Flucht aus der Angst
Mara starrt durch den Türspalt ihres Kinderzimmers in den spärlich beleuchteten Flur. Aufmerksam spitzt sie die Ohren, lauscht nach verdächtigen Geräuschen im Haus. Ihre Eltern sind zum Kegeln in das gegenüberliegende Wirtshaus gegangen; die Treffer kann sie durch ihr gekipptes Fenster hören. Normalerweise sitzt Oma unten, um auf sie aufzupassen. Doch heute trägt Mara die Verantwortung für sich und ihren jüngeren Bruder Bastian. ‚Ich bin schon neun und brauch keinen Babysitter mehr‘, hatte sie beim Mittagessen aus einer Laune heraus getönt.
Seit einer dreiviertel Stunde liegt sie hellwach vor Angst im Bett.
‚Was war das?‘, angespannt nimmt Mara das Ächzen der Holztreppe wahr, ‚sind Mama und Papa schon wieder da?‘. Ihr Blick huscht zum Radiowecker. Es ist 21:32 Uhr. ‚Nein, zu früh.‘
Der schwere Vorhang wölbt sich ins Zimmer, Wind tritt durch das Fenster ein und trägt das Poltern umfallender Kegel in ihr Ohr. Sie zieht sich die Bettdecke bis über die Nase.
‚Sind das Schritte auf der Treppe?‘, Mara hält die Luft an. Mit pochendem Herzen kneift sie die Augen zu Schlitzen zusammen. Das Licht einer Taschenlampe tanzt durch den Flur, dringt in ihr Zimmer ein.
Regungslos konzentriert sie sich auf den Türspalt und registriert, wie ein erneuter Windzug das Türblatt erzittern lässt. ‚Warum bläht sich der Vorhang diesmal nicht?‘
Ehe der Lichtstrahl sie erfasst, schließt Mara ihre Augen. ‚Aber der Umriss ist zu groß für …‘
Sie spürt das Licht nur kurz in ihrem Gesicht, bevor sie das Klicken hört.
Etwas Schweres plumpst auf sie drauf, bewegt sich, weint.
„Bastian!“, panisch reißt Mara die Augen auf, vor ihr eine vermummte Gestalt. Sie nimmt ihren Bruder beschützend in die Arme: „Psst, ich bin hier, alles wird gut“, versucht sie ihn und sich selbst zu beruhigen.
„Macht ja keinen Mucks, kapiert?“, droht die dunkle Stimme kühl, „sonst passiert was!“ Mara hört, wie der Eindringling ihren Zimmertürschlüssel von außen ins Schloss steckt und abgesperrt.
Um sie herum ist es stockfinster. Kein Licht dringt mehr aus dem Flur hinein.
Das dumpfe Scheppern der Kegel hallt durch den Raum. Bastian wimmert in ihren Armen. Im Haus rumpelt es, Schranktüren werden geöffnet, Gegenstände herausgerissen.
Kegel scheppern, Schubladen werden quietschend geöffnet, Glas splittert. Mara streicht Bastian behutsam über den Kopf. Sein Atem beruhigt sich.
Kegel scheppern. Bastian schläft vor Erschöpfung ein.
Stille.
„Ihr könnt jetzt ruhig fahren, wir warten hier schon“, murmelt Mara.
Seit einer halben Stunde sitzen sie und ihr Partner Sami nur knappe fünfzig Meter entfernt im Auto und überwachen den Eingangsbereich der Villa.
„Hast du heute Nacht noch was anderes vor, oder warum bist du so ungeduldig?“, neckt er sie. Mit der blonden Perücke und dem Make-Up sieht sie total verändert aus.
„Ach“, winkt Mara ab, „schau dort hin, da tut sich was.“
Das Garagentor öffnet sich, die Hausherren verlassen ihr Domizil. Sami nickt ihnen freundlich zu, obwohl sie das durch die abgedunkelten Seitenscheiben nicht sehen.
„Und, soll ich eine Kontrollrunde drehen?“, fragt er kurze Zeit später.
„Nein“, Mara verlässt den Wagen. Sie hat sich damals geschworen, nie mehr Angst vor Einbrechern zu haben. „Wir gehen sofort rein. Du räumst aus, ich sage den Kleinen, dass ihnen nichts passieren wird.“