Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Alte Steine

Der Weg war steil und führte durch den dunklen Wald hoch zur Burg. Ein kalter Windhauch spielte mit ihren roten Haaren und wehte sie durch einander. Ihr Atem ging schwer. Einen Fuß vor den anderen setzte sie, was ihr nicht leicht viel, denn diese Burg hatte es in sich, dass wußte sie.
Es gab viele Geschichten über sie. Uralte Sagen, Märchen, Spukgeschichten und vieles mehr. Auch ihre Geschichte von damals gehörte dazu. Die, welche ihr Leben verändertere, von einer auf die die andere Sekunde. Und heute ging sie diesen Weg, um damit abzuschließen.
Die Sonne ging unter. Wollte sie zur gleichen Zeit an jener Stelle stehen, mußte sie sich beeilen.
Die dunklen Mauern warfen schon lange Schatten auf den Weg. Ihr Herz schlug mit jedem Schritt schneller. Sie passierte das große steinerne Burgtor und gelangte in den unteren Zwinger.
Hier war es schon fast dunkel. Mit vorsichtigen Schritten ging sie über die rutschigen Pflastersteine, die feucht waren. Nach einiger Zeit erreichte sie die Stelle, wo die Treppe zum Burgfried hoch führte. Sie schaute nach Westen. Die Sonne sendete ihre letzten Strahlen und wenige Sekunden später war sie untergegangen- Einen tiefen Atemzug nehmend stieg sie die Treppe rauf und erreichte das innere der Bergfriedes. Er war nur noch eine Ruine, kein Dach, Pflanzen wuchsen aus den Mauern und ein Teil war eingestürzt. Sie stand vor den Steinen und betrachte diese.
Tränen liefen ihr über das Gesicht. Damals hatte sie ebenfalls hier gestanden. Genau an diesem Punkt. Aber sie war nicht alleine, sondern ihr Mann hatte sie begleitet. Sie erinnerte sich, wie er von der alten Sage sprach, Ein Fluch von einer Edelfrau, die hier gelebt hatte und ihrem Mann untreu war. Ihr Mann ließ sie darauf hin im Turm einmauern und sie schwor, dass ein jeder Mann, der untreu ist, von den Mauern des Burgfriedes erschlagen werden sollte.
Erst nach dem Tod meines Mannes, erfuhr ich, dass er eine Geliebte hatte.

Was war das Wichtigste? Die Erinnerung?

„Die Silberminen müssen gesichert werden. Für den Schutz der Minen benötigt man viele Soldaten. Diese müssen entlohnt werden, was natürlich den Gewinn mindert.“ Die eigene Stimme hört sich immer dann abscheulich an, wenn der Gedanke so vollkommen unpassend ist.
Sie, die schönste von allen, sah auf und ich meinte zu erröten. Ich rang um Fassung und sprach langsam weiter.

Ich erklärte, dass es fatale Folgen haben wird, es Spanien gleichzutun. Sie brachten ihr Gold von Amerika nach Gutdünken auf den Markt. Der Wert des Goldes sank dadurch drastisch, und die Aufwendungen, um es nach Europa zu schaffen, stiegen ins unermessliche, denn es musste immer mehr Gold für einen stetig sinkenden Gegenwert hergeschafft werden.

„Wir wollen es Spanien nicht nachtun. Unser Silber halten wir unter Verschluss!“, kam es klug und kultiviert über ihre Lippen.

Wie oft hatte ich das gepredigt und wie nachdrücklich hatte ich simple Beispiele zum besten gegeben. „Das Silber wird knapp gehalten“, war mein Leitspruch. „Ein Ding, welches begehrlich ist, aber überall existiert, ist nämlich wertlos. Erst durch Mangel wird der Wert steigen. Nur ein Beispiel: Wasser kostet kein Geld. Es ist immer vorhanden. Wie kostbar aber wird es in der Wüste, wären wir am Dürsten. Tatsächlich gibt es in Arabien Menschen, die Wasser gegen Geld feilbieten. Wir aber haben Wasser im Überfluss. Niemand würde für einen Becher Wasser bezahlen wollen.“

Was war das Wichtigste? Die Erinnerung?
Sie klopft immer wieder an und wie gerne denke ich an diese wunderbaren Glücksmomente zurück. Ich war im vergangenen Sommer sicher, ich würde die Erbprinzessin verführen, doch die Frau, die auch für mich eine Schwäche hatte, war für eine eheliche Verbindung an den spanischen Hof vorgesehen.

In der Ferne klangen die Glocken. Es war das Sturmgeläut. Jetzt im stillen Winter war sie guter Hoffnung. Ich seufzte. Gemächlich trabte ich auf mein Ziel zu. Den hohen Schnee überwand mein Pferd nur mit Mühe. Auch der stille See, an dem wir uns einige male bei einem Schäferstündchen verabredet hatten, lag schwarz und in ihm spiegelten sich die fliehenden Wolken.

Unmittelbar am Waldsee wuchs eine mächtige Trauerweide, deren Rinde auf der zum See gerichteten Seite vereist war. In der Jugendzeit des Baumes hatte ihn irgendjemand einen Kreis in die Rinde geschnitzt. Es konnte auch ein Herz sein, das mittlerweile bis zur Unkenntlichkeit verwachsen war. Ich stieg aus dem Sattel und stapfte durch den Schnee zum Bootssteg.

Ich hatte den Steg nie betreten, um mein Antlitz oder gar meinen Körper auf der Wasseroberfläche zu betrachten, sondern ich betrat das schneebedeckte Holz einzig und allein, um es unter meinen schwarzen Lederstiefeln knarren zu lassen.

Ich liebte es, wenn sich die Bretter unter meinen Füßen bogen. Für mich offenbarte der See zu jeder Jahreszeit seine Reize. Die dichten Baumkronen waren jetzt schneebedeckt, und das kräftige Buchengeäst ragte so starr in den Himmel, dass es stellenweise kein Schnee durchfallen ließ. Über verschlungene Wurzeln glitzerte gekörnter Firn und gefrorenes Laub bedeckte schlafendes Moos. Der See lag regungslos da, und er hatte durch die klirrendkalten Januarnächte am Ufer eine dünne Eisschicht erhalten. Darin lagen geknickte Uferschilf und niedrig stehende Binsen.

Nach Nordosten und nur dort badeten noch ein paar Weiden ihre Wurzeln in ihm. Die fallend traurigen Zweige waren vom Eis erstarrt. Im vergangenen Sommer wehte ein laues Lüftchen und wie konnte ich widerstehen, wenn sie so schön an einer Weide lehnte?

Mit dem niemals enden wollenden Gezwitscher der Vögel, dem dumpfen Knarren des Holzes und dem Rauschen der Blätter ruhte das Gewässer im kühlen Schatten und warf die spärlichen Sonnenstrahlen in die leicht wehenden hellgrünen Weidenäste. Darunter vergnügten wir uns.

Mich schüttelte der Gedanke, was bald geschehen würde. Wäre ich doch in ein Kloster gegangen, hätte ich enthaltsam gelebt, wie viele Bücher hätte ich lesen können, nicht nur die alten Kriegsgeschichten, die aber jetzt zwangsläufig über dieses Land herziehen würden.

Ich schaute mich um. Über mir ein Falke am Ufer neben mir Vogelspuren. Weit und breit die einzige Wasserstelle. Direkt an einem Weidenast, keinen Meter von der Böschung entfernt, lagen die Federn eines Eichelhähers. Aha, dann hat er ihn geschlagen. So wird es mir auch ergehen. Ich lauschte. Mein Pferd scharrte im Schnee und schnaubte.

Ich ging den Bootssteg auf und ab, und wenn ich auf die Uferseite zulief, stierte ich auf den Karren, indem ein grauer Granitstein lagerte. Tragen konnte ich ihn nicht.

Liebe, Leidenschaften. Plötzlich dröhnten Pferdehufe. Die erfahrenen Männer der Patrouille würden mich rasch einholen. Zu fliehen war zwecklos. Ich hatte mich ja schon entschieden.

Der spanische Gesandte, den ich vor ein paar Monaten heimlich getroffen hatte, berichtete mir, dass es an der Grenze zu kleineren Scharmützeln gekommen war. So fing es an. Das Ende war eingeläutet. Ich schritt auf meinen treuen Fuchs zu, gab ihm einen Klaps, damit er frei war. Dann schritt ich zum Karren.

Später verriet mir der Gesandte, dass mehrere bedeutende Schlachten verloren gingen. Seit einer Woche kam das Gerücht von Verrätern auf, befeuert dadurch, weil gefangen genommene spanische Söldner fliehen konnten. Ja, es wurde laut geschrien: Verrat, Verrat! Einen Tag nach diesen Zwischenfall gingen Bürger auf die Straße und entwaffneten ein eigenes Infanteriebataillon.

Mit dem Karren kam ich zum Ende des Bootsanlegers. Ich schnürte das schwere Strick um meinen Bauch, über die Brust und nicht zuletzt um den Hals. Die Hufschläge meiner Verfolger waren an der letzten Weggabelung angekommen. Ich schloss die Augen und atmete schwer.

Wie wollte man diese Revolte niederschlagen, wenn man nicht mal Gefangene beaufsichtigen konnte? Binnen einer Woche stürzte das Land in eine blutige Revolution, bis zum nächsten Sommer würden zwei Fünftel der Bauern und Landsknechte elendig verrecken. Wer bestellt die Felder?

Krachend stürzte meine Karre in den See, mit ihm der riesige Granitstein und ich hinterher. Meine letzte Frage war dann noch, ob mein ungeborenes Kind und meine Geliebte es im erbärmlichen Krieg überleben könnten? „Natürlich!“, hörte ich meine Stimme. „Sie würden Glück haben und mit ein paar Blessuren aus der Misere herauskommen.“

Peter Pan

Was würde Rebecca sagen? Vielleicht :
Kennst Du den Platz zwischen schlafen und wachen? Der Platz wo Deine Träume noch bei Dir sind? Dort werde ich Dich auf ewig lieben, Peter Pan. Dort werde ich auf Dich warten.
Rebecca spricht so ehrfürchtig über Peter wie eine Katholikin über ihre Lieblingsheiligen. In der samtigen Dunkelheit bemerkt er ihr Lächeln. Ja, es war wahrscheinlich alles eine Metapher. Der freie Flug ins wortlose. Er wollte nicht erwachsen werden. Der Himmel strahlt mit Rebecca um die Wette. Die Wärme weiche Luft streicht leicht über ihre walnussbraune Haut. Gedankenverloren sitzt sie da und blickt aufs weite Meer. Wie ist ihr Verhältnis von Körper und Geist? Irgendwie hat sich seine Seele verändert denkt Rebecca. Er hat einen unsichtbaren Pakt geschlossen. Manchmal vergisst er alles. Sogar sich selbst. Dann ist er in seiner kleinen dunklen Welt alleine. Es ist fast als ob er übersinnliche Fähigkeiten besitzt. Doch oft sind seine Träume wie Folter. Moderne Gehirnwäsche. Und doch hat er das Gefühl alles schon einmal geträumt zu haben. Die endlosen Tage, die endlosen sternenklaren Nächte in denen er die Sternzeichen deutete, den großen Wagen, der direkt auf das gestauchte W der Kassiopea zusteuerte. Auf der breiten Milchstraße war auch noch für den kleinen Wagen Platz der gefährlich nah am Großen Bären vorbeizog. Er schwenkt seinen imaginären Zauberstab wie David Copperfield in seinen besten Zeiten. Er lässt alles um sich verschwinden. Den Himmel, die Erde, das Universum, die fernen Galaxien und übrig bleiben nur die Erinnerungen, die Sehnsüchte, die Träume. Nachzulesen ist alles in dem geheimnisvollen Buch. Die Schwerkraft scheint außer Kraft zu sein und Peter wirkt wie telepathisch auf Rebecca. Er betritt das Gebäude und rennt wie ein Aktionheld die Treppe hinauf. Er ist in einem Labyrinth aus Gängen und Türen, aus Entscheidungen und Prioritäten gefangen. Er fragt sich wo er falsch abgebogen ist. Er treibt im luftleeren Raum und seine Lebensuhr tickt unaufhaltsam. Es ist die Nähe, die er schon fast vergessen hat. Früher sah er Bilder von Ereignissen , die noch nicht geschehen waren. Eine Vorahnung.

Die Bedeutung der Farben

„Marianne! Marianne!“
Sie dachte, sie hätte ihren Namen rufen hören. Ihr Name, mit einer neuen Melodie ausgesprochen. Sie grabschte nach einem der vielen blassen Beine, die vom Rand der Luftmatratze im trüben Wasser baumelten und gleich wurde ihr schwacher Handgriff mit Geschrei abgeschüttelt. „Ich bin’s!“, wollte sie rufen. Aus ihren Lungen entwich nur die Luft. Von der roten Luftmatratze bedeckt, sah sie zwei dunklen Flecken, die das Wasser des Flusses nicht wegwaschen konnte. Am Tag davor hatte sie heimlich mit einem schwarzen Filzstift draufgekritzelt. Die dunklen Flecken wurden zu Punkten. Ein fester Griff um ihren Bauch druckte ihren Rücken an einen großen warmen Körper und brachte sie an das Ufer.

„Und jetzt?“
„Dreiundvierzig Sekunden. Komm, lass das! Lass uns etwas anderes spielen.“
„Nur?!?“, sagte sie und tauchte wieder ein.
Der kleine braun grüne Krebs wohnte im Spalt ganz unten unter dem rechten Felsen. Er versteckte sich, sobald sie mit ihren Fingern ihn anzufassen versuchte. Zwischen den Kieselsteinen bewegte sich flink ein Einsiedlerkrebs. Ein Schwarm grünlicher Minifische schwamm hin und her und um den Felsen herum. Sie streckte ihre Hand zum Schwarm. Er änderte die Richtung, schwamm weg aus dem Schatten des Felsens, glänzte kurz unter dem Sonnenlicht und schwamm gleich wieder in den Schatten zurück. Die Sonne machte die Farben im Meer lebendig, dachte sie und tauchte wieder auf.
„Und jetzt?“

Sie schlug noch mal mit dem Hammer und verfehlte den Nagelkopf. Vorsichtig hängte sie die eingerahmte Urkunde, eine Aufzeichnung für besondere Leistung auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Unterwasserfotografie, auf und ging in die Küche, ein Kühlpäckchen aus dem Kühlschrank zu holen.

Der Martin

Ich unterrichtete 17 Jahre an der Berufsschule. Zehn in einem Bildungszentrum für Pflegeberufe. Dort hatte ich Glück, vorrangig Schönheit, Anmut und zarte, weichklingende Stimmen kennenzulernen. Start zum ersten April, nicht das Datum erfüllte die Erwartung. Es war der Freitag, ein Mühsamer für Martin. Beim Näherkommen tauchte ich ein in seine Dunstglocke. Er verströmte eine imposante Duftnote, ein Mix aus Aschenbecher und offenem Feuer. Eingebettet in eine Fahne des Mundgeruchs primär aus Bier, bei feinerer Diagnostik Schnaps erkennbar. Das letzte Getränk am Donnerstagabend, nahtlos in den Freitagmorgen übergehend. Der Bauwagentag, ein Ritual, dessen Konsequenz, den aussichtslosen Kampf gegen den Kater, ich drei Jahr begleitete. Er versteckte den aufzuholenden Schlaf hinter seinem wallenden langen Haar, einem Indianer ähnlich. Ich kannte die Auswirkungen, sie assoziierten eigene erlebte Dozentenreaktionen, die vorrangig am Montag betonten, sich im Klassenzimmer olfaktorisch an Kneipenbesuche zu erinnern. Bei ihm war es der Freitag. Ich roch ihn gern.

Wir hielten ein mehrtägiges Kommunikationsseminar. Die Wanderung um den nahen See, der Weg mit „ Zauberwald“ beschildert, entsprach den Erwartungen. Im Norden und Osten angrenzende Dreitausender, freier Südblick, im Westen saftige Almwiesen mit Pinzgauern, robuste und widerstandsfähige Kühe. Großflächige Spiegelungen im See verstärkten die Eindrücke, erinnerten an Caspar David Friedrich. Martin bückte sich wiederholt. Vermutete Schnürsenkelproblematik erschien sinnlos. Ich schloss auf, fragte. Er hob Kippen auf, sie störten ihn, hatten hier nichts zu suchen. Kein Handschuh und Schutz der Jacke. Dezent und kommentarlos erfüllte er den auferlegten Dienst. Erstaunlich.

Die Korrektur seiner Praktikumsreflexion löste Tränen. Ein hochbetagter Patient offenbarte ihm seine Geschichte. Beginnend am Kriegsende Mai 1945, erlebt auf der Flucht von Frankreich in den Chiemgau. Ständiger Begleiter die Angst, von den Amerikanern entdeckt und verhaftet zu werden. Er war mit einem älteren Kameraden unterwegs. Eingezogen trotz Hofübernahme kurz nach der Hochzeit. In unregelmäßigen Abständen erhielt er Feldpost, seine Gattin beschrieb ihre Sehnsucht, Entbehrungen und die kaum zu bewältigende Arbeit. Bei einer Flussüberquerung rutschte der Landwirt aus, erlitt eine lange Risswunde am Unterschenkel. Notdürftig mit Fetzen der getragenen Unterwäsche verbunden, Äste als Krücken dienend, humpelte er weiter. Eine Infektion und Schmerzen verhinderten den Marsch. Er trug den Fiebernden wie der Schäfer das verletzte Lamm. Den nahen Tod spürend bat er um Unterstützung der Frau. Lautlos verstarb er auf den Schultern. Der Träger begrub ihn mit den Händen. Siebzig Jahre arbeitete er auf dem Hof. Wenige Tage nach der Aussprache folgte der Patient seinem Kameraden. Einen besseren Zuhörer und Versteher als Martin, den Schüler, hätte er nicht finden können.

Stille

Sie wirkte zögerlich, als sie auf das Wasser zuging, doch innerlich war sie noch nie so überzeugt von einer Entscheidung gewesen, wie von dieser. Die Welt um sie herum schien still zu stehen. Fast so, als würde nicht nur sie gleich den Atem anhalten. Die Abendsonne umhüllte alle Umrisse, mit einem weichen Schimmer, ein Leuchten, das entlang der langen Tannen am Seeufer, im Wasser wie Kerzenschein flackerte. Sie ging auf die nach ihr ausgestreckte Hand zu. Niklas stand bereits bis zu seinen Knien im Wasser. Die aufgekrempelten Hosenbeine waren bereits nass geworden. „Nimm meine Hand“, der warme Ton in seiner Stimme, beruhigte ihr aufgeregtes Herz. In der Ferne hörte man einen Kuckuck im Wald den Abend begrüßen. Die Meisen und Rotkehlchen, die sich normalerweise auf der Lichtung tummelten, hatten sich bereits alle in die Sicherheit ihrer Nester zurückgezogen. Der Tag ging dem Ende zu, genauso wie ihr bisheriges Leben. Ihre Entscheidung würde die Türe zu ihrer Vergangenheit schließen, und ihr den Weg zu so viel Neuem eröffnen. Ihr Herz pochte, aber nicht aus Angst, sondern vor lauter Vorfreude und Ungeduld. Seit Wochen wartete sie auf diesen Moment. Jetzt war es endlich so weit. Hinter ihr stand ihre Gemeinde. Zehn oder fünfzehn von ihnen waren gekommen, um ihr Leben zu feiern, ihre Entscheidung zu bezeugen und ihre Wandlung mitzuerleben. „Bist du bereit?“, fragte Niklas. „Ja“, Marianne war bereit. Sie trug ein gelbes T-Shirt und kurze Laufhosen, damit sie sich im Wasser wohlfühlte. Sie holte tief Luft und in dem Moment tauchte Niklas sie auch schon unter Wasser. Obwohl sie nur für einen Bruchteil eines Moments unter Wasser war, fühlte sie sich erfüllt mit neuem Leben als sie wieder auftauchte und Sauerstoff ihre Lungen füllten. „Gratuliere“, riefen alle auf einmal.

Seufzend schaute Marianna aus dem Fenster in die Ferne. Wie gerne hätte sie diesen Moment noch besser in ihren Erinnerung festgehalten. Gerade jetzt. „Hast du gerade wieder an deine Taufe gedacht?“, Johanna ihre Enkelin saß neben ihr und hielt ihre Hand. „Ja, mein Kind“, eine Träne rollte langsam ihre Wange herunter. „Du denkst oft daran nicht wahr?“ Johanna verbrachte viel Zeit mit Marianna, die vor einem Monat ins Hospiz verlagert wurde. „Das stimmt.“ Sie stockte kurz, musste husten, schloss die Augen, um neue Energie zu gewinnen, „Es gibt so vieles wofür ich so unglaublich dankbar bin und alles führt zu diesem Augenblick in meinem Leben zurück, als ich beschlossen habe mein Herz und mein Leben Gott zu schenken. Er ist ein guter Gott, weißt du.“ „Ja, Oma. Ich weiß, dennoch würde ich mir wünschen, wir könnten heute so wie früher im Garten herum tollen. War das nicht schön?“, Johanna schaute traurig in den Garten des Hospiz. Er war viel kleiner und hatte lang nicht so so schöne Pflanzen wie Marianne’s Garten, der ihr ganzer Stolz war. „Das wünsche ich mir auch. Aber sei nicht traurig. Gott ist bei mir. Vertrau auf ihn,“ Sie hielt kurz inne, „und eines Tages sehen wir uns dann wieder.“ Johanna blieb noch ein wenig bei ihr, bis Marianna auf ihrem Sessel eingeschlafen war. Dieses Mal für immer.

Stillstand

(Finchen ist eine Emotion, Freude; inspiriert von dem Film „Alles steht Kopf“)

Mein armes kleines Mädchen musste in den letzten Jahren so viel erleiden und ertragen. Ständig zogen dunkle Gewitterwolken über unsere Blumenwiese auf. Es hat nur noch gedonnert, geblitzt und geregnet. Und das über Tage!! Mein Mädchen muss schon wieder eine Migräne Attacke durchmachen.

Hier bei mir im Kopf, in der Kommandozentrale mit Ausblick auf unsere schöne Blumenwiese, wo jeder Baum und jede Blume eine Emotion oder eine Persönlichkeit von B darstellen, herrscht nur noch absolutes Gewitter Chaos.

Wieso habe ich auf einmal das Gefühl, als ob es die Ruhe vor dem Sturm ist??

Es ist totenstille, hier bei mir auf meiner schönen Blumenwiese in der Kommandozentrale.

Dieses Mal ist das Gewitter so heftig, dass der Blitz eingeschlagen hat und jetzt ist absolut ruhig.

Totaler Stillstand, nichts geht mehr, absolute Stille.

Stillstand

Hallo?!

Hallo! Ist hier jemand, kann mich jemand hören? Kann mir jemand helfen.

Wieso ist bei mir in der Kommandozentrale absolute Stille, wieso geht nichts mehr?
Was ist denn passiert? Was hat das Gewitter angerichtet?

Langsam erwachen ich und mein kleines Mädchen aus der Stille. Aber wir stecken noch mittendrin im Gewitter.

Bei unseren Freunden stand die Welt wegen Corona still,

bei B stand die Welt wegen der Diagnose Hirntumor still.

B und ich haben solche Angst vor der Stille. Was passiert denn jetzt?

Jetzt zwei Jahre nach dem schweren Gewittersturm, ist unsere Welt wieder wunderschön. Es kommen einfach keine Gewitterwolken mehr. Mein kleines Mädchen hat keine Migräne mehr. Der große Sturm wurde aus unserem Kopf entfernt und B geht es wieder gut.

Mein Mädchen hat das Gewitter überlebt. Denn nach jedem Regenschauer – oder Sturm - scheint auch wieder die Sonne.

Die Hellebarde war eine Waffe des Fussvolkes, nicht der Ritter. Sie musste mit beiden Händen geführt werden, sodass kein Schwert benutzt werden konnte. Da stimmt wohl was nicht.

Ein kleiner Auszug meiner Geschichte und sorry, ich bin kein Profi.

Nummer 17 - mein perfektes Chaos
DER BESUCH BEI EDWARD

Paulas Worte ließen Maggie keine Ruhe und sie steht nach einer Busfahrt vor dem Wohnkomplex, der Adresse von Edward, ihrem Schwiegervater. Im Eingangsbereich schaut sie über die Namensschilder und drückt die Taste, auf der E. Lane steht. Es dauert einen Moment und eine grantige Stimme meldet sich über die Sprechanlage.

Edward: »Wer stört?«
Maggie ist nervös: »Hallo Edward, ich bin’s, Maggie! «
Die Antwort dauert einen Moment und so: »Maggie? Ich kenne keine Maggie, auf Wiedersehen!« Ertönt aus der Türsprechanlage.

Knacken, stille.

Maggie flüsternd: »Immer noch der alte Miesepeter.«
Sie drückt erneut die Taste…
Edward: »Wenn ich runterkomme, ist dein Finger, mit dem du drückst, dein kleinstes Problem.«
»Edward, ich bin’s, Maggie Lane, deine Schwiegertochter. Komm schon, lass mich rein!«
»Was willst du?«
»Mit dir Reden…«
»Dann rede!«

Maggie hält den Finger immer noch auf der Taste.

»Ich habe mir heute Nachmittag freigenommen um…« das Summen vom Türöffner ist zu hören, die Tür springt auf, Maggie muss unterbrechen.

»Zweiter Stock, Tür links.« Hört sie wieder diese grantige Stimme.

Edward hält die Tür offen. Ein Handschlag zur Begrüßung, mehr nicht. Edward ist alt geworden, blasses Gesicht, seine Haare grau. Er geht voraus in Richtung Wohnzimmer und murmelt vor sich hin…

»Den einzigen Besuch, den ich einmal die Woche habe, sind diese verfluchten Baptisten, die mich bekehren wollen. Vielleicht sollte ich mal das Kreuz an der Tür mit dem Kopf nach unten hängen und hab dann Ruhe.«

Maggie schaut sich um, es ist eine trostlose Wohnung. Sie sieht nur ein Bild auf der Kommode stehen, das von Ava, ihrer verstorbenen Schwiegermutter.
Edward befehlend: »Setz dich! Ich wollte eben Tee aufsetzen«.
Maggie, immer noch nervös: »Oh ja. Ein Tee wäre jetzt genau richtig, danke.«

Edward setzt in der Küche das Wasser für den Tee auf. Maggie schaut sich in dem kleinen Zimmer weiter um.

Edward, muffelig: »Wie geht es den Kindern?«
Maggie: »Du würdest staunen, wie groß sie geworden sind. David ist dir sehr ähnlich und seine Leidenschaft ist immer noch der Ball. «
»Ja, das Spielen hat er von mir. Wir waren schließlich sehr oft auf dem Bolzplatz. Und was macht die Kleine? «
Maggie lächelt: »Die Kleine? Mittlerweile ist sie schon eine, na ja, fast erwachsene Dame, manchmal jedenfalls. Nur den sturen Kopf, der ist eindeutig eurer Familie zuzuschreiben.«

Edward kommt mit einem Buch aus der Küche, darauf abgestellt, die Teekanne und zwei Tassen.

Edward: »Ich habe kein Service-Tablett, für wen auch?«
Maggie: »He, macht doch nichts. Edward, du fragst gar nicht, warum ich gekommen bin?«
Edward: »Muss ich es wissen? Hast du dich von dem Dummkopf scheiden lassen? Hatte er einen Unfall, sein Hirn verbrannt? Weißt du Mag, ich habe damit schon lange abgeschlossen. Ich hatte mal einen Sohn und habe ihn einfach verloren, als würde man eine Münze verlieren.«
Maggie lächelt: »Eine Münze? Guter Vergleich! Er ist dein Sohn«.
»Das war er«.
»Ach komm schon Edward, ihr seid beide Sturköpfe. Wir alle haben Ava von Herzen geliebt.«

Maggie lenkt das Gespräch zunächst etwas ab, nippt an der Tasse mit dem Tee.

»Wir sind umgezogen, wegen der Arbeit. Zuerst habe ich meine Stelle verloren, letzten Monat Paul.«
Edward nimmt es gelassen… »Ich hab’s euch immer gesagt, die Jobs heute taugen einen Dreck! Da buckelt man sein Leben lang und bekommt am Ende, einen vergoldeten Arschtritt. Nicht mal die Uhr zu meinem vierzigsten Jubiläum war echt! Eine billige Imitation aus China. Aber sag’, brauchst du etwas für die Kinder, Geld?«
»Nein, Edward, alles ist gut! Ich denke, du solltest es wissen, wir wohnen jetzt in Edinburgh.«
»Wunderschöne Gegend! Früher war ich oft mit Ava dort. Sie liebte diese Architektur der mittelalterlichen Royal Mile. Die endlosen Spaziergänge im Park. Manchmal dachte sie darüber nach, wie es wohl einer Prinzessin im Schloss erginge? Sie träumte eben gerne, baute Luftschlösser, na und? Aber sie war meine Prinzessin, meine Liebe.«
»Ich wusste nicht, dass sie so interessiert war.«
»Wie auch? Es war vor deiner Zeit und danach, hattet ihr andere Dinge im Kopf. Ich glaube, so etwas, wie Kinder machen…«.
Maggie grinst: »Edward! «
»Weißt du Mag, ich vermisse sie auch nach all den Jahren, so wie ich die Kinder vermisse, euch alle! Ich bin jetzt ein alter Mann und lebe nur die Gedanken meiner Vergangenheit.«

Maggie sieht den alten Mann vor sich und spürt, wie ihr eine Träne über die Wange rinnt. Sie setzt sich neben ihn, hält ihn im Arm.

Edward weiter: »Ich habe noch einige Bilder, sie sind zwar schon verblasst – würdest du gerne? «
»Aber ja doch, sehr gerne! Edward, ich weiß nicht, wie das alles gekommen ist. Manchmal glaube ich wirklich, es gibt eine Macht, eine Böse, die unser aller Leben bestimmt.«
Edward nimmt die alte Kassette aus dem Schrank und öffnet sie. Maggie nippt am Tee und nimmt die Bilder nach und nach aus der Kassette. Sie lächeln beide – mit Tränen in den Augen…

»Weißt du Edward, vielleicht solltest du und Paul, ich meine, euch zusammensetzen und reden. Bevor es wirklich zu spät ist und ihr beide, wir alle, es später zutiefst bereuen.«

Edward sitzt neben ihr, stumm… Dennoch erkennt Maggie in seinen trüben Augen etwas… dieses Verlangen, vielleicht nach der Familie.

Jugendliebe

Die Liebe war groß, sie kannten sich seit sie 16 waren und begneteten sich in der Kriegszeit. Ihr langes Haar war schon immer eine Augenweide. Das fiel auch anderen Männern auf. Ilse entschied sich aber für ihn und bereute keine Sekunde.

„Ach wie schön das doch damals war mit uns zwei, wir sind wirklich alt geworden, nicht?“
Die langhaarige weiße Angorakatze Pebbles streckte ihre Beine aus und miaute.
„Lass mich noch mal deine Haare bürsten, so wie früher“. Er sah sie liebevoll an und holte den Kamm, den er auf dem kleinen Tischchen neben dem Fernseher bereit gelegt hatte.
„Ich glaube, du solltest dir mal die Haare waschen, sie kleben irgendwie komisch zusammen. Du bist so still geworden. Geht es dir gut, mein Täubchen? Naja, wenigstens nervst du mich nicht mehr so mit deiner Nörgerlei“.
Er kicherte leise.
Pebbles rollte sich auf ihrem alten Ohrensessel zusammen, leckte sich die Pfote und schlief seelenruhig ein.
„Das sollten wir wirklich sauber machen, ich weiß doch, dass du deine Haare liebst… Oh warte es hat an der Tür geklingelt, Lauf nicht weg, Liebes“.

„Herr Schmidt?“
„Ja?“

„Ich habe einen Durchsuchungsbefehl“.
Der Polizist hielt ihm den Zettel blitzschnell unter die Nase, während seine Kollegen die Tür weit aufrissen und hineinstürmten.
„Kommissar, kommen Sie schnell, da ist sie!“ rief eine Stimme aus der Stube.
Als der Kommissar ins Wohnzimmer lief, stockte sein Atem.
„Was haben Sie getan, Herr Schmidt?!“
„Boss, sie ist tot“… Entsetzt sah Herr Schmidt und alle Anwesenden auf den leblosen Körper von seiner Ehefrau, welche seit drei Wochen auf der Arbeit vermisst wurde. Die Nachbarn meldeten schließlich einen unangenehmen Geruch aus dem Hausflur.
„Sie schläft doch nur, ich sollte sie mal wecken und ihr beim Waschen helfen, sie ist so schmutzig, Ilse liebt ihre Haare, meinen Sie wir sollten zu einem Frisör gehen?“.
Er hielt ihren blutverschmierten Kopf nach oben und striff ihre abgefranzten Haare zurück. Das Messer steckte noch fest drin. Pebbles schlich ihr um die leblosen Beine und schnurrte.
„Sie sind verhaftet!“ sagte der Kommissar.

Das D’miley Projekt

Mittlerweile kannte ich jeden Winkel und jede Ecke des Raumes, in dem ich schon seit einer gefühlten Ewigkeit ausharrte. Seit Stunden spürte ich den kalten Hauch, der mir über den Nacken fuhr und seinen Ursprung in dem undichten Fenster hinter mir hatte. Meine Hände lagen wie zum Gebet gefaltet auf dem Tisch vor mir und waren nicht im Stande sich zu wärmen. Sie zitterten. Immer noch klebte Blut unter meinen Fingernägeln und ich versuchte mich damit zu beruhigen, dass dieses von meiner Platzwunde an der Stirn herrühren und ich mich dort gekratzt haben musste. Ich ahnte, dass es nicht so war, aber klammerte mich zwanghaft daran. Und selbst wenn dem so gewesen wäre, so fehlte mir immer noch eine Erklärung für diese Wunde und jegliche Erinnerung. Prüfend fuhr meine Zunge wiederholt über meine Oberlippe und taste deren Innenseite mit Vorsicht ab. Die Schwellung war deutlich zu spüren und der Geschmack von verkrustetem, mit Speichel benetztem Blut erfüllte mich mit einem gewissen Gefühl von Ekel. Ein Stück Kruste löste sich und meine Zunge schob sie hin und her, bis sie sich auflöste und mich fast zum Erbrechen brachte. Zitternd ergriff meine linke Hand das Glas Wasser, das vor mir stand. Als ich es wieder abstellte sah ich, wie vom Rand ein Bluttropfen in Zeitlupe ins Glas lief und ein roter Schleier ebenso langsam zum Boden hinabtauchte. Die Lampe, die von der Deckenmitte herab den Raum in ein mattes Licht tauchte, begann leicht zu flackern. Draußen rollte ein LKW über das Kopfsteinpflaster und brachte den Boden des Raumes zum Vibrieren. Erst jetzt bemerkte ich, dass mein Ring und meine Uhr fehlten. An ihrer Stelle waren helle, ungebräunte Abdrücke zu sehen. Auch fehlten zwei Knöpfe an meinem Hemd und an der linken Brustseite befand sich ein Riss, dessen Saum blutrote Flecken aufwies. Ein Auto näherte sich und mit quietschenden Bremsen hielt es unmittelbar unter meinem Fenster. Türen wurden mit Wucht zugeschlagen. Ich vernahm hauchdünne Männerstimmen, die vom scheinbaren Zuschlagen des Kofferraums erstickten. Dann war es für einen Moment still. Meine Gedanken, die Zeit, alles schien wie eingefroren. Was ging hier vor? War dies eine Chance? Bevor ich zu einer Antwort auf meine vielen Fragen kam, formten sich meine Gedanken zu einem Hilferuf.

„Hallo! Ist da jemand? Kann mich jemand hören? Hallo! Bitte, helfen Sie mir!“, krächzte ich krampfhaft und halb erstickend, da meine geschwollene Zunge mir den Dienst versagte. Ich verschluckte mich fast. Verzweifelt versuchte ich mich zum Fenster hin umzudrehen. Eine Art Gürtel, der über meine Oberschenkel festgezurrt war, hielt mich davon ab. Nun bemerkte ich auch den Gurt um meine Brust. Mein Auffassungs- und Wahrnehmungsvermögen lag fast bei null. Ich fühlte mich, als wäre ich gerade von einer Narkose oder aus einem Koma erwacht. Meine Beine begannen zu zittern und Panik machte sich breit. Ich hatte keinen Schimmer was passiert war, warum ich hier saß, oder woher meine Wunden und Schmerzen rührten. Man schien mich nicht zu hören.

Erneut hörte ich Stimmen. Diesmal schienen sie sich zu nähern. Mein Schädel brummte. Ich schüttelte meinen Kopf, als könnte ich so alles loswerden, was an Schwere und Schmerz auf mir lag. Deutlich nahm ich nun auch Schritte wahr, die sich schnell näherten. Mein Herz schlug bis zum Hals und mein Gesicht erstarrte zu einer Maske des Schreckens. Ich presste meine Zähne fest aufeinander, denn instinktiv wollte ich laut aufschreien. Doch irgendetwas hielt mich zurück. Als die Schritte vor meiner Tür Halt machten, hörte ich einen Mann mit einem mir unbekannten Akzent fluchen.

„Wieso steckt der Schlüssel nicht im Schloss, verdammt nochmal? Hast du ihn eingesteckt, Dimitri?”

„Nein, habe ich nicht! Als ich ihm vor zwei Stunden das Glas Wasser brachte, da steckte der Schlüssel und ich habe ihn verdammt nochmal auch stecken lassen.”

„Verdammte scheiße, und wieso ist er dann nicht da?”

„Woher soll ich das wissen? Wieso machst du immer mich für alles verantwortlich? Spiel dich hier nicht so auf!”

Es wurde still und ein kleiner heller Punkt erschien wie aus dem Nichts in der Tür. Als er kurz verschwand, war mir klar, dass man mich anstarrte. Dann war es wieder dunkel.

„Hast du deine Knarre mit? Wir schießen das verfickte Schloss auf, okay?”

„Willst du mich verarschen? Du hast doch gesagt, dass wir die Knarren im Auto bei Anatol lassen sollen! Weißt du was? Du solltest dir mal wieder einen blasen lassen oder weniger Wodka saufen. Du gehst mir mit deinem Chef Spielen tierisch auf die Nüsse!”

Anatol war also noch beim Wagen, was bedeutete, dass es mindestens drei Personen waren, und ich hatte absolut keine Ahnung was hier vor sich ging. Ich wusste nur, wenn diese Tür sich öffnen sollte, dann wäre es die letzte, durch die ich gehen oder hinausgetragen würde. Liegend, in einem Plastiksack. Von Panik getrieben versuchte ich den Stuhl zum Kippen zu bringen, doch er war am Boden fixiert. Dimitri wurde zum Wagen geschickt, um von Anatol den Schlüssel zu besorgen und seine Waffe mitzubringen. Widerwillig folgte er der Anweisung. Durch den Türspalt strömte der Geruch einer brennenden Zigarette und eine unerträgliche Stille, die mich lähmte. Ich hatte Angst. Das ständige Flackern der Lampe machte mich nur noch nervöser. Wartete ich gerade auf meine eigene Hinrichtung?

Ich konnte meine Gedanken nicht klar ordnen, um auch nur einen Hauch einer Vorstellung zu bekommen, was hier vor sich ging. Meine Identität oder auch nur ein Gefühl davon, wer ich war, schien ausgelöscht worden zu sein. Zeitgleich mit diesen Gedanken spürte ich zum ersten Mal, wie sehr mein ganzer Körper schmerzte. Bei jedem Atemzug, den ich tat, schmerzten meine Rippen. Fuhr meine Zunge über meine Lippen, verkrampfte mein Kiefer und bei jedem Versuch mich mehr zu bewegen kamen Hüfte und Schultern hinzu.

Ich begann mehr und mehr voller Verzweiflung zu versinken, als ich erneut einen LKW hörte. Diesmal schien er jedoch nicht an meinem Fenster vorbeizufahren, sondern in unmittelbarer Nähe, bei laufendem Motor, zu halten. Mehrere Stimmen waren gedämpft zu hören. Ich versuchte mich umzudrehen, als ich ein seltsames Geräusch hinter mir, am Gitter des Fensters, wahrnahm, als würde Stahl auf Stahl reiben. Zeitgleich ertönte vor der Tür die Stimme des Mannes dessen Namen bisher ungenannt geblieben war. Dimitri war zurück.

„Hast du den verdammten Schlüssel?“

„Ja, ich habe ihn. Anatol, dieser Idiot, hatte ihn in seiner Jackentasche. Als wir auf ihn im Wagen warteten, war er in der Ecke hinten scheißen und hat ihn auf dem Rückweg abgezogen, da er dachte wir hätten ihn vergessen.“

„Ich frag mich schon die ganze Zeit, was hier so stinkt, verflucht nochmal. Wird Zeit, dass wir den Typen umlegen und aus dieser Scheiße hier rauskommen. Leg mal einen Zahn zu, ich will hier raus.“

„Jetzt fang nicht schon wieder an, dich hier aufzuspielen, man!“

Dimitris Stimme war nun deutlicher zu hören. Nur noch wenige Sekunden und die Tür würde sich öffnen und mein Leben, ohne zu wissen wer ich war, sein Ende nehmen.

„Aber sag mal“, wollte Dimitri wissen, „womit willst du ihn eigentlich erledigen?“

„Wieso? Sag bloß du hast die Knarre im Wagen gelassen?“

„Ich sollte den Schlüssel holen oder die Knarre, hast du gesagt. Hätte Anatol den Schlüssel nicht gehabt, dann hätte ich sie ja mitgebracht, damit wir das Schloss wegschießen.“

„Verfickte Scheiße, Dimitri! Wie blöd bist du eigentlich?“, fuhr der andere ihn an.

„Wir können ihn doch auch erwürgen, oder?“

„Könnten wir, ist aber nicht mein Ding. Ich kann dieses verdammte Röcheln und das Zappeln nicht ab. Ich hol jetzt die Knarre. Steck dir eine Zigarette in den Hals und trete bloß nicht in Anatols Scheiße.“

Anschlag

Tessa läuft die Treppe zum Landgericht hinauf. Der Hausmeister wartet an der Tür und begleitet sie auf das Dach. Sie schickt ihn noch an der Tür gleich wieder nach unten. Sie verkeilt die Tür mit einem Holzstück. Sie bewegt sich geduckt auf den Rand des Daches zu und bleibt zwischen den Abluftschächten stehen. Sie sucht das Dach des anderen Gebäudes auf der anderen Straßenseite ab. Sie findet ihn nach 15 Sekunden. Er liegt flach hinter der Attika des anderen Gebäudes. Der Lüftungsschacht und die flache Attika verdecken ihn. Tessa klettert auf eine etwa zwei Meter hohe Filterkolonne der Klimaanlage, die aus verzinktem Blech den höchsten Punkt neben dem Fahrstuhlschacht bildet. Tessa ruft Julian an und steckt sich das Headset ins Ohr. Julian geht ran: „Tessa, was ist? Ich bin beim Umzug.“ „Julian, ich bin auf dem Dach des Landgerichts. Auf dem Dach gegenüber ist ein Heckenschütze. Er zielt auf die Treppe und das Portal des Landgerichtes. Ist das einer unserer Leute?“, fragt Tessa. Julian atmet aus und sagt: „Ich weiß es nicht, ich rufe Sven an. Wenn er es ist, was soll er tun?“ „Er soll ein Daumenhoch in Richtung des Landgerichtes machen, wenn nicht, sofort kommen.“, sagt Tessa. Julian legt auf. Tessa kniet sich auf ein Bein und richtet sich ein. Sie sieht von dem Schützen nur den Lauf der Waffe und eine Hand. Sie beobachtet ihn durch das Zielfernrohr. Ihr Handy vibriert. Sie drückt den Knopf am Headset: „Tessa, Sven sagt, keiner seiner Männer ist in oder am Landgericht. Was siehst Du?“, sagt Julian. „Nur einen silberfarbenen Lauf, ein Edelholzschaft und eine Hand im Handschuh.“, erläutert Tessa. „Kannst du ihn ausschalten?“, fragt Julian. „Ich habe kein richtiges Ziel, keinen Einsatzbefehl und keine Freigabe.“, stellt Tessa fest. „Mein Gott, wir kommen. Tu, was immer Du für richtig hältst.“, schreit Julian und legt auf. Tessa zielt auf die Hand. Die Hand fährt über den Schaft und greift zum vorderen Ende. Tessa weiß, dass viele Schützen ihr Ritual vor dem ersten Schuss haben. Für einen kurzen Augenblick wird eine schwarze Mütze über den Schacht sichtbar. Er hat sich einen Überblick verschafft und wird innerhalb der nächsten zehn Sekunden schießen. Ihre Erfahrung aus zahlreichen Syrien- und Afghanistan-Einsätzen sagt ihr, dass er zuerst den Beamten erschießen wird, der den besten Überblick hat. Dann kommt jede Warnung zu spät und er kann in die Menge feuern. Sie hat es selbst bei ihren zahlreichen Einsätzen so gemacht. Tessa flucht leise. Der Lauf der Waffe auf dem anderen Gebäude bewegt sich. Er folgt einem Ziel. Tessa sieht durch das Zielfernrohr und schießt. Drüben spritzt Blut aus der Hand. Der Lauf wird sofort zurückgezogen und verschwindet. Tessa rutsch auf dem Bauch und bleibt völlig bewegungslos liegen. Sie beobachtet nur. Der Rand der Mütze schiebt sich hinter der Attika zurück. „Wo willst Du hin?“, fragt Tessa lautlos. Minuten vergehen. Es ist keine Bewegung dort drüben erkennbar. Ihr Gegner weiß nun, dass jemand anderes da ist. Er wird seine Komplizen verständigen und er muss von dem Dach herunter und kann nicht ungesehen durch den Rauchabzug. Tessa kann zwischen zwei breiten Anbauten des Stahlkastens das Dach auf einer Breite von nur etwa 30 m einsehen. Sie müsste weiter vor zum Rand, um mehr sehen zu können. „Wenn ich ihn nicht sehen kann, kann er mich auch nicht sehen.“ Sie bewegt sich in Zeitlupe nach vorne. Sie legt das Gewehr auf das Blech des rechteckigen horizontalen Filtergehäuses der Klimaanlage und schiebt sich nach vorne. Sie rutscht auf der harten Schutz-Weste erstaunlich gut. Vor ihr in einem Meter Entfernung ist ein Falz im Gehäuse, an dem sie sich nach vorne ziehen könnte. Sie schiebt sich vor und greift nach dem Falz. Die Kante ist messerscharf. Sie zieht die Hand zurück. Der Schuss ist lautlos und schlägt unmittelbar dort ein, wo ihre Hand gerade noch war. Sofort kommt ein zweiter Schuss Und trifft nur den vier Zentimeter hohen Falz. Sie sieht zum anderen Dach. Ihr Gegner steht aufrecht hinter dem Aufbau des Treppenhauses und er ist noch zwei Meter unter ihr. Er kann nicht parallel zu dem Dachblech des Gehäuses schießen, auf dem sie liegt. Außerdem kann er den Lauf nicht ablegen und seine Sicht ist begrenzt. Nur der Falz verdeckt sie noch. Sie versteht: „Er ist verletzt und kann im Stehen nicht sauber schießen. Der Falz ist auf die Entfernung von 90 Metern und dem Winkel noch ausreichend als Deckung. Er versucht mich zu vertreiben oder zu verletzen oder zumindest Zeit zu gewinnen, dann klettert er auf das Dach des Treppenhauses und erledigt mich.“ Sie zieht das Gewehr zurück und visiert ihn an. Sie atmet 10 Mal langsam ein und bringt den Puls herunter. Dann schießt sie und lässt sich sofort seitlich rollend von dem Kasten fallen. Sie kriecht zurück und unter einem Lüftungsrohr zur anderen Seite. des großen Kastens. Sie sucht ihren Gegner. Dann sieht sie ihn auf dem Boden liegen. Sie kniet sich hin und legt an. Sie schießt zweimal in den Körper und beide Male zuckt dieser getroffen. Sie richtet sich auf. Sie sucht das Dach ab. „Nur ein Schütze, was soll das? Du kannst nur einen oder zwei töten und kommst nicht mehr weg. Wie wolltest Du wegkommen von hier? Das Gebäudedach ist eine Einbahnstraße.“ Sie hört das Signalhorn eines RTW. Sie flucht „Scheiße!“ und rennt los. Sie wählt die Wahlwiederholung und Julian geht ran: „Tessa, wir sind in der Tiefgarage und verteilen uns schon.“ Tessa sagt: „Ich habe einen auf dem Dach ausgeschaltet, aber es muss mindestens einen zweiten geben. Sie werden unten an der Treppe zuschlagen.“ Sie springt alle Treppen im Vollsprint hinunter. Der Pförtner sieht sie schon auf der Treppe und öffnet ihr die Pförtnerloge. Sie rennt hinein und reicht ihm das Gewehr. Sie kommt mit der Pistole in der Hand auf die etwa acht Meter breite Plattform vor dem Eingang. Sie sieht alle Personen an, die näher am Gebäude stehen. Auf der breiten Treppe stehen Reporter. Alle haben ihr den Rücken zugedreht und sind der Straße zugewendet. Zeugen steigen aus einem kleinen Bus. Blitzlichter reflektieren sich in der Scheibe des Busses.

Der RTW hält hinter dem Bus auf der Straße. Tessa erkennt den Plan in genau der Sekunde. „Runter! Weg!“, schreit Tessa der Gruppe auf der Treppe zu und läuft um die Traube der Journalisten herum. Ein Sanitäter mit roter Hose und neonfarbenen Applikationen kommt von rechts um den Bus herum. Er trägt Einmal-Handschuhe. Eine kastenförmige Tasche in Signalfarbe mit einem Tragegurt baumelt um die rechte Schulter. Er steckt die rechte Hand in der Tasche. Tessa bleibt auf der Treppe stehen und schießt aus zehn Meter, ohne aufwändig zu zielen. Der Schuss kracht und löst ein Geschrei der Reporter aus. Der Sanitäter fliegt nach hinten und geht zu Boden. Alle schreien in Panik los. Tessa sieht sich um. Die Zeugen und die Reporter schreien und laufen von ihr weg, die meisten flüchten die Treppe hinauf. Tessa zielt auf den leblosen Körper und steigt die Treppe hinunter auf den breiten Gehweg. Eine Zeugin bleibt auf der Treppe des Busses stehen und sieht sie mit großen Augen an. Tessa sagt: „Zurück in den Bus und flach hinlegen!“ Tessa sieht durch die Scheiben des Busses eine Bewegung links von ihr hinter dem Bus. Der zweite Sanitäter mit einer Notfalltasche kommt um den Bus herum. Tessa steht auf dem Gehweg. Sie dreht sich nach links, die Waffe im Anschlag. Der Treffer in die Weste kommt von hinten und presst ihr die Luft aus der Lunge. Die Überraschung verhindert ein Weiteratmen. Der zweite Schuss hallt eine halbe Sekunde danach noch einmal durch die Häuserschlucht. Sie fällt auf die Knie und sieht nach hinten zu dem am Boden liegenden Sanitäter. Acht Meter hinter ihr stehen Wolfgang und Anja, beide mit Schutzwesten, auf denen „Polizei“ steht. Beide zielen auf sie. Eine bohrende Frage begleitet den intensiver werden Schmerz: „Warum schießen sie auf mich?“, aber der Gedanke bleibt wie der Schmerz in einer Zeitschleife stecken. Sie wird sich bewusst, dass sie seit zwei Sekunden immer denselben Gedanken immer wieder wiederholt. Die Zeitschleife bricht in einer blinden Wut. Sie blickt nach vorn zu dem Sanitäter, der auf den Gehweg tritt. Er steckt seine Hand in die Tasche, die an seiner Seite baumelt. Tessa handelt automatisch. Sie reißt die Waffe hoch und sieht in das Gesicht von Leon. Ihre Kugel trifft ihn in die Stirn und er sackt sofort zusammen. Tessa nimmt den Geruch des verbrannten Schießpulvers und die Reflexion des Mündungsfeuers im Lack des Buses neben ihr wahr. Leon scheint spöttisch zu lächeln, als Tessa zwei weitere Treffer in die Weste erhält. Die Kraft weicht aus ihrem Körper, wie das Leben aus Leon und sie fällt nach vorne auf die Unterarme. Leon erreicht den Boden einen Bruchteil einer Sekunde vor ihr. Tessas Gehör setzt aus, ihr Verstand drückt die Mute-Taste. Wolfgang kommt neben sie und tritt ihr die Pistole aus der Hand. Anja reißt ihr die Hände nach hinten und Wolfgang drückt ihr sein Knie in den Nacken, das Gesicht in den Schmutz des Gehwegs, als Anja die Handschellen anlegt. Die noch vorhandene Luft entweicht aus ihren Lungen. Die beiden Polizisten bleiben bei Tessa stehen und sehen triumphierend in die Kameras der Reporter. Wolfgang reißt sie auf die Knie, als wollte er eine erlegte Trophäe zeigen. Tessa sieht ihren Kollegen von unten an. Reifen quietschen und alle drehen den Kopf Richtung Straße. Tessa folgt den Blicken nach rechts und sieht zu Leon, dessen toten Augen sie anstarren. Wolfgang schreit irgendetwas und Sven mit schwarzer Sturmhaube springt aus dem schwarzen Bus des SEK neben Leon. Er sieht mit weit aufgerissenen Augen auf Tessa und dann wieder auf Leon. Er dreht Leon auf den Rücken und zieht die Tasche zu sich. „Waffe!“, schreit er und eine Automatik rutscht aus der orangeroten Notfall-Tasche auf den Gehweg. Sven schreit etwas in Richtung von Wolfgang und Anja. Beide starren Sven und die Waffe entsetzt an. Vier schwarz vermummte Männer des SEK rennen an Sven vorbei und zielen mit vorgehaltenen Automatik-Gewehren auf Anja und Wolfgang. Alle schreien, aber Tessa hört nichts.

Zwei SEK-Beamte drücken Wolfgang und Anja rüde zur Seite und zwei stellen Tessa auf die Füße. Sven geht auf Wolfgang los und packt ihn mit beiden Händen am Revers. Er schleudert ihn mit großer Kraft gegen den Bus, so dass dieser schwankt. Er schüttelt ihn, während er ihn weiter anschreit. Er knallt ihn mehrmals wütend gegen den Bus. Überall um Tessa sind nun schwarz vermummte SEK- Beamte. Sven reißt Wolfgang einen Schlüssel aus der Hand. Sven sieht Wolfgang eindringlich an und sagt etwas, was Tessa nicht hört, aber Wolfgang sieht den großen SEK-Einsatzleiter mit großen Augen an. Ein anderer SEK-Beamter kommt zu Tessa und zieht ihr eine Sturmhaube über den Kopf und presst ihren Kopf an seine Brust, streicht ihr über das Haar. Tessa drückt sich einen Augenblick an dem Mann, während Sven die Handschellen aufschließt und ihr die Hand auf die Schulter legt und die Sturmhaube geradezieht. Sie hört durch das Rauschen in ihren Ohren, dass er beruhigend auf sie einspricht und vom Bus und den beiden Kriminalkommisaren wegzieht. Die Zeugin steht auf der untersten Stufe des Buses. Sie sieht Tessa mit Tränen in den Augen an. Julian kommt zu Tessa und zieht sie zur Treppe. Er drückt sie auf eine der Stufen und setzt sich neben sie. Ein Notarzt kommt und fragt Tessa etwas. Tessa bedeutet ihm, mit einer Geste, dass sie noch nichts hört. Er untersucht sie oberflächlich und redet dabei. Tessa versteht ihn nicht. Es ist alles surreal. Sie legt den Kopf auf die Knie. Ihr Gehör kehrt in Teilen langsam zurück. Sie hört in dem Rauschen die Reporter aufgeregt telefonieren. Alles ist wie in Watte und mit einem Mal atmet sie bewusst ein, der Schmerz beim einatmen lässt sie aufstöhnen. Sie zieht die Weste mit einem Ruck aus. Julian hilft ihr dabei und hebt ihr T-Shirt an. Er sieht sich ihren Rücken an. Georg tritt zu ihr. Tessa hält ihm die Hände hin, die er abtupft und sie sagt: „Das Gewehr liegt in der Schleuse, der dritte Attentäter auf dem Dach gegenüber.“ Ihre eigene Stimme klingt dumpf und leise in dem Rauschen. Sie sieht zu dem anderen Attentäter in der Sanitäter-Uniform. Die schwarze Automatik und ein Magazin liegen in der Tasche. Das Blitzlicht der KTU vermischt sich mit denen der Reporter, die langsam die Treppe herunterkommen. Tessa sieht das Ersatzmagazin und eine Pistole, die in der Tasche der Cargo-Hose des Sanitäters steckt. Tessa sieht sich um. Auf der Treppe stehen die Reporter und fotografieren das Blutbad am Fuß der Treppe. Immer mehr Uniformierte versuchen die Journalisten zurückzudrängen. Die KTU fotografiert jedes Detail auf dem Gehweg. Tessa steht auf. Sofort richten sich einige der Objektive in ihre Richtung aus. Sie geht zu Leon und kniet sich neben ihn. Sie sieht Dr. Moll, die Gerichtsmedizinerin an, die auf der anderen Seite der Leiche kniet. Sie schließt Leons Augen, die sie immer noch anstarren. Der Körper ist noch warm. Sie spürt sofort seine Wärme, die sie in der Nacht zuvor neben ihm liegend genossen hatte. Julian steht neben ihr. Er sieht sie mit ernster Miene und großen Augen an. Dann legt er den Arm um sie und zieht sie zu einem Streifenwagen, der vor dem RTW steht. Sie geht an dem RTW vorbei. Die beiden hinteren Türen stehen offen. Die Beamten der KTU mit ihren Koffern und Kisten knien in ihren weißen Overalls auf dem Boden neben der seitlichen Schiebetür. Julian und Tessa sehen in den Wagen. Auf dem Boden der Kabine liegen zwei leblose Körper. Die beiden Sanitäter, mit Kopfschüssen hingerichtet, werden von Mitarbeitern der Gerichtsmedizin fotografiert. Eine Beamtin in Uniform öffnet ihr die hintere Tür des Streifenwagens und streift ihr beim Einsteigen mit einer freundlichen Geste über den Oberarm. Tessa steigt ein und schließt die Augen. Julian spricht mit den Beamten der Bereitschaft. Sie stellt lautlos fest: „Ich bin eine Kollegin von Leon, nicht von Euch.“ Sie legt die Unterarme auf die Knie und legt den Kopf auf die Arme. Die Kollegen im Auto unterhalten sich über den Einsatz, aber Tessa schweigt. Der Kollege auf dem Beifahrersitz dreht sich mehrfach zu ihr und fragt, ob es ihr gut gehe. Sie blickt nicht auf und schweigt.

Tod der Gewohnheit

Die letzten Tests sind abgeschlossen. Die FIRMA hat mich heim gerufen. Wenn es nach mir gänge, bliebe alles, wie gehabt. Gewohnheit ist ein schützendes Gut. Die geliebte Heimat diente Jahrtausende treu als impermeabler Grenzwall vor den grässlichen Kreaturen der unerwünschten Schöpfung. Seit ich weiß, dass der Abschied naht, bröckelt die Mauer. Die Destruktoren kommen unaufhaltsam näher. Schließlich ist die Lebensdauer der Objekte abgelaufen. Wer hilft, wenn nicht ich? Ich könnte versuchen die Zeit zu verlangsamen, oder zumindest zu raffen. Doch am Ende holt uns die Gegenwart ein.
Würde ich mich dennoch weigern, wäre alles verloren, nein dann ist alles verloren. Es gibt kein Entrinnen und keine Rettung. Das Weltensterben beginnt. Was bleibt, ist die Hoffnung auf die Neugeburt einer besseren Version.

Da stand sie nun mit Jack vor dem Standesbeamten und ließ sich von ihm heiraten.

Für meine Frau Sabine war er der rücksichtsvollste Ehemann, den wir uns für unsere Tochter hätten wünschen können. Pure Frauenschlüssigkeit.

Nicht, dass ich einen wirklichen Grund gegen ihn hätte haben dürfen, aber, was hatte ihr Zukünftiger überhaupt für einen Namen? ‚Jack‘. Jack war der Name für einen Kriminellen: ‚Jack the Ripper‘, oder sollte ich ihn jetzt besser ‚Jack the Daughter-Robber‘ nennen?

»Zieh nicht so ein unglückliches Gesicht!«, flüsterte mir meine Frau ins Ohr. Wie so oft hatte sie wieder einmal in meinen Gedanken gelesen.
»Du stehst doch hier nicht vor dem Scharfrichter, sondern vor dem Glück deiner Tochter und deines Schwiegersohns.«
»Sein Glück vielleicht, aber nicht meins.«
»Sprich bitte nicht so laut, dich können ja alle hören«, ermahnte sie mich leise.

Tatsächlich hatte der Standesbeamte für einen Augenblick seine Lesung unterbrochen und blickte strafend auf mich, bevor er weiter seines Amtes waltete. Auch die Trauzeugen und einige der anwesenden Gäste blickten verwundert zu mir.

‚Der erringt wohl sonst keine Aufmerksamkeit, dass er auf diese Weise seine Autorität stärken muss?, dachte ich bei mir und wollte mich damit nur vor mir selbst von meinem kleinen Vergehen freisprechen. Und meine Gedanken verfielen nun weiter in vergangene Zeiten.

Fast hätte es diese Tochter und meine jetzige Frau gar nicht gegeben, wenn vor fünfundzwanzig Jahren alles ganz anders verlaufen wäre. Damals war ich bereits mit meiner ersten Ehefrau glücklich verheiratet gewesen. Wir liebten unsere dreijährige Tochter, ich war ein erfolgreicher Architekt, viele Freunde gingen in unserer Villa ein und aus, und das Leben schickte uns nur warme Sonnenstrahlen auf unser sorgloses Dasein.

Bis zu dem Tag, an dem meine Frau und meine kleine Tochter bei einem Autounfall ums Leben kamen.

Eine Welt stürzte für mich zusammen, tiefe Depression erfasste mich. Ich vernachlässigte mich selbst, meinen Beruf, Verwandte, Freunde und Bekannte. Alkohol wurde immer häufiger mein Wegbegleiter, bis auch er mir schließlich keinen Ausweg mehr aus meiner verlorenen Existenz auftun konnte.

Da entschied ich, mein tristes Leben einem Zug im nahen Durchgangsbahnhof anzuvertrauen.
Das war aber leichter gedacht als getan, denn auf dem Bahnsteig des Gegengleises entdeckte ich eine attraktive junge Frau, die anscheinend entschlossen war, das gleiche zu tun. Wenigstens ihr Leben wollte ich retten. Wir kamen uns näher, so sehr näher, dass daraus eine neue Familie mit einem Sohn und einer Tochter entstand.

»Komm schnell, wir wünschen unserer Tochter und unserem Schwiegersohn viel Glück«, forderte mich Sabine auf und brachte mich zurück in die Gegenwart. Unser Sohn, die Schwiegereltern und viele Gäste umringten bereits das Brautpaar.
»Komm, gehen wir feiern!«, ermunterte mich meine Frau und zog mich von meinem Platz.
»Was feiern wir denn? Den Auszug der Hebräer aus Ägypten?«, scherzte ich.
»Ach, du Dummer, lass uns das Leben feiern.«

(In Anlehnung an meine zweite Schreibaufgabe.)

Hier kommt dein Titel hin (lö

Pfefferkuchen im Orient

Im November 1983 wanderte ich mit meiner Familie aus, in das Land, in dem keinen Schnee gibt. I Ich wusste, den Schnee werde ich vermissen, den Weihnachtsmarkt mit dem süßen Duft von Lebkuchen und gebrannten Mandeln. Ich gehörte auch schon immer zu denen, die Weihnachtsgebäck im September kaufte. Weihnachtsgebäck zu Hause gebacken, besonders gerne auch den Stollen, den ich sehr liebte, Es war schon sehr kalt an dem Tag ,an dem ich auswanderte und vereinzelt lag auch schon Schnee in den Straßen . Den Schnee ich jetzt mit Sand tauschte. Der Anblick von Tannenbaume gegen Palmen mit Kokosnüsse. ich nahm viele Tüten Pfefferkuchen und Lebkuchen mit, denn meine Familie war sehr groß. Ich war zum Islam Konvertit Im Islam feiert man keine Weihnachten Auch hier nicht in Pakistan, außer die hier lebenden Christen, die auch ihre eigenen Kirche haben. Auch in unserer Stadt gab es eine Kirche, mein Schwiegervater fragte mich ob ich hin möchte . Ich sagte nein ich habe den Islam angenommen und feiere euere Feste mit:: Weil es mein erster Monat in Pakistan war. entschied die Familie. wir können trotzdem eine kleine Weihnachtsfeier machen, schon für die Kinder. Mein ältester Sohn war damals fünf, er hatt

e schon einige Weihnachten in Deutschland miterlebt… Den Schnee, das Schiiten fahren, den Weihnachtsmarkt, Mein mittlere Sohn war zweieinhalb und jüngster Sohn eineinhalb Jahre, als ich auswanderte; Meine Tante und Oma brachten solange wir noch Deutschland waren, jedes Jahr Geschenke für die Kinder noch in Deutschland, Wir haben dann immer am 25 Dezember eine kleine Weihnachtsfeier gemacht ., Am 25 Dezember war unser Prophet Muhamed geboren… Auch hier in Pakistan würden wir am 25 , Dezember eine kleine Feier,. Die Pfeffer und Lebkuchen , die ich mitgebracht haben, habe ich schon einige ausgeteilt und einige aufgehoben… ich wusste nicht wann ich sie geben sollte und für meine Kinder müssen ja auch Süßigkeiten da sein. Mein Schwiegermutter, die leider nicht mehr laufen konnte, Aber sie trotzdem die ganze Familie gut anleitete. Und sie fragte MICH dann was ich zum Fest haben selber was kochen wollte, Ich wollte auch nicht viel Umständen machen. insgeheim dachte ich auch, die verheirateten Brüdern und Schwestern von meinem Mann werden kommen mit Ihrer Familie, und ich bin keine gute Köchin, Aber was soll sonst auf dem Tisch überlegte ich, Es soll allen schmecken und die Puffer und Lebkuchen waren auch noch da . Dachte ich, wusste nicht welche Naschkatzen Groß und Klein es gab. Ich Entschied ich einen Obstsalat zu machen, der hier in Pakistan sehr beliebt ist, Nur mit einen kleinem Unterschied, das hier der Obstsalat scharf gewürzt ; Dazu Kuchen und Kartoffelsalat . Einen Tag vor Weihnachten, kam ein Paket aus Deutschland von meiner Mutter Tante und Oma zusammen .Ich wollte das Paket gleich aufmachen ,meine Schwiegermutter hielt mich zurück Öffne Morgen das Paket, sonst ist es keine Überraschung mehr … Meine Schwiegermutter wies ihre damals 15 und 14 jährige Töchter an mir bei den Vorberatungen zu helfen´… Da die verheiratete Schwestern und Brüder die nicht wenig Kinder hatten, bis auf eine; Schaute ich nach, wie viele Pfeffer und Lebkuchen im Koffer waren´; Es waren keine Puffer und Lebkuchen mehr im Koffer. Ich ging ein wenig Besorgt und auch wütend , in das Wohnzimmer, wo auch das Bett von meiner Schwiegermutter stand. .Meine Kinder und die Schwestern meines Mannes waren auf einmal verschwunden;. Auch meine kleine Nichte die hier lebte´: Meine Schwiegermutter zeugte auf ein Zimmer, damals konnte ich die Sprache noch nicht perfekt´, Dort fand ich sogar meinen Schwiegervater ,der mit seinen Enkeln und Töchter die Pfeifer und Lebekuchen naschte . Alle murmelten im Chor, die schmecken gut und ich konnte ihnen nicht mehr böse sein. Meine Wut verflog, der Mund der Kind war noch ein wenige verschmiert von den Pfeffer und Lebkuchen . In den Paket war zwei Butterstollen, Salz Gebäck , Wolle, Handarbeitsbuch, Zeitungen, Für die ganze Familie Pullover und für die Kinder Spielsachen Jedes Jahr kam ein Paket zu Weihnachten bis auf das Jahr, , in dem meine Mutter und Tante innerhalb sechs Monaten an Krebs starben, Zu meiner Oma brach der Kontakt , ich habe ihr Briefe geschrieben, doch die kamen zurück

Der Umzug

Sie mussten schnell sein. Wohnungen in Berlin zu bekommen ist fast unmöglich, sollte man nicht sofort seine Seele verkaufen und “Ich nehme sie!” schreien. Tatsächlich war es auch genau das, was sie getan hatten. Finja und Max bangten, hofften, gaben sie auf und dann, tatsächlich, erhielten sie ihre erste eigene Wohnung!
Finja musste schmunzeln bei dem Gedanken, wie glücklich sie beide gewesen waren, endlich zusammenziehen zu können. Jetzt waren 15 Jahre vergangen, die Wohnung war gut genutzt, hatte einige Löcher mehr und Bilder durften nicht mehr versetzt werden, sonst würde sich die weiße Wand darunter zu stark hervorheben. Sie hatten so viele schöne Dinge in dieser Wohnung erleben dürfen. Lanpartys, Filmabende, guter Sex, ihr erstes Kind.
Jetzt wurde die Kleine größer und brauchte ein eigenes Zimmer, waren sich Finja und Max einig und die Sucherei begann von vorn.

Die Prüfung

Gebannt starrte ich nach vorne, fasziniert, von der Entschlossenheit des Leittieres sein Rudel zu retten. Die Farnwedel bogen sich vor dem Geweihträger auseinander, als schöbe er ein Kraftfeld vor sich her. Jetzt waren sie nur mehr eine Speerwurflänge entfernt. Ich riss die Arme in die Höhe und holte für einen markerschütternden Schrei Luft, aber eine Energiewelle überrollte mich, die jeden Ton in meiner Kehle ersterben ließ. Alles wurde still.
fünf Sprünge, vier
Die Arme fielen herab, die Knie gaben nach und ich sank so langsam zu Boden wie welkes Laub an einem windstillen Tag. Ich hörte das Rascheln der Farnwedel, die sich vor dem flüchtenden Rudel teilten, die vielen Hufe ließen den Untergrund erbeben.
zwei Sprünge
Auf der feuchtkalten Erde rollte ich mich zu einem Ball zusammen, in der verzweifelten Hoffnung den Hufschlägen zu entgehen. Vor mir stampften Läufe in den weichen Waldboden, matschiges Wasser spritzte mir ins Gesicht. Bilder durchschossen meine Gedanken. Mamas warmes Lächeln, Solfos herausforderndes Grinsen, Vaters ernste Miene. Ich lag bewegungslos da. Die Hufe des letzten Tieres schlugen hinter mir auf. Mühsam schnaufend stützte ich mich auf die Arme, in den Hufabdrücken vor mir sammelte sich bereits Wasser, das sich aus meinem zerplatzten Trinkbeutel über den Boden ergossen hatte.
»Caim! Was, bei Mor, war denn das?«
Wie ein Speer bohrte sich die wütende Stimme in mein Herz. Mit grobem Griff zog Vater mich am Oberarm auf die noch wackeligen Beine. Enttäuscht ließ ich den Kopf hängen. Ich wusste, welche Schande ich über ihn gebracht hatte. Ihn, den Anführer des Pfeilclans, den Sprecher der Nordwaldjäger in Opaca. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, ihn stolz zu machen. Aber ich war gescheitert an der Prüfung, gescheitert an der ersten großen Herausforderung innerhalb des Clans, am ersten Schritt zum Mann.
»Vater, ich …«
»Sei still! Mach es jetzt nicht noch schlimmer.«
»Aber … eine Kraft hat mich niedergeworfen!«
Ich schaute ihn hoffnungsvoll an.
»Suche keine Ausreden, Caim! Du hast versagt.«

Glockenklang und Lebenslauf

Es begann: Die Glocken läuteten, als er geboren wurde.

Es ging weiter: Die Glocken läuteten, als er seine große Liebe zum Altar führte.

Es endete: Die Glocken läuteten, als man ihn zu Grabe trug.

Sechsundachtzigundeinhalb Jahre.

Er war an der Entstehung seines Lebens nicht beteiligt, er führte es aber eigenmächtig und selbstbewusst ganz gern und mit allem, was so dazugehört - zwischen tiefstem Schmerz bis höchstem Glück -, und er wunderte sich noch kurz vorm Ende, wo nur all die Jahre geblieben waren.

Er konnte die Frage nicht beantworten. Sie waren im Rückblick wie im sprichwörtlichen Fluge einfach vergangen. Auch, wenn sie angefüllt waren mit Kindheits-Abenteuern, Erwachsenen-Problemen, der Liebe zu den Frauen und der Leidenschaft, die ihn zur Musik führte, mit Partys, Prüfungen, schönen Urlauben und guten Büchern, eigener Familie, allerlei Krankheiten, Verlusten von Geld und Freunden. Alles kam vor. Langweilig wars nicht, nein. Aber konnte er zufrieden sein?

Er einigte sich für sich selbst darauf, schon arg resigniert, dass eigentlich nur der ewige Zwang zum Leben und Tun und ein dadurch in allerlei Formen geprägter und gemarterter Charakter hinter allem zurückblieb.

Ja, und vielleicht auch noch die einzige Konstante in seinem langen Leben: Die Glocken.

Am Anfang war es sein Vater, der Pfarrer der evangelischen Kirche im kleinen Ort, der sie zur Geburt seines einzigen Sohnes besonders lange und laut erklingen lassen durfte.

Vierundzwanzig Jahre später war es der eigene Wunsch des jungen und erfolgreichen Musikers gewesen, die Glocken für sich und seine nun auch schon seit vielen Jahren nicht mehr mit ihm lebende Frau erklingen zu lassen. Man hörte sie im weiten Umkreis, bis hin zum Haus des jungen Paares, das ganz in der Nähe des alten Gotteshauses wohnen sollte.

Und jetzt hatten seine letzten Freunde dafür gesorgt, dass er mit kleiner Kapelle und bei Glockenklang genau auf jenem Friedhof beigesetzt wurde, in dessen Kirche er so vieles erlebt hatte – sogar eigene erfolgreiche Konzerte. Er hatte es sich so gewünscht. Gerne hätte er auch den letzten Klang der Glocken noch selbst gehört…

(In Erinnerung an Jimmy Brown („The Three Bells“) und Gottfried Benn („Das gezeichnete Ich“)

2022 – Blick zurück
Ausklang 2013

Hansens siebzigster Geburtstag lastete neben einer allgemeinen Unzufriedenheit auf jenem Jahr. Dabei stellte dieser Tag nur ein weiteres Etappenziel auf seinem Lebensweg dar, längst Schnee von gestern. Statt ihn mit dem üblichen Bimbamborium solcher Tage zu verplempern, lud er ‘ne Freundin ein, um am alten Hafen ’n Käffchen zu schlürfen und ’n Stückchen Geburtstagskuchen zu mümmeln.
Wer käme außerdem infrage, abgeschnitten von allem und allen, wie er die letzten Jahre lebte?
Okay, um die dreißig E-Mails und Facebook-Nachrichten aus aller Welt trudelten ein, ein Zeichen, dass man ihn seit Beendigung seines Trips auf die andere Seite des Globus’ noch nicht vergessen hatte.
Erfreulich auch, dass ihm ab dem Tag nach dem Geburtstag der Himmel der bisherigen neunundsechzig Jahre nicht mehr auf den Kopf fiel, nach Vollendung der siebzig durch das unerbittliche Zählwerk. Zugegebenermaßen machte ihm die erneute Null-Runde in der Reihe dieser Tage reichlich zu schaffen, wie zuvor der Sechzigste.
Siebzich Lenze, was soll ’n da noch kommen? , drehte sich unermüdlich das Karussell seiner Gedanken. Sie ließen ihn schlecht einschlafen, erzeugten fast Panik. Hinzu kamen all die zauberhaften Frauen, die ihm auf der Straße oder wo auch immer begegneten. Geschöpfe, die ihm gefielen, ihm aber zugleich ihre Unerreichbarkeit deutlich machten.
Scheiße, seit Lina wechis, lebste eh allein, hast dich damit arrangiert, dass es kaum jemanden gibt, der dir nahesteht. Und die Zeit danach mit Adriana bestand doch eh nur aus Sehnsucht, Wünschen und Warten. Dabei war es die intensivste Zeit deines Lebens, deiner Gefühle.
Immerhin!
Und mit wem warste denn noch inner Kiste, seitdem sie sich vom Acker machte?
Viel abgespielt hatte sich auf dem Gebiet ja sowieso nicht … bis auf die unglaublichen Schmusereien mit ihr. Wenigstens davon konnte er träumen.
Warum mussteste auch mit all den anderen rummachen … bloß weil se sich nich für dich entscheiden wollte? War doch eh für‘n Arsch. Wer weiß, wie’s heute aussähe.
Mannomann, und in all den Jahren danach nur drei Frauen … und eine auch noch in Form einer Wiederholung aus der Adriana-Ära. Das darfste keinem erzählen.
Wiebke tauchte aus dem Dunst der Vergangenheit auf … die an der Algarve lebte. Sie sollte diejenige sein, die Adrianas Abschlussbrief auslöste, nachdem er Wiebke in ihrem heimischen Domizil besuchte, als sie Urlaub in Deutschland machte. Direkt im Anschluss an einen mit Adriana verbrachten Tag.
So was aber auch!
Eine Suchanzeige hatte sie zusammen gebracht. Über nächtliche Telefonate und den einen oder anderen Brief kamen sie sich nah und näher, sodass sie schließlich ebenfalls jene sie-könnte-die-Frau-welche-sein-Empfindung in Hans auslöste. Dabei erschien sie ihm bei ihrem Date in ihrer Art ein wenig zu konservativ. Jedoch nicht so arg, als dass er nach einem unterhaltsamen Abend ihr wohlmeinendes Angebot, das Bett mit ihr zu teilen, ausgeschlagen hätte. Eines der letzten Male, bei denen sich Little Hansi von der besten Seite zeigte und sowohl Wiebke, als auch Hans veranschaulichte, wie es sich anfühlt, wenn die körperliche Chemie stimmt, zumindest für eine Weile.
Dass die gemeinsam verbrachte Nacht dennoch unter keinem guten Stern stand, ließ sich daran erkennen, dass Adriana ihn zu Hause anzurufen versuchte. Etwas, was sie zuvor nach ihren bisherigen Treffen nie getan hatte. Und als sie ihn auf seine Unerreichbarkeit ansprach, erzählte er, was gelaufen war. Was für den Untergang ihrer Lovestory sorgte.
Doch damit nicht genug.
Hansens damaliges, wenn auch (zu) spätes Gelübde, nicht weiterhin jedem Angebot folgen zu wollen, zeigte eine gründlichere Wirkung als erwartet. Danach schien er für die holde Weiblichkeit allgemein uninteressant, unsichtbar geworden zu sein.
Scheiß Macht der Gedanken!
Ist es ein Wunder, dass er am heutigen Ehrentag ins Grübeln kam: Jetz biste siebzich und wirst langsam aber sicher zu ‘ner ollen vertrockneten Pflaume. Mit sowas will doch keine Frau mehr inne Kiste.
Diese und ähnliche quälende Überlegungen lösten sich auf in dem Moment, als die Schallmauer der Siebzig hinter ihm lag. Zurück blieb ein Quäntchen Wehmut ob der Tatsache solo zu leben und insgeheim die Frage, wie und warum sich das alles gestaltete. Sicher gab es dafür einen tieferen Grund den er nicht verstand, nicht verstehen, auf keinen Fall akzeptieren wollte. Doch wen interessiert das schon.
Um auf andere Gedanken zu kommen, griff Hans zu einem Buch von Simone de Beauvoir »Eine gebrochene Frau«. Mann, kann die Frau schreiben.
Das war ihm früher nie bewusst. Aber jetzt, wo er selber bereits über achtzigtausend Worte aneinandergereiht hatte, fiel es ihm auf. Klasse, wie sie die banalsten Dinge so zu formulieren wusste, dass er nur darüber staunen konnte, wie dort Poesie entstand, die ans Herz ging. Würde es jemandem beim Lesen seiner Zeilen ähnlich ergehen, falls es je dahin kommen sollte, dass sie einer allgemein lesbaren Form zur Verfügung stünden?
Da tauchten sie erneut auf, die Zweifel, an sich und seiner Art, sich auszudrücken.

ICH …
… bin jetzt 70.
Macht es mir etwas aus?
Jein!
Froh, den alten Mist
Der frühen Jahre
Nicht mehr erleben
Zu müssen.
Wehmütig, die gleichen
Dinge nicht anders
Erneut erleben zu können.
Dabei bin ich dankbar
Für das, was war.
Jedenfalls fürs Meiste.

Wat soll’s, wie wär’s stattdessen mit ’nem Trip auf die andere Seite des Globus’– Havanna, Galapagos, Mexiko City, Panama und so weiter? Und wer weiß, obde nich dort das Fleckchen Erde findest, von dem de träumst? Aaaba die Hütte aufgeben, wie damals?, neee, dat kannste imma noch. Und wennet wieda nur ’ne Flucht is?
Schit wat drup!

Zumal ja nach wie vor gilt, was Adriana sagte: »We will see«, wenn etwas noch ohne Antwort im Raum stand.

Nach einigen Minuten traten wir durch die Bäume und ich erkannte das Glitzern und Funkeln, als das, was es war. Ein See. Sprachlos von seiner Schönheit und von Emotionen überwältigt, blieb ich stehen. Einen Moment lang kriegte ich kaum Luft. Zitterig rang ich nach Atem und merkte, dass ich weinte. Eine einsame Träne lief mir die Wange hinunter, und die Nächsten folgten. Stumm blickte ich auf den See hinaus. Und die Erinnerung überkam mich ohne Vorbereitung.

Endlich kam der Frühling. Es war warm draußen und Nick schien es endlich etwas besser zu gehen. Der Arzt hatte ihm erlaubt, wieder Ausflüge zu machen. Es war unser Erster als Ehepaar und ich wollte ihn genießen. Auch wenn meine Abiprüfungen anstanden, entschloss ich mich, den Tag mit ihm zu verbringen. Wir entschieden uns spontan an den See zu fahren. Dort waren wir zuletzt bei unserem Picknick im Herbst gewesen und er war damals schon unser Platz gewesen. Bevor der lange, dunkle Winter gekommen war. Am Ufer war heute wenig los. Es war mitten in der Woche, die meisten lernten für ihr Abi und somit hatten wir unsere Ruhe. Ich genoss, es, in Nicks Nähe zu sein. Es war alles, was ich brauchte.
„Solche Ausflüge sollten wir viel öfter machen“, er lächelte mich unter halb geschlossenen Augen an, während er im Gras lag.
„Werden wir. Sobald du wieder gesund bist, bereisen wir die ganze Welt. Wo immer du hin willst.“
„Mit dir reise ich überall hin.“ Nick strich mit seinen Fingern über mein Gesicht. „Ich liebe dich“, hauchte er.
Ich liebe dich“, antwortete ich. Der Tag entwickelte sich anders, als wir es uns vorgestellt hatten und obwohl es so schön begonnen hatte, endete er nach Nicks Krampfanfall im Krankenhaus.

Nur sehr langsam kam ich wieder zurück in die Gegenwart. Nach und nach wurde mir klar, was gerade passiert war. Ich war fünf Jahre in die Vergangenheit gereist, hatte alles um mich herum vergessen. Der See, den Markus mir zeigen wollte, hatte all das zum Vorschein gebraucht, was ich bis dahin erfolgreich verdrängt hatte. Damals hatte ich noch geglaubt, Liebe überwindet alles und in gewisser Weise stimmte das auch, denn ich liebte Nick noch immer, auch wenn ich ihn für immer verloren hatte und mein Leben weiterging. Noch war ich nicht vollständig bereit dazu, aber vielleicht stand meine Zukunft bereits neben mir, betrachtete diesen wundervoll glitzernden See und würde meinem Leben eine neue Richtung geben, mir helfen endlich mit dem alten abzuschließen. Behutsam legte Markus seinen Arm um meine Schultern und ich ließ es zu.