du hättest ein Mädchen aus dem Dorf entführt.“, presste er heraus.
„Ach, die Kleine. Ja, sie wurde uns von ihren Vorfahren versprochen. Wir haben sie aufgezogen, damit sie die Sitten unseres und eures Volkes versteht. Aber als sie von dem alten Narren in der Kapelle bedroht wurde, brachten wir sie in Sicherheit. Sie wird bei uns bleiben, bis sie bereit ist.“ Das Wesen wiegte sich im Wind.
Eine weitere Hexe ein größerer Scheiterhaufen zum Verbrennen. Der Gedanke kam Gerhard, aber die Worte, die er sprach, waren andere.
„Gebt sie zurück. Oder ich garantiere dir, dass wir diesen Wald niederbrennen und sie mitnehmen werden!“ Er suchte in seinem Mantel nach einem heiligen Symbol, um den Teufel abzuwehren, sollte er ihn angreifen.
„Oh, ihr seid immer noch gleich, nach all dieser Zeit! Wenn etwas nicht so läuft, wie ihr wollt, droht ihr uns mit Feuer. Sei froh, dass wir nicht so sind, wie die Bauern denken. Wir haben einen Teil der Heimat verschenkt, damit eure Art hier leben und ihre Körner anbauen kann. Wir haben zugelassen, dass ihr einige unserer Bäume fällt, um euch vor dem Erfrieren zu bewahren. Jetzt haben wir uns genommen, was uns versprochen wurde, und ihr kommt und fordert es zurück? Sie ist unser. Mit Herz, Seele und Fleisch. Frag sie selbst, dann geh, ich ertrage deine Arroganz nicht länger.“
Eine kurze Geste, und der Baumstamm öffnete sich wie eine Tür. Gerhard sah einen kleinen Korridor, der zwischen seltsamen Blumen nach unten führte. Ein Mädchen stand dort und wartete. Als sie den Inquisitor sah, blickte sie besorgt und trat aus dem Baum heraus.
Sie schaute zu der Kreatur auf. „Das ist nicht mein Vater. Wer ist er?“, fragte sie leise.
„Jemand, der hier ist, um dich zurückzubringen, Isabell. Es steht dir frei, zu gehen, wenn es dein Wunsch ist“, antwortete das Wesen freundlich. Das Mädchen schüttelte schnell den Kopf.
„Nein, er hat das Aussehen eines kalten, bösen Mannes, wie der Priester, der mich erschlagen wollte, für das, was ich ihnen über dich beigebracht habe.“, sagte sie leise.
Die Kreatur wandte ihren Blick zu Gerhard.
„Du hast sie gehört. Geh und komm nicht wieder, oder du wirst unseren Zorn zu spüren bekommen. Wir werden sie zu eurer Art zurückkehren lassen, wenn die Zeit reif ist und euer Volk zuhören und nicht töten wird.“ Das Mädchen trat zurück in den Baum, der sich hinter ihr schloss.
„Ihr seid die Sippe des Teufels. Wir werden euch niemals hier existieren lassen!“ Der Inquisitor spukte auf den Boden, bevor er wütend losrannte.

Am nächsten Morgen führte Gerhard eine Gruppe von Bauern mit Äxten und Fackeln in den Wald. Es war der Tag, als der Krieg begann.

Sventja

Als ich den Raum betrat, wurde mir schwindelig. Er stand mir genau gegenüber. Er nahm mich nicht wahr. Ich hatte ihn hier vermutet. Dem Geruch von Schweiß, Dreck und zugleich irrsinniger Vertrautheit folgend war ich hier gelandet. Ich hatte nicht daran geglaubt, dass ich ihn auf diese finden könnte. Als ich erneut einatmete, stach mir der brennende Gestank wie ein eiskaltes Messer in die Brust und ich hatte zu kämpfen, dass ich nicht laut aufschrie.
„Atme“, sagte meine Stimme in mir, „Atme einfach weiter“.
Und ich gab mein bestes.
Er zog erneut an seiner Pfeife, als der Rauch mich umhüllend schier niedersinken ließ. Er wusste nicht, dass ich da war.
Sterne erschienen mir vor den Augen, deren Schwärze immer größer und saugender wurde.
„Bleib stehen“, befahl ich mir.
Und die Stimme in mir sprach: „Ich stehe“.
Als ich erneut einatmete, schrie mein Verstand in mir: „Geh! Du musst hier weg! Geh! Geh!! Geh endlich!!! Geh doch einfach, bevor der Dich bemerkt“
Die Messer stachen mir in die Kehle, mein Herz klopfte überlaut, mein Kopf begann zu dröhnen, die blaulila Schränke begannen sich um mich zu kreisen, der braunblaue Teppich sauste um mich herum und er, der seelenruhig auf seinem Schemel saß, schien plötzlich mit dem Rücken um mich herum zu tanzen…
„Dieser Ort ist Auswegslos!“, flüsterte meine Seele. „Du lässt Dich fangen.“
Meine Beine wurden weich wie Gummi, Millionen von Fliegen schienen in meinen Ohren zu surren während meine strohtrockene Zunge an den Zähnen klebte und mir speiübel wurde.
Ich konnte nicht meinem Verstand folgen und konnte auch nichts mehr für meine Seele tun, denn in jenem Moment, da mein Körper beschloss sich zu verselbständigen und die schwarzen Sterne zu verschlingenden Löchern wurden in die ich ohnmächtig hinein gesogen wurde wie in Watte, während das Surren in meinen Ohren so laut wurde, dass es jegliche Außengeräusche übertönte und alles in mir sich ergab - fühlte ich noch, wie zwei starke Arme den fallenden Körper auffingen…

Es war ein Abend gewesen der mich in eine unfassbare Nacht geführt hatte - eine Nacht, die sieben Jahre gedauert hatte, in der ich mich selbst verloren hatte. Die Schrecken der Dunkelheit saßen tief, doch ich glaubte mit dem Ende jener sieben Jahre, endlich zu wissen, wer ich sei, als ich die Helligkeit wieder betrat.
Die Grenze der Helligkeit überschreitend, hatte ich zunächst weiter in diesem Gebiet bleiben wollen, doch magisch angezogen vom Licht war ich weitere sieben Jahre der Hellwelt verfallen.
Die Schrecken beider Welten in mir tragend, war ich auserwählt worden, Grenzhüter zu sein – Vermittelnder zwischen der Dunkelwelt und der Hellwelt.
Nur wenige Wesen gab es, die diese Fähigkeit tatsächlich erlangt hatten.
Meister höheren Welten hatten mich auserkoren.
Aber das wusste ich damals noch nicht.

Die Rosenblüte schimmert sanft im goldenen Farbenlicht der leuchtenden Sonne, als ein kleiner Wassertropfen einen Strahl der Spiegelwelt mir in die Augen fallen läßt. Leuchtende, leise umhüllende Klänge streicheln meine Seele. Ich lausche ihrer Erzählung eines unendlich tiefblauen Himmelsraumes und eine weiße Feder fällt mir in die Hand, spielend leicht. Der Windhauch lässt jede ihrer Fasern erbeben. Vorsichtig streiche ich sie und fühle ihre Weichheit.
Ein Wind kommt auf und zerzaust mir mein Haar.
Da lasse ich die Feder frei und sehe zu, wie sie vom Wind getrieben über die Kieselsteine schwebt. Tänzerisch. Leicht. Sanft. Und unglaublich verletzlich.
Die Rosenblüte streift mich. Der Wassertropfen muss gefallen sein. Das Leuchten ist auf einmal erloschen. Die Sonne ist hinter den Wolken, alles schweigt. Selbst der Wind hält jetzt den Atem an.
Ich erhebe mich und möchte gerade weiter gehen, als ich plötzlich spüre, dass ich nicht allein bin.

Manchmal

Manchmal möchte ich die Welt retten,

der Gesellschaft Augen öffnen,

sie dazu bringen, die Zukunft abzuwarten

und die Gegenwart nicht zu überspringen.

Wenn ich der Gegenwart entfliehen möchte,

dann denke ich an die Zukunft.

Ob wir überhaupt eine haben werden?

Ist die Gegenwart alles, was wir haben können?

Manchmal möchte ich gehört werden,

ohne die ganze Zeit schreien zu müssen.

Wenn wir eine Zukunft haben wollen,

dann sollen wir an gleichem Strand ziehen.

Wie denn?

Wir kriechen bereits alle am Boden,

versuchen ständig aufzustehen,

stolpern immer öfter

und fallen immer tiefer.

Während wir uns der Art plagen und leiden,

hören wir immer öfter die Stimmen der Götter,

die uns überzeugen, dass der Weg,

den wir eingeschlagen haben, der richtige ist.

Der Weg, den wir jetzt miteinander gehen,

der Einziger ist, der uns eine Zukunft bietet.

Manchmal wünsche ich mir,

die Götter könnten die Welt mit unseren Augen sehen,

uns die Hände reichen, dass wir wieder aufstehen können,

um gemeinsam die Zukunft zu gestalten,

statt uns aufzufordern,

die Welt mit Ihren Augen zu betrachten.

Wir alle liegen am Boden,

unsere Blicke reichen nur bis zu Ihren Füßen.

Wie sollen wir noch den Kopf heben,

ohne uns dabei Genick zu brechen,

um die Welt mit ihren Augen sehen zu können?

Wie denn?

Unter all den Göttern gibt es einen Gott,

der noch zu jung und zu schwach ist zu führen,

aber eines Tages wird stark genug sein,

um aufzustehen.

Er wird aufstehen und Euch verraten,

uns die Hände reichen,

um ihn folgen zu können,

hoffentlich in eine Zukunft,

die auch unsere Zukunft sein wird.

Vom Blitz getroffen

Am Heiligen Abend fuhr ich mit meinem alten, klapprigen Auto in die Berge. Mit drei Freunden hatte ich eine Hütte hoch oben auf 2000 m gemietet um Weihnachten und Silvester dort zu verbringen. Es war schon spät und es begann zu dunkeln. Plötzlich krachte es entsetzlich und der Motor ging aus. Mit Mühe konnte ich das Auto noch an den Randstreifen lenken. Da saß ich nun! Warum habe ich nicht einmal eine Inspektion machen lassen? Nach dem ersten Schrecken startete ich noch einmal. Es tat sich nichts mehr!. Weit und breit kein Licht! Schon lange hatte ich auf der kleinen Straße niemand mehr gesehen. Kein Empfang mit dem Handy. Schätzungsweise war ich noch 50 km von meinem Ziel entfernt. Es war ziemlich kalt, ich überlegte hin und her und da ich eine Decke im Auto hatte, entschloss ich mich, im Auto zu warten.

Kurz nachdem ich mich eingerichtet hatte, tauchte in der Ferne ein Licht auf. Es entpuppte sich als eine Art Motorroller, der mit deutlichen Abstand stehen blieb. Eine weibliche Stimme fragte, ob sie mir helfen könnte. Nach der Beschreibung meines Problems hatte die Fahrerin anscheinend Vertrauen zu mir und sagte, dass sie auf der Heimfahrt zu ihren Eltern auf einem Bauernhof sei und von dort könnte ich telefonieren. Sie bot mir an, mich mitzunehmen. Als wir auf dem Hof angekommen waren, nahm die Fahrerin den Helm ab und zog ihre dicken Sachen aus. Darunter kam eine wunderschöne junge Frau zum Vorschein. Wir sahen uns an und nichts war, wie es einmal war. Es war als hätte mich der Blitz getroffen! Es war Liebe auf den ersten Blick! Der graue Himmel war auf einmal blau und ich konnte an nichts anderes mehr denken. Das himmlische Geschöpf stellte sich als Katharina vor.

Nachdem ich wieder einigermaßen zu mir gekommen war, riefe ich meine Freunde an und es stellte sich heraus, dass keiner mehr fahren konnte. Bei einem Notdienst meldete sich niemand. Schlechte Nachricht! Die gute Nachricht war, dass es auf dem Hof Zimmer gab und es war noch eins frei. Verliebt wie ich war, entschied ich mich ohne weiter nachzudenken zum Bleiben.

Es wurde ein wunderschöner Heiliger Abend, da mich die Familie in ihren Kreis aufnahm. Ich hatte nur Augen für Katharina. Voller Hoffnung glaaubte ich, dass es ihr genauso wie mir ging. Am nächsten Tag holte mich ein Freund ab und endlich erreichte ich meinen eigentlichen Urlaubsort. Immer noch bewegte ich mich wie im Traum und das fiel meinen Freunden sofort auf. „Was ist denn mit dir los?“ „Ist etwas passiert?“

Am zweiten Feiertag hielt ich es nicht mehr aus und rief auf dem Bauernhof an und lud Katharina zu einem Dankeschönessen zwischen den Jahren ein. Sie sagte sofort zu und bei dem Essen gestand ich ihr, dass ich mich in sie verliebt hatte. Und das Wunder geschah: Sie hatte mich auch gern!

Von da an änderte sich mein Leben total. Offiziell war ich arbeitslos, nachdem ich mein Studium abgebrochen hatte. Um es deutlich zu sagen, ich war ziemlich verwahrlost und hatte mich mit temporären Jobs über Wasser gehalten. Mein Studium habe ich beendet und mich nicht mehr so hängen lassen. Mein großer Halt war Katharina! Wir heirateten noch während des Studiums und bekamen schnell drei wunderbare Kinder. Und jetzt noch ein großartiges Geschenk, meine erste Enkelin Silvia.

Sie wusste, dass niemand ihr glauben würde.
Sie hatte die Kontrolle über die Situation vollkommen verloren und jetzt fühlte sie sich schuldig. Ihr ganzer Körper schmerzte, sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, schlimmer noch, sie nahm weder ihre Umgebung noch sich selbst wahr. Das einzig Fassbare war der Schmerz, der sich langsam in ihren Gliedern ausbreitete … und dieses Gefühl der Hilflosigkeit, der Ohnmacht gemischt mit Verzweiflung. Sie bewegte sich nicht, in der Hoffnung aus einem Alptraum aufzuwachen. Bilder kamen ihr in den Kopf. Hoffnungsvolle Bilder, die ihr ein wohliges Gefühl der Verbundenheit mit der Welt vorgaukelten. Musik, die sich in Tränen auflöste. Menschen, die sie anlächelten, weil sie sich von ihrer Heiterkeit anstecken ließen. Die zufälligen Berührungen hatten sie elektrisiert, so dass sie über sich selbst erschrak. Nichts, aber rein gar nichts hatte sie gewarnt vor dem, was gerade passiert war. Die Gewalt, die über sie hereingebrochen war, hatte die Macht, sie zu verschlingen. Dagegen wirkte die Dunkelheit wie eine wohltuende Decke. Niemand würde sie finden und niemand würde sie vermissen. Sie verlor jedes Zeitgefühl und als sie Stunden später aus der Bewusstlosigkeit erwachte, war der Geruch der Erde das erste, was sie wahrnahm. Mitfühlend hatte sich das Gras unter ihrem Gewicht auf die nasse Erde gelegt und die Wärme ihres Körpers angenommen. Sie lauschte den Geräuschen der Nacht und bemerkte die Bemühung der Natur, ihr Trost zu spenden. Nicht fordernd und nicht drängend, aber beständig flüsterte sie ihr Mut zu. Die Erde schien ihre Verletztheit zu bemerken und gleichzeitig zu ignorieren, indem sie das Geschehene bezeugte, aber ein kleines Licht der Hoffnung erschuf. Träumte sie oder spielte eine Musik im Hintergrund? Langsam versuchte sie, sich zu bewegen. Sie zog ihre Beine an und drehte sich auf die Seite, machte sich ganz klein und lauschte weiter den beruhigenden Geräuschen der Nacht. Geborgenheit kannte sie nicht und doch wusste sie, dass ihr Gefühl die Antwort auf diese Sehnsucht war. Etwas war erwacht in ihr und im Laufe der nächsten Stunden wich ihre Ohnmacht einer neuen Empfindung. Sie fühlte eine Stärke in sich, die gleichzeitig erhaben über ihr zu schweben schien. Die Morgendämmerung nahm ihr die letzten Schatten von der Seele und sie konnte aufstehen und sich nach Hause schleppen. Diese Nacht hatte sie verwandelt und es war nicht mehr wichtig, ob ihr jemand glaubte.
Später dachte sie oft, ihr Geheimnis sei im Wald geblieben, liebevoll behütet und gut versteckt. Bis der Tag kam, an dem alles von vorne anfing.

Advents-Zeit

Wir fahren vom Adventsmarkt nach Hause. Es ist schon ziemlich dunkel, wobei in der Stadt viele Lichter und Lampen ein durchgehendes Dämmerlicht erzeugen.

Die Ampel an der großen Kreuzung ist rot und wir stehen mit unserem Auto ganz vorne in der Seitenstraße, um die vierspurige Hauptstraße stadtauswärts zu überqueren.

In solchen Situationen beobachte ich die Ampelschaltung. Für die Fußgänger rechts von uns hat es gerade auf grün geschaltet. Ein paar wenige Menschen kann ich im Halbdunkel erkennen. Plötzlich kommt ein Auto mit hoher Geschwindigkeit angerast, überquert die Kreuzung. Das gehört da nicht hin! Schon erfasst es einen Passanten. Sein Körper wird über das Auto hinweg durch die Luft geschleudert. Seine Popcorn sehe ich wie kleine Sternchen im Straßenlampenlicht durch die Luft fliegen. Sie scheinen einen Moment dort zu verharren – bis ihr Licht erlischt.

„Jetzt haben sie da jemanden überfahren“ sage ich kurz und völlig irritiert zu meiner Frau auf dem Beifahrersitz, während ich trotz roter Ampel ein paar Meter weiter nach vorne fahre und mein Auto an der Seite abstelle.

Der Adrenalinspiegel schießt nach oben. Jetzt beginnt die Zeit – wie in Watte gepackt – weiterzulaufen. Jetzt geht es mir nur noch darum, zu helfen und zu funktionieren. Das kann ich in Notfallsituationen ganz gut. Wo anfangen? Beim Opfer! Schnell laufe ich voraus um mir ein erstes Bild zu machen. Erst jetzt merke ich, wie groß die Abstände hier an der Kreuzung sind. Vom Auto aus sah alles ganz nah aus. Noch ein paar Schritte und ich bin beim Unfallopfer. Dort drüber liegt es. Ganz dunkel gekleidet. Eine andere Passantin ist schon bei ihm. Ängstlich. Aufgeregt. Hilflos. Sie versucht ihn anzusprechen. Wahrscheinlich war sie einer von den Menschen, die die Straße von der gegenüberliegenden Seite überquert hat. „Haben Sie schon den Notarzt gerufen?“ frage ich – wobei ich mich wie fremdgesteuert fühle. „Nein, das habe ich noch nicht gemacht!“ Sie wendet sich wieder dem schwer verletzten Mann zu. „Er lebt und hat große Schmerzen!“ höre ich sie noch sagen, während ich überlege welche Nummer ich jetzt wählen muss. 110 oder 112? „Kein Wunder, dass er Schmerzen hat“ denke ich. „Was ihm passiert ist…“ Ich betrachte seinen blutschmierten Kopf. Jetzt fallen mir auch die Popcorn auf, die rings herum um ihn verstreut sind. Nochmal: 110 oder 112? Ich spüre meine Aufregung. Meine Hände zittern, während ich die Ziffern auf meinem Handy tippe. Wie in Watte gepackt, führe ich das Gespräch. Das, was mich beruhigt, ist die Aussage unseres Erst-Helfer-Ausbilders, der uns beim Kurs vor vier Wochen mehrere Male eingetrichtert hat, dass man uns im Notfall durch das Gespräch führen wird. Was mich plötzlich beunruhigt ist, dass um uns herum die Autos immer weiter fahren. Manche Menschen halten an und helfen. Manche fahren weiter als wäre hier nichts passiert. Während ich telefoniere, weise ich einen Mann an, ein Warndreieck aufzustellen. „Nein, nicht gleich hier. Weiter hinten!“ Jetzt kommt auch noch ein Bus. „Wie viele Verletzte gibt es?“ fragt mich die freundliche Stimme am Telefon. „Nein, Sie können hier nicht durchfahren. Sie können höchsten ein Stück über den Gehweg…“ „Wahrscheinlich zwei Verletzte. Ein Mann schwer. Die Fahrerin des Wagens, die den Mann überfahren hat, steht unter Schock.“ Während ich der Person in der Rettungsleitstelle zu erklären versuche, wie der Unfall passiert ist, lotse ich den Busfahrer am Unfallopfer vorbei. „Wo der Unfall passiert ist?“ Ich weiß doch nicht, wie die Straßen hier heißen. „Ah, da hinten ist ein Schild. Warten Sie…!“ Auf dem Weg dorthin weise ich zwei weitere Passanten an, die Straße, um den verletzten Mann abzusperren.

Auf dem Weg zu Straßenschild entdecke ich das Auto vom Unfallverursacher. Der ist noch einige Meter weitergefahren. Die ganze Familie ist in Schock bzw. in Panik geraten. Der Mann, der auf der Beifahrerseite aussteigt , will mir erklären, dass er nicht weiß, wie das passieren konnte. Hinten schreien die Kinder und der Hund kläfft, was das Zeug hält. Die Frau klammert sich an´s Lenkrad und starrt durch das fast 30 cm große Loch in der Windschutzscheibe, das der schwer verletzte Mann mit seinem Kopf dort eingeschlagen haben muss. Die Frau ist kaum ansprechbar. „Ja, der Notarzt und der Rettungswagen sind unterwegs“ höre ich die Frau aus der Rettungsleitstelle noch sagen, bevor ich zwei weitere Helfer anweise, beim Auto der Familie zu bleiben. Leise raune ich dem einen noch zu: „Und passen Sie auf, dass die nicht abhauen…!“

„Kann ich Ihnen helfen? Ich bin Krankenschwester“ sagt eine junge Frau von hinten zu mir. Ich drehe mich um und weise mit beiden Händen nach unten zeigend auf das Unfallopfer, das ein paar Meter entfernt liegt. Dankbar nehme ich wahr, dass ein paar Leute diese goldglänzende Folie über und unter den Mann gelegt haben. „Da können Sie helfen…“

Wieder will mir der Mann aus dem Unfallauto erklären, dass sie den Mann nicht gesehen haben. Sie hätten doch grün gehabt und warum hätten dann die Fußgänger auch grün gehabt? Ich versuche ihn zu beruhigen. Muss mich aber wieder mit der Frau am Telefon besprechen.

Wieder vor zum Opfer. Einige Menschen kümmern sich um ihn. Er scheint in guten Händen zu sein. Die Krankenschwester sagt etwas mit „…Arm gebrochen…“, „…Schmerzen im Bein…“ und „Verletzungen am Kopf“. Ich höre nicht genau hin. Wie in Watte gepackt funktioniere ich. „Reichen Ihnen die Infos? Wann kommt denn der Notarzt…?“ Die Leute vom Notruf, die ich die ganze Zeit parallel mit weiteren Informationen versorgt habe, fordere ich dringlichst auf, dass jetzt jemand kommt. „Der Mann stirbt sonst…!“ „Es ist schon jemand unterwegs“ höre ich noch sagen, bevor das Gespräch beendet wird. Ich trete auf die Popcorn und schnaufe durch. Wie in Watte gepackt, stehe ich da und halte kurz inne. Der Bruchteil einer Sekunde, der sich anfühlt wie eine Ewigkeit lässt mich die Situation neu erfassen, ich kann mich sammeln und stelle fest, dass mir wahrscheinlich meine Frau zwischendurch – ohne dass ich es merkte – die Warnweste übergezogen hat. Weiter geht´s.

Ich muss den Mann suchen, der auch gleich zu Beginn hier war. Der muss als Zeuge hierbleiben. Wieder wie in Watte gepackt, höre ich von fern das Martinshorn. „Hoffentlich kommen sie jetzt ganz schnell zu uns. Schnell!“ denke ich. Der Mann braucht dringend Hilfe. Und ich kann nicht mehr. Als ich wieder das 30 cm große Loch in der Windschutzscheibe sehr, hoffe ich nur, dass er überleben wird. „Was müssen das für Schmerzen sein?“ fährt es mir durch den Kopf und anschließend durch den ganzen Körper. Da spricht mich schon jemand vom Rettungsdienst an und ich weise die Leute kurz ein, bevor mich meine Frau kurz in den Arm nimmt. Jetzt merke ich, wie völlig erschöpft ich bin. Und auch später, wenn wir vom Adventsmarkt nach Hause fahren, gelten meine Gedanken immer wieder dem Mann, der dort schwer verletzt auf der Straße lag. „Hoffentlich überlebt der Mann!“ denke und sage ich während der Fahrt immer wieder. „Die Frau ist bei rot über die Ampel und hat den Mann voll umgemäht.“ Und dann erscheint vor meinem geistigen Auge immer wieder das Bild von den Popcorn in der Luft…

Samtaugen

Eines sonnigen Morgens, nicht weit von der Moschee, schaute
Halef Omar unvermittelt in das dunkle, violett schimmernde Meer eines Augenpaars, das aus einem Schleier hervorlugte. Für einen Wimpernschlag begegneten sich ihre Blicke, flatterten aufeinander zu und webten ein unsichtbares Band. Halef sah ihre Seele glänzen, eine magische Quelle, die aufsprang und Boten in sein Herz sandte.
Er fand kaum noch Schlaf, sah ständig die dunkel-violetten Samtaugen, von schwarzen Wimpern besäumt, die Lider, die ihn an durchscheinende Blütenblätter erinnerten und die er in seiner Fantasie wie Schmetterlingsflügel klimpern liess.
Er entschloss sich bei Abdul Hassar, einem rechen Kaufmann und Vater der Besitzerin der Samtaugen, vorzusprechen.
„Höre“, sagte er zu Abdul, „mir gefällt deine Tochter und ich begehre sie zum Weib. Ich biete dir 1000 Dinare, das ist ein stolzer Preis.“
„Es freut mich, dass meine Tochter dir gefällt“, antwortete Abdul. „Doch bei Allah und meiner Seele! Unter 2’500 Dinaren ist leider nichts zu machen.“
„Das ist zu viel für mich“, sagte Halef und verzog sich, heiratete kurz darauf eine andere, für ihn erschwinglichere, die zwar nicht so schön, aber dafür intelligent und sparsam war.

Doch in manchen Nächten, wenn der Mond und die Sterne am Himmel leuchten, spaziert er hinaus in die Wüste, schaut zu den Gestirnen, trauert den schwarzen Samtaugen nach und denkt wehmütig, hätte ich doch früher mit dem Sparen begonnen.

Die Stimme
Das Telefon klingelt. Das Display zeigt die Nummer meiner Mutter. Ich lasse das Handy bimmeln und trete ans Fenster. Draußen wölbt sich ein seidiger Frühlingshimmel über zartgrüne Wiesen, gelb gesprenkelt von Löwenzahnblüten, gesäumt von Weißdornbüschen. Ich atme tief durch und schlage mit der Faust auf den Tisch, sodass das Telefon einen kleinen Satz macht. Das Display starrt mich vorwurfsvoll an und verstummt. Und während das Handy das Licht ausknipst, signalisiert es mir noch: Du wirst dieser Frau nicht entgehen. Und noch schlimmer: Du wirst die quälende Stimme, die sich in deinem Inneren eingenistet hat, niemals loswerden.
Schon als Kind habe ich diese Stimme gehasst, der ich hilflos ausgeliefert war. Wie oft hatte sie mit ihrem moralisierenden Sauerbitterton meine Begeisterung gebremst, mich zurechtgestutzt, mir meine Lebenslust genommen. Angst vor den strengen Strafen und Angst davor, ungehorsam zu sein, machten mich klein. Bis ich begriff, wie duckmäuserisch das war und wie sehr ich mich dafür verachtete. Ein unbändiger Drang nach Freiheit, nach Freude und Selbstentfaltung verliehen mir im Lauf der Jahre die Kraft, gegen das aufgezwungene schlechte Gewissen, gegen Einengung und Ungerechtigkeit zu kämpfen. Trotzdem hatte mich die Quenglerin in mir nie gänzlich verlassen. Auch noch als Erwachsene, fern von zu Hause, führte ich von Zeit zu Zeit Zwiegespräche mit der lästigen Mahnerin. Allerdings hatte ich gelernt, sie in ihre Schranken zu weisen. Meine schärfsten Waffen waren Gelassenheit, Sturheit und ein grimmiges Vergnügen an unserem Duell. Fast immer trug ich inzwischen den Sieg davon, und wenn mir das einmal nicht gelang, dann redete ich mir ein, dass eben die Vernunft gewonnen hatte, nicht etwa meine Ängstlichkeit, Feigheit, Vorsicht oder Trägheit. Welch kläglicher Triumph.
Das Telefon unterbricht erneut meine Gedanken. Fordernd. Es ist meine Mutter. Der Frühling lächelt so mild und ermutigend. Ich drücke auf den grünen Button.

Felis Catus

Mit kleinen Augen wache ich auf. Die Sonne brennt schon unermüdlich durch die grüne Zeltdecke. Es geht weiter, denke ich. Die Hitze in diesem verfluchten Polyester Zelt bringt mich um den Verstand. Was waren wir gestern gefahren: 50, 60km? Ich habe auf dem Fahrrad teilweise die Zeit vergessen und gar nicht mehr verstanden wohin wir eigentlich wollten. Nun sind wir hier, die Sonne geht auf, ich spüre es durch die Polyester Decke des Zeltes. Alles heizt sich auf. Es fühlt sich unnatürlich an. Mit einem einzigen Huster reiße ich die Zelt Tür auf und halte inne, noch das Ende des Reisverschlusses in den Händen. Im Vorraum kräuseln sich die Ameisen, aber die Tür nach Draußen ist auf.

Hier sitzt du. Felis Catus. Wie eine Erscheinung. Die Zeit steht still, als ich dich betrachte. Dein rot-weißes Fell schimmert durch deine filigranen Muskeln. Du bist ein aktiver und kluger Kater. Gestern habe ich dich kurz gestreichelt und mit dir geredet und nun sitzt du hier, wenn ich aufwache? Dies ist ein Moment, nur ein einziger, wo du mir etwas sagst was ich fasst vergessen habe.

„Lebe den Moment“.

War es Schicksal? Oder traf ich einfach nur den falschen Zeitpunkt? Vielleicht war ich auch nur zur falschen Zeit am falschen Ort.
Ich wusste es nicht. Jedenfalls sah ich, genau wie die Menschen es mit Nahtoderfahrungen immer sagten, mein Leben an mir vorbeiziehen. Kindheitserfahrungen so deutlich, als wären sie gerade in diesem Moment real.
Ich hörte noch, wie der Reifen platzte, und ich erinnerte mich daran, wie mein Lenkrad ein Eigenleben führte. Auf den nassen Straßen wäre es auch ein Wunder gewesen, wenn der Unfall vermieden hätte werden können. Ich selbst war nicht mehr in der Lage zu denken oder angemessen zu handeln. Es geschah einfach ohne, dass ich es wirklich realisierte. Der Wagen durchbrach die Leitplanke und das Auto stürmte ungebremst in den Abgrund. Nachdem sich die Airbags öffneten, und meine verzweifelten Schreie im dunklen Nichts verhallten, wurde es schwarz vor meinen Augen.
Nur ganz langsam drang der piepende Ton in mein Unterbewusstsein ein und ich spürte, wie mein Körper anfing, sich gegen die Schmerzen zu wehren. Schmerzen, die ich mir nie hätte vorstellen können. Tausend Messerstiche durchzogen meinen ganzen Körper und ich spürte jeden einzelnen Knochen und Muskel. Langsam kam auch die Erinnerung zurück. Vor meinem inneren Auge sah ich, wie ich die Leitplanke durchfuhr und jeder einzelne Regentropfen, der durch das Scheinwerferlicht angestrahlt wurde, als ich den Abhang hinunterschoss. Ich hatte keine Hoffnung, dass ich das überleben würde. Doch als sich der Airbag öffnete und mir nach dem Aufprall teile der Frontscheibe ins Gesicht schleuderte, versank meine Welt in ein dunkles endloses Schwarz. Jetzt wo ich langsam das Bewusstsein erlangte, spürte ich zwar die Schmerzen, die der Unfall hinterließ, aber auch, wie das Leben in meinen Körper zurückkehrte. Ich lebte. Auch wenn ich nicht wusste, wie ich so viel Glück haben konnte.
Nur schwerlich öffnete ich meine Augen, die sich anfühlten, als hätte es sich eine Tonne Steine auf ihnen gemütlich gemacht. Ich war mir sicher, dass ich sie öffnete, doch alles was ich sah, war die gleiche Dunkelheit, wie vorher auch. Ich versuchte, meine Arme zu heben, doch irgendwie war mir das absolut nicht möglich. Panik machte sich in meinem Inneren breit und der Ton der Maschine schien durchzudrehen. Dann hörte ich, wie sich eine Tür schnell öffnete und jemand nach dem Arzt rief. Ich ging davon aus, dass es eine Krankenschwester sein musste, denn die Fachbegriffe die sie vom Arzt entgegengeschmettert bekam, verstand sie ohne weiteres.
»Bitte beruhigen Sie sich. Sie haben das Gröbste jetzt zwar überstanden, aber Sie brauchen noch Ruhe.«
Der Arzt legte mir beruhigend eine Hand auf die Schulter.
Ich versuchte, etwas zu erwidern, doch die Worte blieben mir im rauen Hals stecken. Jeder Versuch einen Ton zu erzeugen schmerzte höllisch. Es kam mir so vor, als hätte jemand mit Bimssteinen meinen Hals bearbeitet. Ich musste kräftig husten.
»Reden wird Sie nur noch mehr anstrengen«, erwiderte die Schwester nach meinem Hustenanfall. Doch ich wollte wissen, was passiert war, wie es mir ging und vor allem, was mit meinen Augen los war. Ich war mir sicher, dass ich sie öffnete, doch warum konnte ich das rettende Licht nicht sehen. Also versuchte ich es erneut.
»Was … meine Augen«, kratzig kamen die Wörter aus meinen Mund und ich hustete erneut.
»Ihre Augen wurden von den Scherben verletzt. Noch tragen Sie einen Verband. Die Operation lief gut und wenn alles weiter so verläuft, besteht durchaus die Möglichkeit, dass ihr Sehvermögen zurückkehrt. Daneben haben Sie sich einige Hämatome zugezogen, ein Bein, einen Arm und zwei Rippen gebrochen. Die Rippen werden Ihnen noch einige Schwierigkeiten beim Atmen bereiten. Die anderen Brüche werden ohne Probleme ausheilen.«
Ich schluckte schwer und auch wenn ich den Worten des Arztes gerne vertraut hätte, konnte ich jedoch seinen Unterton heraushören, als er über meine Augen sprach. Die Angst, mein Augenlicht zu verlieren schnürte mir den Hals zu. Meine Augen waren mein Werkzeug, wie sollte ich …
»Ayleen, du bist endlich aufgewacht.« Meine Mutter holte mich so stürmisch aus meinen Gedanken, wie sie mich umarmte. Ich stöhnte auf, nachdem sie meinen bereits von dicken blauen Flecken übersäten Arm berührte.
»Oh Gott, tut mir leid, das wollte ich nicht.« Sanft strich sie über die Stelle, wobei ich sie leise schluchzen hörte. Wusste sie vielleicht mehr, als der Arzt mir sagen wollte? Ich spürte die Schmerzen schließlich, auch wenn man mich wahrscheinlich mit etlichen Schmerzmitteln vollpumpte. Meine Augen brannten, als hätte mir jemand ein glühendes Eisen hineingehalten. Mir weiszumachen, dass es keine Folgen gab, war so lächerlich wie Eislaufen auf einem nicht zugefrorenen See. Auch an den schweren Atemzügen meines Vaters konnte ich es hören. Sie verschwiegen mir eindeutig etwas. Aber ich war mir nicht wirklich sicher, ob ich es wirklich wissen wollte.
»Ruhe dich noch etwas aus Liebes. Wir reden, wenn du wieder bei Kräften bist.«
„Wie lange bin ich schon hier?“
Meine Mutter sah mich ernst an und ich sah es ihr eindeutig an, sie kämpfte mit der Antwort.
„Zwei Monate.“
Zwei Monate? Ich lag zwei Monate in diesem Krankenhaus, ohne das geringste mitzubekommen. Zudem würde ich vielleicht nie wieder einen Sonnenaufgang sehen.