Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

! Achtung: Die Frau in der Geschichte in der Geschichte musste als Jugendliche erleben, was nicht jugendfrei ist.

»Komm, du willst es doch auch!« Mit diesen Worten verletzte er mich in meinem Innersten. Wie eine immer schneller werdende Diashow liefen Bilder vor meinem geistigen Auge ab, in Rhythmus seiner widerlichen Bewegungen. Ich sei etwas besonderes, hatte er gesagt, seine Lieblingsnichte. So warmherzig. Er wolle mir etwas schenken, ich habe es verdient, schließlich sei ich mit dem heutigen Tag volljährig. Voller Vorfreude bin ich ihm in sein Büro gefolgt. In dieses geheimnisvolle Zimmer, das wir Kinder niemals betreten durften. Erhaschten wir einen Blick durch die Tür, blieb dieser auf einer dunkelgrünen Glasschale mit Gummibärchen auf dem Schreibtisch hängen. Die Versuchung unserer Kindheit. Ich sah die Bücherregale, die Aktzeichnungen an der Wand, die besagte grüne Schale. Ich sah seine fleischige Hand, die erst den Schlüssel herumdrehte und sich dann auf meinen Mund presste. Er war schwer, stank nach Bier und nahm mir die Luft. Mein tränenverschleierter Blick klammerte sich an die Deckenlampe, ich versuchte mich wegzudenken von diesem Ort, von dem, was mit mir gerade geschah. Wie eine Ewigkeit fühlten sich die wenigen Minuten an, in denen ich meine Unschuld, meine Naivität und den Glauben an das Gute im Menschen verlor. Was danach kam, habe ich so gut wie möglich im Alkohol ertränkt.
Zwanzig Jahre später bin ich trocken, geliebte Ehefrau eines treusorgenden Mannes und am Ende einer Suche angekommen. Mit verschränkten Armen steht sie auf dem Parkplatz, wie zum Absprung bereit an ihren Corsa gelehnt, und ich hoffe, dass ihre Abwehrhaltung nur ein Schutzmechanismus ist. Sie ist zwei Jahre älter als ich damals war, trägt zerschlissene Jeans und eine teure Bluse darüber. Sie wirkt nicht so, als müssten man sie beschützen, aber ich sehe genau, dass sie viel zu hübsch ist für diese Welt.
»Wollen wir einen Kaffee trinken gehen?« Es könnte ein Anfang sein, und ich hoffe, dass sie nicht ablehnt. Mein Herz macht einen Hüpfer, als sie mit einem Klick auf ihren Schlüssel das Auto verriegelt und mir folgt. Meine Tochter.

Als ich so alt war wie meine älteste Tochter jetzt, habe ich mir zum ersten Mal Gedanken darüber gemacht, wie ich sterben könnte. Ich wollte von einem Kirchturm springen, mit einer Schlinge um den Hals. Die Kirche hatte ich mir schon ausgesucht, es war die in dem kleinen französischen Dorf, nicht weit vom Schullandheim entfernt. Ich wollte mich nachts davonschleichen und morgens sollten mich alle suchen. Sie würden schon hören, wo und wie das Unvorstellbare passiert wäre, das Schreckliche, der Albtraum aller Pädagogen. Die Marktleute hätten mich zuerst entdeckt, schlaff und blau und unschuldig und ohmeingott so jung und sie würden mit dem Finger zeigen und schreien, die Turmuhr würde schlagen, was natürlich ein bisschen theatralisch aber schon auch ein bisschen episch gewesen wäre, Raben sollten auffliegen und um uns kreisen, um die Kirche und um mich. Und ich würde auch fliegen, ich würde über ihnen allen emporsteigen und irre lachen und rufen, das habt ihr nun von eurem Gott, wo ist er denn jetzt, euer Gott, wie gefällt euch meine Meinung über euren Gott? Aber mehr Drama bräuchte ich nicht, im Gegenteil, die Sonne würde aufgehen und so hell strahlen, wie es sich für einen Sommertag in Südfrankreich gehört, und die Leute würden wegsehen, schaudernd zwar und kopfschüttelnd, aber mehr auch nicht. Und auch ich würde weitergehen, ich würde in die goldenen Strahlen der Sonne eintauchen und wäre fort, weit weit fort, endlich und für immer.
Schon bald käme die Feuerwehr und würde den nutzlosen Rest von mir raufziehen und verstecken und ein Zeitungsartikel würde erscheinen zwischen unbewegtem Weltgeschehen und ereignisloser Lokalpolitik. Keine Woche würde man über meinen Freitod sprechen, doch denjenigen, die mich gesehen hätten, würde mein Bild ewig im Gedächtnis bleiben. Und wieso eine Kirche, würden sie sich immer wieder fragen, wieso bloß die gottverdammte Kirche?

Ich habe es natürlich nicht getan. Wahrscheinlich wäre ich nicht mal unbemerkt aus dem Haus gekommen, geschweige denn, dass ich den Weg ins Dorf hinunter gefunden hätte. Ohnehin hatte ich keinen Strick.
Ich hab am nächsten Tag beim Bogenschießen mitgemacht, ein Bild mit Window Color gemalt und bei der Schnitzeljagd verloren, ich fuhr mit meiner Klasse heim und ein paar Jahre später mit der nächsten wieder los zum nächsten Schulausflug, wieder eine Kirche und noch eine und ein ganzer Haufen Münster, Dome und Kathedralen, und dann war es irgendwann vorbei mit den Reisen denn ich bekam meine Tochter und endlich bekam ich auch ein neues Leben und das wollte ich behalten.

Erst neulich habe ich doch wieder eine Kirche besucht. Mehr zufällig war das. Es regnete in Strömen und ich war mit dem Jüngsten auf dem Heimweg, er war quengelig und durstig also wagte ich mich mutigen Schrittes durch das riesige Tor, ignorierte das Weihwasserbecken und den Pastor und die Touristen und stillte mein kleinstes Kind in der hintersten Sitzreihe. Und ich dachte dabei, eigentlich macht es mir nichts mehr aus.

Samenkörner

1980, ein kleines Städtchen am Oberrhein. Abends sitze ich im Hinterzimmer eines Gasthofs und erlebe zum ersten Mal eine Dichterlesung. Ganz vorne, vor der ersten Stuhlreihe, sitzt mein Deutschlehrer, halblässig seitlich auf einem blanken Holztisch. Er schlägt ein schmales Bändchen auf, elfenbeinfarben in französischer Broschur, druckfrisch erschienen im Selbstverlag, und beginnt zu lesen:

Gedichte
sind
verlängerte
Sekunden…

2018 stehe ich am Rand einer Straße über die Samara, keine zweihundert Kilometer flussauf der Stelle, wo sie in die Wolga mündet.

Trommeln dröhnt die Ebene heran. Pferdeleiber glänzen in der Sonne, strecken sich im Dahinjagen. Fliegende Mähnen über dem wogenden Gras, Hufe, die kaum den Boden berühren – schon sind sie vorbei.

Fernreisebus
Der Fahrer telefoniert
mit dem Abschleppdienst.

Zurück bleiben, seltsam lautlos, in der Sonne blinkende Wolken aus Löwenzahnschirmchen.

Je suis né à …

Der Samstag im Mai war kühler als die Tage davor. Die zweiundzwanzigjährige Elfriede und ihr ein Jahr älterer Mann Anton hatten den Tag mit Freunden am Lido verbracht. Picknick und Kanufahren auf dem Fluss waren beliebte Freizeitvergnügen.

Mitten in der Nacht weckt Elfriede ihren Mann. „Anton, wache auf. Ich fühle mich irgendwie komisch.“ „Was ist los?“ Anton reibt sich den Schlaf aus den Augen und knipst die Nachttischlampe an. Das gelbliche Licht wirft seltsame Schatten an die Wand, als Elfriede sich aus dem Bett schält.

„Ich habe ein schlechtes Gefühl. Ich glaube, es stimmt was nicht.“

Elfriede steht vor dem Bett, schaut nach unten und stößt einen spitzen Schrei aus. „Da ist alles nass!“.

Anton springt aus dem Bett und hin zu Elfriede, starrt auf den Boden. „Um Gottes Willen, was ist das? Setz’ Dich, ich rufe Madame Roubais.“ Schon ist Anton im Flur und klopft aufgeregt an die Zimmertüre der Vermieterin. „Hallo Madame Roubais, kommen Sie schnell, es ist etwas passiert!“.

Madame Roubais ist Deutsche, hat zwischen den Kriegen ihren Gaston kennengelernt, ihn geheiratet und betreibt nun die kleine Pension, in der die deutschen Montagearbeiter gerne wohnen. Sie bemuttert die jungen Männer etwas zu viel und kümmert sich auch um deren Frauen, wenn sie zu Besuch kommen.

Kaum eine halbe Stunde später sind alle drei im Krankenhaus am Place de l’Hopital, nahe am Fluss. Das Krankenhaus gibt es schon seit Jahrhundeten und ist mittlerweile ein weitläufiger Komplex.

Elfriede liegt auf einer Pritsche in einem mit Vorhängen unterteilten Raum und wird von einem Arzt untersucht. „Elle a perdu presque tout son liquide amniotique“, meint der Arzt und schaut seine Assistentin sorgenvoll an. „L’enfant doit venir bientôt. Mais elle n’est qu’à la fin du septième mois.

Wieder eine gute halbe Stunde später liegt Elfriede im Krankensaal der Geburtsstation. An den langen Seiten des Saales stehen jeweils acht mit weißer Bettwäsche bezogene Metallbetten, daneben ein kleines Schränkchen aus Holz. Alles war wohl irgendwann einmal weiß gestrichen. Über die Jahre hatte sich die Farbe in ein fleckiges grau-gelb verwandelt. An der Decke löste sich an einigen Stellen die Farbe und an den Wänden war sie hinter den Betten schon stark abgeschabt.

Kein Wunder, der Krieg war erst wenige Jahre vorbei und die Franzosen hatten immer noch nicht rundum aufgeräumt.

Am frühen Montagmorgen ist das Kind dann da. Ein Junge. Etwas kleiner und schmächtiger, als die anderen Kinder auf der Station. Die Geburt verlief ohne weitere Komplikationen. Doch stellten die Ärzte eine leichte Gelbsucht fest. Elfriede konnte ihr Kind erst eine Stunde später sehen, bzw. das, was das fest gepuckte Bündel noch sehen ließ. Ein mit schwarzen Haaren verziertes, winziges Köpfchen.

Als Elfriedes zum ersten Mal ihr Kind stillte, näherte sich leicht schnaufend eine fette Schwester. Mit ihrer ausladenden Kopfbedeckung war sie wohl die Stationschefin. „Dü bis deusch?“, schnarrte sie Elfriede an. „Ja, warum?“ „Kind wird kapütt gehe, deusch Samen schlecht Samen!“, erklärte sie und schaute Elfriede mit blitzenden Augen an.

In den folgenden Tagen bekam Elfriede ihr Kind nur zum Stillen. Da sie viel mehr Milch hatte, als der kleine Wurm saugen konnte, pumpten die französichen Schwestern jeden Tag einige kleine Fläschchen davon ab und verteilten sie an die Französinnen. Kaum eine von denen stillte ihr Kind.

Elfriede und Anton bemerkten, dass der kleine Antoine, so nannten sie ihn, immer schwächer wurde. Da sich die Franzosen offensichtlich kaum Mühe gaben, seinen Zustand zu verbessern, entschlossen sie sich nach einer Woche, mit Antoine in die Heimt nach Deutschland zu reisen, damit er besser versorgt werden konnte.

Antons Arbeitgeber, eine deutsche Montagebaufirma, besser deren örtlicher Vertreter, war nicht begeistert, dass Anton abreisen wollte und verbot ihm das. Viele seiner Abeitskollegen solidarisierten sich mit Anton, weil das Verbot nur noch der letzte Tropfen in ein überlaufendes Fass war. Zu schlecht die Arbeitsbedingungen, zu schlecht die Bezahlung und dann noch die überall spürbare Deutschenfeindlichkeit, das reichte.

Tags darauf saßen Elfriede mit Antoine, Anton und neun seiner Kollegen mit ihren Frauen im Zug nach Deutschland. Die Entscheidung, zurück nach Deutschland zu reisen, so wussten alle kurz darauf, hatte mir das Leben gerettet.

Mein Vater starb wenige Monate nach unserer Rückkehr nach Deutschland als Bergmann in einer französichen Kohlengrube. Da er seine Arbeit auf Montage verloren hatte, heuerte er in der Grube an und ließ sein Leben wenige Tage später beim Einsturz eines alten Stollens. Ich konnte ihn nicht kennenlernen.

Mich überläuft ein heftiger Schauer, als ich heute zum ersten Mal vor dem ‚Hôtel Dieu‘ stehe, jenem französichen Krankenhaus, in dem ich vor siebzig Jahren geboren wurde. Ich habe natürlich keine Erinnerung an die damaligen Vorkommnisse. Doch die vielen Erzählungen meiner Mutter ließen die Dinge heute wie alte Filmfragmente in meinen Gedanken ablaufen. Diese Bilder sind so präsent wie nie zuvor. Sie hinterlassen Eindruck bei mir und werfen viele Fragen auf. Was wäre wenn …

Ich habe dank der besonderen Fürsorge meiner Eltern und vieler anderer Menschen meine ersten, schwierigen Wochen überlebt und auch in den weiteren Jahren manche lebensgefährlichen Vorkommnisse. Man hätte den Eindruck gewinnen können, dass das Leben mich von Anfang an und jede Dekade auf eine harte Probe stellen wollte.

So könnte ich nicht nur von meiner erschwerten Geburt, sondern von vielen Krankheiten und Unfällen berichten, bei denen mein Schutzengel alle Hände voll zu tun hatte.


Übersetzungen in Deutsche:

Elle a perdu presque tout son liquide amniotique.
Sie hat fast das gesamte Fruchtwasser verloren.

L’enfant doit venir bientôt. Mais elle n’est qu’à la fin du septième mois.
Das Kind muss bald kommen. Aber sie ist erst etwa Ende des siebten Monats.

„Es dauert nur 10 Minuten, keine Sorge“, sagte Dr. Cullingham. Aber John hasste diese Art von Untersuchung. Zehn Minuten in einer solchen Röhre sind 600 Sekunden voller Lärm und Schmerzen. Jede einzelne Sekunde ist so lang wie ein halber Tag Arbeit in einer Kohlenmine. Aber das MRT musste gemacht werden. Vor zwei Jahren hatten die Ärzte einen kleinen Pickel im Kopf gefunden, und jetzt musste noch einmal geschaut werden, ob das verdammte Ding noch da, oder ob es vielleicht sogar größer geworden war und entfernt werden sollte. Schrecklich, John mochte die ganze Sache nicht.

Er wurde vorbereitet und bekam eine Spritze mit einem Kontrastmittel. „Tragen Sie Ohrringe oder Piercings?“ John wurde nervös. „Jetzt nehmen wir die Zähne heraus, da ist Metall dran. Bleiben Sie also bitte ganz ruhig liegen und bewegen Sie sich nicht.“

"Ja mein Gott, ich weiß noch, wie dieser Horror abläuft. " Mit ruckartigen Bewegungen wurde John in die Röhre geschoben. Aber das Schlimmste sollte erst noch kommen. Diese magnetischen Ströme, die durch den Kopf rasseln, manchmal helle Geräusche, als wenn ein Schwein geschlachtet wird. Dann wieder Hammerschläge, wie ein Presslufthammer auf einer Straßenbaustelle. Ein befreundeter Psychiater hatte John einen Tipp gegeben: Wenn du in der Röhre liegst und die Geräusche dich quälen, wie die Inquisitoren im Mittelalter, dann stell dir etwas noch Schlimmeres vor. Stell dir vor, du wärst in einem brennenden Flugzeug oder in einem Schiff, das sinkt, dann sind die paar Minuten in der Röhre leichter zu ertragen.

Völlig allein! Verlassen! John war auf sich allein gestellt. In seinem Kopf rasten die Gedanken.

`Da ist es schon, das Schwein fängt an zu quäken, die Schreie überfluten mein Gehirn.
Ich bin in meinem Haus in der Sierra, der Wald brennt ringsum.
Jetzt der Presslufthammer.
Ich muss den Wasserschlauch aufdrehen, aber es kommt kein Wasser.
Pfeifen beginnt, ein schreckliches Geräusch.
Das Feuer kommt immer näher, alles ist voll von beißendem Rauch. Wo ist meine Frau, wo sind die Kinder?
Das Schwein quiekt wieder.
Wir müssen ins Auto steigen und von hier verschwinden. Das Feuer kommt immer näher.
Tack tack tack, was ist das? Ein neues Geräusch!
Das Dach steht in Flammen! Vielleicht können wir uns in den Pool retten?
Jetzt schleifen sie auf der Baustelle Metallplatten über den Schotter. Wann wird dieser Lärm endlich aufhören?
Wir springen ins Auto, fahren los, überall brennt es, wir kommen hier nicht mehr raus.
Die Schweine schreien wie auf der Schlachtbank.
Ich lenke das Auto. Da sind ausgebrannte Fahrzeuge am Straßenrand.
Ein Knall! Was war das? Der Magnetstrom hämmert weiter.
Es ist hoffnungslos, wir lassen das Auto stehen und laufen durch den Wald, in dem es noch nicht brennt. Der Wind kommt von vorne, unser Glück.

Sagte ich Glück? Ich kann die quietschenden Bremsen tatsächlich besser ertragen. Wie lange sitze ich jetzt in dieser Röhre fest? Die Zeit vergeht einfach nicht. 10 Minuten?! Von wegen! Dr. Cullingham, da kann ich ja nur lachen. Ich stecke seit einem halben Tag in dieser Röhre fest.

Wir haben den Waldrand erreicht und werden von der Feuerwehr betreut.

Die Geräusche verstummen langsam. Nur noch einmal der Presslufthammer.
Unser Haus wird durch die Flammen beschädigt und das Auto auch. Schließlich schieben sie mich zurück ins wirkliche Leben.‘

„Es war nicht schlimm, sehen Sie“, sagt Dr. Cullingham, während er mir das Bild zeigt. „Der kleine Tumor ist nicht gewachsen. Er ist immer noch so klein wie vor zwei Jahren. Unverändert. Ich werde Sie dann also in zwei Jahren zur nächsten Untersuchung wiedersehen.“

„Ich habe so ein Glück“, dachte John, „ich hatte noch nie ein Haus in der Sierra und auch sonst nirgendwo.“

Der Schlag

Die Stimmung kippte. Ich konnte es riechen. Adrenalin hat einen besonderen Geruch, beißender, als normaler Schweiß. Das Gebrüll der Menschen neben mir wurde lauter und aggressiver. Worte wurden geschrien, mit Hass in der Stimme. Hass der den Knüppeln und Schilden vor uns galt. Hass, der Menschen galt, die uns hindern wollten, die Teilnehmer der zweiten Klimakonferenz zu mehr Mut bei Entscheidungen zu drängen. Der Hass war der Frustration geschuldet, weil wir nicht einmal dort, wo Menschen diskutieren sollten, die Veränderungen herbei führen könnten, einen kleinen Einfluss haben konnten. Ich war mit einer Gruppe von der Uni angereist. Unter uns befanden sich nicht nur Studenten. Im Gegenteil die Initiative 1990 nach Genf zu fahren, kam von Seiten einiger Professoren.
Die weißen Helme, nur einige Reihen vor mir, schlossen sich der allgemeinen Stimmung an. Ihre Bewegungen wurden abgehakter, schneller. Arme flogen nach oben, aus deren Ende die schwarzen Knüppel erwuchsen, vor denen jeder Demonstrant Respekt hatte und hat. Noch wurden sie nur geschwungen, aber ich konnte schon den ein oder anderen nach unten sausen sehen, Luft oder Knochen als Ziel. Von hinten wurde der Druck stärker. Alle drängten nach vorne, in Richtung der Absperrungen, hinter denen die Konferenzteilnehmer in wenigen Minuten erwartet würden. Meine Brüste wurden gegen die Rücken vor mir gepresst. Ellbogen drücken sich in meine Rippen. Und dann gleiten die Körper vor mir an meiner Seite vorbei. Plötzlich drängte alles nach hinten, doch dort war kaum Raum zu finden, sodass der Druck nach vorne nun noch größer wurde. Vor mir sah ich die dunklen Knüppel näherkommen, die nun überall hinauf gerissen und heruntergeschnellt wurden. Vor mir tat sich eine Gasse auf.
Ich atmete tief durch, froh meinen Brustkorb endlich wieder weiten zu können. Matt sind die Knüppel, aus der Entfernung sahen sie glänzend aus aber nun, direkt vor mir, sah ich, dass sie matt sind. Während einer auf mich zuschoss, sah ich den Polizisten, der ihn führte in die Augen. Sie waren zusammengekniffen. Unter seinem Helm breiteten sich Falten auf der Stirn aus. Ich hatte den Eindruck die Augen würden sich schließen, als mich der Kunststoff berührte. Ja, es musste sein Kunststoff, für Holz war er zu uneben, nicht glatt genug. Er gab auch ein wenig nach, wie Holz es nicht tun würde. Seine Oberfläche schien ein wenig elastisch, aber rau. Mein Kopf wurde von dem Aufprall in die Wirbelsäule gedrückt. Ich spürte, wie die Wucht des Schlages von oberhalb meiner Stirn, durch die Schädeldecke, in die Halswirbelsäule und von dort durch den ganzen Körper lief. Erst da spürte ich, wie meine Haut aufplatzte. Um mich herum schrien die Menschen, mit Furcht in der Stimme, die vor wenigen Augenblicken, mit Hass, gebrüllt hatten. Gewalt ändert die Perspektive, dachte ich, während der Stock erneut heruntersauste. Gerade war er doch noch auf meiner Stirn gewesen. Schnell ist dieser Uniformierte, ich versuchte meine Arme nach oben zu bekommen, aber dafür fehlte mir Zeit und Koordination. Stattdessen gaben meine Beine nach. Knie knickten ein, während Arme nach oben strebten. Vielleicht sah es aus wie eine Thi Gong Übung. Da traf mich der Stock ein zweites Mal. Mein Kopf schon etwas nach vorne gefallen war, daher prallte der harte Kunststoff auf meinen Hinterkopf und ließ mich nach gänzlich vorne fallen. Bevor mein Bewusstsein mich verließ, spürte ich noch, wie sich meine Oberlippe kraftlos auf raues Schuhleder legte.
Mit meiner rechten Hand betaste ich die Narbe über meinem linken Auge. Sie hat mich die letzten Zwei- und Dreißig Jahre gemahnt und angetrieben. Ich stehe am Rande des Demonstrationszuges. Immer noch rufen die Chöre den Entscheidern mahnende und auffordernde Worte entgegen. Immer noch verhallen sie bevor sie ihre Adressaten erreichen und wenn sie doch einmal weiter dringen sollten, dann scheinen sie nicht wahrgenommen oder ignoriert zu werden. Die einzigen die sie erreichen sind nach wie vor die Polizisten, die uns ebenso wie damals abhalten, als ginge Gewalt von uns aus. Sie sind friedfertiger geworden, doch auf heute sehe ich Knüppel und spüre das Zucken in meiner Narbe.

Der Morgen graut. Er steht auf dem Bürgersteig. Sein Blick haftet an dem Stein, der vor seinem linken Fuß liegt, klein, schwarz, mit rauer Oberfläche. Er war nicht zu Hause, in dieser Nacht. Er hebt seinen Fuß an, kickt den Stein, verfolgt ihn mit seinem Blick. Liegengeblieben. Er war einfach bei ihr geblieben. Rothaarige Schönheit und neu in seiner Firma. Auf seinen Schuhen klebt der Staub der Stadt. Einen Schritt weiter. Kick, der Stein kullert, zeigt ihm den Weg nach Hause. Noch zwei Straßen. Was soll er ihr sagen? Was war überhaupt passiert? Das Licht in den Straßenlaternen verschwindet. Feiermorgen, denkt er, die Laternen haben Feiermorgen. Er hatte gestern Betriebsweihnachtsfeierabend. Er kann sich an nichts erinnern. Erinnerungsvakuum, zu viel Alkohol. Der Stein wartet auf ihn. Kick, er kullert über die Bordsteinkante, landet auf der Straße. Was wird sie zu ihm sagen, seine Frau? Er lässt den Stein liegen. Geht weiter. Schritt für Schritt. Er sieht das Haus, sein Haus, seine Koffer. Nichts wird sie zu ihm sagen. Diese Nacht war nicht ihre erste Nacht ohne ihn.
An all das denkt er, als er seinen Koffer mit seinen Sommershorts und T-Shirts packt, um in den Urlaub zu fliegen. Nicht mit seiner Frau und nicht mit der Rothaarigen. Gruppenurlaub für Singles.

Tagediebe

Der Tag ist weg.

Spurlos verschwunden.

Jemand hat den Tag gestohlen.

Nicht nur beiseitegestellt …

Aufgespart für schlechte Zeiten.

Nein!

Regelrecht geklaut!

Es waren Tagediebe in der Stadt!

Sie müssen hier gewesen sein.

Niemand hatte etwas bemerkt!

Gestern, war alles beim Alten,

… gestern,

wer hätte gedacht,

dass es das letzte Gestern war?

Der letzte Tag.

Die Dunkelheit reflektiert kein Licht.

Unmöglichkeit.

Der Weltenlauf ist keine Garantie.

Die Lichtschalter schalten nicht!

Wie müssen umdenken …

Wir müssen ohne Tag …

Wir müssen begreifen …

Es waren Tagediebe in der Stadt!

Zuckersüße Milchsuppe

Stumme Tränen liefen mir über das Gesicht. Seit einer halben Stunde war Oma dabei, die klaffende Wunde zu säubern. Es brannte höllisch. Dabei hatte alles so gut angefangen. Mit meiner liebsten Lisa hatte ich den Tag im Freibad verbracht – verbringen wollen.
Ganz nach Plan hatten wir zufällig meinen großen Schwarm getroffen, in ein Gespräch verwickelt, kokettiert. Und dann? Dann hatte sich alles überschlagen. Lisa hatte mich ausgebotet und sich an die Liebe meines Lebens herangeschmissen. Als ich stolz erhobenen Kopfes das Feld räumen wollte, stürzte ich mit dem Rad. Der Boden sollte sich auftun und mich bitte einfach verschlucken. Das hatte er unterlassen, also schlich ich gedemütigt zu meiner Oma.

Nun hockte ich da. Oma und ihr Wattetupfer waren unerbittlich und ganz sicher würde mein Knie für immer entstellt bleiben. Vorbei war´s mit kurzen Kleidern, Röcken, Hosen oder gar Bikinis. Und deshalb würde ich nie einen Mann und Kinder haben.
Leise lächelte Oma ihr schlaues Lächeln. »Alles nur wejen die Kerle.« Sehr bedächtig sagte sie diesen einen Satz. Dann ließ sie mich gemeinsam mit dem Satz und meinem Schmerz sitzen, um mir zum Trost eine zuckersüße Milchsuppe zu kochen.

Stumme Tränen laufen ihr über das Gesicht. Seit einer halben Stunde ist sie dabei, Fotos von ihm aus dem Handy zu löschen. Das diese jungen Leute heute alles in einem Elektrogerät festhalten müssen. Liebevoll betrachte ich meine Enkelin. Ihr Freund hat irgendwas gemacht. Was auch immer, es ist ganz furchtbar – für die Kleine.

„Alles nur wejen die Kerle“, sage ich bedächtig. Große Augen starren mich ungläubig an. Ein vorwurfsvolles „Oma“ ist die einzige Erwiderung. Ich lächle leise vor mich hin. Während ich mich anschicke, dem Kind eine zuckersüße Milchsuppe zu kochen, fängt die Narbe an meinem Knie leise an zu kribbeln. Es wird wohl Regen geben.

Zeitkapsel

Ein trüber Novembertag. Die Wolken hängen tief. Gleich wird es regnen. Ein Bus mit 50 Senioren ist auf dem Weg von München nach Berchtesgaden. Wir mitten drin. Hinter uns lebhaftes Geplapper. „Mir hilft der Klosterfrau Melissengeist. Ein Stamperl und ich kann wunderbar schlafen. Ja, das ist ein altes Hausmittel. Was besseres gibt es nicht.“

Ich versuche, nicht hinzuhören – es geht nicht. Aber dann reißt es mich aus meinem Dämmerschlaf.

„Was ist denn das für ein See da vorne?“

„Da ist doch kein See!“

„Doch da ist ein See.“

„Der Schimmsee ist das, bestimmt ist das der Schimmsee.“

„Natürlich, der Schimmsee. Der ist es.“

Peter und ich schauen uns an und grinsen.

„Das ist nicht der Schimmsee, das ist der Zumsee“, flüstere ich. „Du kennst sie doch, die Stelle, den Parkplatz mit dem Schild „ZUM SEE“.

„Natürlich. Wir sind da jedes Mal rausgefahren, wenn wir auf dieser Strecke unterwegs waren.“

„Wir sind manchmal sogar als Sonntagsausflug hierher gefahren.“

Vom Parkplatz führen ein paar rutschige Stufen hinunter, dann geht es in einem Tunnel unter der Autobahn durch. Direkt neben dem Fußsteig fließt ein Bach mit braunem Moorwasser. Kommt man aus dem dunklen Tunnel, steht man auf einem Wiesenfleck, eingerahmt von Schilf. Ein Damm führt hinaus in den See, ein Damm aus großen Steinen, und am Ende des Dammes steht ein Kreuz.

Auch der Bus mit uns Schülern hat auf der Rückfahrt von München hier angehalten und die ganze Schar ausgespuckt. Wir sind durch den feuchten Tunnel gepatscht. Das Schilf steht hoch, bis über unsere Köpfe ragt es… Einige klettern auf den Damm hinaus, bis ans Ende, bis zum Kreuz. Da steht nun Helmut und ruft: „Schaut euch das Fannerl an, schaut wie sie da steht. So steht sie …“ Er schwankt und platsch!, da liegt er im Wasser. Wir müssen lachen, sogar der strenge Mathe-Schäfer lacht mit. Helmut taucht gleich wieder auf, das Wasser ist ja nicht tief. Weil er eh schon nass ist, schwimmt er ein ppaar Züge, bevor er wieder auf den Damm klettert. Er zieht das Hemd aus, drückt das Wasser aus seinen Hosenbeinen. Ingeborg zieht einen gefalteten Regenmantel aus ihrer Tasche und reicht ihn Helmut. Damit e den Sitz im Bus nicht nass macht.

„Wo ist denn der Parkplatz?“, fragt Peter. „Sind wir schon vorbei?

„Ich hab kein Schild gesehen. Ich glaube, den Parkplatz gibt es gar nicht mehr.“

„Schade.“

„Einmal waren wir da, da war der See so voll, dass der Damm unter Wasser war. Nur das Kreuz war noch zu sehen. Und der Bach hatte auch so viel Wasser, dass der Weg nur noch ganz schmal war.“

„Da ist schon die Ausfahrt Übersee. Entweder wir haben den Parkplatz übersehen oder es gibt ihn wirklich nicht mehr.“

„Meine Brüder haben auf der Heimfahrt immer gesagt, Papa, jetzt fahr ganz schnell. So schnell wie du kannst, denn hier ist es ganz eben. Und der Papa hat Gas gegeben. Die beiden haben gejubelt. Der Papa fährt hundert und jetzt fährt er schon über hundert!. Dann ist das Auto wieder langsamer geworden. Wir wollen den Wagen nicht so plagen, hat der Papa gesagt und außerdem ist es so gemütlicher. Die Mama will ja schauen.“

Hinter uns geht das Geplapper weiter. „Also, mein Physiotherapeut sagt, das Knie ist soweit noch gut. Ich muss es nicht operieren lassen. Aber manchmal tut es schon sehr weh.“

„Also, wenn mein Knie wieder so weh tut, dann schmiere ich es mit Murmeltierfett ein. Das hilft sofort! Schneller als alle Tabletten.“

„Die Tabletten sind ja sowieso das reinste Gift.“

Und dann sind wir schon fast am Ziel: Vorne quer liegt wie ein großer schlafender Bär der Untersberg. Die „steinerne Hex“ reckt ihre Nase in den grauen Himmel. Nur König Watzmann ist nicht zu sehen. Er hat sich in Wolken gehüllt.

„Die Begegnung“

Schwerfällig lässt sie sich auf den Schemel fallen, der vor dem schäbigen Küchentisch steht. Alles hier ist schäbig, alt und muffig. Die Sonne wirft ihre ersten warmen Frühlingsstrahlen durch das schlierig-beschlagene Fenster, Staub tanzt in der Mitte und wird durch ihren Atem aufgewirbelt. Aber das sieht sie nicht. Was sie sieht, ist Schnee – überall endlos weißer Schnee. Sie hört auch nicht das Fiepen der Schwalben, die in der fremden Gegend in Scharen fliegen. Nein, was sie hört, ist das Schreien der Kinder, das Weinen der Mütter, das Wiehern der Pferde, die an erfrorenen Leichen vorbeitraben, als gehörten sie schon seit jeher in diese eiskalte Weite. Mühsam stützt sie sich auf, um die Bilder und Geräusche wegzuwischen. Die Kinder werden bald aus der Schule kommen. Sie wird im Stall noch ein paar Eier holen, um das Mittagessen vorzubereiten. Um die Sonne zu meiden, geht sie gleich durch die Waschküche. Gackernd stieben die Hühner auseinander, um ihr Platz zu machen. Sie findet mehr Eier, als sie dachte, und legt sie vorsichtig in den Latz der Schürze, als sie eine längst vergessene alt-vertraute Stimme hinter sich hört: „Meta…?“ In der Bewegung hält sie inne, konzentriert sich auf das schmatzende Grunzen der Schweine und die aufgeregten Hühner, um das Gehörte - wie so oft am Tag und unzählige Male in der Nacht – zu verscheuchen. Es – ist – nicht – real! Langsam dreht sie sich um. Es hilft, sich ein Bild von der Umgebung zu machen, damit das innere Bild verschwindet. Links die Schweineställe mit ihren verdreckten Gittern und den schmierigen Trögen. Rechts einige Heuballen, vorn - Richtung Tür – die Hühnerleiter sowie ein paar lose Bretter an der Wand, die vom Hühnermist verklebt sind. In der Tür eine gebückte Gestalt, die da nicht hingehört. Die Sonne blendet, sodass sie nur Konturen erkennt. Aber diese Konturen wiederholen ihren Namen - diesmal nicht mehr fragend: „Meta!“ Die Eier kullern aus dem Schürzenlatz und zerbersten auf dem Boden. In ihren Ohren rauscht es so laut, dass sie alles wie aus weiter Ferne wahrnimmt. Das. Ist. Nicht. Möglich! Das - kann - nicht - sein! Die Gestalt kommt zaghaft auf sie zu und je mehr sie ins Dunkel tritt, desto klarer werden die Gesichtszüge. „… Hans…!“, haucht sie, noch immer ungläubig. Er ist so dünn geworden, die Wangenknochen treten – wie flehend – hervor. Die zerschlissene Hose wäre nicht mehr an seinem Platz, würde nicht ein notdürftig geknoteter Strick sie halten. Die Jacke hängt mehr, als dass sie sitzt oder er sie trägt. Das Haar ist ausgeblichen. Was nur ist von dem schneidigen Burschen übrig geblieben, in den sie sich so Hals über Kopf verliebt hatte? Ein stattlicher Mann war er gewesen – der Hans – der in seinem Sonntagsanzug aussah, als wäre er mit ihm schon auf die Welt gekommen. Wie sehr hatte sie sich zu ihm hingezogen gefühlt, wie sehr hatte sie ihn geliebt – nein - liebte sie ihn noch heute! Noch, als sie das neue Herz in ihrem Bauch spürte, hatte sie erfahren, dass Hans gefallen war. Es war schwer, am Leben zu bleiben ohne ihn. Es war so schwer. Nur das neue Leben unter ihrer Brust hielt sie auf den leidenden Beinen. Sein Leben, die Frucht ihrer Liebe. Die Hand, die gerade noch die Eier in der Schürze gehalten hatte, greift sich an die Stirn und spürt die fransigen Strähnen, die sich aus dem Dutt gelöst haben. Was für ein Bild musste sie abgeben? Was sah er da vor sich? Sie hatte schon so lange nicht mehr in den gebrochenen Spiegel geschaut, der in der notdürftigen Waschecke angebracht war. Wozu auch? Es hatte schon längst an Wichtigkeit verloren. Wie viel wert hatte sie doch damals auf ihr Äußeres gelegt. Wie stolz war sie auf ihre Haarpracht gewesen, mit der sie den Männern den Kopf verdrehte, wenngleich nur Hans ihr Herz eroberte. Und jetzt stand er hier – inmitten des mit Heuresten verschmutzten Bodens, zwischen Schweinen und Hühnern - direkt vor ihr. Und alles war verloren – die Heimat, das Haus, die Zukunft, die Hoffnung und – Hans. „Ich wusste nicht…, ich dachte…“, stammelte sie leise. „Ich weiß … ich …“, er stockte. Wie oft hatte er die Worte durchgespielt? Die Begegnung nach so vielen Jahren, in deren nicht nur die Zeit die Distanz verursacht hat, sondern viel mehr der Hunger, die Angst, die Trauer – der Krieg mit all seinen hässlichen Seiten. Wie sind sie sich damals oft in die Arme und – wenn die Gelegenheit sich ergab – übereinander hergefallen? Wie selbstverständlich war ihr Zusammensein, wie leicht ihre Nähe, wenn sie nur zu zweit waren. Ohne die Blicke der Anderen, weitab jeglicher Regeln und Konventionen. Nein, es lag nicht nur die Zeit zwischen ihnen, nicht nur der Krieg. Es waren Welten, die es zu überwinden galt. Das musste er jetzt schmerzlich erkennen. Allein der Gedanke an sie und das Versprechen, was sie sich gegeben hatten, gab ihm die Kraft, die Angst in den Schützengräben jedes Mal aufs Neue zu überwinden, und sich nicht - wie von Sinnen – dem Feind buchstäblich in die Arme zu werfen, um sich in Nullkommanix durchlöchern zu lassen. Er schwankte ständig zwischen eisernem Überlebenskampf und purer Resignation, verbunden mit dem tiefen Wunsch, sofort und sekundenschnell dem ganzen Wahnsinn ein Ende zu setzen. Wozu noch kämpfen, wenn über kurz oder lang alles verloren war? Im Stillen beneidete er manchmal die gefallenen Kameraden, die nun alles hinter sich hatten. Einen Heldentod gestorben waren, was postum in der Heimat geehrt und anerkannt wurde. Und doch! Die Hoffnung blieb – wenn auch still und heimlich – im verborgenen und meldete sich mit voller Wucht in den dunkelsten Momenten – zuverlässig dann, wenn er längst aufgegeben hatte und kurz davor war, den letzten Schritt zu gehen. Und dieser Schimmer der Hoffnung war ausschließlich mit dem Gedanken an Meta verknüpft, mit der gemeinsamen Zukunft, der gemeinsamen Familie. Aber was hatte ihn getrieben, auch noch diesen weiten Weg auf sich zu nehmen - hierher in diese Fremde, weitab der Heimat, weitab jeglicher Hoffnung? Der Krieg war längst verloren und mit ihm die Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft. Nach seiner Heimkehr hatte er von ihrer Flucht erfahren. Er wusste von ihren beiden Kindern – einem Sohn und einer Tochter – und von ihrem Mann. Er war ihm nicht unbekannt – der Sohn eines gut situierten Bau-Unternehmers im Nachbarort. Was also wollte er hier? Wie Fremde stehen sie sich gegenüber - sie sind nicht mehr dieselben. Ein Gartentor fliegt krachend ins Schloss und vibriert kurz nach. Ein Fahrrad wird achtlos ins Gras geworfen. „Mutsch?“, ruft ein jugendlicher Stimmbruch atemlos. „Ich bin schon da, Lotte, die lahme Ente…“, der Rest wird durch die Tür des Nebenhauses verschluckt, die hinter ihm zufällt. Kurt! Ihr gemeinsamer Sohn, von dem er nichts wusste, katapultiert sie schlagartig in die Gegenwart zurück. Dumpf hört sie ihn rufen: „Mutsch? Wo bist du?“ „Das ist Kurt“, sagt sie mit einem Kopfnicken entschuldigend Richtung der Rufe, „mein Sohn“. „Ist schon in Ordnung, ich möchte dich nicht aufhalten!“, erwidert er abwehrend. Alle Energie, die ihn sicher hierher gebracht hat, ist – gleich einem Stöpsel, den man aus der Wanne zieht – aus ihm gewichen. In kürzester Zeit wirkte er noch eingefallener als zuvor, um Jahre gealtert, kraftlos. „Möchtest du mit reinkommen?“, zwingt sie sich zu fragen, „ich muss den Kindern das Essen bereiten.“ Eine Atemlänge ringt er mit dem Gedanken, das Angebot anzunehmen, aber ihm fehlt einfach die Kraft, sie in ihrem neuen Zuhause, mit ihrer neuen Familie zu erleben. „Nein – danke“, erwidert er also kleinlaut, „ich muss sowieso weiter“, hört er sich fassungslos sagen und fragt sich gleichzeitig, wohin … Ja, wohin nur sollte er jetzt gehen? Wie sollte er jetzt weiterleben? Was hatte er sich nur dabei gedacht? Erst, als das Gartentor erneut ins Schloss fällt – sanfter diesmal – löst sich ihre Starre. Ähnlich der Eierschalen vor ihren Füßen zerbarst in ihrem Inneren der Panzer und entlädt den stummen Schrei. Nur sie selbst kann ihn hören. Endlos – ohrenbetäubend. Sie sinkt auf die Knie, die Hände stützen ihren Kopf am Boden, den ihre Schultern nicht mehr zu halten vermochten. Tränen rinnen still in Strömen über ihre Wangen. Sie ist allein - mutterseelenallein – inmitten der Hühner und Schweine und Scharen tieffliegender Schwalben.

Hi,

in der Reihenfolge Verlangsamen, Raffen, Gegenwart oder Verlangsamen ODER Raffen und dann die Gegenwart?

Der Balkon

Vollkommen unbeschwert huschte Nia zwischen ihren Füßen vorbei und der Katze hinterher. Ein leichtes Schmunzeln zog Jyns Wangen empor. Dann wandte sie sich wieder dem Professor zu, um das Verhalten ihrer kleinen Schwester zu entschuldigen, doch der vollbärtige Brillenträger musste selbst vor sich hin kichern. „Beneidenswert, wie viel Energie man noch in dem Alter hat.“
„Ja“, erwiderte Jyn und geriet ins Stocken, sie räusperte sich. „Aber um nochmal auf ihr Angebot zurückzukommen.“
„Oh Gott.“
„Pardon?“ Das Gesicht vor ihr verzog sich zu einer bleichen Fratze, mit offenem Mund und aufgerissenen Augen. Wild umher stammelnd fuchtelte der Professor mit seinem Finger in der Luft herum. Jyn folgte seinem Deut. War ja klar, wie immer auf Nia – was machte sie denn dieses mal? Erst viel zu spät sah sie richtig hin, wie ihre Schwester auf dem Geländer des Balkons balancierte und einer Katze hinterher torkelte. Verdammter Mist. Das Sektglas flutsche aus ihrer Hand, als sie ohne zu Zögern zu ihrer Schwester eilte. „Pass auf Nia.“
Nia schreckte auf, riss die Augen auf und sah zu ihr – dann taumelte sie. Zunächst vorwärts, dann vielmehr rücklings. Die Atemluft presste sich schwer in Jyns Rachen, als sie den Namen ihrer Schwester schrie und die Hand nach ihr ausstreckte.
Sie bekam sie zu fassen und seufzte erleichtert auf – für einen Moment. Fast so unmittelbar spürte sie, wie sie selbst den Grund unter sich verliert und mit ihrer Schwester nach vorne in die Tiefe prescht. Ein kaltes und heißes Gefühl kitzelte über ihren Körper. Die Welt um sie herum glich vielmehr einem bösen Traum. Mit einem Schwung schaffte Jyn es Nia über sich hinweg zurück auf den Balkon zu werfen, wie war ihr selbst nicht klar, doch das war auch nicht weiter von Belang. Die Lippen aneinandergepresst, fiel sie in die Tiefe. Das Letzte, was sie sah, war nur der verzweifelte Blick ihrer Schwester, die wieder über das Geländer blickte und ein plötzlicher Regenschauer, der ihr auf ihrem Weg in die Tiefe wohl Gesellschaft leisten wollte.

„Hey Sis, ich weiß, ich war lange nicht mehr hier. Aber jetzt bin ich da und ich habe dir so viel zu erzählen.“ Auch jetzt, zehn Jahre später, starrte Nia das Geländer herab und weinte synchron mit den hinabfallenden Regentropfen. Ihre Hände ballten sich zu Fäusten. Ihr Herz pochte wild und fühlte sich gleichermaßen an, als würde es von einem Knoten immer enger gebunden.
„Wie geht es dir?“
Etwas pikst ihren Arm. Owen war mit den Rosen wiedergekommen und hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt. Sie selbst zuckte nur schniefend mit den Schultern. „Weißt du wie es ist, wenn einem jeder sagt, dass es leichter wird und es das nicht wird?“
Stumm schüttelte Owen den Kopf und griff vorsichtig nach ihrer Hand. Nia legte ihren Kopf auf seine Schulter. „Ich habe keine Kraft, um weiterzudenken als den nächsten Schritt, denkst du, sie wäre von mir enttäuscht?“
Sie hörte und spürte wie Owen tief schluckte, sich nach einem räuspern dann aber doch zu Wort meldete. „Es ist egal, was ich denke, aber ich glaube, du weißt, was sie sagen würde.“
Nur zu gut und das war ja auch gerade das Schmerzhafte. Mit ihrer freien Hand griff Nia nach den Lilien und warf sie den tiefen Abgrund hinunter. Ihre Augen folgten dem immer kleiner werdenden Punkt, bis er ganz aus ihrem Sichtfeld entschwunden war.

Scheideweg

Dieser eine Moment, wenn man fliegt.
Dieser Sekundenbruchteil, wenn man merkt, dass man sich verschätzt hat, in der Höhe oder der Weite.
Gerade noch ausreichend für einen Gedanken: „Oh Mist."
Man weiß, dass die Würfel gefallen sind, dass man nichts mehr tun kann, als hoffen. Hoffen, dass der eigene Körper reflexartig richtig reagiert. Hoffen, dass man mit leichten Blessuren davonkommt.
Unter mir gähnt ein strahlend heller Schlund voll buntester wirbelnder Farben. Es sieht nicht gruselig aus, eher einladend und warm. Dennoch ist es einer dieser „Oh Mist"-Augenblicke. Ich habe mich bewusst dazu entschieden zu springen. Die Alternative bestand immerhin darin, von Kugeln durchsiebt zu werden. Oder Schlimmeres. Da überlegt man nicht allzu lange.
Außerdem geht es hier nicht nur um mich.
Jetzt falle ich, warte darauf, von dem Licht verschlungen zu werden.
Entweder wird mir dieser Sprung das Leben retten. Oder zum Verhängnis werden.
Werde ich mir am Ende wünschen, die Wächter hätten mich umgebracht?
Ein Lächeln kräuselt unwillkürlich meine Lippen. Die Antwort wird mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit in jedem Fall ‚nein‘ lauten.

Es ist dumm, in ein instabiles Zeitportal zu springen, so schön es auch aussehen mag. Im besten schlimmsten Fall zerreißt es einen in Einzelteile.
Und dennoch.
Ich bin gesprungen, um ihn vor der Krankheit zu retten, die seine Organe zerfressen hätte. Um ihn vor dem Kopfschuss zu bewahren. Vor dem Schweberunfall. Dem Roboter. Um ihn immer und immer wieder vor den hartnäckigen Zeitwächtern und dem noch hartnäckigeren Schicksal zu retten, bin ich immer und immer wieder gesprungen.
Je öfter ich es tue, desto weniger macht es mir aus.

Der Würfel ist kalt in meiner Hand.
„Es kann nicht ewig so weitergehen, Joy“, sagt er und streicht mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Ich lehne an seiner Schulter, meine Augen sind geschlossen, meine Finger streichen über die geriffelten Metallkanten des Würfels. Die Position ist unbequem, aber das ist mir egal. Ich brauche eine Pause von dem Irrsinn. Leider gestattet mir mein Geist keine Pausen, bringt mich immer wieder zu meinem ersten dummen Sprung zurück. Der ihn rettete, aber die Zeitlinie spaltete und ins Chaos warf.
„Du musst mich gehen lassen. Sonst …“
Sonst …
Ich hebe die Lider und mein Blick fällt auf den Mond und seinen jungen Bruder. Der Mond wäre heute voll. Wenn nicht ein großer Teil herausgebrochen wäre und direkt auf die Erde zusteuern würde.
Sonst wird mich das Schicksal dazu zwingen und dabei alle anderen mitverdammen.
„Heute ist nicht der Tag, an dem ich aufgebe.“ Das auszusprechen hilft mir, mich von ihm zu lösen und den Portalwürfel erneut zu aktivieren.

Echo der Vergangenheit

Er stand auf dem Felsen und bewegte sich nicht. Als ob er das Toben der Elemente genießen würde. Mit seinem kantigen Gesicht dem stürmischen Wind zugedreht sah er wie die Verlängerung der Felsen unter seinen Füßen aus, wie eine Skulptur, kräftig und imposant. Das Wasser brandete unbändig gegen die Klippe und sie beobachtete wie dicke Regentropfen von oben herab stürmten, um auf seinem Antlitz herunterzufließen. Seine rabenschwarzen Locken tobten im Wind. Er war wild, versaust und strahlte eine Stärke aus, die sie in seinen Bann zog. Nie zuvor war sie einem Geschöpf begegnet, der eine solche Wirkung auf sie hatte.
Sie starrte ihn an und konnte kaum glauben, so etwas Vollkommenes erschaffen zu haben. Wenn sie sich ehrlich war, war er in Wirklichkeit weitaus meisterhafter, als sie ihn erträumt hatte. In diesem Augenblick wurde ihr klar, warum sie ihn brauchte. Sie war allein, doch jetzt nicht mehr.

Lucy starrte den Jungen auf dem Pausenhof ungläubig an. Er musste neu sein, denn er fiel ihr in den letzten fünf Jahren nicht auf und sie kannte jedem, dank Nathalie. Vor allem wenn derjenige so heiß aussah und dazu Gitarre spielte und sang. Mit seiner rauchigen Stimme und seinen flinken Fingern an den Saiten war es unmöglich, sich nicht an ihm zu erinnern.
»Kommst du«, schubste Nathalie sie an, »oder willst länger den Neuen aus der 11a anglotzen?«
Also hatte sie recht. Er war neu. Was hat sie bloß in nur eine Woche Abwesenheit verpasst?
»Er ist gut«, setzte sich Lucy in Bewegung.
»Yep. Er heißt Raven und du kannst ihn jeden Tag in der großen Pause bewundern, manchmal auch schon vor dem Unterricht. Seit einer Woche. Ein Angeber, wenn du mich fragst«, zuckte Nat mit den Schultern, aber nur weil sie blonde Sportler favorisierte, und schritt Richtung Eingangstür, in deren Nähe sich mehrere Reihen um den Jungen bildeten.
»Geh schon mal vor, ich komme gleich nach!«, rief Lucy ihr zu und stellte sich in die Nähe von Raven, um seinem Lied zuzuhören. Die Herbstsonne glitzerte auf seiner schwarzen Gitarre und wäre nicht die poppige Musik gewesen, hätte man ihn locker als düstere Gestalt bezeichnen können in seinen dunklen Kleidern. Der Name »Rabe« passte zu ihm. Seine schulterlange Haarsträhne und die markante Nase lösten ein Gefühl der Vertrautheit in ihr aus, doch war sie sich sicher, ihn noch nie in diesem Leben begegnet zu sein. Das Lied kroch in ihr Ohr und durchdrang sie.
»I walked a thousand stars und never forgot you
you are still in my heart
now we are toghether and I won´t loose you
´cos it is a brand new start«
Beim Refrain schaute er auf und lächelte ihr zu. Wie ein Blitz traf sie etwas. Es war nicht sein Lächeln und es waren nicht seine tiefbraunen Augen. Für einen kleinen Augenblick wusste sie nicht, was geschah, dann traf sie die Erkenntnis. Sie bekam längst vergessene Erinnerungen. Bilder, die tief vergraben waren. Schlagartig fühlte sie sich wie eine Göttin, die von ihrer Schöpfung bewundert wurde. Wie konnte das sein? Sie war doch nur ein gewöhnliches Mädchen in der neunten Klasse.

Treibgut

Bis zur Straße war es nicht mehr weit. Und ich völlig außer Atem. Außerdem hatte ich Seitenstechen. Der Abstand zwischen dir und mir vergrößerte sich zusehends. Mit deinen elf Jahren hättest du jeden Marathonläufer hinter dir gelassen.
Hundert Meter von der Straße entfernt, blieb ich stehen und drückte die Hände in meine Seiten.
»Was ist den los mit dir, Jonas!«, riefst du, den Kopf nach hinten gedreht, während du ohne langsamer zu werden, weiter ranntest.
»Haannaaahhh …!«, schrie ich.»Haaaaannnaaaaaaah …!«
Eine schrecklich laute Hupe zerriss den Nachmittag, Bremsen kreischten, doch als du den Kopf wieder nach vorne wandtest, um zu sehen, was los war, hattest du die Straße bereits erreicht. Ein schreckliches Krachen. Splitterndes Glas. Das Auto kam zu stehen. Von dir war nichts mehr zu sehen.
Ich rannte wieder los. Gefühlt brauchte ich für die hundert Meter mehrere Stunden. Ungezählte Gedanken rasten wie Wirbelstürme durch mein Gehirn - es gelang mir nicht, auch nur einen einzigen von ihnen zu fassen. Als ich endlich angekommen war, lagst du vor mir auf dem heißen Asphalt. Die Beine verdreht, blutüberströmt. Vor allem aus einer Wunde am Kopf blutetest du stark. Du blicktest mich an und lächeltest:
»Ich hab wohl einen Moment nicht aufgepasst … Scheiße«.
Es war das erste Mal, dass ich dieses Wort von dir hörte.
»Verdammt, Hannah!«, rief ich. »Ich brauche dich doch …«
Doch da war das Licht in deinen Augen schon erloschen.

In den paar Tagen, die ich jetzt hier bin, habe ich mich jeden Tag stundenlang in dein Zimmer gesetzt. Still betrachtete ich nach all den Jahren die Dinge, die dir gehört hatten. Die Bilder an den Wänden. Die Bücher im Regal. Die Plüschtiere auf dem Bett, die auf dem Kopfkissen sitzen und zur Tür starren, als würden sie darauf warten, dass du hereinkommst. Einmal überlegte ich, ob ich eine Nacht in deinem Bett verbringen sollte. In der Hoffnung, vielleicht einen deiner Träume zu träumen. Doch dazu fehlte mir letztlich der Mut. Auch ohne Träume stürzen die Erinnerungen auf mich ein, wie sich Treibgut nach einem schweren Sturm auf einem Strand anhäuft. Als wären sie vor langer Zeit wie ein havariertes Schiff in einem Ozean gesunken und von diesem nun wieder ausgespien worden.

Morgengrauen

Das Telefon läutete um 03.40 Uhr und es hätte jeder dran sein können: Ein Betrunkener, dessen misshandelte Frau, ein Nachbar der beiden, der sich über den Lärm beschweren wollte, eigentlich jeder Bürger dieser Stadt. In den Anfangsjahren meines Berufes war ich im nächtlichen Telefondienst immer aufgeregt gewesen, so jung und unerfahren, bemüht alles richtig zu machen, aber gleichzeitig neugierig und furchtlos wie ein junger Hund. Private Anrufe waren zwar die Ausnahme, kamen in Zeiten, in denen ein Mobiltelefon das Gewicht und die Größe eines Ziegelsteins hatte, in dringenden Fällen aber natürlich vor.
Damals spürte ich beim ersten Läuten intuitiv, dass der Anruf kein dienstlicher war, sondern mir galt.
Ich hob den Hörer des Telefons ab, meldete mich mit dem Namen meiner Dienststelle und wollte beim Klang der vertrauten, aber gebrochenen Stimme meines Bruders losschreien, stattdessen beendete ich das Gespräch und bemühte mich um rasche Ablöse.
Der Arzt, den ich am Nachmittag bei den Erhebungen zu einem Verkehrsunfall im Krankenhaus getroffen und mit dem ich noch geplaudert hatte, begegnete mir am Gang. Kurz nach dieser Amtshandlung hatte ich meinen Vater zufällig vor einem Untersuchungszimmer getroffen, er hatte von Herzbeschwerden gesprochen, aber dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Versicherte mir auf Nachfragen, dass es nicht notwendig sei, wegen ihm meinen Dienst vorzeitig abzubrechen. Sagte mir, wie stolz er auf seine unerschrockene Tochter sei, aber dass ich meine Uniformhose besser bügeln solle.
Der Doktor lächelte freundlich, setzte zu einem Gespräch an. Stumm und mit gesenktem Blick beschleunigte ich meinen Schritt, ließ ihn ratlos zurück und wandte mich stattdessen dem behandelnden Arzt meines Vaters zu.
Mein Vater lag in einem kleinen, kaum beleuchteten Zimmer. Intubiert. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, eine kleine Maschine neben ihm hatte das übernommen, denn er war bereits tot. Senkrecht um seinen Kopf war ein Verband gewickelt, der verhindern sollte, dass der Kiefer beim Einsetzen der Totenstarre offen stehen blieb. Dafür war ich dankbar, war er auf eine liebenswerte Art doch ein eitler Mensch gewesen. Ich betrachtete ihn eine Weile, sein fahles Gesicht, seine vor dem Körper gefalteten Hände, berührte sie. Sie waren noch warm. Genauso war er oft übermüdet vor dem Fernseher eingeschlafen. Zärtlich strich ich über seinen Kopf, küsste ihn auf die Stirn, wie er es zum Abschied immer bei mir gemacht hatte.
Dann ließ ich ihn gehen.
Draußen hatte ein riesiger oranger Feuerball bereits die schwarze Nacht verdrängt. Ich hielt inne, ließ die Morgenluft durch meine Lungen strömen. Beim Blick nach oben fühlte ich mich vom Schauspiel am Himmel plötzlich überwältigt, federleicht. Als leidenschaftlicher Frühaufsteher hätte ihm der prachtvolle Sonnenaufgang sicher gefallen. Hastig wischte ich mir Tränen von den Wangen. Bald würde der Rest der Familie eintreffen.

Torn dreams

"Sie lässt mich in süßer Euphorie aufbegehren gegen alle Selbstzweifel. Und als mein Geist es noch als völlig unmöglich ab tat, war mein Herz ihr bereits völlig verfallen und schlug nur noch für sie.“

„Himmel, ich habe mir einen wahren Poeten geangelt“, flüsterte ich, doch seine Worte brachten meinen Herzschlag zum Stolpern und ich versuchte nicht einmal, mein Dauergrinsen zu verbergen.

„Hör bloß auf“, antwortete Angelika wispernd. „Ich weiß nicht ob ich seufzen oder kotzen soll.“

Ich schlug mir die Hand vor dem Mund, um nicht laut loszulachen. Bens Schwester strotze nur so vor Sarkasmus, sie übertraf sogar mein Maß an zynischem Humor bei Weitem. Ich konnte mit niemandem so ungezwungen lachen wie mit ihr, doch gerade jetzt wäre es mehr als unpassend gewesen. Schließlich verkündete Ben gerade vor 81 Gästen seine leidenschaftliche Liebe zu mir und obwohl er wirkte wie die Coolheit in Person, entging mir doch nicht sein leicht wippender Fuß und das kaum merkliche Zittern seiner linken Hand. Ich wusste, was diese Offenbarung seiner tiefsten Gefühle für eine unglaubliche Überwindung für ihn war. Selbst auf seiner eigenen Hochzeit.

Ich ließ meinen Blick über die Gäste schweifen, die wie bunte, wunderschöne Blumenbeete - an zahlreichen runden Tischen - verteilt im Saal saßen und zu uns hinauf sahen. Allesamt so viel Liebe und Bewunderung in den Augen, dass es mir sofort wieder eine Gänsehaut bescherte. Timothy - Bens Vater - schniefte seit geschlagenen zehn Minuten in ein einstmals blütenweißes Taschentuch, während seine Frau ihm beständig den Arm tätschelte.

„… ich bin wahrlich der glücklichste Mann auf dieser Welt, heute und jeden weiteren Tag, der uns noch vergönnt ist. Und ich bin froh, mein Glück - unser Glück - hier und heute mit euch allen teilen zu können. Stoßen wir an. Auf meine wunderschöne Braut. Und die Liebe, die alle Grenzen überwindet und alle verborgenen Wünsche erfüllt.“ Ben drehte sich um und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das ich mit aller Liebe, die ich in meinen Blick einbringen konnte, erwiderte. Er hob sein Glas und rief: „Auf Cecilia!“

„Auf Cecilia!“, ertönte ein ungleichmäßiger Chor und zahlreiche Gläser wurden mir entgegen gehalten, bevor an dem blubbernden Champagner genippt wurde. Mit Tränen in den Augen griff ich ebenfalls nach meinem Champagnerglas und stand auf, so würdevoll und elegant, wie ein Monster aus Tüll … Nein, der Traum aus Tüll es mir eben möglich machte. Wäre es ausschließlich nach mir gegangen, hätte ich einen Frack angezogen. Aber obwohl Benedict niemals etwas dagegen gesagt oder gar getan hätte, wusste ich ganz genau, dass er sich insgeheim immer eine klassische große Hochzeit mit einer wunderschönen Braut ganz in Weiß gewünscht hatte. Und obwohl ich es nie laut aussprechen würde, als ich in diesem Kleid vor dem Spiegel stand, hatte ich mich doch schon etwas verliebt. Und trotz all meiner Abneigungen gegen Klischees … als Andrea mich vor drei Stunden den Kirchgang entlanggeführt und ich Bens Blick eingefangen hatte … dieser Ausdruck, dieser magische Moment auf seinem Gesicht allein wäre es hunderte Male wertgewesen, mich in dieses Korsett zu zwängen.

Andrea drückte kurz meine Hand und lächelte mir ermutigend zu, als ich mich an ihrer Stuhllehne vorbei drückte und um die lange Tafel herum auf ihn zutrat. Auf Ben. Meinen Ehemann. Mir war dieser Umstand noch völlig unbegreiflich, trotz all der Zeit seit seinem Antrag und all den Vorbereitungen seitdem. Ich streckte meine freie Hand aus und lächelte ihn an, sah, wie seine Augen meinen Anblick wieder und wieder geradezu verschlangen. Mein Herz flatterte einmal kurz auf und ganz kurz gestattete ich es uns, einen winzigen Moment nur für uns zu haben. Ich küsste ihn, legte eine Hand auf seine Brust und lehnte mich dagegen, schloss die Augen und ließ mich ganz von ihm mitreißen.

„Ich liebe dich“, hauchte ich gegen seine Lippen, doch als ich die Augen lächelnd wieder öffnete, war Ben verschwunden. Rote Augen blitzten mir entgegen und ich wich mit einem Schrei zurück. Der Schock fuhr mir durch Mark und Bein. Als ich mich umwandte, war ich allein. Ben, die Gäste, meine Familie … alle weg. Sogar das Glas in meiner Hand war verschwunden.

Schwer keuchend drehte ich mich wieder zu dem Mann um, den ich gerade geküsst hatte. Er schenkte mir ein hinreißendes Lächeln … wenn man auf gefährliche Typen stand.

„Dia“, zischte ich, nachdem ich mich einigermaßen wieder gefangen hatte.

Er legte den Kopf schief. „Welch beeindruckend romantische Träume du hegst. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

„Weil du mich ja auch so gut kennst“, fauchte ich und er nickte beflissen. „Ja, mittlerweile traue ich mich, das zu behaupten. Lass es mich dir ein bisschen leichter machen.“ Er schnippte mit den Fingern und plötzlich war die Last des Hochzeitskleides von meinen Schultern und meinen Rippen genommen - stattdessen trug ich einen weißen Frack mit platinfarben-schimmernden Mustern, inklusive weißem Hemd mit Button-Down-Kragen und perlfarbener Fliege. Seinem Aufzug gar nicht unähnlich.

„Sehr hübsch“, kommentierte ich zynisch und ließ mir die Erleichterung meiner Schulterblätter nicht anmerken. „Aber du bist doch sicher nicht nur gekommen, um mir Fashion-Tipps zu geben. Was willst du?“

„Freundlich und geduldig wie immer. Vielleicht hatte ich einfach nur Lust auf anregende Gesellschaft?“, schnurrte Dia und schnippte abermals mit den Fingern. Der leere Saal verwandelte sich ganz plötzlich in eine belebte Straße und wir saßen im Schatten einer dunkelroten Markise, die zu einem kleinen Eck-Café gehörte. Vor mir stand eine dampfende Tasse heiße Schokolade. Ich starrte sie an und fragte mich sofort, ob …

„Mit einem Hauch von Zimt, ja“, bestätigte Dia meine Gedanken und lächelte erneut, während mir ein Schauer über den Rücken jagte. Ich machte Ansätze aufstehen, doch Dia hielt meinen Arm fest und zog mich zurück auf den Stuhl. „Nicht! Bitte. Es war schwer genug, endlich einen Moment zu finden, um dich zu erwischen.“

„Mich zu erwischen?“, fragte ich verwirrt und Dia nickte ernst. Zögerlich gab er meinen Arm wieder frei. „Ich versichere dir, ich will dir keinerlei Schaden zufügen.“

Ich beäugte ihn misstrauisch. Versuchte, mir auf seine Worte einen Reim zu machen. Und dann fiel mir alles wieder ein. Die ganzen letzten Monate seit meiner Hochzeit prasselten auf mich nieder und ein langer, quälender Schmerz durchzog meine Brust. Es war alles real. Nur das hier - das war es nicht.
„Das ist ein Traum“, flüsterte ich. „Natürlich.“
Dias blick war fast schon mitleidig, was die wütenden Flammen in meinem Bauch nur weiter anfachte. „Was willst du?“, fauchte ich.

„Vielleicht sollte ich dich zuerst fragen, was du willst“, antwortete er und ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken. „Was sollte dieses ganze Theater eben? Und diese schwulstigen Worte von wegen Liebe sei alles?“

Genauso gut hätte er mir ins Gesicht schlagen können. Ich stand auf, sodass der schmiedeeiserne Stuhl scheppernd umfiel, und stapfte in die andere Richtung davon. Ich erkannte die Straße als ich vor der schillernden Fassade des Ritz-Hotels ankam und lief weiter in Richtung Green-Park. Dia tauchte plötzlich wieder vor mir auf, doch ich marschierte stur an ihm vorbei. Er lief neben mir her, während die Passanten immer weniger wurden. Schließlich waren wir komplett allein.

„Cecilia“, sagte er sanft und irgendwas in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich hielt an und sah auf den Kies. Er legte eine Hand auf meinen Arm und ich war zu kraftlos, um ihn abzuschütteln. Seine Finger schoben sich unter mein Kinn und hoben es hoch, sodass ich gezwungen war, ihn anzusehen. Erstaunt zuckte ich etwas zurück, denn auf einmal waren seine Augen nicht mehr rot, sondern blau. Und sein Blick … beinahe schon liebevoll.

„Habe ich einen Nerv getroffen?“, fragte er schließlich und ich befreite mich trotzig aus seinen Berührungen. „Was willst du?“, wiederholte ich und funkelte ihn an. Er zog sich etwas zurück, verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken und räusperte sich. „Ich will dir helfen.“

„Etwas konkreter bitte.“

„Konkreter? Ich denke, du weißt doch ganz genau, wobei ich dir helfen kann. Was willst du?“

Meine Unterlippe zitterte. Abwechselnd ballte ich meine Hände zur Faust und zog die Finger dann krampfartig wieder auseinander.
„Ich will ihn zurück“, wimmerte ich und hasste es, wie piepsig meine Stimme klang.

Dia verzog die Lippen wieder zu seinem schiefen Lächeln und mir fiel auf, wie viel angenehmer doch sein hübsches Gesicht war, wenn er auf die unheimlichen roten Augen verzichtete. Die Sonne, die hinter ihm stand, verlieh seinem platinbloden Haar einen strahlenden Schimmer, sodass man sich mit viel Fantasie doch einen Heiligenschein vorstellen konnte, als er antwortete.

„Und dabei kann ich dir helfen.“


Meine Finger wischten den Pfeil nach rechts und brachten den Wecker zum Verstummen. Einen Moment lang erlaubte ich mir den Frieden des Morgens. Der Rest des Tages lief ziemlich automatisch ab, wie eine Videokassette, die man beständig wieder und wieder abspulte. Küche. Tee. Toast. Badezimmer, Waschlappen, Kamm, Zahnbürste. Schlafzimmer, Bluse, Hosenanzug, Bettbezug. Flur, Tasche, Jacke, Schlüssel. Tür zu, Treppe runter, links, rechts, links, geradeaus, Treppe runter, Treppe runter, Treppe runter. Tür auf, Tür zu, Tür auf, Treppe rauf, Treppe rauf, rechts, geradeaus, rechts, links, gerade aus. Tür auf, Aufzug, hoch, hoch, hoch, hoch, Tür auf. Küsschen, Küsschen, Mantel aus. Arbeit. Pause. Arbeit. Mantel an, Tasche, Schlüssel, Tür auf, nach links.

Geradeaus.

Geradeaus.

Geradeaus.

Links.

Ich stand vor dem kalkweißen Gebäude und legte den Kopf in den Nacken, um die Fassade hinauf zu blicken. Die kalten, grauen Fenster starrten mich unerbittlich nieder wie eine mitleidlose, vieläugige Kreatur aus einem Albtraum. Ich wagte mich trotzdem in den Schlund hinein und machte mich auf den altbekannten Weg durch die Stockwerke bis ich an ein Zimmer kam, dessen Tür immer offen stand.

„Hi Darling“, sagte ich, während ich hineinging und meine Tasche und meinen Mantel ablegte. „Entschuldige die Verspätung, Claudia und ich wollten die neue Ausstellung in den Winterfenstern unbedingt noch fertig machen. Hat ein bisschen länger gedauert.“

„Ach, das macht doch nichts. Schön, dass du hier bist“, hätte ich ihn jetzt am liebsten sagen hören. Oder vielleicht auch einen Tadel, eine ungeduldige Standpauke, alles wäre mir lieber gewesen als dieses unerträgliche Schweigen. Doch Ben erwiderte nichts. Ich setzte mich neben sein Bett, legte meine Unterarme neben seinen Körper ab und sah in sein Gesicht, das einen selig schlummernden Ausdruck hatte. Ganz so als würden sich seine Augen jeden Moment flatternd öffnen und mich ansehen, er mich anlächeln und sagen: Hallo Engel.
Doch das würden sie nicht tun. Denn mein Ehemann war vor Monaten eingeschlafen. Und nie wieder aufgewacht.

Pfeil des Schicksals

Soll ich wirklich schießen? Der Pfeil ruht auf meinem gespannten Bogen. Die Sehne schneidet mir in Zeige- und Mittelfinger meiner rechten Hand. Wer ist dieser Kerl da unten im Gebüsch?
Meine Sehne knarzt. Regen prasselt auf meinen Helm. Warum sieht der sich so verstohlen nach allen Richtungen um? Stimmt es, was die Leute sagen, dass nur ein Attentäter solch schwarze Roben trägt? Was, wenn nicht? Wir leben in schweren Zeiten. Womöglich ist er auch ein Bote, der uns eine Waffenruhe verkünden soll.
Dieser verdammte Waldposten! Kein Hauptmann in der Nähe, den man um Rat fragen kann – niemand, der dir deine Entscheidung abnimmt. Ich lass ihn einfach laufen – habe ihn nicht gesehen! Ich entspanne den Bogen langsam.
Doch, was wenn er wahrhaftig ein Attentäter ist? Dann wird jemand sterben. Um Gottes willen – der Herzog vielleicht. Rasch zog ich wieder am Pfeil! Ich muss das Richtige tun! Ich werde schießen! Aber, wenn er nun wirklich ein Friedensbotschafter ist? Dann wird die Aussicht auf Frieden dahin sein. Meine Frau und Kinder werden großes Leid erfahren.
Ich muss diesen Kerl aufhalten – darf ihn aber nicht gleich töten. Ich könnte ihn zum Stehenbleiben auffordern. Aber dann verrate ich meine Position. Womöglich hat er noch Komplizen. Egal, dann habe ich wenigstens keine Gewissensbisse. Oder doch einfach ziehen lassen … NEIN! Ich darf jetzt nicht feige sein. „He, Ihr dort unten! Was ist Euer Begehr?“
Der Fremde im Gebüsch zuckte zusammen. Das war ein ganz schöner Schreck für den armen Kerl. „Nicht schießen, bitte. Ich bringe Kund von unserem Herren. Er schlägt einen Handel vor!“ Ein Arm mit einer Schriftrolle ragte zittrig aus dem Gebüsch.

Jahre vergingen und man gedachte noch lange jenem Augenblick.
„Gut, dass du ihn damals nicht erschossen hast, Großvater.“
„Oh ja, mein Kleiner. Wer weiß, wie lange diese Kriege sonst noch angedauert hätten – ob wir überhaupt noch leben würden.“
„Großmutter, Großmutter … unser Großvater ist ein Held!“
„Das ist er. Und seit jener Nacht auch der engste Berater unserer Herzogsfamilie.“

Sinn – Besinn – Spürsinn - Unsinn

Ich besinne mich auf…. mich,
schaue nach, was es Neues gibt, da drinnen!
Erfahre, dass es unklug ist,
die Gedanken ständig kreiseln zu lassen.

Also lausche ich dem auf und ab,
dem hin und her meines Atems.
Ich nenne es Tiefschlaf mit geöffneten Augen.
Und werde besinnlich bis zur Besinnungslosigkeit!

Lachen überfällt mich, schüttelt mich,
grundlos, sorglos, herzlos gegen mich selbst!
Da singt ein Vogel in mir.
Zeit aufzustehen und zu gehen!

Schritt für Schritt wanke ich,
achte nicht auf den Untergrund.
Sondern schaue nach vorn.
Was sich unter meinen Füßen tut,
ist nicht egal, aber auch nicht zu ändern.

Der Boden schwankt,
ich bin an Bord, die Reling in weiter Ferne.
Fixiere den Horizont,
wo die Sonne ihre ersten Strahlen
als Schnüre mir zum Halt anbietet.

Jetzt ist sie Freundin mit ihrem Licht und ihrer Wärme,
Doch im Tageslauf wird sie zur Feindin meiner Haut,
die kein Härchen mehr schützt.

Bedecke beizeiten den kahlen Kopf,
die Arme und Beine mit leichtem Tuch,
den störrischen Körper sowieso.
Dazu bin ich auch noch maskiert,
lasse nur meine Augen hinaus.

Gefühle spiegeln sich in ihnen
Doch niemand schaut so wirklich hin.
Umrande die Lider mit Kajal,
sodass das Weiße leuchtender glänzt
und das Braun der Iris einen stärkeren Ton annimmt.

Bemale meine Fußsohlen mit kräftigen Farben
und ehe sie trocknet, da unten drunter,
stempel ich meinen Weg zu ihm, zu ihr, zu allen

Jetzt endlich gibt es Reaktionen,
Positive wie negative,
die unfreiwillige Nacktheit meiner Haut unterm Tuch
löst befremden aus, Mitleid!
Krankheit, die alles markiert!

Aber die Spur meiner Abdrücke
spricht von Da-Sein-wollen
und ich werde wahrgenommen.
Ja, ich bin da und lebe.
Im Hier und Jetzt und - mit Zuversicht -
auch im Morgen.
Marion Kulinna©
28.09.2020