Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Sieh!

Schließe die Augen.
Die Zeit geht weiter.

Kannst du sie anhalten? Wie einen Fluss?
Ich glaube nicht.

Einen Fluss kannst du nicht anhalten.
Er findet den Weg um das Hindernis.

Doch kannst du den Fluss verlassen.
Schwimm ans Ufer. Setz dich auf einen Stein. Schau, wie das Wasser dahinzieht.
Alles fliesst, nur du ruhst.

Oder steht der Fluss still, und du gleitest am Ufer zurück?
Wohin führt die Bewegung den Fluss – oder dich?
Zum Ende? Zum Anfang? Im Kreis?

Öffne die Augen.

Verspäteter Start mit dem geliehenen vw käfer.
Das ausflugsziel lag etwas entfernt. Die kurve vor dem viadukt zog sich zu. Gefangen im sich überschlagenden auto. Die sekunden dehnten si ch endlos bis der käfer zum stehen kam. Im radio lief das lied „spiel mir das lied vom tod“.

Prolog

„Dri Chinisin mit dim Kintribiss …“ Die kleine Joanna hüpfte an Wolfgangs Hand die Dorfstraße entlang. Toll, dass jetzt immer jemand da war, mit dem sie spazieren gehen und reden konnte!
„ … sißen auf der Striße ind erzählten sich wis …“
„Sißin if dir Strißi ind irzihltin sich wis …“, brummte Wolfgang dazwischen. „Jetzt haste aber falsch gesungen!“
Joe kicherte. „Du aber auch!“ Sie konnte das beurteilen, schließlich besuchte sie seit ein paar Monaten die Block-flöten-AG in der Schule. „Du blökst wie die Schafe da vorne!“
„Ich weiß“, nickte Wolfgang, „deine Omma hat immer gesagt, bei meinem Wolfsgeheule fällt die Katze in Ohnmacht …“
Das Kind prustete los, dass die Spucke sprühte, aber der alte Mann schien es gar nicht zu bemerken, zumindest störte er sich nicht daran.
Sie bogen in den Plattenweg ein, der zu den Mietskasernen führte. Als sie an Nummer 6 vorüber gingen, wurde die Haustür aufgestoßen…

Die Beerdigung

Der Saal war rappelvoll. Joanna saß in der vorderen Reihe zwischen Robin und Laureen und starrte auf die rosenum-rankte Urne wie ein Kind, das zum ersten Mal im Leben einen Horrorfilm anschaut, geschockt, aber unfähig den Blick abzuwenden.
„Ein Häufchen Asche – das ist alles was übrig bleibt!“, dachte sie traurig.
„Hört, hört, eine Theologie-Studentin als atheistische Quer-einsteigerin!“, höhnte ein Stimme in ihrem Inneren. Joe unterdrückte ein Seufzen. Hatte sie ernsthaft geglaubt ihre Ich-Spinne würde wenigstens bei der Beerdigung die Klappe halten?
Mrs. Hide krabbelte mit ihren haarigen Beinen über Joes Netzhaut bis zur Pupille, ein überhebliches Grinsen auf dem Gesicht, während Joes Bruder das Gedicht vorlas, dass er für Mum geschrieben hatte.
„Ein Engel hat dich angeschaut
und sah, die Last war schwer.
Hat eine Brücke dir gebaut
und sagte: Komm doch her!“
Robins Stimme bebte. Er stockte. Die Pastorin beobachtete ihn mit der Aufmerksamkeit einer Staffelläuferin, die Augenbrauen besorgt zusammengezogen, jederzeit bereit einzuspringen. Aber Robin hatte sich schon wieder im Griff. So wie auch Mum sich immer im Griff gehabt hatte …
„Er nahm dich bei der Hand geschwind
und zog dich von uns fort.
Die, die vorausgegangen sind,
die warteten schon dort!“
Laureen schluchzte auf. Joanna dachte an Mum und diejenigen, denen sie gefolgt war: Oparno, Ömchen, Paps … und Wolfgang. Wolfgang auch? Wenn nicht, wie alt war dann? Fünfundsiebzig? Nein, älter. Vielleicht achtzig …
Die Pastorin klinkte sich wieder ein. Sie hieß Sanna Mustonen-Sensemann, obwohl dieser düstere Name nicht unpassender hätte sein können. Das wusste Joe, weil sie eng befreundet waren, seit sie einander vor ein paar Jahren in der Mensa begegnet waren. Wenn Sanna lachte, und das tat sie oft und ausgiebig, war es kein gewöhnliches Lachen. Es gluckste und hopste. Es sprudelte. Es schäumte. Und dann prustete sie es heraus, sodass es noch durch den Raum tänzelte, selbst wenn sie ihn schon verlassen hatte. Ebenso wie ein Hauch von Moschus und frisch gewaschener Wäsche, der ihr immer anhaftete und den Joe sogar hier im Abstand von fast zwei Metern wahrzunehmen glaubte.
Jetzt lachte Sanna natürlich nicht, sondern sagte mit klarer, bewegter Stimme:„Wir hören nun das Lied …“
„Dri Chinisin mit dim Kintri …“, stimmte Mrs. Hide an und begann auf Joannas Netzhaut die Hüfte zu wiegen, wie auf einer Tanzfläche.
„Pst! Spinnst du?“ Joe riss sich zusammen. Verrückt, bei Mums Beerdigung an Wolfgang zu denken - vielleicht wurde sie verrückt. Mrs. Hide schien jedenfalls davon über-zeugt zu sein …
„Die Rose“, kündigte die Pastorin die Musik an, auf die Laureen bestanden hatte und schon setzte Helene Fischers Mezzosopran ein.
„Ich werde sie vermissen.“, dachte Joanna und meinte damit nicht nur ihre Mutter. Auch Sanna würde Ende des Monats weggehen, um fortan in einem Land zu predigen, in dem man zu Eiswaffel „jäätelötötterö“ sagte.
Sie presste Daumen und Zeigfinger an die Nasenwurzel, teils um die Tränen zurück zu halten, teils um Mrs. Hide zum Verstummen zu bringen. Es war alles zuviel gewesen. Mums Krankheit, ihre Weigerung zu essen, wie sich selber einfach aufgegeben hatte. Ihr plötzlicher Tod hatte Joe wie ein Tsunami überrollt.
Die letzten Takte tröpfelten in Joannas Bewusstsein. Wie durch Ohrenstöpsel gedämpft hörte sie Sanna, bewundernd und warm, von Mums sozialen Engagement sprechen, von ihrer Liebe und Fürsorglichkeit.
„Sie atmet Empathie aus wie eine Pflanze Sauerstoff. So sollte eine Seelsorgerin sein.“, zischelte Mrs. Hide ihr zu. „ Nicht so ich-bezogen und aufbrausend wie du.“ Sie kramte im Archiv von Joes Unterbewusstsein eine alte Langspiel-platte hervor, pustete den Staub von den Rillen und legte sie auf den Plattenteller.
„Aber Theologie, Joannna?“, ertönte Mums Stimme, so deutlich, als säße sie neben Joe. „Ausgerechnet du mit …“
„Mit deinem Kollerkopp?“, neckte Robin seine Schwester, aber dann kam er ihr, wie so oft, zur Hilfe.
„Lass sie doch, Mum, vielleicht …“
Mit einem hässlichen Quietscher riss Mrs. Hide die Nadel vom Plattenteller. Joannas Kopf ruckte nach rechts, wo Robin saß, einen absurden Augenblick annehmend, er hätte diese Worte gerade eben hier in der Trauerhalle und nicht vor fünf Jahren in Mums Küche gesagt. Aber Robin blickte regungslos mit leeren Augen auf die Urne vor dem Altar.
Hinter ihm schniefte Tante Elke. Onkel Horst daneben räusperte sich im Fünf-Sekunden-Takt.
„Kann er nicht einmal ordentlich husten?“, beschwerte sich Mrs. Hide. „Oder wenigstens ein Salbei-Bonbons lutschen? Wolfgang hat immer Karamellbonbons in der Tasche gehabt…“
Jahrelang hatte Joe nicht mehr an ihren „Beinahe-Großvater“ gedacht, bis die Geschwister der Pastorin erzählten, dass ihre Eltern nach Ömchens Tod deren jüngsten Sohn Horst und ihren zweiten Mann aufnahmen. Dabei kannten sie Wolfgang damals kaum, denn Ömchen starb nur wenige Monate nach ihrer Hochzeit.
Onkel Horsts Bett wurde in Robins Zimmer aufgestellt, Wolfgang schlief auf der Couch im Wohnzimmer …
Joe wurde von Mrs. Hide so tief in Erinnerungen ver-sponnen, dass sie erst am Ende der Andacht aufschreckte, als sich die Trauergemeinde erhob und das allgemeine Füßescharren in den Klängen von „Amazing grace“ unterging.
Laureens Gesicht war tränennass und Joe musste alle Kraft aufbieten, um nicht ebenfalls zu weinen. Hinter ihnen versammelten sich Freunde und Verwandte. Sie folgten den Urnenträgern mit gesenkten Köpfen zu einer Beisetzung im kleinen Kreis auf dem angrenzenden Friedhof. Die übrigen Trauergäste zerstreuten sich.

Abermals versuchten Tränen sich einen Weg in ihre Augen zu bahnen. Mühsam erstickte sie auch diesen Versuch im Keim. Gleichzeitig bemühte sie sich, ihre Gedanken in der hintersten Ecke ihres Bewusstseins zu verschließen. Doch die Erinnerungsfetzen der letzten Stunden quälten sie unaufhörlich. Unablässig blitzten sie vor ihrem geistigen Auge auf.

An der Straßenbahnhaltestelle angekommen, sank sie auf einem der freien Plätze zusammen, den Kopf auf ihre Hände gestützt.

Wie konnte der Tag in einem solchen Alptraum enden? Beinahe zwanghaft ploppte die Frage immer wieder in ihren Gedanken auf.

Seit Tagen bereitete sie sich, zusammen mit Clara, auf diesen Abend vor, der nun in den Trümmern ihrer Beziehung geendet war.

Langsam hob sie ihren Kopf, lehnte ihn an das Glas und blinzelte die Tränen aus ihren Augen. Doch wollten sie ebenso wenig verschwinden, wie der dicke Klos, der ihr die Luft abschnürte.

In ihrer Handtasche vibrierte ihr Smartphone. Zögerlich zog sie es hervor, um es, nach einem kurzen Blick, postwendend zurückzuschieben. Bentje verspürte keine Lust ihrer Freundin vom desaströsen Abend und dem Ende ihrer zweijährigen Beziehung zu erzählen.

Heute waren es genau 730 Tage und Stephan hatte ihn vergessen.

In den vergangenen Tagen hatte er sie oft an das ‚wichtige‘ Treffen erinnert, sie regelrecht darauf festgenagelt. Bentje erschien sogar früher im Edelrestaurant. Durch die Glasscheibe sah sie ihn an einem vorbereiteten Tisch sitzen. Das Ambiente und der Jahrestag ließen keine Zweifel zu: Heute würde er ihr die Frage aller Fragen stellen.

Nachdem sie das Lokal voller Vorfreude betrat, schlug ihre Stimmung um, sobald Stephan sie erblickte. Aus seinem Blick las sie, dass etwas nicht so war, wie es schien. Zügig begleitete er sie hinaus, um an der nächsten Straßenecke ihre Beziehung zu beenden.

Überfordert verweilte Bentje einige Minuten. Rang mit sich. Am liebsten wollte sie ihm ins Lokal folgen und ihm ihre Meinung geigen. Doch verwarf sie das Vorhaben, als sie durch die Glasscheibe die Frau sah, die ihren Platz eingenommen hatte. Glücklich hielt sie seine Hand.

Ein verächtliches Schnauben verließ ihre Kehle. Wie blöd sie gewesen war! Shoppen, Maniküre, Friseur – alles umsonst!

Ihre Linie wurde angekündigt. Für einen Moment überlegte Bentje, ob sie einsteigen sollte. Ihr fehlte jeglicher Antrieb.

Donnergrollen mischte sich in die Geräusche der Straße. Die Natur half ihr bei ihrer Entscheidung.

Die Bahn fuhr vor, Bentje stieg ein und fuhr in den Wolkenbruch. Der Regen prasselte erbarmungslos auf alles nieder und verwandelte die trockenen Straßen in kürzester Zeit in flache Seen.

Noch immer versuchte sie ihre Tränen zurückzuhalten. Kämpfte dagegen an. Keinesfalls wollte sie eine Einzige an Stephan verschwenden. Doch sie war chancenlos. Ihre Mauer zerbarst.

Der nächste Halt war ihrer. Bentje war froh, dass der Regenschauer weiter gnadenlos blieb. So konnte sie ihre bitterlichen Tränen vor Clara und Ascan verbergen. Wahrscheinlich warteten sie zuhause auf eine Nachricht von ihr.

Auf dem restlichen Weg würde sie darüber nachdenken, welche Ausrede die passende war.

Sie sah aus der Tür, machte sie auf das Nass gefasst und stieg aus.

Das Gefühl von Regen auf ihrem Körper blieb aus. Überrascht blickte sie nach oben. Ein schwarzer Schutzschild bewahrte sie vor den Wassermaßen.

Mit weit aufgerissenen Augen drehte sie sich der Person hinter sich zu. Ascans Brust hob und senkte sich im rasanten Tempo. Seine Kleidung war durchnässt. Regentropfen perlten über seine Schläfen. Ihr Blick blieb an seinen durchdringenden braun-goldenen Augen hängen.

Bentje war bewusst, dass dieser Augenblick lediglich einen Wimpernschlag andauerte. Und doch fühlte er sich an, wie die Ewigkeit, die sie alles vergessen ließ.

Empty Nest

„Mama? du must schnell kommen , mit mir stimmt was nicht, ich…ich…bekomm keine Luft mehr.“
Das war so ziemlich der letzte klare Gedanke den ich noch hatte als ich meine Mutter anrief. Hausarzt, Krankenwagen, Notaufnahme. Meine Luft wurde immer weniger, und ich immer wütender . Ich hörte mich noch schreien „wenn jetzt kein Arzt kommt spring ich zum Fenster raus!“ Das wars ich lag am boden . Einmal schlug ich noch die Augen auf .Im Querformat und in Zeitlupe in völliger Stille sah ich die Ärtztin durch eine Tür schweben. Der weise Kittel schlug langsam hinter ihrem Kopf zusammen ,ihre Arme nach mir ausgestreckt …Dunkel.

Eine Neonlampe an der Decke …Dunkel.

Ein Schlauch ragte aus meinem Mund …Dunkel.

Ich konnte mich nicht bewegen…

Zwei Schwestern unterhielten sich an meinem Bett ,die eine sagte: „Tja wenn sie sich nicht bald bewegt stirbt das Baby eh“.
Dunkel.

Ich wusste etwas ist mit mir passiert und ich konnte nicht sprechen. Dunkel.

Draußen wars Winter geworden ,ich sah die Schneeflocken aus meinem Fenster .In mir kam die Frage auf der wievielte Winter ist das seid ich hier im Krankenbett gefangen war. Die Zeit war verloren.

„MAAAMMMAAA, wo is meine Sporttasche die wo ich zum 18. Geburtstag von Oma gekriegt hab?“ Mein Kleiner zieht aus, was wäre gewesen wenn sein Zwillingsbruder unser Coma damals auch überlebt hätte? Ich fühl mich furchtbar. Alle sagen mir ich hätte das Empty Nest Syndrom. Hätte ich das jetzt doppelt?
Ich schließe meine Augen und es ist Dunkel.

Einmal Luxus

Beide saßen wir gemütlich am Frühstückstisch im Hotel „Seerose“ und genossen, den Luxus verwöhnt zu werden. Unser erster richtiger Kurzurlaub. „Darf es noch was sein? Kaffee oder Tee? Oder einen O-Saft?“ Fragte der Kellner.

„Nein Danke schön wir haben alles“ nach über 15 Jahren hatten wir das erste Mal endlich Urlaub.
24/7 haben wir immer alles für unsere Familie erledigt, waren rund um die Uhr aktiv und einsatzbereit. Und nun wurden wir gefragt „Ob es noch was sein darf.“ Welch ein Luxus für uns. Es war so bezaubernd dort, das unsereins kurzerhand per sms daheim anfragten, ob wir zwei Tage länger bleiben könnten.

„Aber natürlich“ schrieb Oma zurück „Hier läuft alles prima. Sorgt Euch nicht und gönnt Euch die Zeit“. Am nächsten Morgen waren wir wieder am Frühstückstisch. An der Wand hing ein größerer Fernseher, in dem Nachrichten liefen. Sie zeigten Bilder von einem entgleisten Zug. Der Nachrichtensprecher sprach von Toten und schwer Verletzten.

Wir waren wie versteinert, auf einem Trümmerteil vom Zug waren eindeutig Nummern zu erkennen. Es war unser Abteil, indem wir gestern Abend eigentlich heimgefahren wären.

Das ganze liegt mehr als 10 Jahren zurück. Es kommt uns heute immer noch so vor, als sei das alles gestern passiert. Noch am heutigen Tag schauert uns der Gedanke das wir hätten Tod sein können. Wir leben seitdem jeden Tag intensiver und erfreuen uns gemeinsam an den kleinsten Dingen.

Zeit zu denken
Ich muss nur noch schnell den Müll raus bringen. Dann ist die Hausarbeit getan. Heute Morgen hatte ich schon Schnee geschoben, es ist keine weitere Schneeflocke gefallen, es ist zu kalt.
Für die paar Schritte bis zum Mülleimer verzichte ich auf meine Jacke. Schnell den Haustürschlüssel eingesteckt und mache mich auf den kurzen Weg.
Und schon sehe ich mein rechtes Bein, schwerelos vor mir, der Fuß ist auf Augenhöhe. Und ich denke so in aller Ruhe:
Ganz schön sportlich für eine Oma. Was macht denn da mein Pantoffel an meinem Fuß? Ich hätte doch besser die Winterschuhe angezogen. Wo ist eigentlich das zweite Bein? Ah! Da ist es ja. Das hab ich aber nicht so hochbekommen.
Ich bin zu dicht an dem parkenden Auto. Wenn ich mit meinem Kopf dagegen pralle, dann breche ich mir das Genick. Bis ich hier gefunden werde, bin ich schon erfroren.
Mit meiner sehr unsanften Landung hatte die Zeit wieder ihr richtiges Tempo zurückbekommen.

Geisterbahn

Wahre Begebenheit

Einzigartig am Rummelplatz waren die vielen Buden und am besten die ganz bunten Buden. Dosenwerfen war mir zu langweilig, aber die Schießbude war wie nur für mich gemacht.

Mein Vater war sehr stolz auf meine Erfolge und förderte diesen Spaß.

Und natürlich gab es zwischen allen Aktivitäten Zuckerwatte. So eine Trommel wollte ich immer besitzen.

Ein bisschen angsteinflößend war die Geisterbahn. Die Besucher nahmen in so etwas Platz, was auch ein Autoscooter hätte sein können und verschwanden dann im Inneren der Geisterbahn, teils mit Geschrei.

Mein Vater wollte scheinbar unbedingt diesen Quatsch mit mir erleben, also tat ich ihm den Gefallen.

Scheinbar wollte er wissen, ob ich mich grusele oder weine.

Ich mochte die Gerüche schon nicht. Und in so einem Fahrzeug eingequetscht zu sein…naja ist ja bald vorbei.

Mittendrin in der Geisterbahn angekommen stieg ich, das brave Kind schnell aus und rannte ins Innere, wo es ganz dunkel war.

Wie aus dem Nichts sprach mich jemand an. Ein sehr großer Mann, der als Geist verkleidet war.

Er hatte einen Schreck bekommen, und sein erster Impuls war es, mich raus zu werfen.

Zwischen uns schien die Zeit eingefroren zu sein. Es vergingen gefühlte Stunden.

Wir unterhielten uns über seine Arbeit als Geist und darüber wie ein Kind auf die Idee kommt in einer Geisterbahn herum zu geistern. Angelockt von unserer Unterhaltung kamen noch zwei andere Geister zu uns, die sehr witzig waren. Wir hatten Spaß, den Vater hatte ich längst vergessen, hätte mich nicht irgendein Witzbold nach meiner Begleitperson gefragt.

Wieviel Zeit ich dort verbrachte kann ich nicht wissen, aber Vater war nicht böse, als die drei Geister mich zu ihm ins Freie brachten.

Gerne und mit Freude erinnere ich mich an dieses Abenteuer, an die wundervollen Geister und daran, dass mein Vater noch nicht einmal schimpfen konnte.

Und die Moral von der Geschicht: Verurteile die Geister nicht

Zeiten ändern sich

Mein Name lautet Wolfgang Schwaan. So, wie schon der meines Vaters und dessen Vaters. Der Sekretär meines alten Herrn, ein Zwerg namens Roland Huftreter, nannte mich in seinen Briefen Wolfi. Er schrieb sie in Vaters Auftrag. In meinen Erinnerungen erscheint Huftreter als Endsechziger. Ein Asket in der Kleidung eines Bestattungsunternehmers. Manchmal denke ich, dass er niemals jung war und sich schon seine Kinderaugen durch kleine, runde Brillengläser tasteten.
Wie kam er auf Wolfi? Ich vermute, er genoss ein Gefühl von Überlegenheit, wenn er den Kosenamen tippte oder auf Papier krakelte. Mein Vater schrie nach Wolf, um mich zu sich zu befehlen. Ich bin überzeugt, er hätte mich als Wolfgang angeschrieben. Doch für seine Weihnachts- und Geburtstagskarten und die Tagesbefehle, die ich morgens auf dem bis zum Horizont reichenden Esstisch im Salon unseres Gutshauses fand, war es an seinem Sekretär, zum Füller zu greifen oder auf der Schreibmaschine klappern.
Ich habe die Glückwunschkarten vor Jahrzehnten vernichtet. Die Befehle hole ich gelegentlich aus einer nach Keller riechenden Ledermappe hervor. Vorsichtig, damit das Papier nicht zerbröselt. Die Aufgaben beschreiben mein Leben, das ich in den Jahren bis zum Ende des Krieges auf unserem Landgut in Vorpommern führte. Das Zählen der Schafe. Das Prüfen der Viehunterstände. Die Kontrollgänge entlang der Grenzzäune, die den Besitz markierten. Unseren Besitz. Ein Land, das von Deichen und Klippen behütet wird, das sich in Hügeln wellt und auf das Buchenwälder ihre Schatten werfen. Ein Land, das rauscht. Das im Gold seiner Felder glänzt, wenn nicht Sturm den Himmel zerwühlt. Die Beschreibung klingt pathetisch. Es liegt an meiner Trauer, dass die Klauen der Geschichte mir dieses Land entrissen haben.
Die Klauen der Geschichte sind in Wahrheit die Hände der Menschen. Der Eiferer und Neider, der Vorteilsjäger, der Verblendeten. Und der Parteigänger. In Nächten, in denen mich meine siebzigjährige Blase über den Linoleumflur der Zweiraumwohnung treibt, in jeder Nacht, hämmern die Gedanken an den Raub des von Schwaanschen Landes in meinem Kopf.
Dann sehe ich mich um mein Recht streiten. Stehe wieder vor dem Richter. Sein Blick wandert aus dem Saal heraus, versinkt in einem Fenster des gegenüberliegenden Plattenbaus. Er lässt mich vortragen und schwitzen, wüten und vor seinem Resopaltisch hin- und her tigern. Und er schüttelt den Kopf. Sein Kinnfett, das Ergebnis langer Nächte an Nazibuffets, schlackert. Volkseigentum. Segen des Sozialismus. Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft. Ende der Gutsherrendekadenz. Blühende Landschaften.
Wenn ich mich erneut in den Schlaf wühle, erwachen Träume. Dann erobere ich die Wiesen und Felder, den Gutshof, die Scheunen und Ställe zurück. Alles, was nach altem Recht mir gehört. Ich schreite als Wolfgang von Schwaan, unter dem Himmel Vorpommerns die Grenzzäune ab, pflege die Gräber der vorigen Wolfgangs, zähle Schafe. Die Bauern grüßen und über mir lachen die Möwen.

Das Geschirr scheppert und ruckelt. Aus Mangel an Schränken habe ich die Tassen und Teller auf dem Kühlschrank gestapelt. Im Fünfzehnminutentakt springt das Gerät an und zeigt, wie langsam die Zeit vergeht. Ich schiebe das Porzellan mehrmals am Tag vom Rand weg, bringe den Besitz in Sicherheit, bevor sich mein Lieblingsbecher in die Tiefe stürzt. Ich schaue auf einem Hocker sitzend aus dem Küchenfenster, stütze den Rücken vorsichtig am Küchentisch ab, den ich mit Zeitungspapier belegt habe. Kleckse von Tomatensoße sprenkeln den Bericht über die Erfolge der Volkswerft. Draußen peitscht Regen. Er verschluckt den Rest des Herbstlichtes. Der Nachkriegswohnblock auf der anderen Straßenseite verschwimmt. Zwei Fenster leuchten wie wachsame Augen. Ich knipse die Neonröhre aus, zerknülle die Zeitung und werfe den Papierball hinaus. Er landet im Vorgartenmüll.

Kinderwünsche

Eins, zwei, drei. Das Mädchen zählt die Platten auf dem Gehsteig. Sie heißt Suci, fährt auf ihrem kleinen Fahrrad und hält die Zeit an.

Sie kann bis zwölf zählen. Zwölf ist die größte Zahl, die sie begreift. Die größte Zahl, die es gibt, ist achtzig. Ihre Uroma, „Oma Mofa“ genannt, ist achtzig. Der Opa ist an Krebs gestorben. Die Mama ihrer Freundin Tina auch.

Vier, fünf, sechs. Ihr Goldhamster heißt Männi. Die Erwachsenen lügen, ein Hamster kann doch schwimmen, in kaltem Wasser wird er aber rasch langsamer. Ab und zu lässt sie ihn schwimmen. Zu Mantel und Mütze trägt sie ihre roten Sandalen (aber mit Strümpfen). Die hat sie sonst nur zu Hause an und im Kindergarten. Zu kalt, aber an Schuhe hat sie nicht gedacht, beim Rausschleichen.

Mama ist zum Arzt, Oma Mofa hat nix gemerkt. Aber sie merkt auch nie, wenn sie den Hamster schwimmen lässt. Der riecht so gut nach Vatis Rasierwasser, wenn sie ihn nach dem Schwimmen im Waschbecken damit einreibt und trocken tupft, ganz vorsichtig, denn er ist ja so klein.

Die Uroma riecht nicht gut und sie hat ein bisschen Angst vor ihr (aber nur ein kleine bisschen). Sie riecht nach Fichtelsalbe (oder so), und nach Alt und nach Lavendel. Wenn sie gerade nicht schläft, sagt sie oft Sachen, die entweder kindisch sind, oder die Suci nicht versteht. Die Erwachsenen denken sowieso, dass Fünfjährige nichts verstehen. Aber sie ist fünf und kann schon gut lesen.

Jetzt steht die Zeit still.

Im Fernsehen hat sie gesehen, wie das ist, mit dem Krebs. Sie hat es nicht ganz verstanden; stellt sich vor es sei, als ob man mit einem spitzen Stein auf eine Eisplatte schlägt. Frisst sich durch den ganzen Körper, so ein Riss.

Am Morgen war die Mama zu unbekümmert (frohgelaunt), als sie weg ist. Der Arztbesuch habe etwas mit Untersuchung und Krebs zu tun, hat Suci verstanden. Sie heißt nicht wirklich Suci, aber so ruft man sie.
Wenn die Ampel um die Ecke grün ist, bekommt sie den Gameboy zu Weihnachten, wettet sie mit dem Schicksal. Das wäre ja bald.

Die Gedanken fließen, aber das tun sie meistens. Dann biegt sie ab und fährt am Spielplatz vorbei aus dem Dorf heraus. Wenn jetzt kein Auto kommt, bis sie den Waldweg erreicht, bekommt sie ganz sicher den Gameboy - oder Inliners.

Es kommt ein Traktor, das zählt nicht. In den Kindergarten wollte sie heute nicht. Mama hat nicht darauf bestanden (war ihr wohl ganz recht), vielleicht wegen des Termins beim Arzt. Vati arbeitet sowieso immer, der kriegt nichts mit. Ab und zu riecht er komisch, wenn er nach Hause kommt.

Und die Zeit steht still.

Dünner Nebel fließt über den Weg. Jetzt will sie allein sein. Sie rollt zu den Fischteichen, wo sie und Tina oft geheime Treffen abhalten. Dorthin kommt fast nie jemand. Forellen gibt es hier (sagt Vati) und Frösche. Die Teiche füllen sich aus dem Bach, den man hier in drei großen Stufen gestaut hat. Jede Stufe hat ein Wehr: lang, hölzern und glitschig. Es wäre eine echte Mutprobe, darüber zu laufen (hat sie mit Tina überlegt). Und versucht hat es noch keine der beiden (vielleicht einmal einen halben Schritt, aber dann wieder zurück).

Ihre Strümpfe sind jetzt braun vom nassen Waldboden und die Sandalen sind auch nicht mehr rot.

Bitte lass die Mama nicht sterben, bitte lass die Mama keinen Krebs haben. Sie denkt oft an den Tod; das tun Kinder in diesem Alter. Es gibt Erwachsene, die glauben, Kinder hätten nur Sesamstraße im Kopf. Suci hat sogar schon einmal in der Bravo gelesen, über Filme und über Popsänger (die sie zwar nicht kennt, die sie aber beeindrucken) und über Sex.

Man hat sogar schon im Kindergarten über den Tod gesprochen und sie weiß, dass ihr Hamster auch nicht ewig leben wird. Auch für ihn betet sie oft. Wenn Mama Krebs hat, will ich nicht leben, wünscht sie sich. Sie weiß, das kann sie nicht aushalten. Krebs ist dasselbe wie Tod. Sie wäre dann mit Vati und Oma Mofa alleine, das ist noch schlimmer als tot.

Die Zeit steht weiterhin still, als sie sich an den Teichrand hockt. Dünner Regendunst legt sich auf ihren Mantel.

Als Mama am Morgen viel zu unbeschwert gewesen war, konnte Suci ihre Angst spüren. Es sei ja nur eine Untersuchung, hieß es, und am Nachmittag sei sie wieder zu Hause. Als sie fort war, wurde die Wohnung zu eng. Oma Mofa saß am Radio und schlief, da hat sie sich Mantel und Mütze genommen und ist nach draußen geschlichen. Nur an Schuhe hatte sie nicht gedacht.

Wenn ich es schaffe, bis zum anderen Ende zu gehen, ist Mama gesund. Wieder feilscht sie mit dem lieben Gott. Das Wasser schweigt dunkel, klar und kalt. Es fließt ganz langsam über den langen schwarzen Balken.

Sie tritt auf die Planke. Als Nässe sich kalt in ihre Strümpfe saugt, zieht sie den Fuß zurück, lehnt sich hockend an einen Baum (eine Birke, das weiß sie).

Wenn ich jetzt nicht gehe, habe ich es nicht geschafft, und vielleicht hat Mama dann Krebs wegen mir. Und wenn Mama Krebs hat, will ich lieber sterben.

Der Balken ist glatt und lang, aber sie hat den Willen einer Fünfjährigen und sie wünscht sich, lieber tot zu sein, als ohne ihre Mama. Das Wasser ist kalt, und schon nach wenigen Metern spürt sie sie ihre Füße kaum noch.

Und Schritt für Schritt verharrt die Zeit.

Herzschmerz

Mühsam, unter Aufbietung seiner letzten Kräfte, schleppt er sich durch den dunklen Gang. Seine Sinne spielen verrückt, sein Körper will ihm nicht mehr gehorchen. Nur noch wenige Meter… endlich ist er angekommen. Mit einem unkontrollierten Stoß reißt er die Tür auf. Langsam tastet er sich Richtung Waschbecken. Wasser, er will doch nur etwas Wasser.

Plötzlich verliert er den halt, die Welt dreht sich. Er fällt, halt vollkommen die Orientierung verloren. Krachen kommt er auf dem gefliesten Boden auf. Er erkennt, dass er es nicht mehr schaffen wird. Seine Arme und Beine versagen ihm den Dienst. Einzig die kühlen Kacheln spenden ihm in der Dunkelheit etwas Trost, dämpfen die aus seinem Körper aufsteigende Hitze.

Da passiert es. Er verkrampft sich, weiß was jetzt kommt, kann es aber nicht ändern sondern nur noch ertragen… und speit den gesamten Inhalt seines Magens über den Boden. Wieder übergibt es sich, Welle um Welle, bis nichts mehr da ist als der bittere Geschmack der Galle.

Wenn er doch nur tot wäre… wenn er doch einfach nur tot wäre …

„…und das, liebe Kinder“ beendet Thomas seinen bewusst über dramatisch gehaltenen Vortrag „ist die Geschichte wie euer Vater beinahe einmal rotzbesoffen an seinem eigenen Erbrochenen erstickt wäre.“

„Mann, Vater“ gibt Philipp schmunzelnd zurück, „warum hast du dich denn so abgeschossen?“

„Nun mein Sohn“ gibt Thomas in gespielt oberlehrerhaftem Ton zurück „Ein gebrochenes Teenager Herz und eine unbewachte Flasche Jack Daniels sind eine höllisch miese Kombination.

Nicole verzieht angewidert das Gesicht „Ugh, Papa, du hast freiwillig diese Brühe getrunken?“

„Ja Schatz, das habe ich“ gibt Thomas mit einem leichten Schmunzeln zurück, „und ich kann dir versichern, das war das erste und das letzte mal.“

Wie das Leben spielt

Das A-Linien-Kleid war ein Geschenk ihres Vaters, obwohl er Jason überhaupt nicht ausstehen konnte. Einen Glücksritter nannte er seinen künftigen Schwiegersohn und bestand vehement auf einen Ehevertrag. Janet war zu überglücklich, um mit ihm zu diskutieren oder ihm zu widersprechen. Jason lachte über den Vertrag und schleuderte den unterschriebenen Wisch mit einem spöttischen Grinsen Janets Vater zu, ohne nachzudenken.
Die Braut warf ihrem Spiegelbild ein verschmitztes Lächeln zu. In ihrem Haar steckten fünfzig kleine weiße Blumen und weitere hundert Klammern bändigten ihre üppige blonde Mähne, damit sie am glücklichsten Tag ihres Lebens wie eine Fee aussah. Mit Jason war jeder Tag ein neues Abenteuer und sie freute sich auf seine wilden Ideen, auf eine Tour durch Australien und später auf aufregende Wochenenden nach einer vollen Woche, wenn er seinen Platz in der Bankfiliale annahm. Sie fühlte sich so schön, wie sie das Leben empfand, seitdem sie ihn kannte.
»Wann hat sich alles geändert?«, fragte sich Janet zum hundertsten Mal, als sie mit einem Seufzen die schweren Einkaufstüten vor der Tür abstellte, um ihren Schlüssel aus der Handtasche zu kramen. Sie hörte das laute Fußballspiel und das Grölen der Männer, kaum hatte sie die Tür geöffnet. Sie kickte die weiße Eingangstür mit ihrem Fuß zu und stellte die Papiertüten auf die Theke der Küche.
»Da bist du ja!«, rief ihr Jason zu. Seine Kumpane nickten ihr beiläufig zu, als wäre sie die Putze und nicht die Hausherrin selbst. »Hast du Bier mitgebracht?«, fragte er.
»Nein«, antwortete sie knapp und begann den Kühlschrank zu befüllen.
»Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen«, knurrte er sie an. Sie zog die Augenbrauen hoch. Er lebte in ihrer Wohnung, sie zahlte die Nebenkosten und versorgte ihn mit allem Nötigen. Sie kochte und wusch seinen Dreck hinter ihm auf, wenn er mal wieder zu tief ins Glas schaute, was immer häufiger vorkam, seitdem er entlassen wurde und den ganzen Tag zuhause war.
»Geh doch mal in den Markt um die Ecke und hole uns einen Sixpack«, gab er ihr den Befehl. Sie traute ihren Ohren nicht.
»Geh selber!«, fauchte sie ihn an, ohne nachzudenken.
»Das Spiel läuft«, erwiderte er ungläubig. »Du bist jetzt zuhause und hast doch nichts zu tun.«

Kleines Koboldkind;
Wo willst du hin?
In deiner Seifenblase.

Ich wink nochmal, schon bin ich weck;
Und schwebe über Felder, über Seen und das Meer.
Und das Reisen gefällt mir sehr!

Kleines Menschenkind!
Wo willst du hin?
Du schwebst ganz gemütlich durch Zeit und Raum;
Und schillerst in allen Farben.
Ob Rot, ob Grün, ob Gelb und Blau;
Wie unsere Welt im Weltenraum.

Sie Seifenblase ist geplatzt!
Der Tag ist da.
Der Traum ist Weck!

Ich liege wieder in dem Bett.

Lehren durch Erdbeben und Tsunami

Diego Gonzales ist Jahrgang 1950 und hat viele Jahre in Chile gelebt. 1960 hat er das stärkste Erdbeben, was bisher aufgezeichnet worden ist, direkt miterlebt. Diese Erfahrung hat sein gesamtes Leben beeinflusst.

Diego Gonzales ist heute 72 Jahre alt. Ich arbeite als Journalist der Regionalzeitung einer chilenischen Kleinstadt. Ich vereinbare ein Treffen mit Gonzales und möchte ihn zum Ereignis befragen.

Ich: „Wie hast du das Erdbeben von 1960 erlebt?“

Diego Gonzales: „Das Erdbeben ging über Tage. Ich habe mit meiner Familie drei Tage auf der Terrasse geschlafen. Es gab Nachbeben, deswegen konnten wir noch nicht wieder ins Haus.“

„Du warst beim Erdbeben 10 Jahre. Wie hat sich das auf deine Schulzeit und deine Jugend ausgewirkt?“

„In den ersten Tagen nach dem Erdbeben konnten wir nicht in die Schule. In vielen Gebieten waren Mäuse und Ungeziefer, die nach dem Beben überall waren. Es war fürchterlich. “

„Hat dich diese Erfahrung verändert?“

„Natürlich. Ich nehme das Leben viel gelassener. Die Natur ist so stark, so präsent. Manchmal kann man glauben, dass wir Menschen alles planen und kontrollieren können, und dann kommt ein Erdbeben, in welcher Form auch immer. Man verliert den Job, man verliert sein Haus oder seine Familie. Ich bin dankbar für alles, was ich habe. Durch das Erdbeben schätze ich das Leben viel mehr, denn für mich habe ich gemerkt, dass das Leben sehr zerbrechlich sein kann.“

„Hast du noch weitere Erdbeben erlebt?“

„Ja, im Jahre 2010 haben wir in Chile ebenfalls ein starkes Erdbeben gehabt. Wir sind in Chile daran gewöhnt, dass es mehr Erdbeben gibt als in anderen Ländern. Oft sind es allerdings kleinere und viel schwächere Erdbeben. Aus diesem Grund werden die meisten Gebäude Erdbebensicher gebaut. Eine vollständige Sicherheit gibt es allerdings nicht. Es kommt ebenfalls öfter vor, dass die Regierung und verschiedene Organisationen sogenannte Katastrophenübungen durchführen. Wenn so ein Alarm kommt, muss man alles stehen und liegen lassen und zu einem sicheren Ort gehen. Das letzte Mal hat mich diese Übung direkt im Autoverkehr getroffen, so musste ich das Auto stehen lassen und zum nächsten gekennzeichneten Ort gehen, der etwas höher lag. Diese Übung wurde durchgeführt im Falle eines Tsunamis, die vorkommen können.“

Ende. Danke für das Interview, Diego Gonzales.

Fluch(t)

Nachdem Jonathan eine ganze Weile durch die Höhle mit ihrem Steinzauberwald aus Stalagmiten und Stalaktiten gewandert war, kam er tatsächlich an eine riesige Schlucht, über die einzig eine Seilbrücke mit Holzbrettern führte. Vor Schreck blieb ihm die Stimme weg und die rettenden Worte, die er der Hüterin dieser Höhle zurufen sollte, fielen ihm nicht mehr ein. Er hörte ein leises, dann ein immer lauter werdendes Kratzen, als würde etwas mühevoll die Steilwand hinaufklettern. Am Rande der Schlucht lagen mehrere alte Kleidungsstücke, Schalen und verschiedenste Waffen wahllos verteilt, als wäre diese Höhle einst fluchtartig verlassen worden.

Vor seinem inneren Auge sah der Junge eine Familie vor sich, der Jüngste gerade noch ein Säugling, die Älteste mit ergrautem Haar und Stock. Sie waren vor den Milizen des Königs hierher geflohen, hatten Zuflucht gesucht und in der sich hier auftuenden Felsspalte die Möglichkeit gefunden, wenigstens ein Feuer zu entfachen und etwas Wärme zu finden. Die Familie kam eng zusammen. Sie versuchten einander vor der durch jede Ritze kriechenden Kälte zu schätzen, einander zu wärmen. „Hast Du den Brief, Tillie?“, flüsterte der Mann seiner Frau ins Ohr. „Schau noch einmal nach, Schatz. Er allein bürgt für unsere Sicherheit! Du musst ihn, wie ein Einod bewahren!“

Doch was Jonathan eben gehört hatte, war nicht ein einzelnes Kratzen. Es klang als würden sich mehrere Kletterer gleichzeitig mit Pickeln und Haken die Felswand hinaufarbeiten „oder acht Beine“, durchschoss ihn ein Gedanke. Als er erstarrt vor der Schlucht stand, und kein Ton über seine Lippen brachte, tauchte plötzlich ein langes, haariges Bein aus der Tiefe auf und setzte am Rand der Schlucht auf. Jonathan wurde schlagartig bewusst, dass es kein Höhlenbewohner oder Schutzsuchenden waren, die ihre Habseligkeiten hier auf der Flucht vor menschlichen Verfolgern hatten liegen lassen müssen, es waren ihre Überreste…

Er hatte es erst später intellektuell begriffen, aber in diesem Moment deutlich gespürt: Die Bilder, die er von Frauen hatte, die Rollen, die er ihnen zuteilte, bündelten und vereinten sich in ihr – wie Lichtstrahlen, die durch ein Brennglas fallen – in einem idealtypischen Punkt. Er zog sie zu sich, bewunderte ihre kleinen runden Brüste, ihre schlanken, langen Beine, die Hüften - für ihn der Inbegriff der Weiblichkeit. Sie lächelte und in diesem Lächeln lag mehr als sinnliches Begehren. Sie war seine Heilige, seine beste Freundin, jetzt sah er in ihr sogar die zukünftige Mutter seiner Kinder. Und die Hure, die er mit jeder Faser seines Körpers begehrte. Auf einmal verstand er, warum in der Antike ganze Völker wegen einer einzigen Frau in den Krieg gezogen waren. In diesem Moment hätte er Königreiche für sie geopfert.

Der Augenblick

Die plötzlich eintretende Stille ist der Moment der Vollkommenheit. Kein Vogelgesang, kein rauschendes Blattwerk im Wind, kein lebendig quirlendes Wasser, kein Schwirren und Summen in der Luft.
In diesem erhabenen Moment majestätischer Ruhe schleicht sich still die Melodie des Largo’ Aus der Neuen Welt in mein Bewusstsein und der sanfte Blick deiner Augen nimmt mich gefangen.

Kein Wort, …
keine Geste, …
kein Gedanke, …
nichts.

Nur grenzenloses Verstehen und die intime Nähe dieses ewig währenden Augenblicks.

Auszug aus meinem Roman „Prinzessinnen entführt man nicht“

Der wuchtige Schädel des Drachen ruckte herum, als hätte ihn die Faust eines Riesen getroffen. Sein Feuerstoß verfehlte mich und hinterließ nur einen Streifen verbrannter Luft. Die geschlitzten Pupillen starrten zurück zum Schatzhügel.
Davor kniete Amanda. Sie hatte sich halb aufgerichtet und ein Schwert aus dem Hort gerissen, eine juwelenbesetzte Waffe mit Silberbeschlägen. Ein Schwert! Und trotzdem …
Ich hatte die Prinzessin fechten sehen, wusste um ihre Meisterschaft mit der Klinge. Aber gegen dieses Urzeitwesen würde ihr auch das nichts nützen. Und sie verspielte damit die wenigen Augenblicke, die ich ihr erkauft hatte. Da war man einmal bereit, sich für eine Frau zu opfern, und dann so etwas!
Schlagartig verlor der Drache jedes Interesse an mir. Krallen scharrten über den Fels, als er mit der Geschmeidigkeit einer Raubkatze um die eigene Achse wirbelte. Amanda stutzte, sprang auf die Füße, das Ungeheuer spannte die Muskeln – und ich hechtete hinterher und hielt mich an seinem Schwanz fest.
Natürlich war das lächerlich. Nicht einmal ein Pferd oder einen Stier vermag man mit bloßen Händen aufzuhalten, geschweige denn ein Wesen dieser Größe. Aber was hätte ich sonst tun sollen? Zusehen, wie der Drache meine Amanda zerriss?
Ich weiß nicht, ob er mich überhaupt zur Kenntnis nahm oder mich nur unbewusst abschüttelte: Als hätte ich kein Gewicht, schwang der riesige Schweif mit mir nach links, holte aus. Ich klammerte mich an die Hornschuppen, und im gleichen Augenblick warf Amanda das Schwert – aber nicht auf den Drachen, sondern über den Hort in Richtung der Kopfgeldjäger, die an der Rückwand der Höhle standen. »Morthak!«
Dann peitschte der Schwanz nach rechts. Ein Ruck, und ich verlor den Halt, schoss durch den Raum wie der Stein einer Schleuder. Ich überschlug mich mehrfach, während die Höhlenwand auf mich zuraste. Und ich wusste, dass ich den Aufprall auf den Felsen nicht überleben würde.
Die Zeit verlangsamte sich. Den Tod vor Augen, sah ich alles mit übernatürlicher Klarheit, als wollte das Schicksal die letzten Augenblicke meines Daseins zu einer Unendlichkeit dehnen: Amandas Zopf, von der Drehung hochgewirbelt, schien in der Luft zu hängen, das Schwert schwebte durch den Raum wie ein Herbstblatt, und die Klauen, auf denen der Drache losjagte, wirkten, als müssten sie sich durch zähen Sirup kämpfen. Der Angstschrei eines Kopfgeldjägers zog sich endlos. Beim nächsten Überschlag sah ich die Stelle, an der ich auf die Höhlenwand prallen würde: eine dunkle Nische, flankiert von zwei Truhen. Eine der beiden stand offen, Münzen funkelten im Licht der Sarillsteine. Welch Ironie, dass ein Schatzjäger inmitten prallgefüllter Goldkisten sein Ende finden würde! Der Schatten dazwischen war undurchdringlich und tiefschwarz. Wenigstens würde Amanda damit der Anblick meines zerschmetterten Körpers erspart bleiben.
Die Zeit schnappte zurück, und alles lief wieder in natürlicher Geschwindigkeit: Amandas Zopf flatterte, das Schwert flog auf die Kopfgeldjäger zu – und ich schoss mit halsbrecherischer Wucht in die Nische.

Wärme umfing mich.
Statt an der Höhlenwand zu zerschellen, landete ich weich. Sanfte Dunkelheit hüllte mich ein, umschloss mich liebevoll und schenkte mir das Gefühl tiefer Geborgenheit, umfassender und vollständiger, als ich es je empfunden hatte. War ich tot? Spürte ich die zärtliche Umarmung der Todesgöttin? »Thanata?«, flüsterte ich fragend ihren Namen. Man sagt, dass sie gefallene Helden persönlich vom Schlachtfeld holt. Und nach meinem wahnwitzigen Angriff auf den Drachen zählte wohl auch ich zu den Helden, zumindest ein wenig. Ich hielt die Augen geschlossen, lächelte. »Thanata, ich –«
Ohne Vorwarnung explodierte der Schmerz in meinen Rippen und riss mich in die Gegenwart zurück. Noch immer war ich in der unterirdischen Schatzhöhle, lag in einer der Nischen, gebettet in etwas Weichem. Mein Flug samt Landung hatte keine drei Herzschläge gedauert: Ich öffnete die Augen exakt in dem Moment, als das Schwert, das Amanda geworfen hatte, scheppernd auf dem Höhlenboden landete und Morthak vor die Füße rutschte.

Der Aufprall

Für Anna begann es an einem ruhigen Abend zuhause mit Tims überraschendem Anruf. Während sie auf ihre Eltern wartete, die noch im Theater waren, hatte sie es sich mit Cola und Chips vor dem TV bequem gemacht. Gleichzeitig hatte Tim, dessen alleinerziehender Vater Nachtschicht hatte, Langeweile und schrieb Zahlenkolonnen auf einen Zettel. Dabei fiel ihm eine Zahlenkolonne ins Auge und er nahm intuitiv das Telefon zur Hand.
Anna wollte erst den Anrufer beschimpfen und auflegen, aber irgendetwas in Tims Stimme reizte sie. Dass daraus über Monate hinweg eine Freundschaft entwickelte, hätten die beiden nie gedacht.
Beiderseits waren die Eltern der Teenies nicht gerade begeistert von dieser Liason auf Entfernung, aber da es sich ja um einen reinen Telefonkontakt handelte (Die 2 hatten sich geeinigt, dass sie nie über Internettelefonie kommunizieren wollten), waren sie auch lange Zeit nicht beunruhigt bis an dem Tag, wo sich die beiden jeweils ein Foto zusandten.
Dies führte zu einer großen Diskussion über das 1. Treffen. Anna und Tim hatten sich schnell geeinigt, dass sie sich beide auf der geografischen Mitte der Städte treffen wollten, hatten auch schon einen Termin ausgemacht. Das Problem wurde vor allem Annas Vater, für den sein „kleines Goldstück“ immer noch die kleine achtjährige Anastasia war, der selbst im Kinderzimmer kein Junge zu nah kommen durfte und für die er große Pläne nach Abitur, Jurastudium und Übernahme seiner Kanzlei hatte. Dass sie noch nicht einmal die 10. Klasse beendet hatte, war dabei egal. Ihr Vater legte sein Veto unter zur Hilfe einer Paragraphen ein und damit war das Thema für ihn erledigt. Er hatte allerdings nicht mit seiner Frau gerechnet, die sich seinen Anordnungen heimlich widersetzte. Diese hatte über einen langen Zeitraum Anna beobachtet und bemerkt, dass ihre Tochter sich dank der Verbindung zu Tim aus ihrem Schneckenhaus bewegt hatte und deutlich selbstbewusster und aktiver geworden war. Aus dieser Beobachtung heraus, entschied sie heimlich Anna eine Zugfahrkarte für die Hinfahrt zu kaufen, für die Rückfahrt sollte Anna selbst entscheiden, wann sie wieder zuhause sein wolle.
Tims Vater, der seit der Scheidung von seiner Frau ohnehin ein Schatten seiner selbst war, zeigte sich auch bei diesem Thema gleichgültig und erlaubte Tim „seine“ Anna zu treffen.
So kam es also, dass Anna eines Morgens kurz nachdem ihr Vater zur Arbeit gefahren war, sich in den Zug setzte und im Zug sitzend Tim anrief, der bereits eine Stunde früher abgefahren war, damit er kurz vor ihr da sein konnte.
„Na großer? Ich bin echt aufgeregt, aber ich hoffe das legt sich gleich. Wo sollen wir uns treffen?“
„Kleine, ich tu dir doch nix, zumindest nicht, solang du es nicht willst er lachte Ich hab mir das gestern Abend nochmal angesehen. Du gehst aus dem Bahnhof raus, links entlang etwa 20-25 m und dann ist da rechts ein riesiger Überweg an einer Ampel. Wenn du rübergehst, siehst du mich schon an einem Koreaner stehen. Ich weiß ja, dass du auf asiatisches Essen stehst“
„Falls ich überhaupt was essen kann, ich hab Angst, dass mein Vater, sobald er merkt, dass ich weg bin, meine Mutter wieder schlägt und die Bundespolizei auf die Suche nach mir schickt“
„Das seh … da … Verb … cht“
Dann hörte Anna 3 Std. nichts mehr von Tim ausser einem kurzen „ich warte auf dich“.
Als sie ankam, musste sie sich erstmal in dem für sie sehr großen Bahnhof orientieren, fragte an einem Blumenladen nach besagtem Koreaner und die freundliche Verkäuferin zeigte ihr am Eingang stehend den Weg.
Inzwischen hatte es zu regnen begonnen, aber Anna hatte glücklicherweise an eine Regenjacke gedacht. Als sie auf die Ampel zulief, erkannte sie von weitem Tim, der an einem Überdach vor dem Restaurant stand und rannte noch gerade bei grün los.
Sie nahm einen Knall war, spürte einen Schmerz an ihrer rechen Hüfte und sah Tim, der fassungslos guckte. Dann wurde es dunkel.

Als sie gefühlte 2 Sekunden später aufwachte, sah sie eine weiße Zimmerdecke. Sie wollte den Kopf zur Seite drehen, aber es ging nicht. Im nächsten Moment registrierte sie, dass sie ihren Körper nicht spürte. Sie hörte 2 Stimmen, eine weibliche unbekannte und eine vertraute, warme Männerstimme. Die Frau sagte etwas wegen mehreren Brüchen und nicht wissen, wann mit einer klaren Diagnose zu rechnen sei, da sich der Fall als kompliziert erweise. Der junge Mann erwiderte, dass er das Mädchen auch erst seit kurzem kenne, ihre Eltern weit weg wohnen würde und wenn es gestattet würde, er bei ihr bleiben würde, bis Angehörige kämen.
TIM!
Sie wollte lächeln, aber nur ihr Gehirn schien das mitzubekommen, auch wenn ihr Schädel fürchterlich dröhnte. Auch sprechen konnte sie nicht, da sie einen Schlauch im Mund hatte und ihre Gliedmaßen schienen abwesend zu sein. Aber sie bekam alles um sicher herum mit und das schien ihr im Augenblick das wichtigste zu sein.
Sie hörte einen Stuhl und sah dann im Augenwinkel, dass sich Tim zu ihr gesetzt hatte. Demnach war sie wohl im Krankenhaus, aber warum wusste sie nicht. Das letzte woran sie sich erinnerte war, dass sie morgens statt in die Schule zu gehen, es war eh letzter Tag vor den Herbstferien, zum Bahnhof gegangen war und es mit Tim zu tun hatte.
„Schmetterling, du hattest einen Unfall. Ich habe es gesehen und konnte die Sanitäter überzeugen, dass sie mich mit dir ins Krankenhaus nehmen. Wir kennen hier beide niemanden. Ich habe der Ärztin die Situation zwischen uns geschildert und sie drückt erstmal beide Augen zu. Deine Eltern mussten sofort informiert werden, sie werden in einigen Stunden hier sein. Ich weiß, du hast Angst wegen deinem Vater, aber das schaffen wir gemeinsam, ich bleib bei dir! Meinen Vater hab ich auf den AB gesprochen, ich vermute, er kommt auch. Kein schöner Anlass sich kennenzulernen, aber dieser dämliche …“ Mit einem lächelndem Gefühl schlief Anna nach diesen überraschend ruhigen Worten ein.
Doch es dauerte nicht lange, dann wurde sie durch ruckelnde Bewegungen geweckt. Offenbar wurde eine Untersuchung notwendig. Sie wurde in ein Gerät geschoben, dass fürchterlich laut war und eher wie ein Bratschlauch aussah. Es war eng und kalt (immerhin schienen die Hautnerven zu reagieren) und hätte sie nicht über einen Kopfhörer die Stimmen eines Mannes, vermutlich ein Arzt, und Tims Stimme gehört, wäre sie wahnsinnig geworden! Wenige Minuten später, man hatte sie inzwischen behutsam etwas seitlicher gelegt, sah sie bunte Aufnahmen ihres Kopfes. Der Arzt zeigte Tim auf bestimmte Stellen, aber sie verstand kaum ein Wort, das Arztlatein überforderte sie. Das einzige, was sie mitbekam war ein Kommentar des Arztes „Sehen Sie hier, dieser rote Fleck, das war als sie mit ihr sprachen. In diesem Hirnareal, das nicht betroffen zu sein scheint, werden Gefühle verarbeitet und je roter umso stärker sind diese. Ich glaube die junge Dame wollte ihnen damit etwas sagen.“
Annas Wangen erröteten. Dass sie Tim sehr mochte, hatte sie ihm gesagt, es war ohnehin auffällig. Wie sehr hatte sie ihm verheimlicht und nun sollte er es so erfahren, weil sie, verdammt nochmal, nicht sprechen konnte? Das war unfair!!!
Es vergingen Stunden, immer wieder sprach Tim zu ihr, erklärte ihr, wie es ihm geht, was er in dem Moment als „es“ passiert ist, dachte und fühlte. Zwischendurch kam auch immer wieder Krankenhauspersonal, das kaum redete, sehr distanziert und kalt war und in ihr Unbehagen auslöste, so als ob ihr Vater bei ihr wäre. Aber das schlimmste für sie war, dass sie sich wie ein tiefgefrorenes Stück Fleisch fühlte, dass einfach nur da war …
Irgendwann stürzte die Ärztin fluchend rein und schreckte Anna und Tim auf. „Warum zur Hölle wurde hier kein Dauerkatheter gelegt, muss ich denn alles selbst machen? … Entschuldigung! Könnten sie einen Augenblick rausgehen, ich nehme an, dass es ihrer Freundin unangenehm wäre, wenn sie das mitkriegen würden!“
Anna spürte, wie in ihr Scham erwuchs. Sie war nicht unbedingt prüde, aber Tim ihre Genitalien sehen lassen, das ging definitiv zu weit! Daher war sie überglücklich über das „Ja, natürlich!“ aus Tims Mund.
Es war schon später Abend als die Zimmertüre schon wieder aufging. Tims Vater war angekommen und begrüßte seinen Sohn. Dieser stellte ihn Anna vor. „Es freut mich deine Bekanntschaft zu machen, leider unter diesen betrüblichen Umständen. Tim hat mir immer wieder von dir erzählt. Ich glaube, es ist kein Geheimnis wenn ich dir sage, dass er sich in …“ „PAPA“ „Naja, ich denke du weißt es“ nnas Herz schlug wie wild und erst jetzt bemerkte sie, dass ihre Herztöne im Raum zu hören waren … Sollte sie Tim die ganze Zeit intimste Gedanken auf andere Weise mitgeteilt haben? Könnte sie sprechen, wäre nun ein „FUCK!“ gekommen.
Dies wäre auch wenige Minuten später erneut passiert, als ihr Vater wutschnaubend in das Zimmer stürmte und ohne Anna zu beachten sofort Tim an die Gurgel gehen wollte! Nur der laute Aufschrei ihrer Mutter, die im Gegensatz zu morgens ein blaues Auge und eine Hand im Verband hatte, verhinderte schlimmeres. Er hatte demnach erneut ihre Mutter geschlagen, weil sie ihm nicht „wie es sich in einer Ehe gehört“ ihm „untertan“ gemacht hatte.
Bevor die Situation eskalierte, kam glücklicherweise die Ärztin wieder hinzu und bat den Besuch ins Gesprächszimmer. Für wie lange konnte Anna nicht sagen, es hätten Sekunden sein können, auch Stunden. Als sie zurückkamen, waren noch alle 4 da, Tim und sein Vater waren also nicht direkt weggefahren. Annas Mutter fragte: „Wie lang kann dieses Locked-in Syndrom denn anhalten?“ Die Ärztin erwiderte „Zuerst einmal ist dies nur ein Verdacht, wir müssen die nächsten Stunden abwarten, wie sich die Situation entwickelt. Fall es sich bestätigen sollte, kann es Forschungsergebnissen zufolge Tage bis lebenslang anhalten. Mit Therapien verschiedenster Art kann es allerdings abgemildert werden. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass der Freund ihrer Tochter hier heute einen tollen Eindruck gemacht hat und die ganze Station hier schon die beiden in Romeo in Julia umbenannt hat.“ Danach ging die Ärztin und es dauerte keine 10 Sekunden bis Annas Vater wieder wie ein tasmanischer Teufel wütete und regelrecht Klageschriften allen anwesenden an den Kopf knallte. Es endete damit, dass er Tim gegen Annas Bett schubste, dabei ein Glas runterknallte, was Anna sofort wieder an den dumpfen Aufprall erinnerte. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

Anna guckte geradeaus und sah die Straße eine Blutlache und dann viele Schuhe um sich rum. Sie hörte dumpfe Worte und ein Mann im weißen Hemd beugte sich zu ihr runter. Sie sah auch das hinter ihm ein junger Mann stand, der Tim zu sein schien. Aus dieser Maulwurfperspektive hatte sie ihn noch nie gesehen. Sie wurde vorsichtig behandelt und wurde dann auf einer Trage in einen Krankenwagen gebracht. Tim war die ganze Zeit bei ihr und allem Schmerz zum Trotz fühlte sie unbeschreibliche Wärme und Liebe. Während der Fahrt bemerkte sie dass sie an eine Maschine angeschlossen worden war, die ihre Herztöne laut hörbar machten. Tim sah völlig fertig aus und weinte … Er schob langsam seine Fingerspitzen an ihre heran.
Das letzte, was sie hörte, war ein langer Ton, dann war da nichts mehr.

Die Nachricht verbreitete sich, als spielte sie schreiend Stille Post. Als sie mich erreichte - oder vielmehr in hohem Galopp überrannte - sank ich geistig zu Boden. Ich schlug meine Hände vors Gesicht und versuchte einen klaren Verstand zu wahren. Ich spürte, wie mein Herzschlag mir den Angstschweiß den Rücken hinunter trieb. Mein Kopf dröhnte. Es war als wollte er mich mit aller Macht zerschmettern. Als wollte er mich endgültig zugrunde richten. Ich wusste, würde ich nur einen Augenblick nachgeben und mein Denken von Panik beherrschen lassen, würde mein Verstand mich vollends verlassen. Er würde meinen Körper dort drüben an den Rand der Brücke treiben und in den Abgrund stürzen. Dann wäre es vorbei. Ich sehnte mich danach, dass es endlich vorbei wäre. Ich wollte nicht mehr. Ich konnte nicht mehr.
Doch um all derer Willen, die jetzt von dort unten hoffnungsvoll zu mir hinaufblickten, musste ich stark bleiben. Musste ich Kraft und Würde an den Tag legen.
Ich straffte meine Schultern, hob den Kopf und räusperte mich. Dann rief ich mit einer Sicherheit, die ich nicht besaß: „Egal wie nahe unsere Gegner ihrem Ziel sind, wir geben nicht auf. Egal, wie weit sie uns voraus sind, wir ziehen das durch! Auf die Schnitzeljagd des Jahres!!!“