Fragmente und ein neues Leben
Fragmente – 23.05.2073 – London Megacity
Einatmen.
Ich liege auf dem nassen, harten Dach eines alten Mehrfamiliengebäudes. Es war schwer hier her zu gelangen ohne gesehen zu werden. Ich habe mein Gewehr, ein speziell für diese Nacht modifizierte Version eines Jagdgewehrs, zusammengebaut und mich dann hier auf die Lauer gelegt. Gegenüber, auf der anderen Seite der Themse sehe ich das altehrwürdige Gebäude des Palace of Westminster. Es sticht zwischen den neuen Hochhäusern und Megablocks heraus wie eine einzelne Oase in einer Wüste aus Beton, Stahl und Glas.
Ausatmen.
Ich sehe durch mein Zielfernrohr. Nehme Maß. Ich korrigiere die Lage des Laufs auf der mit Sand gefüllten Socke die als Unterlage und Dämpfer gegen Erschütterungen dient. Ein zweiter Blick durch das Zielfernrohr.
Das Fadenkreuz liegt jetzt über einem Fenster im dritten Stock des historischen Gebäudes.
Einatmen.
Ich presse den Gewehrkolben fest an meine Schulter. Dann korrigiere ich noch einmal die Lage des Gewehrs.
Ein weiterer Blick durch das Zielfernrohr.
Eine junge Frau mit roten Haaren und smaragdgrünen Augen tritt an das Fenster. Den spitzen Ohren nach die durch ihr Haar stechen ist sie eine Elfe. Ich könnte schwören das sie mich gerade angesehen hat.
Egal. Zielperson bestätigt.
Das Fadenkreuz liegt jetzt genau hinter dem Ohr der Elfe.
Ausatmen.
Langsam, beinahe zärtlich bewege ich meinen Zeigefinger. Finde den Druckpunkt des Abzugs. Einen Millimeter weiter.
In meinem Gewehr trifft der Schlagbolzen auf die Zündkappe der Patrone. Die Explosion des Pulvers treibt das Geschoss durch den Lauf. Die speziell angefertigte Kugel mit der eingebetteten Wolfram-Nadel geht auf ihre Reise.
Kurz nach verlassen des Laufs trennt sich die Wolfram-Nadel vom Rest des Geschosses. Sekundenbruchteile später trifft die Nadel auf das Panzerglas des Fensters.
Risse bilden sich rund um den Einschlagpunkt und vermindern die Energie des Geschosses. Doch selbst die eigentlich kugelsichere Scheibe kann dem Geschoss nicht standhalten das nur für diesen Zweck konstruiert wurde. Ein Loch von nicht einmal 8 Millimetern das später Zeuge sein wird für den nächsten Schritt des Geschosses.
Die Nadel schlägt direkt durch den Schädel der jungen Frau, prallt an der gegenüberliegenden Schädelplatte ab da sie mittlerweile schon zu viel Energie eingebüßt hat um sie zu durchdringen und explodiert als die Mikroladung darin gezündet wird.
Einatmen.
Zielperson eliminiert.
Ich baue das Gewehr auseinander und packe die Teile zurück in den Rucksack, dann mache ich mich auf den Weg zur Tür des Treppenhauses.
Plötzlich trifft mich ein schwerer Ruck von hinten und reißt mich um.
Die Umgebung verschwimmt hinter einem roten Schleier.
Ausatmen.
Ich treibe in endloser Schwärze. Im Nichts. Alles ist friedlich. Ruhig. Still.
Dann kommt der Schmerz.
Es fühlt sich an wie die Wellen, die entstehen wenn man einen Stein ins Wasser wirft.
Welle um Welle brandet durch mein Bewusstsein.
In der Mitte der Wellen – ein Licht. Ein grelles, flackerndes Neonlicht.
Dazu dröhnt ein Summen und Brummen, gelegentlich stotternd meinen Ohren.
Ich fühle mich durch das Nichts und die Schmerzen auf das Licht zugezogen wie von einem Strudel.
Das Licht, das Geräusch und der Schmerz vereinen sich zu einer unerträglichen Kakophonie.
Einatmen.
Dann öffne ich meine Augen.
Als das Blenden durch das Licht nachlässt, erkenne ich, das ich, zusammengerollt wie ein Neugeborenes, hinter einem Müllcontainer liege. Das Licht und das Summen und Brummen stammt von einer defekten Neonreklame über mir an der Wand.
In einer Ecke meines Sichtfeldes sehe ich gerade noch wie Textzeilen und Grafiken in rasender Geschwindigkeit durch ein Fenster laufen.
Eine Bootsequenz.
Ich habe keine Ahnung was das bedeutet, das Wort taucht einfach an der Oberfläche meiner Gedanken auf wie ein Korken der durch die Wasseroberfläche bricht und dann darauf herumtreibt.
Mein Sichtfeld verschwimmt leicht, ehe es sich wieder klärt und in dessen Mitte Textzeilen aufleuchten:
Systemwiederherstellung abgeschlossen.
Systemintegrität bei 65%
Empfehle dringend Wartung der biologischen Systemkomponenten.
In einiger Entfernung höre ich Stimmen. Sie rufen etwas… „WRAITH!“ … das Wort erinnert mich an etwas… aber an was nur…
Plötzlich höre ich direkt neben mir die Stimme einer jungen Frau:
„Fuck! Hätt’ nich gedacht das das funktioniert!“
Ein neues Leben – 23.05.2077 – London Megacity
Ich feiere heute meinen fünften Geburtstag.
Wie jedes Jahr seit dieser Nacht komme ich mit Jayne, der jungen Ork-Frau die mich damals neben dem Müllcontainer gefunden hat und mir das Leben gerettet hat, zurück in diese Gasse und lege eine Rose auf das Grab von Damian Wraith, und dem Geburtsort von John Doe.
Ein besserer Name ist mir auch nach all den Jahren nicht eingefallen also werde ich ihn wohl benutzen bis ich zum zweiten mal sterbe.
Mittlerweile haben Jayne und ich herausgefunden das Damian Wraith ein von Nichtmenschen-Hassern künstlich erschaffener Mensch war.
Ein Killer.
Sein Ziel war damals die Tochter einer hochrangigen, adeligen Elfe aus dem Oberhaus die dafür kämpfte die Bedingungen für Zwerge, Trolle und Orks in London zu verbessern.
Wenn die Leute die Wraith erschaffen haben jemals erfahren sollten das ihr perfekter Killer seit fünf Jahren in eine Orkin verliebt und seit zwei Jahren mit ihr verlobt ist…
Nun, sagen wir es geschieht ihnen recht, finde ich jedenfalls.
Denn seit ich weiß wer Damian Wraith war, bin ich froh das er gestorben ist.