Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Flucht aus der Angst

Mara starrt durch den Türspalt ihres Kinderzimmers in den spärlich beleuchteten Flur. Aufmerksam spitzt sie die Ohren, lauscht nach verdächtigen Geräuschen im Haus. Ihre Eltern sind zum Kegeln in das gegenüberliegende Wirtshaus gegangen; die Treffer kann sie durch ihr gekipptes Fenster hören. Normalerweise sitzt Oma unten, um auf sie aufzupassen. Doch heute trägt Mara die Verantwortung für sich und ihren jüngeren Bruder Bastian. ‚Ich bin schon neun und brauch keinen Babysitter mehr‘, hatte sie beim Mittagessen aus einer Laune heraus getönt.

Seit einer dreiviertel Stunde liegt sie hellwach vor Angst im Bett.

‚Was war das?‘, angespannt nimmt Mara das Ächzen der Holztreppe wahr, ‚sind Mama und Papa schon wieder da?‘. Ihr Blick huscht zum Radiowecker. Es ist 21:32 Uhr. ‚Nein, zu früh.‘

Der schwere Vorhang wölbt sich ins Zimmer, Wind tritt durch das Fenster ein und trägt das Poltern umfallender Kegel in ihr Ohr. Sie zieht sich die Bettdecke bis über die Nase.

‚Sind das Schritte auf der Treppe?‘, Mara hält die Luft an. Mit pochendem Herzen kneift sie die Augen zu Schlitzen zusammen. Das Licht einer Taschenlampe tanzt durch den Flur, dringt in ihr Zimmer ein.

Regungslos konzentriert sie sich auf den Türspalt und registriert, wie ein erneuter Windzug das Türblatt erzittern lässt. ‚Warum bläht sich der Vorhang diesmal nicht?‘

Ehe der Lichtstrahl sie erfasst, schließt Mara ihre Augen. ‚Aber der Umriss ist zu groß für …‘

Sie spürt das Licht nur kurz in ihrem Gesicht, bevor sie das Klicken hört.

Etwas Schweres plumpst auf sie drauf, bewegt sich, weint.

„Bastian!“, panisch reißt Mara die Augen auf, vor ihr eine vermummte Gestalt. Sie nimmt ihren Bruder beschützend in die Arme: „Psst, ich bin hier, alles wird gut“, versucht sie ihn und sich selbst zu beruhigen.

„Macht ja keinen Mucks, kapiert?“, droht die dunkle Stimme kühl, „sonst passiert was!“ Mara hört, wie der Eindringling ihren Zimmertürschlüssel von außen ins Schloss steckt und abgesperrt.

Um sie herum ist es stockfinster. Kein Licht dringt mehr aus dem Flur hinein.

Das dumpfe Scheppern der Kegel hallt durch den Raum. Bastian wimmert in ihren Armen. Im Haus rumpelt es, Schranktüren werden geöffnet, Gegenstände herausgerissen.

Kegel scheppern, Schubladen werden quietschend geöffnet, Glas splittert. Mara streicht Bastian behutsam über den Kopf. Sein Atem beruhigt sich.

Kegel scheppern. Bastian schläft vor Erschöpfung ein.

Stille.


„Ihr könnt jetzt ruhig fahren, wir warten hier schon“, murmelt Mara.

Seit einer halben Stunde sitzen sie und ihr Partner Sami nur knappe fünfzig Meter entfernt im Auto und überwachen den Eingangsbereich der Villa.

„Hast du heute Nacht noch was anderes vor, oder warum bist du so ungeduldig?“, neckt er sie. Mit der blonden Perücke und dem Make-Up sieht sie total verändert aus.

„Ach“, winkt Mara ab, „schau dort hin, da tut sich was.“

Das Garagentor öffnet sich, die Hausherren verlassen ihr Domizil. Sami nickt ihnen freundlich zu, obwohl sie das durch die abgedunkelten Seitenscheiben nicht sehen.

„Und, soll ich eine Kontrollrunde drehen?“, fragt er kurze Zeit später.

„Nein“, Mara verlässt den Wagen. Sie hat sich damals geschworen, nie mehr Angst vor Einbrechern zu haben. „Wir gehen sofort rein. Du räumst aus, ich sage den Kleinen, dass ihnen nichts passieren wird.“

Der Weg zum Traumberuf - Vom Eifelkind zur Sängerin

»Hilf mir, bitte, bitte hilf mir!«

Ob das schweigende Stoßgebet an den Lieben Gott gerichtet ist oder an das reglose Etwas in meinen Armen, dessen Antlitz glänzt wie das Wachs der Kerzen, die stets an Feiertagen bei Tisch angezündet werden? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, meine Knie zittern wie Espenlaub, und ich fürchte, jeden Moment umzufallen; wie Schneewittchen, nachdem sie in den Apfel biss. Während meine schweißnassen Hände den kalten Körper mit den leblos baumelnden Armen gegen die Brust drücken, windet sich eine bislang unbekannte Angst wie eine Python von den Waden bis zum Hals. Ich hoffe inständig, dass sie mir die Kehle nicht zuschnürt und meine Stimme versagt. Ich brauche meine Stimme! Genau jetzt! In diesem Moment! Also schlucke ich das Angstgefühl hinunter und … singe!

Ich habe das Lied heute noch in den Ohren und sehe das Bild vor mir, als wäre es gestern gewesen: Ich war sechs Jahre alt, stand mit einer Puppe im Arm und einem Kinderlied auf den Lippen vor meinem ersten Publikum. Das Lampenfieber verflog nach den ersten Tönen und mit dem Applaus wurde ein anderes Fieber geweckt. Ein Fieber, das mich ein Leben lang begleiten würde und noch immer brennt.

Die Erinnerung an dieses Ereignis, das mutmaßlich mein Leben geprägt hat, schwirrt gemeinsam mit weiteren Gedanken an unvergessene Erlebnisse durch meinen Kopf, während ich in der Dämmerung eines lauen Sommerabends vorm Bistro Walderdorffs am Domfreihof in Trier sitze. Viel zu früh. Die Band ist noch beim Soundcheck. Das Konzert beginnt in einer Stunde.

Als sich der große Zeiger vor den kleinen schob wie ein älteres Geschwister vor sein jüngeres, da holte die alte Kirchturmuhr aus zum ersten Schlag.
Zwischen dem ersten und dem zweiten Schlag atme ich ein.
Zwischen dem zweiten und dem dritten schärfe ich meinen Blick.
Zwischen dem dritten und dem vierten atme ich aus und öffne seufzend den Mund auf den fünften, beuge mich vor auf den sechsten, halte die Luft an vom siebten bis zum achten, denke, das schaffe ich niemals bis zum neunten und breite dennoch die Arme aus über den zehnten hinaus bis zum elften.
Dann endlich schließe ich meine Augen, als es schon zwölf schlägt, und lasse mich fallen.

„Boah, Alter, ey!“, maulte mein großer Bruder, „wie oft hab ich dir schon gesagt, du sollst in deinem eigenen Bett pennen! Und wenn du nachts Angst hast, geh zu Mama rüber, echt jetzt, ey!“

Zwanzig Jahre später steht mein großer Bruder vor mir und weint, denn unsere Mutter ist gerade gestorben. Also biete ihm an, bei mir und meiner Frau zu übernachten, bis die Beisetzung vorbei ist.
„Und wenn du nachts nicht schlafen kannst, dann weck mich ruhig. Du weißt ja, ich kann das gut verstehen.“
Er nickt.
Und ich ahne, dass er nicht kommen wird, egal, was er träumt.

Zeitlupensturz – ob Stuntmens das auch so erleben?

Ella liebte ihre Clogs. Sie hatte sie verbotenerweise vor Jahren in Ihrem Job kennengelernt, und als das Schuhwerk auf der Arbeit aus Sicherheitsgründen verboten wurde, entschied sie sich, die einfachen Gummipantoffeln im Alltag, für sich beizubehalten. Inzwischen besaß sie die bequemen Treter, in vielen verschiedenen Farben, passend zu jedem Outfit, denn sie wollte sich nie wieder in enge Schuhe zwängen.

An der Liebesgeschichte mit Ihren Schuhen gab es jedoch einen Hacken, und dieser war nicht minder. Der weiche Gummi, der sich im Inneren so gut an den Füßen anschmiegte, machte seinen Dienst im Außen eher schlecht als recht. Bei trockenem sonnigen Wetter war die Welt noch ganz in Ordnung. Doch wehe ein Tropfen Wasser traf auf gefliestem Boden, oder gar auf einem Zebrastreifen, auf die Sohle der bunten Gummiclogs! Der „Ausrutscher“ war dann vorprogrammiert.
Ella hatte sich so, schon manche blaue Flecke zugezogen. Vor allem wenn sie unachtsam und mit resolutem Schritt ihren Pflichten nachging.

Heute Morgen, in Ella’s Küche, ist es wieder passiert!
Doch diesmal war alles anders. Die etwas rundliche Fünfzigjährige, die sonst eher wie ein Stein, gerade auf ihr Ziel zu plumpst, erlebte heute ihren Sturz aus einer neuen Perspektive.
Noch in der Zeit des Falls, hörte sie den Gummi des Schuhs sanft quietschen, und spürte ganz genau wie ihr rechter Fuß, auf dem glitschigen, „was auch immer es war“, auf dem Boden davon glitt.
Wie von oben herab konnte sie bis ins kleinste Detail miterleben, wie Sie, bald auf dem harten Boden aufschlagen würde. Ein kleines „Vorahnungs“ Filmchen zeigte sich im Zeitraffer, noch während sie fiel.
Dieses Zeitlupengefühl, das sich da grad einstellte, erlaubte ihr sogar, in der Dauer des Fallens kurz nachzudenken, und so windete sie sich, als Lösung des Dilemmas wie ein Aal, und rollte über ihre linke Seite, bis auf ihren Bauch.

„Puh“ , dachte sie: „Glück gehabt! Und das ganze ohne Wehwehchen“…
„Bewusst fallen? … Kann man dass? … Das war ja gerade wie im Film“ …

Derweil sie sich noch überlegte, ob wohl Stuntmens auch lernen mit Bewusstsein in Zeitlupe zu fallen, entschied sie sich auch, ihre ach so geliebten Lieblingsclogs, in Zukunft vielleicht doch … nur noch im Garten zu tragen.
Das Glück sollte wohl im Leben, nicht allzu sehr herausgefordert werden …:wink:

Das dunkelhaarige Mädchen stand an der Tür zur königlichen Kinderstube. Zögernd trat sie sein und näherte sich der Wiege. »Lady Mary,« grüßte die Gouvernante. Die so Begrüßte neigte den Kopf und betrachte das schlafende Kind. Das war sie also, die neue Prinzessin. Ein paar rote Haarsträhnen lugten unter der Haube hervor, samtige, rosige Bäckchen zierten das kleine Gesicht. Der Säugling war in feine, edle Stoffe gehüllt, seinem Stand entsprechend. Seinem Stand … Mary runzelte die Stirn, Stand war sehr vergänglich. Mary selbst war vor kurzer Zeit noch die designierte Nachfolgerin ihres Vaters gewesen, seine geliebte Tochter, in edle Kleider gehüllt und mit Schmuck und weiteren Geschenken überschüttet, bis er die Rechtmäßigkeit seiner Ehe mit ihrer Mutter anzweifelte, um seine Geliebte zu heiraten und deren ungeborenes Kind an Marys Stelle zu setzen. Und dann war das Kind auch nur ein Mädchen, nicht der erhoffte Thronfolger.

Das Baby verzog im Schlaf sein Gesicht und wimmerte leise, schlief dann aber weiter. »Ich hoffe für dich kleine Schwester,« dachte Mary bei sich, »dass das Schlimmste, was dir passieren könnte, ist von einem Bruder verdrängt zu werden. Aber so wankelmütig wie unser Vater ist, fürchte ich um dich, um mich und um unser armes Land.« Mary kam es so vor, als würde sie eine Ewigkeit am Bettchen ihrer kleinen Halbschwester stehen und sie betrachten, aber als sie aufsah, waren die Kerzen nur ein kurzes Stück heruntergebrannt.

»Lady Mary, ihr solltet gehen.« sprach die Gouvernante sie an. »Die Königin wird gleich nach der Prinzessin schauen.« Mary lachte verbittert auf. »Die Königin ist nicht hier. Sie wurde in den Buckden Palace abgeschoben, im tiefsten Huntingdonshire.« Sie wandte sich zum Gehen, mit einem letzten Blick auf das schlafende Kind glitt sie aus der Tür und huschte den Gang entlang, fort von den näherkommenden Geräuschen.

Die Zeit verging für die beiden Schwestern und Marys Befürchtungen bewahrheiteten sich. Auch die jüngere Schwester wurde ausrangiert, ihre Mutter sogar hingerichtet und beide Schwestern mussten fern des Hofes zum Teil unter starken Einschränkungen leben. Dann die Geburt des Bruders, endlich ein männlicher Erbe für den gewaltigen Vater. Der Tod noch einer Königin, diesmal im Kindbett, eine Scheidung und eine weitere Hinrichtung, erst mit der letzten Ehefrau des Vaters kehrte etwas Ruhe und so was wie ein beschauliches Familienleben ein. Dann starb der Vater, der kränkliche Bruder folgte ihm auf den Thron, erst dirigiert von seinem Onkel und dann dem nächsten Vormund. Die Schwestern immer in Gefahr und schließlich starb der Bruder viel zu jung. Eine Intrige sollte Mary den Thron nehmen und eine protestantische Cousine an ihre Stelle setzen, doch Mary und ihre Getreuen setzen ihr Recht durch, unterstützt von großen Teilen der Bevölkerung, die in ihr die rechtmäßige Thronfolgerin sahen.

Und so stand Mary am heutigen Tag mit Krone und Insignien vor ihrem Volk in der Westminster Abbey und nahm ihren Platz ein in der langen Reihe von Herrschern. Ihr Blick fiel auf ihre jüngere Schwester, die das Bad in der Menge sichtlich genoss und sie erinnerte sich an den Augenblick vor vielen Jahren, als sie in der Kinderstube eben dieser Schwester stand. »Ich weiß nicht, was die Zukunft bringen wird,« dachte sie, »aber ich werde versuchen dem Land ein besserer Herrscher zu sein, als unser Vater es war und mit meiner Schwester Frieden zu halten.« Dann schritt sie die Stufen hinunter, hoffnungsvoll ihrem Volk und ihrer Zukunft entgegen.

Beim Direktor

Da stand er nun. Wutschnaubend. Der Dreck im Gesicht verwischt durch die bitteren Tränen. Die ganze Wut, der ganze Frust, das Entsetzen über sich selbst… all das hatte ihn überwältigt, war ihm hochgekommen. Er hatte das nicht gewollt. Er hatte Tom nicht schlagen wollen. Aber der hatte seine Mama beleidigt.
„Die versäuft doch eh das ganze Geld.“, hatte er gesagt, „deine Mutter ist 'n Suchti!“
Und dann? Es war zu viel gewesen. Zu viel Provokation. Zu viel Wut. Zu viel Reaktion.
Und nun stand er da. Vor dem Direktor, dessen überheblich tadelnde Worte seinen Zorn nur noch höher kochen ließen. Und zugleich die Trauer. Er war zu einem Schläger geworden. Innerhalb von Sekunden. Seine Mama wäre enttäuscht. Oder? Bekam sie davon mit? Stimmte nicht, was Tom gesagt hatte?
Den Inhalt des Redeschwalls des Rektors nahm er nicht wahr. Nur die beißenden Blicke, die Augen, die ihn durchbohren wollten wie zwei frisch angespitzte Bleistifte. Und den Klang, wütend, kalt, verständnislos. Und seinen Frust. Die Tränen waren bitter und salzig. Sein Herz war schwer.

„Herr Direktor!“
Die breite Stimme seiner Kollegin riss ihn aus der Träumerei.
„Da muss jetzt mal eine härtere Strafe her. Was schlagen Sie vor?“
Der Angesprochene seufzte leise. Und noch immer stand er da, vor seinen Augen. Er, der kleine, wutschnaubende, dreckverschmierte Junge, der damals vor siebenundvierzig Jahren zu einem Schläger wurde.

Das Eis splitterte unter ihm. Sein Atem stockte. Er wagte es nicht, sich zu bewegen.
Langsam versuchte er, den rechten Fuß nach vorne zu setzen.
Knack, Knack, antwortete das Eis auf diesen Angriff und vergrößerte seine Bruchstelle.
Normalerweise hätte das strahlenförmige Muster Malte entzückt. In diesem Augenblick nicht. Sein Herz sprang wie ein Gummiball in die Höhe, die Eisscholle unter ihm drohte nachzugeben. Er stand allein mitten auf dem zugefrorenen See. Ringsumher nur Wald, dunkler Tannenwald.
Das Blut brauste in seinen Ohren, ein heißkalter Strom durchfuhr seinen Körper, in seinem Kopf pochte es. Schweißperlen versammelten sich auf seiner Oberlippe.

Sie hatten recht behalten. Das Eis des großen Sees trug nicht mehr.
Er hatte gelauscht, als sie im Vereinshaus darüber sprachen.
„Für heuer ist Schluss mit Eisfischen. Es taut“
Diese tiefe, dröhnende Stimme gehörte Joe, dem Vorsitzenden des örtlichen Fischereiverbandes …
Stimmengewirr: „Wurde auch Zeit!“ „Der Winter wollte heuer gar nicht weichen!“
„Es ist bereits Anfang Mai und überall liegt noch Schnee.“ „Ja, selbst hier bei uns hoch im Norden.“ „Schon ungewöhnlich“.
„Lasst euch nicht täuschen.“ mahnte Joe. „Das ist kein festgefrorener Schnee mehr, nur eine Harschdecke. Sie trägt nicht. Knirscht, wenn ihr mit euren Stiefeln drüber trampelt. Dann sinkt ihr ein bis zum Schaft.“
„Das ist anstrengend Leute, glaubt mir!“ Wichtigtuerisch wie immer unterbrach ihn
Mike, der Hilfskassenwart, erkennbar am hellen Sopran. „Nehmt lieber Schneeschuhe mit, wenn ihr durch die Wälder streift!“
Gemurmel, Gebrumme, ja, nein, wissen wir selbst …
Mit einer Handbewegung brachte Joe Ruhe in die Runde.
„Ihr seid alte Hasen, wisst wie ihr euch zu verhalten habt. Achtet auf die Natur. Ihr kennt sie. Besondere Vorsicht am großen See, die Eisdecke wird bereits dünner. Wer jetzt Eisfischen geht, ist nicht mutig, sondern leichtsinnig. Also packt eure Geräte weg bis zum nächsten Jahr.“
Malte schob die Türe weiter auf, um zu sehen, wer da war.
Joe bemerkte die Bewegung im Augenwinkel.
„Ah Malte. Dein Vater war heute nicht hier. Er hat schon vor Tagen seine Sachen abgeholt. Mit Ausnahme seiner Eisangelutensilien.“
„Okay. Dann geh ich wieder.“
Joe rief ihm hinterher: „Und deine Mutter, ist sie schon weg? Grüß sie schön von uns allen.“
„Mach ich“ presste er zwischen den Zähnen hervor.
Röte im Gesicht, Kloß im Hals, stolperte er durch den Vorraum. In der Ecke stand abholbereit die Eisanglerausrüstung seines Vaters. Komplett, mit allem, was dazu gehört.
Warum? Benötigte er sie nicht mehr? War sie überflüssig? So wie er?
Malte schluckte.
Er würde es allen beweisen. Wie problemlos er alleine zurechtkam. Er war mutig, ohne waghalsig zu sein.
Leise nahm er die Ausrüstung an sich und schlich davon. Durch den Wald zum großen See. In völliger Einsamkeit. Kein Mensch, kein Tier begegnete ihm.

Jetzt stand er mitten auf dem zugefrorenen See, und das Eis unter ihm trug nicht mehr. Wie in Zeitlupe brach es. Spitze Eiszacken stachen ihn. Sein Fuß sank ein. Kleine Wellen schnappten nach ihm. Er sah das schwarze Wasser, hörte es gurgeln, versuchte, die aufsteigende Panik zurückzuhalten, ebenso die verzweifelten Tränen.

„Malte! Malte! Bleib ganz ruhig!“
„Papa?“
„Ja! Ich bin hier!“
„Papa? Du bist es?!“
„Ja! Ich bin da. Ich helfe dir!“
„Papa, das Eis bricht ! Ich sinke!“
„Malte hör zu! Alles wird gut! Höre nur auf meine Stimme! Leg dich hin, flach mit dem Oberkörper auf die Eisfläche vor dir. Schau zu mir! Hier, greif den Ast!“
Maltes Vater robbte auf dem Bauch über das Eis, den Ast vor sich herschiebend. „Halt dich fest! Ich zieh dich!“
Malte umklammerte den Ast mit beiden Händen. Ein Ruck. Er schrammte mit dem Oberkörper über den Eisrand. Nicht eine Sekunde zu früh. Mit einem lauten, garstigen Geräusch brach hinter ihm das Eis, klaffte ein kreisrundes, gezacktes Loch. Das dunkle Wasser gurgelte und schäumte, als sei es wütend, seine Beute verloren zu haben.
„Gleich haben wir es! Lass nicht los, halt fest!“

Sie schafften es. Keuchend ließen sie sich am Ufer in den Schnee fallen. Malte kroch förmlich in seinen Vater hinein. Der drückte ihn fest an sich. So lagen sie eine Weile im Einklang ihres Herzschlags. Bis Malte genügend Luft hatte, um ein Wort herauszubringen.
„Papa, wieso bist du da?“
„Ich hatte ein komisches Gefühl, als ich sah dass mein Eisangelzeug fehlte. Malte, Malte. Warum hast du das getan? Wolltest du …“
„Nein, Papa, nein“!
Malte vermochte die Tränen nicht mehr zurückzuhalten. Er schluchzte.
„Ich dachte, du bist schon in Kanada!“
„Nein, ich gehe doch nicht, ohne mich von dir zu verabschieden! Die Vorbereitungen der Forschungsabteilung sind noch nicht abgeschlossen. Aber Malte, sag, warum bist du nicht bei deiner Mutter?“
„Papa! Ich will nicht mit Mama und ihrem neuen Mann in die Stadt ziehen. Mama sagt, wir wären nun eine andere Familie und ich hätte einen Bruder, das sei doch toll! Und wir würden zusammen in das städtische Gymnasium gehen. Warum muss ausgerechnet Billy der Sohn ihres neuen Mannes sein?! Der mich hier in der Schule nur ärgert und mich anschwärzt, meine Hefte klaut … auf keinen Fall will ich mit denen in der hässlichen Stadt wohnen, im 5. Stock eines Wohnblocks! Ich will hier im Dorf bleiben … und Fischer werden.“
„Malte, nein! Du bist zu jung, um alleine zu bleiben.“
„Ich werde bald 16, Papa!“
„Aber du musst die Schule fertig machen.“
„Papa, kann ich nicht mit dir kommen? Bitte nimm mich mit!“
„Das geht nicht. Dort kann ich mich nicht richtig um dich kümmern. Bin manchmal tagelang unterwegs, sogar in Alaska … und du musst in die Schule und eine anständige Ausbildung bekommen.
„Ich kann doch auch in Kanada in die Schule gehen. Und du könntest mich als Hilfskraft bei deinen Forschungen einsetzen. Bitte, Papa, bitte. Nimm mich mit, lass mich nicht hier. Ich mache alles, was du sagst. - Ich werde dir eine große Hilfe sein.
Versprochen!“
Maltes Vater überlegte. Wenn … ja … dann … Vielleicht gab es eine Möglichkeit. Sie waren eine Gruppe von Forschern und …
Minuten vergingen. Für Malte eine Ewigkeit, ein Bad zwischen heiß und kalt, Hoffnung und Enttäuschung.
Endlich sagte sein Vater:
„Du musst mit deiner Mutter sprechen“.
„Heißt das ja? Papa! Oder, das heißt es doch!“
„Langsam. Deine Mutter wird traurig sein.“
„Ich glaube nicht. Sie sieht mich gar nicht, ist nur mit ihrer großen Liebe beschäftigt. Da störe ich nur. Und noch dazu ist sie wieder schwanger.“
„Das ging schnell. - Du musst ihr trotzdem Bescheid sagen.“
„Kannst nicht du? Papa?“
„Also gut, Malte. Ich werde mit ihr sprechen.“
„Danke Papa! Wir werden ein tolles Team sein!“
„Mmh. Gut möglich. Gib mir ein paar Tage Zeit. Ich muss einiges erledigen. -
Sofern sich niemand querstellt, weder die Behörden noch deine Mutter, wandern wir beide aus nach Kanada.“
Er grinste Malte verschwörerisch an: „Und forschen zusammen“.

Über die Jahre arbeitete die Forschergruppe um Vater und Sohn, eng mit den kanadischen Universitäten und Behörden zusammen. Viel beachtete Artikel erschienen in Magazinen wie Science und Nature. Forschungsergebnisse zum Klima, wurden veröffentlicht, ebenso zur Fauna und Flora Kanadas und Alaskas.

Klein und zerbrechlich lag sie in ihrem Klinikbett. Ihr Gesicht so weiß wie die Kissen. Die Geräte um sie herum blinkten. Sie hatte die Augen geschlossen.
Malte stand in der Türe, er hatte es geschafft. Es war nicht zu spät.
Sein Herz krampfte sich zusammen, zurückgehaltene Tränen rannen salzig seinen Schlund hinab.
Leise näherte er sich ihr. Sie schlug die Augen auf. „Malte! Du bist es! Du bist hier bei mir. Kommst extra von so weit her!“
„Ja Mama, ich bin es. Heutzutage ist das kein Problem, weißt du. Es geht schnell!“
Er nahm sachte ihre Hand, streichelte über die durchsichtige Haut. So zart. Wie ein Vögelchen, mit dünnen Knöchelchen.
„Du wirst wieder gesund, hat der Oberarzt gesagt.“
„Jetzt, wo du da bist, glaube ich das auch!“
„Ich habe jemand mitgebracht.“
„Josef?“
„Nein, nicht Papa. Er ist vor drei Jahren gestorben. Verunglückt. Ich bin in Papas Fußstapfen getreten, konnte seine Professorenstelle übernehmen.“
Sie setzte sich auf. Ihr Gesicht sah rosig aus. Sie lächelte.
„Wen hast du mitgebracht?“
Malte öffnete die Türe. „Meine bezaubernde Frau Birgitta. Frau Dr. Niels. Eine hervorragende Naturwissenschaftlerin und meine engste Mitarbeiterin.“
„Und das“ - herein stürmte ein weizenblondes kleines Mädchen – das ist Angelina, unser Sonnenschein.“
„Hallo Oma“ sagte die Kleine und drückte der Kranken unbefangen ein Küsschen auf die Wange.

Immer allein. Inzwischen gerne.

Abschulung.

Die Farbe des Briefumschlags hatte schon nichts Gutes verhießen. Entgegen ihrer Art hatte sie ihn einfach aufgerissen. Nicht darauf geachtet, den Stempelaufdruck des Datums nicht zu beschädigen. Da stand es nun. Schwarz auf schmutzig-beige.

Abschulung.

Sie hatte noch ein Buch von Simone. Ihre Telefonnummer nicht. Ihre Adresse auch nicht. Nach den Ferien vor der Schule warten, um es zurück zu geben? Was war peinlicher, ein Buch einfach zu behalten oder solch einen Aufwand zu betreiben, um es zurück zu geben? Wie würden ihre Mitschü… ehemaligen Mitschüler reagieren? Was sollte sie ihnen erzählen?

Die Wahrheit? Die will doch niemand hören. Die wollten nichtmal ihre Eltern hören. Ihre Geschwister auch nicht. Niemand aus der Familie. Sie hatte es versucht. Hatte um Hilfe gebeten. Gebettelt um Verständnis. Faulheit hatte man ihr offen vorgeworfen und dabei Dummheit unterstellt.

Abschulung.

Sie hatte das Jahr vorm Abi schon einmal wiederholen müssen. Eine Auszeit von mehreren Monaten hätte genügen sollen, um über den Suizid eines Freundes hinwegzukommen. Da waren sich alle einig. Aber das hatte sie nicht geschafft. Auch das hatte sie nicht geschafft. Und seit die Geister der Vergangenheit nicht mehr schwiegen, schaffte sie gar nichts mehr.

Erste Therapie. Klinikaufenthalt. Zweite Therapie. Abendgymnasium, Jahrgangsbeste. Studium, Stipendium. Doktorarbeit in nur einem Jahr. Die verlorenen Jahre wieder rein geholt. Fast als wäre nichts gewesen.

In dem Buch von Simone war der gelbe Briefumschlag seit damals ihr Lesezeichen. Das Buch stand inzwischen in ihrem eigenen Büro. Zwischen Fachliteratur und persönlichen Veröffentlichungen. An den Wänden nur Urkunden. Es war niemand da gewesen, um Fotos von den Verleihungen zu machen. Sie stellte den großen Herbststrauß in ihre Lieblingsvase und drapierte ihn auf ihrem Schreibtisch. Selbst gekauft. Ohne Anlass. Zufrieden schaute sie sich um und lächelte.

Zeitlose Eindrücke

Ich nahm den Joint entgegen und nach ein paar tiefen Zügen stoppte die Zeit.

Erst betrachtete ich fasziniert den Sekundenzeiger der roten Wanduhr mir gegenüber. Er schien sich nicht zu bewegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit tickte er endlich einen Strich weiter.

Zwischen dem zweiten und dem dritten Strich begann ich schließlich nachzudenken.

Ich versuchte, mir die Form des Universums vorzustellen und wie erleuchtet, fluteten Bilder in meinen Verstand: Ein Möbiusband! Nein- ein mehrdimensionales Möbiusband.

Da hatte ich es: „Ein unendlichdimensionales Möbiusband, verschlungen in unendlich vielen anderen unendlichdimensionalen Möbiusbändern!“, flüsterte ich leise aber verstummte vor Überwältigung meiner weiteren Eindrücke.

Unendlichkeit über Unendlichkeit über Unendlichkeit. Unendliche Unendlichkeit, ohne Anfang und Ende. Unendlich überlappend.

Ich erfasste das ganze Multiversum und noch mehr. Den Anfang und das Ende. Den Sinn des Lebens, den ursprünglichsten Schöpfer, Tod und Leben, Hell und Dunkel, die ganze überhebliche Menschheit, die sich allwissend glaubt und die ganze dumme Masse bis hin zur einzelnen, nicht weniger dummen, Personen.

Als diese Flut an Bildern abgeklungen war, schaute ich erneut auf die Uhr.

Der Zeiger erreichte gerade den dritten Strich.

Dann bekam ich Hunger und ging zum Kühlschrank.

Schneeflocken Korrelat

Es war beinahe absurd. Beinahe. Eine Schneeflocke schwebte vom Himmel herab und blieb an seinen langen Wimpern hängen. Er lächelte vergnügt, was dazu führte, dass sich zwei Grübchen in seinen Wangen offenbarten. Mit dem Schnee in seinem Haar, sah er aus wie ein Engel. Vielleicht war er das auch. Wer weiß das schon? Ich sicherlich nicht. Das Mädchen lächelte ihm kokett zu und wurde etwas rot. Hatte sie sich dasselbe gefragt? Sie waren hingefallen, beim Skifahren, genau nebeneinander. Sie hatten ausgiebig gelacht und sich obendrein mit Schnee beworfen. Jeder andere hätte dabei eine idiotische Figur abgegeben, aber sie hätten genauso gut die Protagonisten aus einer Skiurlaubsromanze seien können. Einer Kitschigen. Die Szene, wo die Protagonistin hinfällt und ihre Haare in der Sonne glänzen, und beide lachen, und er schaut sie mit glänzenden Augen an, und das Licht trifft beide genau richtig, und dann blicken sie sich viel zu lange in die Augen und er beugt seinen Kopf in ihre Richtung und plötzlich wusste ich was gleich geschehen würde, was ich die vergangene Woche nicht wahrhaben wollte, sich aber unaufhörlich angebahnt hatte.

Das war weder Anfang der Romanze noch Ende. Vielmehr der lang erwartete Höhepunkt und er zog sich hin wie Kaugummi. Eine weitere Schneeflocke blieb an seinen Wimpern hängen. Er beugte seinen Kopf vorsichtig vor, sie drehte ihm ihr Gesicht entgegen und schloss die Augen, mir drehte sich der Magen um und ich betete, dass es schnell vorbei sei und gleichzeitig nie geschieht. Man könnte beinahe über mich lachen.

Vielleicht sollte man das sogar. Wie belustigend musste meine Situation für einen Außenstehenden sein, dass mich ein Moment, der mich so wenig anging, so tief treffen konnte. Eine Schneeflocke hing in der Luft. Doppelt gefroren oder war das ich? So fühlte es sich also an, der Nebencharakter in einer Romanze zu sein.

Könnte ich auch hierbleiben? Im Moment dazwischen, hängend wie eine Schneeflocke, befestigt an einem Seil aus eingefrorener Liebe mit der verzweifelten Hoffnung auf Erwiderung. Vermutlich nicht, schließlich war das nicht meine Geschichte. Er blinzelte, die Welt taute auf. Die hängende Schneeflocke fiel wieder und verschwand zwischen ihren Lippen.

Ich kündigte, zog aus der Stadt. Außer den beiden hatte ich keine engen Freunde gehabt. Das wurde mir zunehmend zum Verhängnis, denn es war schwer Platz für unsere Freundschaft in ihrer Beziehung zu finden. Am Ende waren wir Fremde geworden und nach ihrer Hochzeit, war es Zeit einen Neustart zu wagen.
Dann hatte ich sie nicht mehr gesehen. Auch nicht über Facebook. Der Teil meines Lebens war vorbei und es wurde Zeit eine neue Geschichte zu erzählen. In meinem neuen Job lernte ich meinen Mann kennen und außerdem viele nette Kollegen, die ich bald zu meinen Freunden zählen durfte. Ein Jahr später heiratete ich ihn und vor drei Jahren bekamen wir unser erstes Kind.

„Mama gehen wir Schlittschuhlaufen?“, Clover schaute mit flehenden Augen über seine Schulter. Er saß am Fenster und hatte bis gerade den fallenden Schneeflocken seine Aufmerksamkeit geschenkt. „Ich nehme an,“ begann ich, „Wir könnten sogar Schlitten fahren.“ Da leuchteten Clovers Augen auf und er sprang begeistert von der Fensterbank. Lachend umarmte er meine Beine, bevor er aufgeregt seinen Vater suchen ging. Vielleicht war es nicht das exakte Leben, das ich mir vorgestellt hatte, aber es war meins.

Zeitlos

Alles um mich herum hatte keine Bedeutung mehr.
Ich lag einfach nur da. Unfähig, eine Regung zu zeigen.
Ich bildete mir ein, die Wärme seiner Hand zu spüren.
Er sprach zu mir. Dabei war doch längst alles gesagt.
Was wollte er noch hier? Es war an der Zeit, ich wusste es.
Und doch war es ganz anders, als ich dachte.
Ganz anders, als alle Welt dachte.
Ich fühlte mich frei. Wie befreit von allem Übel, von all‘ der Last.
Meine Angst war unbegründet. Alles war gut so, wie es war.
Gerne hätte ich es ihm gesagt, ihm die Trauer genommen, doch ich konnte nicht.
Ich ging fort und ließ ihn zurück.

Unsere Kinder wuchsen heran, beendeten Ihre Ausbildungen.
Wurden Psychologe und Erzieherin.
Heirateten, bekamen selbst Kinder.
Opa zu sein, füllte sein Herz wieder mit Freude und neuem Lebensmut.
Und doch blieb er einsam. Die ganze Zeit.
Er wartete und wusste selbst nicht, worauf.
Unsere Enkel besuchten nun die Universität.
Seine Augen wurden trüb, sein Gehör ließ nach.
Die Kraft wich aus seinem Körper. Schleichend, aber spürbar.
Alles um ihn herum hatte plötzlich keine Bedeutung mehr.
Er lag einfach nur da, unfähig, eine Regung zu zeigen.
Es war an der Zeit und er wusste es.
Dann kam er.

Alles ist anders.
Anders, als wir dachten.
Aber es ist gut so, wie es jetzt ist.

Die Liebe und der Tod

Es waren deine Lippen, die mich aus dem Wahnsinn um uns herum zurückholten, erdeten.
Das Geschrei um uns herum verstummte, der Tod war besiegt, zumindest für diesen einen Moment.
Dein Kuss schmeckte nach schrecklichem Lakritz, furchtbar herb und bitter, doch verwandelte sich in dieser herrlichen Ewigkeit in etwas Einzigartiges, Glückseligkeit. Sie durchfuhr mich, kroch von meinem Kopf hinab an meinen Nacken, auf dem deine warme Hand ruhte, hinunter zur Hüfte, die sich fest gegen deine drückte bis in meine eiskalten Zehenspitzen, die durch deine Wärme kribbelnd zum Leben erwachten.

„Schau nicht hin, sieht nur mich an“, hattest du mit deinem friedlichen Lächeln gesagt. Es war töricht von dir zu denken, dass ich mich auf etwas anderes hätte konzentrieren können als auf dich.

Ich verfing mich in deinen moosgrünen Augen wie eine hilflose Fliege im Netz einer Spinne, doch im Gegensatz zu dieser wandte ich mich nicht, verfiel nicht in Panik, sondern blickte meinem Schicksal lächelnd entgegen.
Ich gehörte dir, vollkommen und unwiderruflich dir.

Zwei Jahre, drei Monate, sechs Tage, vier Stunden, neununddreißig Minuten und sieben, acht, neun Sekunden.
So lange ist es her, dass du mich gerettet, mir eine Chance zum Überleben gegeben hast.
Zwei Jahre, drei Monate, sechs Tage, vier Stunden, neununddreißig Minuten und fünfzehn, sechzehn, siebzehn Sekunden, seitdem du dein Leben gelassen hast, um meines zu schützen.

Das Papier knistert zwischen meinen Fingern und der herbe und bittere Geschmack durchflutet meinen Mund.
Dein sorgloses Lächeln holt mich zurück, erdet mich, so wie es einst deine Lippen taten.
Ich streiche das kleine, schwarze Papier fein säuberlich glatt und lege es vor mir auf den Boden. Dein Blick scheint mich dabei zu verfolgen.
„Schau nicht so, Blumen kann jeder“, die Worte kommen undeutlich aus mir heraus, während ich das Lakritz Bonbon von links nach rechts schiebe.

Ich verlasse den Friedhof mit dem Seelenfrieden, den du mir einst schenktest und während mein Blick in den grauen Himmel gleitet, zähle ich, so wie ich es seit jenem Tag immer mache. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig, vierundzwanzig …

Trauer und Freundschaft

»Unsere Taucher haben nichts gefunden… Wir gehen davon aus, dass sie…«
Mehr brauchte er nicht sagen. Die üblicherweise folgende Frage nach seelischen Beistand nahm er im Rauschen seiner Ohren nicht wahr. Mit einer Wucht, die ihm fast den Boden unter den Füßen wegzog, prallte die Information auf ein ihn. Ihm wurde heiß, kalt. Er wankte, versuchte sich aufrecht zu halten. Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn, während sein Blut erstarrte. Förmlich gefror in seinen Adern.
Sie war tot. Das konnte doch nicht sein. Sie konnte nicht… Das kann nicht sein!

Er öffnete den Mund, um dem Beamten zu sagen, dass das unmöglich war. Doch nicht einmal ein Hauch Atem brachte er über die Lippen. Ihm war, als würde er innerlich zerteilt. Ein Dolch, mitten in seinem Herzen, der seinen ganzen Körper zerriss. Sie war tot. Er hatte versagt. Er hätte besser auf sie aufpassen müssen. Das durfte nicht passiert sein. Er hätte…
Seine Gedanken drehten sich wie ein Karussell im Kreis, immer schneller und schneller.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Er blinzelte.

Einen Wimpernschlag später stand noch immer der selbe Typ vor ihm, der ihn fragend wie zugleich mitfühlend anschaute. Greg. Sein Kollege bei der Polizei. Sein bester Freund.
»Ich bin für dich da«, sagte Greg.
»Ich brauche keinen Beistand«, hörte er eine Stimme sagen, die wie seine klang.
»Ich brauche keinen Beistand, verdammt nochmal«, brüllte er.
Sein Gegenüber zuckte zusammen. Dann trat dieser einen Schritt auf ihn zu und schloss ihn in seine Arme. Ohne es zu merken, begannen Tränen aus seinen Augen zu fließen, und er nahm die Umarmung an.

»Danke mein Freund«
Mit einem Schritt zurück löste er sich aus der Umarmung.
»Ich lass dich kurz allein«, erwiderte Greg und entfernte sich über die Wiese in Richtung der Kapelle.
Sein Herz wog nach wie vor schwer. Er drehte sich zur Seite, und legte die mitgebrachten Blumen auf ihr Grab. Mit gesenktem Blick hielt er einen Moment inne. Es fühlte sich nicht so an, als seien zwei Jahre vergangen. Und dennoch stand er nun hier, an ihrem Grab. Allein.
Im Gegensatz zu damals jedoch, konnte er jetzt wieder nach vorne blicken. Er schaute auf und sah Greg entschuldigend winkend. Er rang sich ein Lächeln ab, als ihr… nein, sein Hund, Greg freudig ansprang, als dieser bei ihm ankam. Es wartete wohl ein neuer Fall auf sie. Auf sie beide. Oder drei. Einen kurzen Moment hielt er noch inne, dann gab er sich einen Ruck.

Im Gehen wandte er sich noch einmal um zu ihrem Grab.
»Es tut mir leid, Schwesterherz«, flüsterte er leise. »Es tut mir leid«

Die gelbe Wand

Dieser Moment sollte ihm immer in Erinnerung bleiben. Er könnte heute nicht einmal sagen, welches Spiel es war, welcher Gegner, als er das erste Mal mit seinem Vater das Westfalenstadion besuchte. Allein dieser einmalige Geruch rund um das Stadion, hatte sich für immer in sein Gehirn gebrannt. Diese Mischung aus frisch gemähtem Gras, Bratwurst, Bier und Zigarettenqualm. Und dann war da dieser eine Augenblick. Dieser perfekt geschossene Freistoß vor der gelben Wand. Der Ball, der um die eigene Achse rotierend, hoch in die Luft stieg, um sich dann hinter der gegnerischen Mauer wieder zu senken und genau zwischen der Hand des Torhüters und der Torlatte im Netz einzuschlagen. Immer würde er diesen Bruchteil einer Sekunde erinnern, in der die Welt kurz stillzustehen schien. Kurz vor dieser Explosion der Emotionen, als einem Vulkanausbruch gleich, sich Menschen freudetrunken in den Armen lagen. Die Luft erfüllt von Papierschnipseln, Pilskragen und geworfenen Plastikbechern. Dieser Moment der vollkommenen Ekstase.

Viele Stadionbesuche sollten folgen. Mit seinem Vater, später mit Freunden. Die Jahre vergingen wie im Rausch. Suchtartig immer auf der Suche nach diesem Gefühl, nach diesem besonderen Augenblick. Er erlebte Meisterschaften und Pokalsiege, ebenso wie bittere Niederlagen. Doch er wurde älter. Prioritäten verschoben sich. Freunde verschwanden. Karrieren wurden vorangetrieben. Familien gegründet. Und das Gefühl geriet in Vergessenheit.

Nach langer Zeit, ist er heute wieder auf dem Weg zum Stadion und die Emotionen sind sofort wieder da, als wäre er nie weg gewesen. Wehmütig blickt er zu seiner linken Seite. Er blickt in zwei strahlende Kinderaugen. Heute geht er mit seiner Tochter das erste Mal ins Stadion.

„Als Kind bin ich mit meinem Vater gekommen und der wurde auch schon von seinem mitgenommen.“ („Borussia“ von Bruno Knust)

#boykottqatar

In einem Augenblick war alles anders.

Ich bin ein Romantiker. Ich träumte, mit Micheal J. Fox und dem DeLorean durch die Zeit zu reisen, um seine Eltern zusammen zu bringen. Denn wahre Lieb findet oftmals nicht zueinander, entgegen dem landläufigen Meinungen. Ebenso wenig nützt, eine Zeitmaschine in die Zukunft zu schicken, wie es H. G. Wells es schrieb, denn sein Eloy Mädchen wurde von den Morloks verschleppt, und höchstwahrscheinlich verspeist.
Meine Freundin Sahne saß als Sozia hinter mir. Wir tuckerten durch den Harz. Die Strecke war kurvenreich, aber mit angemessener Geschwindigkeit zu bewältigen. Wir genossen die Natur, die bisher üppig grünte, bevor Borkenkäfer und Trockenheit die Bäume und Sträucher fraß. Der Plan war: ein Picknick im Freien einzunehmen. Es war beabsichtigt, dass es ein schöner Ausflug werde, mit einem richtigen Picknickkorb, und -decke und -geschirr. Alles war hübsch verstaut in den Satteltaschen meiner Harley.
Wir fanden ein malerisches Plätzchen, nahe einem kleinem Wasserfalls. Ich stellte die Maschine neben dem Wanderweg ab, räumte die Taschen aus, und wir schlugen uns durch einen schmalen Pfad abseits des üblichen Weges.
Die Vögel zwitscherten. Der Wind ließ die Blätter von Liebe flüstern. Wir tauschten Küsse, tranken etwas weißen Wein. Die Trauben steckten wir uns gegenseitig in unsere Münder. Erdbeeren und Sahne aus der Sprühdose. Etwas Biskuits. Herrlicher vermag der Nachmittag nicht mehr werden.
Es zogen Wolken auf, der Wind blies heftiger, es wurde kälter. Wir räumten rasch unsere Sachen zusammen, und schon prasselte der Regen auf uns hinab. Unter den Bäumen waren wir relativ geschützt. Und mit unsere Bekleidung war Schutz vorhanden, leider steckten die Jacken in den Satteltaschen. Ergo, wir würden durchnässt bis auf die Haut werden, bevor wir das Bike erreichen.
Zu allem Überfluss gab es Donner. Wie war das? Eichen sollst du weichen, Buchen sollst du suchen! Ich weiß nicht, ob da, was dran ist. Ich glaube, ehr nicht!
Wir hatten den kleine Pfad fast verlassen, als ein fürchterliches Krachen die Erde erbeben ließ und die Ohren klingeln. Ein Blitz blendete mich, so dass ich nichts mehr sah, vernahm aber einen kurzen Laut, der einem Schrei glich, aber abgeschnitten wurde.
Ich fand mich minutenspäter auf dem feuchten Waldboden wieder. Meine Glieder zitterten. Die Gedanken flatterten. Wohin? Ich weiß nicht. Es schien mir eine Ewigkeit. Alles bewegte sich in Zeitlupe. Was genau geschah, wusste ich zu diesem Zeitpunkt selber nicht. Erst später, aus Erzählungen der anderen, entstand ein Bild der Katastrophe.
Ich beträte das Zimmer mit einem Strauch Lilien. Susanne liebte dies Blume. Sie verband die Lilie mit ihrem christlichen Glauben, wo die Lilie als Symbol auftaucht. Susanna im Bade stellte weit vor Maria die Lilie als Zeichen der Reinheit dar. Okay, so hatte ich das nicht auf dem Schirm. Es war Sahne‘s Ding, nicht meins. Aber es würde sie sicher erfreuen, wenn sie aus ihrem tiefen Schlaf erwacht und die Blumen sähe.
Ich halte ihre Hand und streiche sanft über ihr Gesicht. Zum Abschied bekommt sie einen dicken Kuss. Ich weiß nicht, ob sie es bemerkt. Ich hoffe es. Das ist schon seit Jahren so, seit dieser vermaledeite Ast sie am Kopf getroffen hat. Ich berühre meine Narbe am Arm, wo der Blitz mich gestreift hatte. Ich schaue auf das Krankenbett und die Schläuche, und hoffe. Erwache mein Schatz! Erwache!

Was hatte ich getan…

Dichte, schmutzige Staubwolken hingen über dem Gelände und machten den Tag zur Nacht. Oder war es bereits Nacht? Es war so still … kein Laut drang durch die Luft, in der das Atmen schwerfiel. Meine Kehle war trocken, meine Augen brannten. Wasser, ich brauchte Wasser … Mühsam einen Fuß vor den anderen setzend taumelte ich über die Straße. Schutt und Geröll bedeckten den Boden und ließen mich stolpern. Erschöpft suchte ich Halt an der Mauer eines Hauses und lehnte mich rücklings gegen die raue Fassade.

Warum zitterten meine Hände so sehr? Langsam streckte ich die Arme vor und keuchte auf. Meine Handflächen waren blutig, bedeckt von frischen Brandwunden. Rohes, rotes Fleisch unter Krusten von Schmutz. Ungläubig starrte ich sie an. Wie war das passiert? Ich suchte nach einer Erinnerung, aber ich fand sie nicht. In mir war nichts - keine Schmerzen, keine Gefühle, keine Gedanken, nur Leere. Ich war wie … ausgebrannt. Mir wurde schwindelig. Blinzelnd hob ich den Kopf und versuchte, meine Umgebung zu erfassen. Im dämmrigen Dunkel blickte ich auf ein Trümmerfeld. Dort, wo geschäftiges Treiben die Straßen hätten füllen sollen, wurden sie gesäumt von Ruinen und den verkohlten Überresten einiger Bäume. Nichts regte sich.

Vorsichtig machte ich einige Schritte, tastete zwischen tönernen Scherben und zerbrochenen Ziegelsteinen nach sicherem Stand. Kaum ein Gebäude, das nicht bis auf seine Grundmauern zerstört worden war. Die mir so vertrauten Winkel und Gassen - es gab sie nicht mehr. Wie betäubt ging ich weiter, schlug die Richtung ein, in der ich den Tempel mit seinem Brunnen vermutete. Die Stadt, die ich gekannt hatte, war fort. Nur langsam sickerte diese Erkenntnis durch den Nebel, der meine Gedanken zu lähmen schien. Erst jetzt fiel mir auf, dass es keine Leichen gab. Keine zerfetzten Leiber, keine abgerissenen Gliedmaßen oder verbrannten Körper … Bei den Göttern - was war hier geschehen? All die Menschen, die hier lebten … Wo waren sie? Geflohen? Wovor? Und wenn ja - warum war ICH noch hier?

Wohin ich auch sah, überall bot sich mir das gleiche Bild. Zerstörung … so endgültig, als sei ein gewaltiger Feuersturm über die Stadt hinweggefegt, hätte alles Leben darin ausgelöscht und nicht einmal mehr Tod zurückgelassen. Alles Leben … außer dem meinen … Ich spürte, wie sich eine eisige Kälte in mir auszubreiten begann, die mich fast erstickte. Die Erinnerung, nach der ich mich eben noch gesehnt hatte - ich wollte sie nicht mehr schlug die Hände vor die Augen und sank wimmernd auf die Knie, denn mit einem Mal begriff ich…

Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf, prasselten in rascher Folge unbarmherzig auf mich ein, Bilder von gewaltiger Hitze und unkontrolliertem Zorn. Und inmitten dieses Mahlstroms aus Feuer und Vernichtung stand eine dunkle Gestalt mit erhobenen Armen, in deren kalten Augen der Wahnsinn flackerte.

Schwarze Augen … es waren meine Augen, in die ich sah … Die Erinnerung traf mich mit voller Wucht. Was hatte ich bloß getan?

„Nein! Oh ihr Götter… Neeein!“

Ich schrie meine Qual hinaus in die Todesstille und sackte schluchzend in mich zusammen. Ich weinte, wie ich es noch nie in meinem Leben getan hatte. Meine verbrannten Hände krallten sich in die staubige Erde und suchten nach einem Halt, den es nicht gab. Tot … alle waren sie tot … Und die Gewissheit, dass ich die Schuld daran trug, erschütterte mich zutiefst. Ich kauerte dort, bis ich keine Tränen mehr hatte. Wie es mir schließlich gelang, aufzustehen, weiß ich nicht. Aber ich rannte los, lief ziellos in irgendeine Richtung, immer weiter. Ich stolperte, fiel hin, kämpfte mich hoch. Weg … ich wollte nur noch weg von diesem Ort und dem Grauen, das ich selbst heraufbeschworen hatte. Mit jedem Schritt wirbelte ich Staub auf, der sich hinter mir beinahe zögerlich wieder auf das hinabsenkte, was einst Rhyl gewesen war. Ein Leichentuch für die Tempelstadt, die aufgehört hatte, zu existieren.

Einige Jahre später, das Davonlaufen musste ein Ende haben…

Der Morgen brachte Regen. Dunkle Wolken schoben sich über die Westliche See und entluden ihre nasse Fracht über der Ebene von Sur Nima. Ich zog meine Kapuze tiefer ins Gesicht und war dabei so in Gedanken versunken, dass ich kaum spürte, wie die Kälte begann unter meinen Umhang zu kriechen. Für einen Augenblick verblasste die Welt um mich herum, wich staubigen, engen Straßen und die Luft schien erfüllt von exotischen Gerüchen und dem lärmenden Pulsieren einer lebendigen Stadt …

Entschlossen schüttelte ich den Kopf. Es war vorbei, endgültig. Das Leben in Bandar al Zaby würde seinen gewohnten Gang gehen und möglicherweise würde es sich sogar noch eine Weile an Faris, den Kaufmann aus der Fremde, erinnern. Faris, der vor zehn Tagen gestorben war. Sofern man von sterben sprechen konnte, denn genau genommen hatte er nie gelebt. Und doch war ich ER gewesen, hatte ihn erschaffen um Frieden zu finden und mich der Illusion hingegeben, dass es möglich sein würde, zu entkommen.

Ich hatte ein Schauspiel aufgeführt, mich in bauschige, farbenfrohe Gewänder gekleidet und ein bescheidenes Lächeln auf mein Gesicht gezaubert. In meinen Augen aber lag die Wahrheit … Sie schauten mich aus dem Spiegel heraus an und wussten es besser. Augen, so dunkel wie der Himmel in einer mondlosen Nacht. In ihrer Finsternis lag eine Wahrheit, die sich mir tief eingebrannt hatte. Und als ich schließlich ihrem - meinem - Blick standhielt, bekam die Fassade erste Risse.

So verließ Faris eines Tages die Stadt, lächelte und nickte jenen zu, die er kannte. Als Bandar nur noch ein verschwommener Schemen am Horizont war, hatte der freundliche Kaufmann aufgehört zu existieren.

Bei einer Gruppe fahrender Händler kaufte ich ein Pferd und tauschte die bunte Kluft gegen eine schlichte graue. Ein Barbier befreite mich von viel zu vielen Haaren, so dass ich mir eigenartig nackt vorkam, als ich wieder in den Sattel stieg. Mein altes Ich schien mir noch nicht so recht wieder zu passen, fühlte sich ungewohnt an, wie Kleidung, die lange nicht getragen worden war.

Dennoch - Shedan war zurückgekehrt und sein Weg führte ihn nach Norden.

Zweifarbig

„Die Grenze ist tabu!“ So trichterten es die Erwachsenen den Kindern immer wieder ein. Und: „Wehe, ihr geht dort hin!“ Das hörten die Kinder so oft, dass es kaum verwunderlich war, dass es zu einer Mutprobe geworden war, eben doch dorthin zu gehen und dort zu spielen. Und wer dazugehören wollte, musste mitmachen.
Aski wollte dazugehören, darum machte er auch mit. Obwohl er die Grenze ziemlich gruselig fand, immerhin war sie zwar da, aber nicht markiert. Woher sollte man also wissen, wann man drüber war?
Außerdem spielten sie Verstecken, was das Ganze auch noch einmal unheimlicher machte. Aski hockte hinter einem Busch und gab sich Mühe, ganz still zu sein, um nicht gefunden zu werden, doch dabei fühlte er sich auch allein. Und allein in der Nähe der unsichtbaren Grenze zu sein, machte ihm Angst. Es war doch überhaupt kein wirkliches Spiel, wenn man die meiste Zeit allein war. Die einzige Gesellschaft, die er hatte, waren ein paar Blumen.
Die waren dafür wenigstens wirklich hübsch. Auf dürren Stängeln streckten sie sich nach oben und winkten mit rundlichen kleinen Blättern. Ihre violetten Kelche mit den dunkelgepunkteten Blüten nickten ihm aufmunternd zu. Er lächelte. Solche Blumen hatte er vorher noch nie gesehen, aber sie gefielen ihm. Die Art, wie sich tief im Inneren die leuchtend gelben Stempel versteckten, erinnerten ihn an sich selbst. Auch er spielte Verstecken.
„Was machst du da?“
Aski fuhr erschrocken zusammen und beeilte sich dann, sich umzudrehen. Zuerst dachte er, das Mädchen, das mit Suchen dran war, hätte ihn gefunden, aber sie war das nicht. Ein anderes Mädchen stand hinter ihm und er hatte es noch nie gesehen, obwohl sie im selben Alter sein mussten. Und trotzdem kam ihm die zierliche Gestalt vertraut vor.
Sein Atem stockte, als ihm klar wurde, was passiert sein musste: Eine der Blumen war soeben zu einem Menschen geworden, um ihm echte Gesellschaft zu leisten! Ja, das war eindeutig! Das Mädchen trug ein grünes Kleid wie der Stängel. Seine Haare kringelten sich um sein Gesicht, wie sich auch die Ränder der Blütenblätter kräuselten. Die Punkte waren zu Sommersprossen geworden. Und am wichtigsten: Die Haut war so lila wie der Kelch. Das hatte er noch nie gesehen. Er konnte nur staunen.
Das Mädchen musterte ihn und legte neugierig den Kopf schief.
„Wieso bist du gelb?“, fragte es.

Das Mädchen war natürlich nicht wirklich eine verwandelte Blume. Stattdessen wohnte es einfach nur auf der anderen Seite der Grenze und hieß Iksi. Aski lud Iksi zum Spielen ein und sie nahm an. Mit ihr machte alles gleich drei Mal mehr Spaß, darum verstand Aski es nicht, warum seine Eltern mit ihm schimpften, als er von dem violetten Mädchen erzählte.
„Wir sind Gelb!“, sagten sie. „Die anderen sind Violett! Wir vermischen uns nicht mit ihnen, das sind Barbaren! Kein Geschmack, keine Manieren, kein Verstand! Halte dich fern von der Grenze!“
Aski ging trotzdem wieder hin und traf Iksi wieder, und sie erzählte ihm, dass ihre Eltern genau dasselbe gesagt hätten. Und weil keiner von ihnen nachvollziehen konnte, was ihre Hautfarbe für einen Unterschied machte, spielten sie eben wieder zusammen. So oft wie möglich. Über Wochen hinweg. Monate. Jahre.
Ihre Freundschaft war nicht unzerbrechlich. Sie bekam Knackse, als ihre jeweiligen anderen Freunde und Familie davon hörten und sie voneinander zu trennen versuchten. Sie ging auch einmal fast in die Brüche, als Iksi Aski dabei erwischte, wie er einen ungehörigen Witz über Violette machte. Doch sie überwanden den Bruch und die Knackse heilten und sie waren immer noch Freunde.

„Das ist der erste Schritt“, sagte Iksi und lächelte Aski an. Sie standen vor dem Eingangstor zu dem Haus, das sie mitten auf der ehemaligen Grenze errichtet hatten. „Eine Schule, in der Gelbe und Violette gemeinsam lernen können.“
„Ja“, sagte Aski. „Ich mag die Blumen.“ Es waren ebenjene, die er vor all den Jahren betrachtet hatte, als Iksi ihn gefunden hatte. Sie blühten in einem Meer überall um sie herum.
„Ich auch“, sagte Iksi. Sie schlangen die Finger um die des jeweils anderen und blickten in die Zukunft.

Mein größter Verlust!

Und wie hast du mich wieder genervt weil ich schnell etwas aus dem Supermarkt holen sollte. Du wusstest doch das ich für sowas keine Zeit habe. Nur schnell ein paar Tomaten und ein Kasten Wasser, „das kannst du mir doch nicht verwehren“, hast du gesagt. Nein, und abermals nein dachte ich mir. Warum will sie nur nicht verstehen das ich beschäftigt bin? All diese wichtige Arbeit der ich morgens bis abends nachgehen muss, sogar über den Feierabend hinaus, trage ich Sorgen und Gedanken in mein Bett, um über Sinn und Unsinn zu philosophieren. Tomaten und Wasser, meine Güte.

Eine Unzufriedenheit die mich Tag ein Tag aus begleitet, jedoch nie deine Schuld war. „Können wir nicht noch schnell in den Baumarkt, der schliesst doch gleich?”, reisst deine Stimme mich aus den Gedanken. Es ist kurz vor acht. Schnaubend und genervt gehe ich dann eben mit dir dahin. Eine Packung Blumenerde, ein Duschkopf und verschiedene mir völlig unbekannte Pflanzen im Arm standen wir eine Minute vor Ladenschluss an der Kasse. „Brauchen Sie noch was?” Die Stimme der Kassiererin lässt mich nur hoffen ein „Nein” zu hören. „Nein danke!” Puh, Glück gehabt und nichts wie ab nach hause. Kaum beruhigen konnte ich mich. Dabei war es nur ein Gefallen. Ein kleiner Gefallen.

Das Telefon klingelt. Die Klinik ist dran.

Und plötzlich, plötzlich wurde es ganz still. Ich kann nichts mehr sehen, Töne verschwimmen in sich. Die Autos auf den Straßen fahren weiter. Menschen unterhalten sich. Mir unverständlich warum die Welt nicht stehen bleibt. Ich höre meinen Herzschlag. Meine Atmung ist flacher und schneller als sonst. Es fühlt sich an als bliebe die Zeit stehen. Meine Zeit, während es um mich herum keine Veränderung zu geben scheint. Ich habe den wichtigsten Menschen in meinem Leben verloren.

Mein Telefon steht still, niemand möchte noch schnell etwas aus dem Laden haben. Eiskalter Schauer fährt mir noch 11 Jahre nach deinem Tod über den Rücken. Wie man nur so dumm und egozentrisch sein kann wie ich damals? Keine Arbeit ist so viel Wert wie du es all die Jahre für mich warst. Jeden Tag wünsche ich mir dich zurück. Du warst immer für mich da, jede Minute wünsche ich mir zurück Zeit mit dir zu verbringen. Ich vermisse dein Lachen und unsere Weinabende. Deine Geschichten und deine Art. Wir waren zusammen stärker als alles andere. „Lass dich gernhaben” waren deine Worte. Und nun höre ich es nur noch ganz leise. Ich weiß, dass du immer noch bei mir bist. Es ist eine schwere Last die ich seit Jahren in mir trage. Ich war bei dir als du gegangen bist und ich wünschte heute noch mehr als damals, ich wäre es bei jeden noch so kleinen Wunsch von dir auch gewesen. Wie gern würde ich noch einmal deine Stimme hören doch mein Telefon steht still.

Alles, was mir bleibt, ist die Erinnerung an dich, geliebte Omi.

**

„Wird es weh tun?“, fragte er zitternd. Gänsehaut zeichnete sich deutlich auf seinen Armen ab, ein dünner Schweißfilm schimmerte auf seiner Stirn. Er lag, nur mit einem dünnen Laken zugedeckt, auf dem OP-Tisch. In beiden Armen steckten Kanülen, die an Tropfflaschen angeschlossen waren. Blutdruck und Pulsschlag wurden mit Geräten überwacht. „160 zu 100, bei einem Puls von 95“, verkündete die emsig im Raum umherschwirrende Krankenschwester. „Sie brauchen keine Angst zu haben“, die Narkoseärztin sprach ihm beruhigend zu, „wir haben doch alles durchgesprochen.“ Er lächelte gequält und sagte: „Ich weiß, ich weiß, aber es ist ja schließlich kein Routineeingriff.“ Der leitende Professor trat an sein Bett und erklärte: „Das ist es sicher nicht, aber wir haben alles genau geplant und wissen genau, wie wir vorgehen werden. Wir werden sie als nächstes auf den Kühltisch legen, sie bekommen ein Beruhigungsmittel und wir werden ihre Körpertemperatur langsam auf 20°C abkühlen. Das ist etwas unangenehm, aber sie schlafen währenddessen auch sehr schnell ein. Während wir die Temperatur noch weiter absenken, beginnen wir damit, ihr Blut gegen die Glycerin-Kryo-Lösung auszutauschen. Irgendwann setzen dann Herzschlag und Atmung aus, dann übernimmt die ECMO die Beatmung und Kreislaufsteuerung. Wenn kein Wasser mehr, in Form von Blut, in der Austauschflüssigkeit nachgewiesen wird, werden alle lebenserhaltenden Geräte abgeschaltet und das Liquor in Rückenmark und Hirn gegen die Lösung ausgetauscht; danach starten wir den Einfrierprozess. Zuerst werden wir ihren Körper auf 5°C herunterkühlen, bis die letzten Spuren von Wasser aus ihrem Körper entfernt worden sind. Dann wird der Flüssigkeitsaustausch gestoppt, alle Körperöffnungen geschlossen und weiter auf -50°C abgekühlt. Sobald ihr Körper komplett durchgefroren ist, wird er mit flüssigem Stickstoff auf die Zieltemperatur von -196°C gebracht und eine Stunde bei dieser Temperatur gehalten. Danach werden sie in die Aufbewahrungskapsel überführt und ins Kryozentrum transportiert; dort schlafen sie dann für die nächsten hundert oder tausend oder gar zehntausende von Jahren.“ Der Professor lächelte ihm aufmunternd zu und wandte sich an die Narkoseärztin. Er wurde auf den Kühltisch gehoben und die Arbeiten begannen. Die Krankenschwester beugte sich über ihn und murmelte in beruhigendem Tonfall, „so, jetzt werden sie sich gleich entspannen.“ Während er ruhiger und etwas schläfrig wurde, flüsterte er die Fragen, auf die sich sein ganzes Denken reduzierte: „Werde ich wieder aufwachen? Und wenn ja, in wie vielen Jahren? Hundert Jahre, tausend Jahre, zehntausend Jahre?“ Ihm wurde sehr kalt, er begann zu zittern. „Zwanzigtausend Jahre“ war der letzte Gedanke, den er noch bewusst wahrnahm, dann schlief er ein und verlor das Bewusstsein.

Er schlug die Augen auf, war geblendet vom hellen Licht, konnte nichts sehen oder erkennen. Er hatte keinerlei Zeitgefühl, er fror und hatte einen furchtbar trockenen Mund. Dennoch versuchte er, die Frage zu der Zahl zu formulieren, die schemenhaft in seinem Gedächtnis aufflackerte: „Wie viel Zeit ist vergangen … sind es zwanzigtausend Jahre?“

„Nein, es tut uns leid, es sind nur zwanzig Minuten! Es gab ein Problem und wir mussten sie wieder zurückholen.“

Es warst immer nur du…

Die Sonne brannte höllisch an jenem Tag, an dem du durch meine Gasse gingst. Ich positionierte meine neuen Murmeln auf dem Gehweg – bereit, diesmal die Grünen, die es mir besonders angetan hatten, zu treffen. Ich war sieben Jahre alt und behauptete mit Recht, dass es meine Gasse war. Du lächeltest ohne jegliche Gegenwehr. Ich glaubte, dich erobert zu haben. Doch stattdessen strichst du mir durchs Haar, beugtest dich zu mir herunter, dem kleinen Rebellen, der sein Revier zu verteidigen vermochte, – und küsstest zart meine Wange.

Ich roch dein Haar, deinen süßen Duft, der nach all dem Wunderbaren roch, das ich zuvor noch niemals eingeatmet hatte – und ein wenig nach Mutter, aber dennoch so fremd. Ich sah in deine großen, grünen Augen, die von langen Wimpern – wie Flügel eines Engels im Rhythmus deines Lächelns schwingend – umrahmt wurden. Als du gingst und dich noch einige Male zu mir umdrehtest, wusste ich: Du bist es – für immer.

Die erste große Liebe: Wir lagen eng umschlungen in meinem VW Käfer.

Ich achtzehn und du voller Liebreiz, als wüsstest du ein süßes Geheimnis, das mir bislang verwehrt blieb. Jede deiner Berührungen, wie ein zarter Kuss, sagte mir: Du bist es.

Viele Jahre fielen von mir ab, als wären sie nicht meine. Ich lernte, wie man Liebe schreibt, und dass sie dennoch ein ewiges Mysterium sein würde. Meine Murmeln verloren sich in den Schubladen des Lebens und ich, ich gab alles und auch nichts.

Irgendwann – nach einem Meer voller Lippen, einem Berg zerbrochener Herzen, nach Schmerz der Trennungen und Freuden der Begegnungen; und an jenem Tag, an dem ich glaubte, dich für immer verloren zu haben – kamst endlich du.

Es war nur ein kurzes Lächeln und doch trug es mehr Bedeutung als jede Berührung davor. Ich habe dich nie wegen deiner Schönheit geliebt. Du bist die Freude und der Schmerz meines Lebens. Du hast meine Sehnsucht gestillt, meinem wachen Herzen Frieden geschenkt und mir die Kraft verliehen, alles zu schaffen – unbesiegbar zu sein. In deinen Augen, die mich magisch anzogen, warst immer nur du. In deinem Lächeln, das mir die Luft zum Atmen gab, warst immer nur du. In der Berührung, die mein Herz zum Brennen brachte, warst immer nur du. Und in deiner Stimme lag jedes Mal die Süße und Zärtlichkeit eines Kusses verborgen.

Denn du warst immer nur du – wie an jenem sonnigen Tag.