Kinderwünsche
Eins, zwei, drei. Das Mädchen zählt die Platten auf dem Gehsteig. Sie heißt Suci, fährt auf ihrem kleinen Fahrrad und hält die Zeit an.
Sie kann bis zwölf zählen. Zwölf ist die größte Zahl, die sie begreift. Die größte Zahl, die es gibt, ist achtzig. Ihre Uroma, „Oma Mofa“ genannt, ist achtzig. Der Opa ist an Krebs gestorben. Die Mama ihrer Freundin Tina auch.
Vier, fünf, sechs. Ihr Goldhamster heißt Männi. Die Erwachsenen lügen, ein Hamster kann doch schwimmen, in kaltem Wasser wird er aber rasch langsamer. Ab und zu lässt sie ihn schwimmen. Zu Mantel und Mütze trägt sie ihre roten Sandalen (aber mit Strümpfen). Die hat sie sonst nur zu Hause an und im Kindergarten. Zu kalt, aber an Schuhe hat sie nicht gedacht, beim Rausschleichen.
Mama ist zum Arzt, Oma Mofa hat nix gemerkt. Aber sie merkt auch nie, wenn sie den Hamster schwimmen lässt. Der riecht so gut nach Vatis Rasierwasser, wenn sie ihn nach dem Schwimmen im Waschbecken damit einreibt und trocken tupft, ganz vorsichtig, denn er ist ja so klein.
Die Uroma riecht nicht gut und sie hat ein bisschen Angst vor ihr (aber nur ein kleine bisschen). Sie riecht nach Fichtelsalbe (oder so), und nach Alt und nach Lavendel. Wenn sie gerade nicht schläft, sagt sie oft Sachen, die entweder kindisch sind, oder die Suci nicht versteht. Die Erwachsenen denken sowieso, dass Fünfjährige nichts verstehen. Aber sie ist fünf und kann schon gut lesen.
Jetzt steht die Zeit still.
Im Fernsehen hat sie gesehen, wie das ist, mit dem Krebs. Sie hat es nicht ganz verstanden; stellt sich vor es sei, als ob man mit einem spitzen Stein auf eine Eisplatte schlägt. Frisst sich durch den ganzen Körper, so ein Riss.
Am Morgen war die Mama zu unbekümmert (frohgelaunt), als sie weg ist. Der Arztbesuch habe etwas mit Untersuchung und Krebs zu tun, hat Suci verstanden. Sie heißt nicht wirklich Suci, aber so ruft man sie.
Wenn die Ampel um die Ecke grün ist, bekommt sie den Gameboy zu Weihnachten, wettet sie mit dem Schicksal. Das wäre ja bald.
Die Gedanken fließen, aber das tun sie meistens. Dann biegt sie ab und fährt am Spielplatz vorbei aus dem Dorf heraus. Wenn jetzt kein Auto kommt, bis sie den Waldweg erreicht, bekommt sie ganz sicher den Gameboy - oder Inliners.
Es kommt ein Traktor, das zählt nicht. In den Kindergarten wollte sie heute nicht. Mama hat nicht darauf bestanden (war ihr wohl ganz recht), vielleicht wegen des Termins beim Arzt. Vati arbeitet sowieso immer, der kriegt nichts mit. Ab und zu riecht er komisch, wenn er nach Hause kommt.
Und die Zeit steht still.
Dünner Nebel fließt über den Weg. Jetzt will sie allein sein. Sie rollt zu den Fischteichen, wo sie und Tina oft geheime Treffen abhalten. Dorthin kommt fast nie jemand. Forellen gibt es hier (sagt Vati) und Frösche. Die Teiche füllen sich aus dem Bach, den man hier in drei großen Stufen gestaut hat. Jede Stufe hat ein Wehr: lang, hölzern und glitschig. Es wäre eine echte Mutprobe, darüber zu laufen (hat sie mit Tina überlegt). Und versucht hat es noch keine der beiden (vielleicht einmal einen halben Schritt, aber dann wieder zurück).
Ihre Strümpfe sind jetzt braun vom nassen Waldboden und die Sandalen sind auch nicht mehr rot.
Bitte lass die Mama nicht sterben, bitte lass die Mama keinen Krebs haben. Sie denkt oft an den Tod; das tun Kinder in diesem Alter. Es gibt Erwachsene, die glauben, Kinder hätten nur Sesamstraße im Kopf. Suci hat sogar schon einmal in der Bravo gelesen, über Filme und über Popsänger (die sie zwar nicht kennt, die sie aber beeindrucken) und über Sex.
Man hat sogar schon im Kindergarten über den Tod gesprochen und sie weiß, dass ihr Hamster auch nicht ewig leben wird. Auch für ihn betet sie oft. Wenn Mama Krebs hat, will ich nicht leben, wünscht sie sich. Sie weiß, das kann sie nicht aushalten. Krebs ist dasselbe wie Tod. Sie wäre dann mit Vati und Oma Mofa alleine, das ist noch schlimmer als tot.
Die Zeit steht weiterhin still, als sie sich an den Teichrand hockt. Dünner Regendunst legt sich auf ihren Mantel.
Als Mama am Morgen viel zu unbeschwert gewesen war, konnte Suci ihre Angst spüren. Es sei ja nur eine Untersuchung, hieß es, und am Nachmittag sei sie wieder zu Hause. Als sie fort war, wurde die Wohnung zu eng. Oma Mofa saß am Radio und schlief, da hat sie sich Mantel und Mütze genommen und ist nach draußen geschlichen. Nur an Schuhe hatte sie nicht gedacht.
Wenn ich es schaffe, bis zum anderen Ende zu gehen, ist Mama gesund. Wieder feilscht sie mit dem lieben Gott. Das Wasser schweigt dunkel, klar und kalt. Es fließt ganz langsam über den langen schwarzen Balken.
Sie tritt auf die Planke. Als Nässe sich kalt in ihre Strümpfe saugt, zieht sie den Fuß zurück, lehnt sich hockend an einen Baum (eine Birke, das weiß sie).
Wenn ich jetzt nicht gehe, habe ich es nicht geschafft, und vielleicht hat Mama dann Krebs wegen mir. Und wenn Mama Krebs hat, will ich lieber sterben.
Der Balken ist glatt und lang, aber sie hat den Willen einer Fünfjährigen und sie wünscht sich, lieber tot zu sein, als ohne ihre Mama. Das Wasser ist kalt, und schon nach wenigen Metern spürt sie sie ihre Füße kaum noch.
Und Schritt für Schritt verharrt die Zeit.