Torn dreams
"Sie lässt mich in süßer Euphorie aufbegehren gegen alle Selbstzweifel. Und als mein Geist es noch als völlig unmöglich ab tat, war mein Herz ihr bereits völlig verfallen und schlug nur noch für sie.“
„Himmel, ich habe mir einen wahren Poeten geangelt“, flüsterte ich, doch seine Worte brachten meinen Herzschlag zum Stolpern und ich versuchte nicht einmal, mein Dauergrinsen zu verbergen.
„Hör bloß auf“, antwortete Angelika wispernd. „Ich weiß nicht ob ich seufzen oder kotzen soll.“
Ich schlug mir die Hand vor dem Mund, um nicht laut loszulachen. Bens Schwester strotze nur so vor Sarkasmus, sie übertraf sogar mein Maß an zynischem Humor bei Weitem. Ich konnte mit niemandem so ungezwungen lachen wie mit ihr, doch gerade jetzt wäre es mehr als unpassend gewesen. Schließlich verkündete Ben gerade vor 81 Gästen seine leidenschaftliche Liebe zu mir und obwohl er wirkte wie die Coolheit in Person, entging mir doch nicht sein leicht wippender Fuß und das kaum merkliche Zittern seiner linken Hand. Ich wusste, was diese Offenbarung seiner tiefsten Gefühle für eine unglaubliche Überwindung für ihn war. Selbst auf seiner eigenen Hochzeit.
Ich ließ meinen Blick über die Gäste schweifen, die wie bunte, wunderschöne Blumenbeete - an zahlreichen runden Tischen - verteilt im Saal saßen und zu uns hinauf sahen. Allesamt so viel Liebe und Bewunderung in den Augen, dass es mir sofort wieder eine Gänsehaut bescherte. Timothy - Bens Vater - schniefte seit geschlagenen zehn Minuten in ein einstmals blütenweißes Taschentuch, während seine Frau ihm beständig den Arm tätschelte.
„… ich bin wahrlich der glücklichste Mann auf dieser Welt, heute und jeden weiteren Tag, der uns noch vergönnt ist. Und ich bin froh, mein Glück - unser Glück - hier und heute mit euch allen teilen zu können. Stoßen wir an. Auf meine wunderschöne Braut. Und die Liebe, die alle Grenzen überwindet und alle verborgenen Wünsche erfüllt.“ Ben drehte sich um und schenkte mir ein strahlendes Lächeln, das ich mit aller Liebe, die ich in meinen Blick einbringen konnte, erwiderte. Er hob sein Glas und rief: „Auf Cecilia!“
„Auf Cecilia!“, ertönte ein ungleichmäßiger Chor und zahlreiche Gläser wurden mir entgegen gehalten, bevor an dem blubbernden Champagner genippt wurde. Mit Tränen in den Augen griff ich ebenfalls nach meinem Champagnerglas und stand auf, so würdevoll und elegant, wie ein Monster aus Tüll … Nein, der Traum aus Tüll es mir eben möglich machte. Wäre es ausschließlich nach mir gegangen, hätte ich einen Frack angezogen. Aber obwohl Benedict niemals etwas dagegen gesagt oder gar getan hätte, wusste ich ganz genau, dass er sich insgeheim immer eine klassische große Hochzeit mit einer wunderschönen Braut ganz in Weiß gewünscht hatte. Und obwohl ich es nie laut aussprechen würde, als ich in diesem Kleid vor dem Spiegel stand, hatte ich mich doch schon etwas verliebt. Und trotz all meiner Abneigungen gegen Klischees … als Andrea mich vor drei Stunden den Kirchgang entlanggeführt und ich Bens Blick eingefangen hatte … dieser Ausdruck, dieser magische Moment auf seinem Gesicht allein wäre es hunderte Male wertgewesen, mich in dieses Korsett zu zwängen.
Andrea drückte kurz meine Hand und lächelte mir ermutigend zu, als ich mich an ihrer Stuhllehne vorbei drückte und um die lange Tafel herum auf ihn zutrat. Auf Ben. Meinen Ehemann. Mir war dieser Umstand noch völlig unbegreiflich, trotz all der Zeit seit seinem Antrag und all den Vorbereitungen seitdem. Ich streckte meine freie Hand aus und lächelte ihn an, sah, wie seine Augen meinen Anblick wieder und wieder geradezu verschlangen. Mein Herz flatterte einmal kurz auf und ganz kurz gestattete ich es uns, einen winzigen Moment nur für uns zu haben. Ich küsste ihn, legte eine Hand auf seine Brust und lehnte mich dagegen, schloss die Augen und ließ mich ganz von ihm mitreißen.
„Ich liebe dich“, hauchte ich gegen seine Lippen, doch als ich die Augen lächelnd wieder öffnete, war Ben verschwunden. Rote Augen blitzten mir entgegen und ich wich mit einem Schrei zurück. Der Schock fuhr mir durch Mark und Bein. Als ich mich umwandte, war ich allein. Ben, die Gäste, meine Familie … alle weg. Sogar das Glas in meiner Hand war verschwunden.
Schwer keuchend drehte ich mich wieder zu dem Mann um, den ich gerade geküsst hatte. Er schenkte mir ein hinreißendes Lächeln … wenn man auf gefährliche Typen stand.
„Dia“, zischte ich, nachdem ich mich einigermaßen wieder gefangen hatte.
Er legte den Kopf schief. „Welch beeindruckend romantische Träume du hegst. Das hätte ich dir gar nicht zugetraut.“
„Weil du mich ja auch so gut kennst“, fauchte ich und er nickte beflissen. „Ja, mittlerweile traue ich mich, das zu behaupten. Lass es mich dir ein bisschen leichter machen.“ Er schnippte mit den Fingern und plötzlich war die Last des Hochzeitskleides von meinen Schultern und meinen Rippen genommen - stattdessen trug ich einen weißen Frack mit platinfarben-schimmernden Mustern, inklusive weißem Hemd mit Button-Down-Kragen und perlfarbener Fliege. Seinem Aufzug gar nicht unähnlich.
„Sehr hübsch“, kommentierte ich zynisch und ließ mir die Erleichterung meiner Schulterblätter nicht anmerken. „Aber du bist doch sicher nicht nur gekommen, um mir Fashion-Tipps zu geben. Was willst du?“
„Freundlich und geduldig wie immer. Vielleicht hatte ich einfach nur Lust auf anregende Gesellschaft?“, schnurrte Dia und schnippte abermals mit den Fingern. Der leere Saal verwandelte sich ganz plötzlich in eine belebte Straße und wir saßen im Schatten einer dunkelroten Markise, die zu einem kleinen Eck-Café gehörte. Vor mir stand eine dampfende Tasse heiße Schokolade. Ich starrte sie an und fragte mich sofort, ob …
„Mit einem Hauch von Zimt, ja“, bestätigte Dia meine Gedanken und lächelte erneut, während mir ein Schauer über den Rücken jagte. Ich machte Ansätze aufstehen, doch Dia hielt meinen Arm fest und zog mich zurück auf den Stuhl. „Nicht! Bitte. Es war schwer genug, endlich einen Moment zu finden, um dich zu erwischen.“
„Mich zu erwischen?“, fragte ich verwirrt und Dia nickte ernst. Zögerlich gab er meinen Arm wieder frei. „Ich versichere dir, ich will dir keinerlei Schaden zufügen.“
Ich beäugte ihn misstrauisch. Versuchte, mir auf seine Worte einen Reim zu machen. Und dann fiel mir alles wieder ein. Die ganzen letzten Monate seit meiner Hochzeit prasselten auf mich nieder und ein langer, quälender Schmerz durchzog meine Brust. Es war alles real. Nur das hier - das war es nicht.
„Das ist ein Traum“, flüsterte ich. „Natürlich.“
Dias blick war fast schon mitleidig, was die wütenden Flammen in meinem Bauch nur weiter anfachte. „Was willst du?“, fauchte ich.
„Vielleicht sollte ich dich zuerst fragen, was du willst“, antwortete er und ließ sich zurück in seinen Stuhl sinken. „Was sollte dieses ganze Theater eben? Und diese schwulstigen Worte von wegen Liebe sei alles?“
Genauso gut hätte er mir ins Gesicht schlagen können. Ich stand auf, sodass der schmiedeeiserne Stuhl scheppernd umfiel, und stapfte in die andere Richtung davon. Ich erkannte die Straße als ich vor der schillernden Fassade des Ritz-Hotels ankam und lief weiter in Richtung Green-Park. Dia tauchte plötzlich wieder vor mir auf, doch ich marschierte stur an ihm vorbei. Er lief neben mir her, während die Passanten immer weniger wurden. Schließlich waren wir komplett allein.
„Cecilia“, sagte er sanft und irgendwas in seiner Stimme ließ mich zusammenzucken. Ich hielt an und sah auf den Kies. Er legte eine Hand auf meinen Arm und ich war zu kraftlos, um ihn abzuschütteln. Seine Finger schoben sich unter mein Kinn und hoben es hoch, sodass ich gezwungen war, ihn anzusehen. Erstaunt zuckte ich etwas zurück, denn auf einmal waren seine Augen nicht mehr rot, sondern blau. Und sein Blick … beinahe schon liebevoll.
„Habe ich einen Nerv getroffen?“, fragte er schließlich und ich befreite mich trotzig aus seinen Berührungen. „Was willst du?“, wiederholte ich und funkelte ihn an. Er zog sich etwas zurück, verschränkte seine Hände hinter seinem Rücken und räusperte sich. „Ich will dir helfen.“
„Etwas konkreter bitte.“
„Konkreter? Ich denke, du weißt doch ganz genau, wobei ich dir helfen kann. Was willst du?“
Meine Unterlippe zitterte. Abwechselnd ballte ich meine Hände zur Faust und zog die Finger dann krampfartig wieder auseinander.
„Ich will ihn zurück“, wimmerte ich und hasste es, wie piepsig meine Stimme klang.
Dia verzog die Lippen wieder zu seinem schiefen Lächeln und mir fiel auf, wie viel angenehmer doch sein hübsches Gesicht war, wenn er auf die unheimlichen roten Augen verzichtete. Die Sonne, die hinter ihm stand, verlieh seinem platinbloden Haar einen strahlenden Schimmer, sodass man sich mit viel Fantasie doch einen Heiligenschein vorstellen konnte, als er antwortete.
„Und dabei kann ich dir helfen.“
Meine Finger wischten den Pfeil nach rechts und brachten den Wecker zum Verstummen. Einen Moment lang erlaubte ich mir den Frieden des Morgens. Der Rest des Tages lief ziemlich automatisch ab, wie eine Videokassette, die man beständig wieder und wieder abspulte. Küche. Tee. Toast. Badezimmer, Waschlappen, Kamm, Zahnbürste. Schlafzimmer, Bluse, Hosenanzug, Bettbezug. Flur, Tasche, Jacke, Schlüssel. Tür zu, Treppe runter, links, rechts, links, geradeaus, Treppe runter, Treppe runter, Treppe runter. Tür auf, Tür zu, Tür auf, Treppe rauf, Treppe rauf, rechts, geradeaus, rechts, links, gerade aus. Tür auf, Aufzug, hoch, hoch, hoch, hoch, Tür auf. Küsschen, Küsschen, Mantel aus. Arbeit. Pause. Arbeit. Mantel an, Tasche, Schlüssel, Tür auf, nach links.
Geradeaus.
Geradeaus.
Geradeaus.
Links.
Ich stand vor dem kalkweißen Gebäude und legte den Kopf in den Nacken, um die Fassade hinauf zu blicken. Die kalten, grauen Fenster starrten mich unerbittlich nieder wie eine mitleidlose, vieläugige Kreatur aus einem Albtraum. Ich wagte mich trotzdem in den Schlund hinein und machte mich auf den altbekannten Weg durch die Stockwerke bis ich an ein Zimmer kam, dessen Tür immer offen stand.
„Hi Darling“, sagte ich, während ich hineinging und meine Tasche und meinen Mantel ablegte. „Entschuldige die Verspätung, Claudia und ich wollten die neue Ausstellung in den Winterfenstern unbedingt noch fertig machen. Hat ein bisschen länger gedauert.“
„Ach, das macht doch nichts. Schön, dass du hier bist“, hätte ich ihn jetzt am liebsten sagen hören. Oder vielleicht auch einen Tadel, eine ungeduldige Standpauke, alles wäre mir lieber gewesen als dieses unerträgliche Schweigen. Doch Ben erwiderte nichts. Ich setzte mich neben sein Bett, legte meine Unterarme neben seinen Körper ab und sah in sein Gesicht, das einen selig schlummernden Ausdruck hatte. Ganz so als würden sich seine Augen jeden Moment flatternd öffnen und mich ansehen, er mich anlächeln und sagen: Hallo Engel.
Doch das würden sie nicht tun. Denn mein Ehemann war vor Monaten eingeschlafen. Und nie wieder aufgewacht.