Ostsee
Warum musste es immer die Ostsee sein? Er wäre lieber nach Afrika oder Australien gefahren, irgendwohin, wo es richtige Meere gab. Doch seine Eltern hatten seinen Protest wortlos und kopfschüttelnd hinweggefegt, so wie sie es immer taten.
Er wusste, dass sie sich keine Reise in ein fernes Land leisten konnten. Aber es hätte auch keinen Unterschied gemacht, wenn sie steinreich gewesen wären. Für seine Eltern war eine Reise an die Ostsee in ihrem fabrikneuen, 1983er Golf ein gerade noch zu meisterndes Abenteuer. Weiter weg würden sie sich niemals wagen.
Ihr Bungalow lag nicht einmal direkt am Meer. Nach einer endlosen Fahrt, dem Auspacken und dem üblichen Streit mit seiner kleinen Schwester um die Betten, machten sie sich auf den Weg zum Strand. Endlos wanderten sie durch die öde, flache Landschaft, erreichten die ersten Dünen und waren schließlich an ihrem Ziel angekommen.
Nein, aus der Ostsee war auch in diesem Jahr noch kein richtiges Meer geworden. Er dachte an die Reiseprospekte, durch die er sich tagträumend geblättert hatte, und die so wundervolle Bilder von blauem, kristallklarem Wasser zeigten, gesäumt von einem puderfeinen, weißen Sandstrand an dem Schatten spendende Kokosnusspalmen wuchsen. So musste ein Meer aussehen!
*
Er hatte das Sandburgenbauen schon nach kurzer Zeit satt. Er setzte sich neben seine kleine Schwester auf die Decke, die von einem steinigen, mit Muscheln verzierten Schutzwall umgeben war; so, wie es sich gehörte.
Er langweilte sich. Noch zwölf lange Tage. Doch vielleicht hatte er Glück und er starb vorher an Langeweile.
»Möchtest du vielleicht mit mir Frisbee spielen?« Überrascht sah er auf. Neben ihm stand ein etwa 11-jähriges Mädchen, so alt wie er. Sie hatte festen Schrittes die Grenze ihres Territoriums überschritten, sie schien sie gar nicht wahrgenommen zu haben. Er hatte sie schon den ganzen Tag über beobachtet, war sie doch das Interessanteste, das es hier zu sehen gab. Der Grund war, dass sie nichts als ein Bikinihöschen trug, obwohl sich um ihre Brustwarzen schon die Andeutung einer Wölbung abzeichnete, wenn sie auch nicht mehr war, als ein Versprechen auf die Zukunft. Dies war der letzte Sommer, den sie ohne ein Oberteil an einem Strand oder einem Schwimmbad verbrachte, da war er sich sicher. Nicht, dass er sich ernsthaft für Brüste interessiert hätte, aber dennoch war sein Blick immer wieder zu ihr herübergewandert, fasziniert, wie selbstsicher sie mit ihrer Nacktheit umging. Wusste sie nicht, was da mit ihrem Körper geschah, oder war es ihr einfach egal?
Er hielt seinen Blick fest auf ihre Augen gerichtet. Was blieb ihm auch anderes übrig? Sie waren von jenem strahlenden Blau, das der Ostsee so fehlte. Sie waren groß und … ja was? Ihr Blick hatte etwas so unerwartet Klares, Wissendes. Er hatte nichts gemein mit dem üblichen kuhäugigen Stieren der blöden Mädchen, die er kannte.
Sein Zögern musste sie missverstanden haben, denn der vor ihn hingehaltene Frisbee begann zu sinken. Schnell sprang er auf.
»Gerne!«, sagte er und nahm die rote Scheibe.
Sie warfen den Frisbee ein paar Mal hin und her, bis das Mädchen sagte: »Ich hab keine Lust mehr. Kommst du mit zu uns rüber?«
»Gerne!«, sagte er wieder und folgte ihr. Ihre Eltern saßen etwas abseits der anderen. Es gab keinen Wall, mit dem sie die Grenze ihres Territoriums markierten.
Das Mädchen ließ sich neben seine Mutter auf die Decke fallen.
»Oh, du hast jemanden mitgebracht. Wie heißt denn dein neuer Freund?« Das so schrecklich unpassende Wort ließ sein Gesicht aufglühen. Er schwieg. Glücklicherweise sprach das Mädchen wieder, völlig unbeeindruckt von der Ungeheuerlichkeit, die ihre Mutter soeben von sich gegeben hatte.
»Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Claudia. Claudia von Teeßen. Und wie heißt du?«
»Michael«, sagte er. Das ›Meier‹ verschwieg er lieber. ›Michael Meier‹ klang wie ein Witz. Er hasste seine Eltern dafür.
»Und das sind meine Eltern: Peter und Maria.«
»Hallo Michael«, riefen beide gleichzeitig.
»Hallo«, antwortete er. Wenn er nicht bald anfing, in ganzen Sätzen zu sprechen, würde ihn Claudia noch für blöde halten.
»Wir sind heute den ersten Tag hier.« Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.
»Wir auch!«, antwortete Claudia. »Dann werden wir uns wohl noch öfters sehen.«
»Das wäre schön«, sagte er, überrascht, wie leicht diese Wörter über seine Lippen gekommen waren. Claudia lächelte.
»Wollen wir ein Kreuzworträtsel lösen? Das mach ich im Urlaub immer.«
»Gerne!«, sagte er nun schon zum dritten Mal und »Verdammt!«, dachte er.
Claudia holte ein Rätselheft für Kinder hervor.
»Ein anderer Name für Dorfplatz.«
»Hmm«, sagte Michael.
»Anger«, sagte Claudia und trug das Wort ein.
»Ausscheidungsorgan«
»Ähhh«
»Niere!«
»Anderes Wort für Halt«
»Hmm«
»Stop«
Claudia suchte eine Weile herum.
»Die Farbe der Liebe?« Sie sah ihm fest in die Augen und schwieg. Hastig sagte er »Rot!«, obwohl sie die Antwort sicher längst gewusst hatte. Lächelnd trug sie das Wort ein.
*
Die Sonne stand schon tief am Horizont. Es war Zeit für den Abschied. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Er versicherte Claudia, dass sich seine Eltern für die nächsten zwölf Tage nicht mehr als drei Meter von ihrer ›Burg‹ fort wagen würden, und Peter und Maria – sie bestanden darauf, dass er sie duzte – versprachen auch an derselben Stelle zu bleiben, als sie Claudias bittenden Blick sahen. Sie musste ihre Eltern tatsächlich nur ansehen, um etwas bei ihnen zu erreichen. Den Trick würde er nur zu gerne von ihr lernen. Aber da fehlte ihm wohl das glasklare Blau ihrer Augen.
Auf dem Weg zurück zum Bungalow nahm er ohne zu murren den Korb mit den Strandutensilien, schwang ihn hin und her und sang dabei wilde Lieder.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte seine Mutter. »Du bist doch sonst die ersten drei Tage immer nur schlecht gelaunt.« Sie klang dabei weniger erfreut, als vielmehr besorgt. Alles Ungewöhnliche besorgte sie. Nein, korrigierte er sich: Eigentlich besorgte sie alles. Michael antwortete nicht, sondern ging einfach schneller, fort von seinen dummen Eltern. Seine kleine Schwester kam hinterher ihm hergestapft. Als sie ihn eingeholt hatte, grinste sie ihn breit an und sagte in leisem Singsang: »Mein Bruder ist verliiehiibt.« Im Gegensatz zu ihren Eltern war dem Mädchen nicht entgangen, mit wem er den ganzen Tag verbracht hatte.
»Gar nicht! Dumme Kröte!«, fauchte er. Doch sie war keine dumme Kröte, dachte er. Sie hatte ihre kleine Gemeinheit immerhin so leise gesagt, dass ihre Eltern davon nichts mitbekamen. Sie war eine gute Schwester. Er hatte sie wirklich lieb. Zumindest in einem Augenblick wie diesem.
Am nächsten Morgen trieb er seine Familie auf dem Weg zum Strand vor sich her, wie eine Herde Schafe. Er wäre am liebsten gerannt. Wieder waren da die Besorgnis im Gesicht seiner Mutter und das breite Grinsen in dem seiner Schwester.
Claudia war noch nicht da, als sie ankamen, aber schon nach kurzer Zeit sah er sie und ihre Eltern über die Dünen zum Strand gehen. Er wartete, solange er es aushalten konnte. Wie uncool wäre es gewesen, sofort zu ihr herüber zu rennen?
Sie spielten Karten, lösten Kreuzworträtsel, sie badeten, sie redeten, sie stritten, sie sammelten Muscheln.
Sie war so anders, als die Mädchen, die er kannte. Sie war intelligent, witzig, schlagfertig, aber auch in den richtigen Momenten, rücksichtsvoll oder mitfühlend. Nicht, dass er das mit seinen elf Jahren schon diese Wörter benutzt hätte. Er fasste ihr wundervolles Wesen so zusammen: Sie war einfach toll.
Und sie war – das musste er widerstrebend zugeben – schön. Er schämte sich dafür, sie nur wegen ihres fehlenden Bikinioberteils interessant gefunden zu haben. Er hatte das schon nach den ersten Minuten, die er mit ihr verbracht hatte, nicht mehr wahrgenommen.
Dies war der beste Urlaub seines Lebens. Schade, dass es noch immer die graue Ostsee war, die da am Ende des Strandes vor sich hindümpelte. Claudia schlug vor, ein wenig am Meer entlang zu wandern. Michael hatte eigentlich keine Lust dazu, aber als sie ihn bittend ansah, willigte er sofort ein. Auch bei ihm wirkte die Magie ihres blauen Blickes.
*
Sie waren schon einige Zeit unterwegs. Sie hatten den Strand und die Masse der Urlauber hinter sich gelassen. Hier gab es nur noch Felsen und Geröll. Abgesehen von gelegentlich vorbeikommenden Spaziergängern, waren sie allein. Sie machten eine Pause auf einem großen, flachen Felsen. Michael stand im warmen, ablandigen Wind und sah missmutig auf das graue Meer hinaus.
»Was hast du?«, fragte Claudia. »Warum schaust du so böse aus?«
»Ich mag die Ostsee nicht! Sie ist nichts weiter, als eine riesige graue Pfütze.«
Claudia sah ihn fassungslos an. »Aber das ist nicht wahr. Sie ist wunderschön.«
Er sah auf das Meer hinaus, als hoffte er, etwas übersehen zu haben, aber da war nur die graue Wasserwüste.
»Warte, ich zeige es dir« Sie stellte sich dicht hinter ihn und hielt ihm mit beiden Händen die Augen zu. Michael war überwältigt, von der plötzlichen Nähe des Mädchens. Er erstarrte.
»Was hörst du?«, fragte sie leise.
»Nichts«, antwortete er irritiert. Sie umschlang ihn fester, seine Augen immer noch verdeckend, ihren Mund dicht an seinem Ohr. Er fühlte ihren Herzschlag an seinem Rücken.
»Hör genauer hin!«
Er versuchte es. Natürlich gab es etwas zu hören:
»Da sind die Wellen. Ich höre, wie sie an den Felsen brechen. Und das Murmeln der Kieselsteine, wenn sie zurückfließen. Da sind Möven. Sie klingen immer, als ob sie über irgendetwas stinksauer wären. Ich höre den Wind.«
»Und, wie findest du es?«
»Es ist … schön.« Er wusste, dass sie das hören wollte, aber ein klein wenig fühlte er tatsächlich so.
»Was riechst du?«, fragte sie weiter. Er nahm einen tiefen Atemzug.
»Ich rieche die salzige Gischt und die angespülten Algen und Quallen.«
»Und?«
»Es riecht gut, frisch und würzig.«
»Was spürst du?«, hauchte sie in sein Ohr.
»Ich spüre den warmen Wind und die Sonne auf meiner Haut. Und …« er zögerte und sammelte jedes kleine Häufchen an Mut ein, die er in sich finden konnte. Als er glaubte, genug gefunden zu haben, sprach er weiter: »Und ich spüre dich!«
Sie nahm ihre Hände von seinen Augen und setzte sich. Er schaffte es, sich aus seiner Erstarrung zu lösen und ließ sich kraftlos neben sie fallen.
»Und ist die Ostsee nun so schrecklich?«
»Nein«, sagte er. »Sie ist wunderschön.« Doch er sah nicht auf die brechenden Wellen hinaus, er blickte tief in ihre meeresblauen Augen.
Sie sahen einander eine Weile an. Schließlich sprang Claudia auf.
»Lass uns weiter gehen!« Er folgte ihr, mit dem quälenden Gefühl einen wichtigen Augenblick vertan zu haben.
*
Die Zeit verging, und Michael wünschte sich, dass dieser Urlaub nie zu Ende gehen würde. Doch es blieben nur noch zwei Tage. Und auch dieser Vorletzte näherte sich seinem Ende. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie ihn die unausweichliche Trennung von Claudia quälte. Er hätte gerne mit ihr darüber geredet, fand aber nicht den Mut dazu.
Sie stand alleine am Strand und winkte ihn zu sich. Er rannte zu ihr herüber.
»Ich hab da eine Idee«, sagte sie.
»Was denn?«
»Meinst du, du kannst dich heute Nacht raus schleichen? Wir könnten uns hier am Strand treffen.« Michael war begeistert. »Ja, das wird kein Problem.«
»Aber zieh dich warm an, es wird nachts echt kalt. Und nimm eine Taschenlampe mit. So um 12, oben am Weg?«
»Ja«, sagte er. Claudia ging davon. Er blickte ihr hinterher. Warum waren sie nur nicht früher auf diese wundervolle Idee gekommen?
*
Er hatte sich einen Wecker gestellt, aber das war gar nicht nötig. An Schlaf war nicht zu denken. Er hörte seine kleine Schwester im Schlaf murmeln. Sie würde kein Problem darstellen. Er hätte sie wahrscheinlich an einem Bein kopfüber baumelnd in die Höhe halten können, ohne dass sie aufwachte.
Halb zwölf! Er zog sich leise an, nahm die bereitgelegte Taschenlampe, und stieg durch das Fenster. Er bemühte sich, es so weit wie möglich zu schließen, verriegeln konnte er es aber nicht. Er schaltete seine Taschenlampe an und schlich hinaus in die Nacht.
Er hatte trotz der Dunkelheit nur ein paar Minuten gebraucht, Claudia war noch nicht da. Er spähte in die Finsternis, und nach endlos scheinenden Minuten, sah er das Flackern einer Taschenlampe. Er schaltete seine eigene Lampe an und zielte auf den herannahenden, leuchtenden Fleck. Es war Claudia.
»Hallo!«, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte. Sie gingen zum Strand hinab, und Claudia setzte sich, Michael ließ sich neben ihr nieder.
»Es ist wirklich verdammt kalt.« Sie lehnte sich zu ihm herüber. Michael legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie näher zu sich heran. Eine Weile saßen sie einfach nur da, wärmten einander und lauschten dem Rauschen des Meeres.
»Morgen ist unser letzter Tag«, sagte er schließlich.
»Ich weiß. Aber wir werden uns doch schreiben, oder?«
»Natürlich! Wir dürfen morgen nur nicht vergessen, unsere Adressen austauschen. Kommt ihr nächstes Jahr wieder her? Wir fahren nie woanders hin.«
»Wenn ich meine Eltern dazu überreden kann, ja. Aber sie sind eigentlich nicht so die typischen Strandurlauber. Sie fahren lieber in die Toskana oder was Ähnliches. Und wer weiß, ob wir wieder zur selben Zeit Ferien haben?«
Michael fühlte einen Stich in seiner Brust. Die Vorstellung Claudia nie wieder zu sehen, war unerträglich.
»Wenn es nicht klappt, werden wir uns als Erwachsene wieder treffen. Verabreden wir uns doch für das Jahr 2000!«
Er schwieg. Das Jahr 2000 war Science-Fiction. Er wäre längst ein alter Mann und Claudia lebte dann wahrscheinlich auf dem Mond. Es gab keine Worte, die ausdrücken konnten, was er fühlte.
»Was willst du mal werden?«, fragte sie nach einer Weile. Michael dachte nach. Er wusste, was er werden wollte, doch das hatte er bisher noch niemandem gesagt. Wie hätte er denn bei seinen Freunden dagestanden, wenn er etwas weniger Aufregendes als ›Astronaut‹ gesagt hätte? Doch Claudia verdiente eine ehrliche Antwort.
»Ich möchte Koch werden. Ich helfe meiner Mutter immer in der Küche. Manchmal darf ich auch ganz alleine kochen. Ich mag es, mir neue Gerichte auszudenken. Meine Spagetti mit Salami und Champignons sind das Lieblingsgericht der ganzen Familie.«
Claudia lächelte. »Das ist ein schöner Beruf. Und das passt. Ich will später ein Restaurant eröffnen, bei uns in Bremen. Das wollte ich schon immer. Mein Opa hatte eins. Ich werde es ›Ostsee‹ nennen. Am Morgen decke ich die Tische ein, und du wirst hinter dem Tresen die Gläser abspülen. Später bediene ich dann die Gäste, während du kochst. Abgemacht?« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
»Abgemacht!«, antwortete er und genoss dabei den blumigen Duft ihres Haars. Sie schwiegen wieder und sahen dabei zu, wie die heraufziehenden Wolken den Mond verschleierten. Wie lange sie dort saßen, konnte Michael nur schätzen. Doch dann spürte er, wie das Mädchen neben ihm zu zittern begann.
»Wir müssen gehen. Sonst erfrierst du mir noch«, sagte er mit klappernden Zähnen. Sie erhoben sich und standen einander gegenüber. Er nahm sie fest in den Arm.
»Bis Morgen«, sagte er traurig. Claudia sah ihn an und löste sich aus seiner Umarmung. Sie war schon einige Schritte gegangen, als sie sich unverhofft umdrehte und zu ihm zurückkehrte. Sie beugte sich vor, und ihre Lippen berührten sich für einen viel zu kurzen Augenblick. Dann verschluckte sie die Dunkelheit.
Als er am Bungalow ankam, war das Fenster verriegelt. Verdammt! Was sollte er tun? Die Türen waren ebenfalls verschlossen. Er begann an die Scheibe zu klopfen, in der Hoffnung, seine Schwester aus ihrem totenähnlichen Schlaf wecken zu können. Nachdem sich nichts rührte, trommelte er immer heftiger gegen das Fenster, stumm betend, dass seine Eltern, die nur ein Fenster weiter schliefen, es nicht hörten. Er wurde erlöst, als ihn endlich die trüben, verschlafenen Augen seiner Schwester finster musterten. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an den Fenstergriff zu gelangen.
»Was hast du denn da draußen getrieben?«, fragte sie und rieb sich die Augen.
»Das geht dich nichts an!«
»Als ob ich das nicht sowieso wüsste«, sagte sie grinsend.
»Wieso war das Fenster zu?«
»Es stand offen, und es wurde verdammt kalt.« Sie sah ihn tadelnd an.
»Das wird aber Ärger geben, wenn ich Mama und Papa erzähle, dass du dich rausgeschlichen hast und ich fast erfroren wäre.«
»Das wirst du aber nicht tun!«
»Und warum sollte ich das nicht?«
»Weil ich dich dann umbringe!«
»Pah!«, antwortete sie selbstsicher und schlüpfte wieder in ihr Bett.
Sie würde ihn nicht verraten, da war er sicher. Das tat sie nie. Er zog sich aus und legte sich in sein Bett. Er spürte die Müdigkeit und sah dem Wetterleuchten des aufkommenden Gewitters zu, während er sich in seinen Träumen verlor. Und es waren schöne Träume.
*
Am Frühstückstisch sitzend hing Michael seinen Gedanken nach. Der letzte Tag! Das war ein so erschreckender Gedanke. Mit einem Filzstift schrieb er seinen Namen und seine Adresse auf einen Zettel in krakeliger Jungenhandschrift. Seine Eltern waren in ein Gespräch vertieft, doch er hörte nicht zu. Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Eltern je etwas gesagt hatten, das ihn interessierte. Doch dann stand sein Vater plötzlich auf.
»Also los. Packt eure Sachen! Wir fahren schon heute zurück. Dann ist die Autobahn auch nicht so voll. Was sollen wir hier im Regen rumsitzen?«
Michael glotze seinen Vater verständnislos an.
»Aber das geht nicht! Wir müssen an den Strand.« Doch seine Eltern waren schon längst in hektische Aktivität ausgebrochen und sein Protest verhallte ungehört.
Michael blieb einfach sitzen. Er wollte davonlaufen. Doch was hätte das für einen Sinn? Er sah den peitschenden Regen die Fensterscheiben verschleiern. Am Strand war Claudia sicher nicht. Leider wusste er nicht, in welchem Bungalow sie wohnte. Es gab Hunderte. Mit seinen Eltern konnte er nicht reden, selbst wenn sie ihm zugehört hätten. Sollte er ihnen erzählen, dass er sich von seiner Freundin verabschieden musste? Das war undenkbar. Er blieb einfach weiter sitzen und suchte in der Leere seines Kopfes nach der rettenden Idee.
*
Als sie im Auto saßen und losfuhren, hockte er sich auf die Knie in Richtung des Rückfensters und starrte durch die regennasse Scheibe. Er hoffte gegen jede Vernunft, Claudia würde einfach auf der Straße erscheinen und ihm zuwinken. Der Bungalow wurde immer kleiner, so wie seine Hoffnung. So sehr er sich auch dagegen wehrte, fühlte er, wie sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten. Er spürte, wie die kleinen Finger seiner Schwester nach seiner Hand tasteten und sie fest drückten. Sie sah ihn dabei nicht an noch sagte sie ein Wort. Allein dafür liebte er sie. In der anderen Hand hielt er noch immer den nutzlosen Zettel mit seiner Adresse. Er zerknüllte ihn.
*
Als Erstes spürte er den Kuss nicht mehr auf seinen Lippen, dann vergaß er ihn, schließlich verschwand auch Claudia aus seiner Erinnerung. Die Jahre kamen und gingen. Er studierte, er heiratete, zeugte ein Kind, baute ein Haus. Er tat, was man von ihm erwartete.
Dann starben seine Eltern und kurz danach auch seine Ehe. Was blieb, war die Erkenntnis an jeder Weggabelung seines Lebens die falsche Richtung eingeschlagen zu haben. Und als hätte sein Leben nicht schon genug in Trümmern gelegen, war nun auch noch seine kleine Schwester gestorben. Der Krebs hatte sie Stück für Stück aufgefressen und schon lange vor ihrem Tod nichts mehr von ihr übrig gelassen.
Er hatte seine Frau nie so geliebt, wie sie es verdient hätte, und er wollte niemals Volkswirtschaft studieren. Er erinnerte sich, dass er eigentlich hatte Koch werden wollen. Und daran, dieses Geheimnis nur mit einem Menschen geteilt zu haben. Auf einmal war Claudia wieder da. Er erinnerte sich an den kurzen Augenblick, als sich ihre Lippen berührt hatten, und den süßen Stich in seiner Brust. Ob ihre Träume wohl in Erfüllung gegangen waren? Er würde es nie erfahren. Doch dann wurde ihm klar, dass das Blödsinn war. Er lebte im 21ten Jahrhundert. Wozu gab es denn das verdammte Internet? Er startete seinen Computer.
*
Er stand vor dem Restaurant. ›Ostsee‹ stand in großen Lettern über dem Eingang. Wie oft mochten die Gäste fragen, wieso ein Restaurant in Bremen diesen Namen trug? Was die Wirtin dann wohl antwortete? Es regnete, wie damals, an jenem schrecklichen, letzten Ferientag. Was für ein Wahnsinn war es gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen, um hier herzufahren. Er hatte seinen Computer ausgeschaltet, sich in sein Auto gesetzt und war losgefahren. Er hätte Claudia doch genauso gut anrufen oder ihr eine Mail schicken können, anstatt 600 Kilometer quer durch Deutschland zu fahren, mit keiner Rechtfertigung, als einer flüchtigen Kindheitserinnerung.
Es war noch früh am Morgen. Das Restaurant war mit Sicherheit noch nicht geöffnet. Dennoch zog er an der Tür. Sie war nicht verschlossen. Nun gab es kein zurück mehr. Wohlige Wärme schlug ihm entgegen. Claudia stand nur fünf Meter von ihm entfernt. Sie sah noch genau so aus, wie früher, wenn auch 35 Jahre älter. Doch das 11-jährige Mädchen mit den meeresblauen Augen war noch da. Sie sah zu ihm herüber, ihr Blick so klar und wissend wie damals. Ohne zu zögern, sagte sie: »Du hast dir aber verdammt viel Zeit gelassen. Hatten wir uns nicht für das Jahr 2000 verabredet?« Er konnte nicht antworten, dazu hätte er atmen müssen. Sie fuhr fort, als er weiterhin stumm blieb: »Möchtest du mir nicht beim Spülen helfen?«
»Gerne!«, sagte er, zog seinen Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Er ging hinter den Tresen und begann mit seiner Arbeit.
Ende
Alle Namen sind frei erfunden. Laut Internet gibt es weder eine »Claudia von Theeßen« noch ein Restaurant »Ostsee« in Bremen. Die 10000 »Michael Meier« werden hoffentlich großzügig über die Benutzung ihres Namens hinwegsehen.