Das D’miley Projekt
Mittlerweile kannte ich jeden Winkel und jede Ecke des Raumes, in dem ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit ausharrte. Seit Stunden spürte ich den kalten Hauch, der mir über den Nacken fuhr und seinen Ursprung in dem undichten Fenster hinter mir hatte. Meine Hände lagen wie zum Gebet gefaltet auf dem Tisch vor mir und waren nicht im Stande sich zu wärmen. Sie zitterten. Immer noch klebte Blut unter meinen Fingernägeln und ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass dieses von meiner Platzwunde an der Stirn herrühren und ich mich dort gekratzt haben musste. Ich ahnte, dass es nicht so war, aber klammerte mich zwanghaft daran. Und selbst wenn dem so gewesen wäre, so fehlte mir immer noch eine Erklärung für diese Wunde und jegliche Erinnerung. Prüfend fuhr meine Zunge wiederholt über meine Oberlippe und taste deren Innenseite mit Vorsicht ab. Die Schwellung war deutlich zu spüren und der Geschmack von verkrustetem, mit Speichel benetztem Blut erfüllte mich mit einem gewissen Gefühl von Ekel. Ein Stück Kruste löste sich und meine Zunge schob sie hin und her, bis sie sich auflöste und mich fast zum Erbrechen brachte. Zitternd ergriff meine linke Hand das Glas Wasser, das vor mir stand. Als ich es wieder abstellte sah ich, wie vom Rand ein Bluttropfen in Zeitlupe ins Glas lief und ein roter Schleier ebenso langsam zum Boden hinabtauchte. Die Lampe, die von der Deckenmitte herab den Raum in ein mattes Licht tauchte, begann leicht zu flackern. Draußen rollte ein LKW über das Kopfsteinpflaster und brachte den Boden des Raumes zum Vibrieren. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Ring und meine Uhr fehlten. An ihrer Stelle waren helle, ungebräunte Abdrücke zu sehen. Auch fehlten zwei Knöpfe an meinem Hemd und an der linken Brustseite befand sich ein Riss, dessen Saum blutrote Flecken aufwies. Ein Auto näherte sich und mit quietschenden Bremsen hielt es unmittelbar unter meinem Fenster. Türen wurden mit Wucht zugeschlagen. Ich vernahm hauchdünne Männerstimmen, die vom scheinbaren Zuschlagen des Kofferraums erstickten. Dann war es für einen Moment still. Meine Gedanken, die Zeit, alles schien wie eingefroren. Was ging hier vor? War dies eine Chance? Bevor ich zu einer Antwort auf meine vielen Fragen kam, formten sich meine Gedanken zu einem Hilferuf.
„Hallo! Ist da jemand? Kann mich jemand hören? Hallo! Bitte, helfen Sie mir!“, krächzte ich krampfhaft und halb erstickend, da meine geschwollene Zunge mir den Dienst versagte. Ich verschluckte mich fast. Verzweifelt versuchte ich mich zum Fenster hin umzudrehen. Eine Art Gürtel, der über meine Oberschenkel festgezurrt war, hielt mich davon ab. Nun bemerkte ich auch den Gurt um meine Brust. Mein Auffassungs- und Wahrnehmungsvermögen lag fast bei null. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade von einer Narkose oder aus einem Koma erwacht. Meine Beine begannen zu zittern und Panik machte sich breit. Ich hatte keinen Schimmer was passiert war, warum ich hier saß, oder woher meine Wunden und Schmerzen rührten. Man schien mich nicht zu hören.
Erneut hörte ich Stimmen. Diesmal schienen sie sich zu nähern. Mein Schädel brummte. Ich schüttelte meinen Kopf, als könnte ich so alles loswerden, was an Schwere und Schmerz auf mir lag. Deutlich nahm ich nun auch Schritte wahr, die sich schnell näherten. Mein Herz schlug bis zum Hals und mein Gesicht erstarrte zu einer Maske des Schreckens. Ich presste meine Zähne fest aufeinander, denn instinktiv wollte ich laut aufschreien. Doch irgendetwas hielt mich zurück. Als die Schritte vor meiner Tür Halt machten, hörte ich einen Mann mit einem mir unbekannten Akzent fluchen.
„Wieso steckt der Schlüssel nicht im Schloss, verdammt nochmal? Hast du ihn eingesteckt, Dimitri?”
„Nein, habe ich nicht! Als ich ihm vor zwei Stunden das Glas Wasser brachte, da steckte der Schlüssel und ich habe ihn verdammt nochmal auch stecken lassen.”
„Verdammte scheiße, und wieso ist er dann nicht da?”
„Woher soll ich das wissen? Wieso machst du immer mich für alles verantwortlich? Spiel dich hier nicht so auf!”
Es wurde still und ein kleiner heller Punkt erschien wie aus dem Nichts in der Tür. Als er kurz verschwand, war mir klar, dass man mich anstarrte. Dann war es wieder dunkel.
„Hast du deine Knarre mit? Wir schießen das verfickte Schloss auf, okay?”
„Willst du mich verarschen? Du hast doch gesagt, dass wir die Knarren im Auto bei Anatol lassen sollen! Weißt du was? Du solltest dir mal wieder einen blasen lassen oder weniger Wodka saufen. Du gehst mir mit deinem Chef Spielen tierisch auf die Nüsse!”
Anatol war also noch beim Wagen, was bedeutete, dass es mindestens drei Personen waren, und ich hatte absolut keine Ahnung was hier vor sich ging. Ich wusste nur, wenn diese Tür sich öffnen sollte, dann wäre es die letzte, durch die ich gehen oder hinausgetragen würde. Liegend, in einem Plastiksack. Von Panik getrieben versuchte ich den Stuhl zum Kippen zu bringen, doch er war am Boden fixiert. Dimitri wurde zum Wagen geschickt, um von Anatol den Schlüssel zu besorgen und seine Waffe mitzubringen. Widerwillig folgte er der Anweisung. Durch den Türspalt strömte der Geruch einer brennenden Zigarette und eine unerträgliche Stille, die mich lähmte. Ich hatte Angst. Das ständige Flackern der Lampe machte mich nur noch nervöser. Wartete ich gerade auf meine eigene Hinrichtung?
Ich konnte meine Gedanken nicht klar ordnen, um auch nur einen Hauch einer Vorstellung zu bekommen, was hier vor sich ging. Meine Identität oder auch nur ein Gefühl davon, wer ich war, schien ausgelöscht worden zu sein. Zeitgleich mit diesen Gedanken spürte ich zum ersten Mal, wie sehr mein ganzer Körper schmerzte. Bei jedem Atemzug, den ich tat, schmerzten meine Rippen. Fuhr meine Zunge über meine Lippen, verkrampfte mein Kiefer und bei jedem Versuch mich mehr zu bewegen kamen Hüfte und Schultern hinzu.
Ich begann mehr und mehr voller Verzweiflung zu versinken, als ich erneut einen LKW hörte. Diesmal schien er jedoch nicht an meinem Fenster vorbeizufahren, sondern in unmittelbarer Nähe, bei laufendem Motor, zu halten. Mehrere Stimmen waren gedämpft zu hören. Ich versuchte mich umzudrehen, als ich ein seltsames Geräusch hinter mir, am Gitter des Fensters, wahrnahm, als würde Stahl auf Stahl reiben. Zeitgleich ertönte vor der Tür die Stimme des Mannes dessen Namen bisher ungenannt geblieben war. Dimitri war zurück.
„Hast du den verdammten Schlüssel?“
„Ja, ich habe ihn. Anatol, dieser Idiot, hatte ihn in seiner Jackentasche. Als wir auf ihn im Wagen warteten, war er in der Ecke hinten scheißen und hat ihn auf dem Rückweg abgezogen, da er dachte wir hätten ihn vergessen.“
„Ich frag mich schon die ganze Zeit, was hier so stinkt, verflucht nochmal. Wird Zeit, dass wir den Typen umlegen und aus dieser Scheiße hier rauskommen. Leg mal einen Zahn zu, ich will hier raus.“
„Jetzt fang nicht schon wieder an, dich hier aufzuspielen, man!“
Dimitris Stimme war nun deutlicher zu hören. Nur noch wenige Sekunden und die Tür würde sich öffnen und mein Leben, ohne zu wissen wer ich war, sein Ende nehmen.
„Aber sag mal“, wollte Dimitri wissen, „womit willst du ihn eigentlich erledigen?“
„Wieso? Sag bloß du hast die Knarre im Wagen gelassen?“
„Ich sollte den Schlüssel holen oder die Knarre, hast du gesagt. Hätte Anatol den Schlüssel nicht gehabt, dann hätte ich sie ja mitgebracht, damit wir das Schloss wegschießen.“
„Verfickte Scheiße, Dimitri! Wie blöd bist du eigentlich?“, fuhr der andere ihn an.
„Wir können ihn doch auch erwürgen, oder?“
„Könnten wir, ist aber nicht mein Ding. Ich kann dieses verdammte Röcheln und das Zappeln nicht ab. Ich hol jetzt die Knarre. Steck dir eine Zigarette in den Hals und trete bloß nicht in Anatols Scheiße.“