Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Die Medaille

Der Wind sauste ihm pfeifend um die Ohren. Wie ein bunter Farbenwirbel zog die Landschaft aus den Augenwinkeln an ihm vorüber. Das Adrenalin schoss durch seine Adern. Immer schneller werdend, nur auf einen Punkt fixiert. Die Angst war dem Glücksmoment gewichen. Dann sprang er. Zog seinen Körper in die Höhe. Seine Arme flatterten und er hatte Mühe, sie an den Beinen zu halten. Er wurde vom Wind getragen. Weit nach vorn gebeugt, sah er den Boden näher kommen.
Gerade noch rechtzeitig nahm er die Position zur Landung an. Federleicht setzte er in den weißen Kristallen, die in der Sonne aufblitzten, seine Skier auf und hörte den Applaus der Zuschauer, als er in den Auslauf fuhr.

Leicht wehmütig dachte er an diesen Moment, während sein Blick über die Menge schweifte. Eine solch unverfälschte Freude und Glück, wie bei seinem ersten Sprung hatte er nie mehr gespürt.
Der heutige Tag kam dem aber sehr nah, fand er.
Mit Stolz erfüllter Brust lief er durch das Blitzlichtgewitter und dachte an all die Mühen und Entbehrungen der letzten Jahre, damit er hier und heute oben auf das Treppchen steigen konnte.
Golden glänzte die Medaille in seiner Hand. Die Hymne erklang und es blieb für einen Moment die Zeit für ihn stehen.

Zweiundzwanzig Jahre später hielt er den Glücksbringer in der Hand. Rieb mit dem Daumen leicht über die Medaille, bevor er sie in seinem Traineranzug verstaute. Die Brille setzte er auf seiner Nase zurecht und sah auf den jungen Mann, der sich auf dem Absprungbrett befand.
Er beobachtete die Fahne, die im Wind wehte und hob die Hand in die Luft.
Das Zeichen gebend, löste sich der Springer von der Startposition und er schaute ihm zu, wie er beschleunigend die Rampe hinunter schoss.
Erinnerungen und dieses Gefühl des unendlichen Glücks erwärmten seine Brust, als sein Sohn zum ersten Mal abhob.

„Was, wirklich?“

Ungläubig erstarrte ich. Ich hörte was sie sagte, konnte die Informationen aber noch nicht greifen.
Ihre Worte waren nur noch ein Hintergrundgeräusch für mich. Habe ich das gerade richtig verstanden? Die Hoffnung hatte ich zu dem Zeitpunkt bereits fast aufgegeben.

Während ich mit meinen zittrigen Händen mein Handy festhielt und auf das Display starrte, sah ich durch die Spiegelung meinen offenen Mund und meine weit aufgerissenen Augen.
Ich spürte wie mein Puls in die Höhe schoss und hörte das Rauschen meines Blutes.
So viele Gefühle prügelten gleichzeitig auf mich ein: Angst, Freude, Stolz, Zweifel. Aber vor allem jedoch Panik. Meine Brust verkrampfte sich und meine Umgebung schien leicht zu schwanken.

„Hallo, sind Sie noch dran?“. Ich schrak auf.

„Ja, ähm. Ja, Entschuldigung!“, stotterte ich. Ich versank jedoch sofort wieder in meine Gedanken und ihre Stimme wurde wieder zu einem Gemurmel im Hintergrund.

Die Gedanken im meinem Kopf überschlugen sich: Bin ich der Sache überhaupt gewachsen? Werde ich Kritik verkraften? Bin ich dafür bereit, dass Menschen meinen Namen kennen werden, wo ich mich doch mein Leben lang im Hintergrund gehalten hatte?
Ich atmete tief ein und wieder aus: „Frau Krämer, ich bin Ihnen so dankbar, für die Chance die sie mir geben.“

Das Klopfen meines Mannes an der Zimmertür holt mich aus meiner Erinnerung und ich blicke dankbar lächelnd auf das Buch in meiner Hand. Auch dieses Buch ist ein Besteller geworden, genauso wie die sechs Bücher vorher.
Sieben Jahre ist es nun her, dass mir endlich ein Verlag eine Zusage erteilte und sich somit mein größter Kindheitstraum erfüllte.

Wer drey mal diessen steyn umwallt, wird ueber hundert jare alt.

So stand es geschrieben auf dem Wunderstein mitten in der Stadt Herzberg an der Schwarzen Elster. Kaum hatte mein Mann es gelesen, hakte er mich auch schon unter, um mit mir dreimal den Wunderstein zu »umwallen« – schließlich wollen wir über 100 Jahre alt werden, bei bester Gesundheit natürlich. Wir sind nicht abergläubisch, aber ein bisschen »Altersvorsorge« kann ja nicht schaden …

Nachdem wir spontan und intuitiv Arm in Arm unsere Runden um den Herzberger Wunderstein gedreht hatten, begann unser Kopf zu fragen, was mit »umwallen« denn eigentlich gemeint war. Schließlich konnten wir uns ja nicht in Nebel auflösen, um den Wunderstein wallend zu umgeben. Aber dann fanden wir eine Antwort: »wallen« bedeutet auch »feierlich, gemessen einherschreiten«. Na bitte, alles richtig gemacht! Jetzt würden wir bestimmt mehr als hundert Jahre alt werden! Wir strahlten, als ob wir einen großen Coup gelandet hätten!

Als wir für einen Fotoausflug nach Herzberg gefahren waren, hatten wir noch nichts von diesem Wunderstein gewusst und auch nichts davon, dass er mich zu einem neuen Roman inspirieren würde.

Wir kamen erst darauf zurück, als wir tatsächlich hundert Jahre alt waren und an der RELING standen.

»All the best to your wedding anniversary, also to your wife«, wünscht der Steward und überreicht Alexander den Strauß mit den vorbestellten 101 dunkelroten, langstieligen Rosen und eine Einladung des Kapitäns für den Nachmittag. Ein wenig später erscheint Sonja freudestrahlend am Frühstückstisch. Sie öffnet den Briefumschlag, welcher dem Rosenstrauß beigefügt war, und zieht ein Foto heraus.

»Der Herzberger Wunderstein - den hatte ich ja ganz vergessen!« Buchstabe für Buchstabe entziffert sie nochmals den Spruch auf dem Wunderstein:
Wer drey mal diessen steyn umwallt, wird ueber hundert jare alt.

»Weißt du noch? Als ich den bei unserem Fotoausflug in Herzberg entdeckt habe«, erinnert sich Alexander, »habe ich dich spontan in den Arm genommen und drei Runden mit dir um diesen Wunderstein gedreht, schließlich wollten wir ja 100 Jahre alt werden – bei bester Gesundheit, versteht sich - du siehst, es hat prima geklappt!«

»Stimmt, und hatte dieser Wunderstein denn nicht auch noch eine witzige Pointe auf der Rückseite?«

»Dreh das Foto mal um, da steht es drauf, aber es ist so klein geschrieben, dass ich es ohne Lupe nicht lesen kann.«

Doch nur, falls er nicht vorher sterbt, und so sich selbst den Spaß verderbt.

Sonja lacht: »Den Spaß haben wir uns wahrlich nicht verderben lassen.« Alexander stimmt in ihr Lachen ein: »Das finde ich auch. Rüssel hoch! wirkt eben wahre Wunder. Und dank deines Romans haben wir die Weichen in unserem Leben in die richtige Richtung gestellt.«

»Du sag mal, Alexander, es schienen mir bedeutend mehr als 55 Rosen zu sein, in denen das Herzberg-Foto steckte. Wie viele sind es denn, mein Rosenkavalier?«

»Es sind genau 101 rote Rosen. Denn hinter dieser Zahl verbirgt sich eine bedeutsame Botschaft«, freut sich Alexander, dass sie die Größe des Rosenstraußes bemerkt hat.

»Jetzt machst du mich aber neugierig. Welche Botschaft versteckt sich denn hinter 101 roten Rosen? Vielleicht, dass wir uns zu den über Hundertjährigen zählen dürfen, deren Pläne nicht vom Leben durchkreuzt wurden, sodass wir das Ende unseres Lebens nicht in einem Altenheim oder Krankenhaus fristen müssen, sondern auf einem Kreuzfahrtschiff ausklingen lassen dürfen?«

»Das wäre in unserem Fall natürlich auch eine passende Bedeutung. Aber meine Blumenbotschaft an dich ist viel schöner. 101 rote Rosen zu verschenken – das bedeutet laut Floristen etwas ganz Besonderes; es bedeutet, dass es sich bei der Beschenkten um die einzige Liebe handelt, die Liebe des Lebens.«

»Wie romantisch! Da muss ich ja sofort weitere 101 Rosen kommen lassen, denn das beruht auf Gegenseitigkeit. Auch du bist meine einzig wahre Liebe, Alexander.«

In Sonjas Augen glitzern Tränen, als sie ihre Gefühle ausspricht, wie immer, wenn sie von etwas ganz tief im Herzen berührt ist. Alexander greift nach ihrer Hand und schaut ihr in tiefer Verbundenheit in die Augen: »Liebe ist das Einzige, was im Leben zählt.«

Die Zeiten ändern sich

Angst bedeutete damals für mich zu wissen, dass etwas Schreckliches passieren würde und ich nichts daran ändern konnte. Was hätte ich als dreijähriges Mädchen schon tun können? So war ich dem Schicksal ausgeliefert.
Es war ein warmer sonniger Morgen. Zum ersten Mal erlaubte meine Mutter mir das neue Kleid anzuziehen, das sie für mich geschneidert hatte.
Stolz hielt ich ihre Hand, als wir auf dem Weg zu dem Lebensmittelladen waren.
Meinen Blick geradeaus gerichtet, sah ich das Unheil schon von weiten auf mich zukommen. Mein Herz zog sich zusammen, meine Beine wurden mit jedem Schritt langsamer. Flehend schaute ich zu meiner Mutter auf. Erst als sich meine Hand in der von meiner Mutter verkrampfte, sah sie zu mir herunter.
Ich höre noch ihre Worte: „Er wird dir nichts tun!“
Doch zu diesem Zeitpunkt wusste ich schon, er wird mir Schmerzen zufügen. Die Frau kam mit ihm näher und er starrte mich an. Seine Schritte wurden schneller.
Ich suchte nach einem Fluchtweg. Meine Augen wanderten zur linken Seite. Dort war eine Häuserwand. Auf der rechten Seite befand sich ein Geländer, an dem meine Mutter sich festhielt, da der Bürgersteig etwas steil war, neben dem Geländer eine Wiese.
Wo konnte ich nur hin, waren meine Gedanken.
Es war zu spät, mit einem Satz war er bei mir.
Ich hatte keine Gelegenheit mehr, mich hinter meiner Mutter zu verstecken.
Meine Stirn schmerzte, mein Körper zitterte.
Ich hörte noch, wie die Frau sagte: „Können Sie ihre Tochter nicht auf den Arm nehmen? Sie sehen doch, dass der Hund Angst hat.“
Dann fing ich an zu schreien. Tränen kullerten über meine Wangen.
Die Wunde an meiner Stirn saß tief. Die Frau nahm den kleinen weißen Hund auf den Arm, dann war sie mit ihm verschwunden.

Der kleine weiße Hund hat mich noch Jahre verfolgt. Ich wurde größer und mit mir die Hunde, denen ich brav aus dem Weg gegangen bin.

Achtunddreißig Jahre später standen meine beiden Mädchen und mein Mann vor mir und bettelten: „Wir möchten einen Hund.“
Nach einigen Wochen Flehen von den dreien ließ sich mein Herz erweichen und wir einigten uns, einen Bearded Collie anzuschaffen.
Diese Rasse sollte lieb und treu sein.
Ein Jahr später kam ein Zweiter dazu. Platz genug hatten wir zu der Zeit.

Heute wird mein Herz schwer und Tränen schwimmen in meinen Augen, wenn ich an die schönen vierzehn Jahre, die wir zusammen mit unseren Lieblingen hatten, denke.
Diese Zeit möchte ich nicht mehr missen.

Aviatiker

Sein Name: Hans Schmid und wir schreiben 1911. Er ist Radrennfahrer, Mechaniker und mit seiner Frau führt er ein Gasthaus. Seit Blériot vorletztes Jahr den Ärmelkanal im Aeroplan überquert hat, träumt Hans vom Fliegen. Einer seiner Kunden ist der Besitzer der nahe gelegenen Spinnerei, ein Liebhaber schneller Wagen. Eine Geschäftsbeziehung? – Eher eine Seelenverwandtschaft. Hans darf nach Frankreich reisen und wird Pilot. Einen kostspieligen Flugapparat bringt er von dort zurück. Seine Schulden will er mit Preisgeldern von Schaufliegen an Flugtagen zurückzahlen. Mit seiner modernen Maschine sind die Aussichten rosig.

Er meldet sich zum Berner Flugmeeting Mitte Oktober. Dort wird er Sieger im Dauerflug mit 31 Minuten. Sogar der anwesende Bundespräsident gratuliert ihm persönlich. Danach steigt Schmid, die Schirmmütze wie gewohnt verkehrt auf dem Kopf, ein zweites Mal auf, fliegt an Reihen jubelnder Zuschauer entlang und klettert immer höher. Da springt ein Drahtseil aus seiner Führung, und fällt direkt vor den Piloten. Es gehört zur Steuerung der Querlage. Die Situation ist ernst. Landen ohne Kontrolle der Verwindung führt fast sicher zu Bruch und den darf Schmid sich buchstäblich nicht leisten. „Ist es möglich, aufzustehen und das Seil wieder in seine Führung zu heben? Nur ganz schnell, dann wieder absitzen und das Steuer übernehmen. Könnte gelingen.“ - Er versucht es, fasst das Seil in der Mitte, stabilisiert die Fluglage, nimmt die Füsse von den Pedalen, steht auf und reisst die Hände mit dem Seil hoch…

Fehlentscheid: Der Flugapparat reagiert augenblicklich. Er dreht sich, kippt über den Flügel und stürzt dem Boden zu. Die Zuschauer sehen, wie er aufschlägt und in Flammen aufgeht. Schmid wird tot geborgen. Er ist das erste Opfer der Fliegerei in der Schweiz. Die Anteilnahme der Bevölkerung ist riesig. Der Trauerzug in seiner Wohngemeinde kilometerlang, mit einer Witwe und einer Schar unmündiger Kinder hinter dem Sarg. Die Geldgeber müssen ihre Guthaben abschreiben.

Das Medienecho war gewaltig. Dank den vielen Zeitungsberichten konnte ich recht genau rekonstruieren, was an Bord geschah. Eine offizielle Flugunfalluntersuchung gab es noch nicht. Ein Totenschein und ein polizeilicher Unfallbericht genügten.

Wie so viele andere Pioniere der Luftfahrt ist Hans Schmid heute praktisch vergessen.

Der Todestag

„Was ist los?“, fragte sie besorgt. „James?!“, fügte sie hinzu, als er nicht antwortete und stattdessen zu Boden fiel, seine Hand auf seine Brust gepresst. „James!“, rief sie und ließ sich auf die Knie fallen.
Vorsichtig legte sie seinen Kopf auf ihren Schoß. „Alles wird gut, hörst du? Jakob! Jakob!“, schrie sie verzweifelt und achtete nicht darauf, ob er sie überhaupt hörte. Ihr Blick war nur auf James gerichtet, dessen Atemzüge schwerfälliger wurden. „Bleib bei mir, James“, sagte sie panisch und die Tränen schossen in ihre Augen. „Ist okay“, sagte er kaum hörbar, doch sie hörte es. Die Schüsse die weiterhin fielen, die Schreie und Rufe, sie nahm sie nicht mehr wahr. James war das einzig Wichtige in dem Augenblick. Er versuchte zu Lächeln, doch ähnelte es vielmehr einer Grimasse. “Ich liebe dich“, sagte er mit letzter Kraft. „Ich dich auch, bitte bleib bei mir.“ Doch sie wusste, dass es unausweichlich war, die Wunde war dafür zu schwer und sein Zustand kritisch.
Seine Augen schlossen sich, sein Arm erschlaffte und fiel zur Seite.
Alles worauf Lillien sich jetzt konzentrieren konnte war James‘ Brustkorb der aufgehört hatte sich zu heben und senken. Als könnte sie zaubern, starrte sie darauf und dachte sich, dass er jeden Moment wieder anfangen würde zu atmen. Doch das tat er nicht.
Lilliens Welt blieb stehen und sie hatte das Gefühl an der rauchig staubigen Luft zu ersticken. Ihr eigener Brustkorb schmerzte so sehr, dass sie es kaum aushielt und fragte sich, welche Schmerzen James wohl verspürt haben musste bevor er starb.
Auf ihrem Schoß.
Worauf sein Kopf noch immer lag.
Ein schmerzerfüllter Schrei entfloh ihrer Kehle, den sie selbst nicht hören konnte. Ihr Team hingegen konnte ihn noch meterweit, trotz der lauten Geräuschkulisse, vernehmen.
Sie bemerkte weder, dass Jakob versuchte ihre Aufmerksamkeit zu erlangen noch, dass er überhaupt ein Wort von sich gab. Auch spürte sie es nicht, als er sie leicht schüttelte.
Alles, was sie spürte war das Gewicht des Kopfes ihres Mannes auf ihren Beinen.

Als hätte jemand einen Schalter umgekippt, hörte sie auf zu weinen und ihre Atmung wurde ruhiger. Sie sog jedes Detail von ihm auf: der Schmutz seiner Kleidung, der blutige Fleck auf seiner Brust, das Blut an seiner rechten Hand mit der er versucht hatte, die Blutung zu stoppen, sowie seine von Schmutz bedeckten Schuhe. Er hatte außerdem blutige Kratzer im Gesicht und eine Schnittwunde am Arm. Weitere Blutflecken zierten seine Kleidung, vermutlich von den Gegnern, die er ausgeschaltet hatte.
Vorsichtig und mit zittriger Hand folgte sie mit ihrem Zeigefinger den Zügen seines Gesichts. Das war das letzte Mal, dass sie ihn je berühren würde.

Lilliens Handy zeigte das Jahr 2022.
5 Jahre waren vergangen, seitdem sie ihren Mann vor ihren Augen verloren hatte.
5 Jahre voller Schmerz, Depression, Trauer und Therapie.
Es war anfangs so schlimm gewesen, dass sie nicht einmal mehr aufstand.
Ihre Träume waren sowohl Freund, als auch Feind geworden, da sie ihn in diesen oft sehen konnte.
Mit ihm reden konnte.
Ihn umarmen und küssen konnte.
Doch, sobald sie aufwachte, traf es sie umso mehr.
1 Jahr hatte es gedauert, bis sie wieder raus ging.
3 Jahre, bis sie wieder zu arbeiten anfing.
Doch ganze 5 Jahre hatte es gedauert, bis sie wieder Lächeln und Ausgehen konnte.

So auch heute. Ihr Team hatte sie, wie die letzten Jahre, zu einer Bar eingeladen, um ihrem verstorbenen Mann zu gedenken. Er hatte damals gewollt, dass man an so einem Tag nicht traurig war. Und auch, wenn Lillien dies 5 Jahre nicht geschafft hatte, so hatte sie diesmal zugesagt.

„Wie läuft’s?“, fragte Jakob und riss sie aus ihren Gedanken. „Ganz gut. Ich wurde gestern befördert.“ „Das ist super!“, freute sich Lina, „Ich hab dir doch gesagt der Job ist perfekt. Du bist immer noch ein Teil des Teams, aber musst nicht zurück auf’s Feld.“

Lina war es gewesen, die Lillien zu dem Job verholfen hatte, nachdem Lillien ihr erklärt hatte, dass sie nie wieder kämpfen wollte. Obwohl sie eine gute Soldatin war, hatte sie genug verloren und wollte dieses Leben nie wieder fortführen.

An dem Abend erzählten sie noch die ein oder andere Geschichte, die sie mit James verbanden und Lillien verstand nun die seltsame Bitte ihres Mannes: sie fühlte sich weniger allein und es war schön an gute Zeiten gemeinsam zurück zu blicken.

One love

Es gibt immer diesen einen Sommer. Sie spürt ihn noch heute, so viele Jahre später, sucht ihn in all ihren Reisen, prüft die Gerüche, die Farben des Meeres, die warme Abendsonne, ob sie es schaffen, sie an diesen einen Sommer zu erinnern. Sie waren fast noch Kinder, er vier Jahre älter, ohne eine gemeinsame Sprache, aber das war nicht wichtig. Vom ersten Kuss an waren sie zusammen, ganz selbstverständlich, schwammen tagsüber in der warmen Adria um die Wette (sie gewann immer), ließen sich abends durch die Hafenstadt treiben, kletterten in fremde Boote, um alleine zu sein. Hörten Bowie und Bob Marley auf ihrem Walkman. Er brachte sie spät nach Hause zu ihrer Mutter, die ihre Alltagsstrenge abgelegt und wortlos kapituliert hatte. Einen halben Juli lang und fast einen halben August. Er kam sie besuchen, als sie im Herbst wieder zu Hause war, aber es fühlte sich komisch an.

Sie trafen sich drei Jahre später wieder über den Sommer auf der Insel, und es war fast wie damals. Als sie später studierte, bretterte er unerwartet in ihr Leben, mitten in ein Chaos aus Gefühlen, Beziehungen, Träumen und Plänen, die sie nicht aufgeben und nicht mit ihm teilen wollte. Sie trennten sich im Streit. In ihren Vierzigern fuhr sie mit ihrem elenden Ehemann und ihrem Sohn noch einmal auf die Insel. Und noch als sie die Fähre verließ, verstand sie, dass es ein Fehler war. Über alles Inselschöne legte sich die Wehmut wie ein dicker, öliger Film. Alles war falsch, der Ort, der Mann an ihrer Seite. Die Erinnerungen.

Nach ihrer Scheidung fand er sie über Facebook. 28 Jahre nach ihrem Streit. Er hatte gut Englisch gelernt und sie konnten sich schreiben. Worte finden, erklären. Er hatte eine Frau und einen Sohn, nur wenig jünger als ihr eigener. Es fühlte sich vertraut an, auch fast vierzig Jahren nach ihrem ersten Sommer. Einmal trafen sie sich, es war kompliziert. Sie mussten einen Tag aus ihren gewohnten Leben brechen, er in ein anderes Land reisen, sie in eine andere Stadt. Ein schöner Moment, aber sie hatte nicht den Mut für mehr. Sie liefen herum, tranken Cappuccino. Liefen weiter, erzählten. Mehr nicht.

Sie dachte an das Mädchen, das immer beim Wettschwimmen gewonnen hatte. An einen Sommer, in dem alles selbstverständlich war. In dem sogar die strenge Mutter vor ihrer Entschlossenheit und einer Sommerliebe kapituliert hatte. Und daran, was davon geblieben ist. Es ist noch da. Und wartet. Auf den nächsten Sommer. Vielleicht.

Es hat sich eine Blutlache unter dem Stuhl gebildet. Und es tropft weiter. Das Ultraschallgel ist kalt. Beißend kalt. eine Kälte, die sich in meinem Körper ausbreitet und jedes andere Gefühl erstarren lässt. Bitte sag etwas, flehe ich die Ärztin still an. Die Anschläge auf der Tastatur hämmern in meinem Kopf nach. Tack, tack. Das Blut tropft. Wo bleibt nur Pascal. Die Ärztin zieht Kreise auf dem Monitor, misst Distanzen, tippt wieder. Tack, tack tack, Hammerschläge im Kopf. Ich versuche ihre Blicke zu deuten, ihre Atemzüge, das Monitorbild. Sag etwas, bitte sag etwas! Endlich wendet sie sich an mich. Ich verstehe nur Brückstücke. Es rauscht, die Wörter drehen um mich herum. Hämatom in der Gebärmutter. Drohender Abort. Keine Prognose. Der Fötus könnte abgehen. Ich versuche meine Gedanken zu ordnen. „Könnte“, sie hat gesagt „könnte abgehen“. Es gibt eine Chance. Mein Baby lebt noch!

Ich sitze auf einer Picknickdecke im Stadtpark und beobachte, wie der kleine Finn Luca seine halb zerkaute Wurstscheibe in meine neue Bruno Banani Tasche spukt. „Huch“, lacht Kerstin und zieht den Kleinen zu sich. „Na so teure Taschen bräuchte ich mir als Mutter nicht anschaffen. Hach, manchmal beneide ich dich um dein Leben. Du hast so viel Freizeit und so schickes Zeug. Aber ich hätte ein Leben ohne Kinder nicht gewollt. Ich hab ja nie verstanden, warum du dich so entschieden hast.“ Ich quäle mich zum Lächeln. Entschieden, denke ich. Nach drei Jahren Hormontheraphie und vier Fehlgeburten sehe ich meine Kinderlosigkeit nicht als Entscheidung an. „Was gibt es denn neues aus der Tinder-Welt?“ fragt Kerstin weiter, „mit 42 Jahren lebst du noch wie ein Teenager, das ist so cool!“ „Ach, nichts, so spannend ist es nicht“, winke ich ab, „viele Nieten im Lostopf, vielleicht sogar nur.“ Kerstin reißt plötzlich eine Hand in die Luft und prustet los: „ich muss dir was erzählen, du errätst nie wer mit mir im Rückbildungskurs war!“ Sie lässt mir keine Zeit zum Raten. „Jennifer! Du weißt schon, die neue Frau von Pascal!“ Ein Dolchstoß durch die Lunge. „Die sind doch erst zwei Jahre zusammen. Also wenn die es nicht mal eilig haben. Wie lange seit ihr jetzt getrennt? Drei, vier Jahre?“ Ich habe keine Chance zu antworten, ich habe keine Luft mehr im Körper.

Schmerzverzehrt

Mein Herz rast. Mein Rücken schmerzt. Ein reißender Stoß drückt mich in die Kissen des Betts. Pulsierende Schmerzen verbieten mir aufzustehen. Meine Beine sind taub. Ich spüre meine Füße nicht. Meine Arme sind wie gelähmt und doch kann ich sie bewegen. Mein Herz rast weiter. Im Versuch ruhig zu atmen, schießt mir das Wasser in den Kopf und ich schnappe nach Luft. Wie ein strömender Wasserfall, der durch meine Nerven schwabbt rauscht das Blut in meinen Ohren. Mit zitterndem Brustkorb, nervösem Hund, der merkte das etwas nicht stimmte, tippte ich die Nummer des Notarztes in mein Handy. Eine Minute. Zwei Minuten. Drei Minuten, bis er den Rettungswagen losschickt, um mich vor dem geglaubten Tod zu bewahren. Meine Hand wurde schwer. Das Handy fällt mir aus der Hand, auf meine Brust. Voller Wucht. Doch ich spüre es nicht. Wie in Zeitlupe kommen mir die 17 Minuten vor, bis die Notärzte meine Haustür nicht finden, meine beste Freundin versucht mich zu beruhigen. Zum Glück ist sie in den Notfallkontakten gespeichert. Mein Partner geht nichts ans Telefon, weil er mit seinen Freunden unterwegs ist. 20 Minuten, bis sie es als Hyperventilation und Panikattacke abtun. 25 Minuten, bis sie mich die Treppen hinunter in den Krankenwagen hießen.
Stille. Bis zwei Stunden später ein Psychologe auftaucht und mir Antidepressiva verschreibt. Und ich einen Monat später mit denselben Symptomen wieder dort landete. Mit dem Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen, wo sie mich belächelt haben und meine Symptome nicht für voll nahmen. Bis es mir nach drei Monaten und verstrichenen Minuten in MRTs immer noch so vorkommt, als wäre es keinen Tag her, als mein Partner mich ins Krankenhaus brauchte. Wo ich drei Tage bleib und doch konnte mir niemand sagen, was genau mein Problem ist. Warum teile meines Körpers gelähmt oder von Schmerzen verzehrt sind. Doch dann spricht meine Neurologin die Wahrheit aus, ein Jahr nach meiner ersten Nacht in der Notaufnahme und alle angehaltenen Zeitfunken des vergangenen Jahres fallen in sich zusammen. „Sie haben MS“ erklärte sie mir. Und mit einem Mal war ich wieder im Januar, als ich mit der Diagnose „Panikattacke“ vertröstet wurde. Ein Wimpernschlag fühlte sich an wie ein vorbeigezogenes Leben mit dem Wissen: „Karma ist eine Bitch“!

Ostsee

Warum musste es immer die Ostsee sein? Er wäre lieber nach Afrika oder Australien gefahren, irgendwohin, wo es richtige Meere gab. Doch seine Eltern hatten seinen Protest wortlos und kopfschüttelnd hinweggefegt, so wie sie es immer taten.
Er wusste, dass sie sich keine Reise in ein fernes Land leisten konnten. Aber es hätte auch keinen Unterschied gemacht, wenn sie steinreich gewesen wären. Für seine Eltern war eine Reise an die Ostsee in ihrem fabrikneuen, 1983er Golf ein gerade noch zu meisterndes Abenteuer. Weiter weg würden sie sich niemals wagen.
Ihr Bungalow lag nicht einmal direkt am Meer. Nach einer endlosen Fahrt, dem Auspacken und dem üblichen Streit mit seiner kleinen Schwester um die Betten, machten sie sich auf den Weg zum Strand. Endlos wanderten sie durch die öde, flache Landschaft, erreichten die ersten Dünen und waren schließlich an ihrem Ziel angekommen.
Nein, aus der Ostsee war auch in diesem Jahr noch kein richtiges Meer geworden. Er dachte an die Reiseprospekte, durch die er sich tagträumend geblättert hatte, und die so wundervolle Bilder von blauem, kristallklarem Wasser zeigten, gesäumt von einem puderfeinen, weißen Sandstrand an dem Schatten spendende Kokosnusspalmen wuchsen. So musste ein Meer aussehen!

					*

Er hatte das Sandburgenbauen schon nach kurzer Zeit satt. Er setzte sich neben seine kleine Schwester auf die Decke, die von einem steinigen, mit Muscheln verzierten Schutzwall umgeben war; so, wie es sich gehörte.
Er langweilte sich. Noch zwölf lange Tage. Doch vielleicht hatte er Glück und er starb vorher an Langeweile.
»Möchtest du vielleicht mit mir Frisbee spielen?« Überrascht sah er auf. Neben ihm stand ein etwa 11-jähriges Mädchen, so alt wie er. Sie hatte festen Schrittes die Grenze ihres Territoriums überschritten, sie schien sie gar nicht wahrgenommen zu haben. Er hatte sie schon den ganzen Tag über beobachtet, war sie doch das Interessanteste, das es hier zu sehen gab. Der Grund war, dass sie nichts als ein Bikinihöschen trug, obwohl sich um ihre Brustwarzen schon die Andeutung einer Wölbung abzeichnete, wenn sie auch nicht mehr war, als ein Versprechen auf die Zukunft. Dies war der letzte Sommer, den sie ohne ein Oberteil an einem Strand oder einem Schwimmbad verbrachte, da war er sich sicher. Nicht, dass er sich ernsthaft für Brüste interessiert hätte, aber dennoch war sein Blick immer wieder zu ihr herübergewandert, fasziniert, wie selbstsicher sie mit ihrer Nacktheit umging. Wusste sie nicht, was da mit ihrem Körper geschah, oder war es ihr einfach egal?
Er hielt seinen Blick fest auf ihre Augen gerichtet. Was blieb ihm auch anderes übrig? Sie waren von jenem strahlenden Blau, das der Ostsee so fehlte. Sie waren groß und … ja was? Ihr Blick hatte etwas so unerwartet Klares, Wissendes. Er hatte nichts gemein mit dem üblichen kuhäugigen Stieren der blöden Mädchen, die er kannte.
Sein Zögern musste sie missverstanden haben, denn der vor ihn hingehaltene Frisbee begann zu sinken. Schnell sprang er auf.
»Gerne!«, sagte er und nahm die rote Scheibe.
Sie warfen den Frisbee ein paar Mal hin und her, bis das Mädchen sagte: »Ich hab keine Lust mehr. Kommst du mit zu uns rüber?«
»Gerne!«, sagte er wieder und folgte ihr. Ihre Eltern saßen etwas abseits der anderen. Es gab keinen Wall, mit dem sie die Grenze ihres Territoriums markierten.
Das Mädchen ließ sich neben seine Mutter auf die Decke fallen.
»Oh, du hast jemanden mitgebracht. Wie heißt denn dein neuer Freund?« Das so schrecklich unpassende Wort ließ sein Gesicht aufglühen. Er schwieg. Glücklicherweise sprach das Mädchen wieder, völlig unbeeindruckt von der Ungeheuerlichkeit, die ihre Mutter soeben von sich gegeben hatte.
»Wir haben uns ja noch gar nicht vorgestellt. Ich heiße Claudia. Claudia von Teeßen. Und wie heißt du?«
»Michael«, sagte er. Das ›Meier‹ verschwieg er lieber. ›Michael Meier‹ klang wie ein Witz. Er hasste seine Eltern dafür.
»Und das sind meine Eltern: Peter und Maria.«
»Hallo Michael«, riefen beide gleichzeitig.
»Hallo«, antwortete er. Wenn er nicht bald anfing, in ganzen Sätzen zu sprechen, würde ihn Claudia noch für blöde halten.
»Wir sind heute den ersten Tag hier.« Etwas Besseres war ihm nicht eingefallen.
»Wir auch!«, antwortete Claudia. »Dann werden wir uns wohl noch öfters sehen.«
»Das wäre schön«, sagte er, überrascht, wie leicht diese Wörter über seine Lippen gekommen waren. Claudia lächelte.
»Wollen wir ein Kreuzworträtsel lösen? Das mach ich im Urlaub immer.«
»Gerne!«, sagte er nun schon zum dritten Mal und »Verdammt!«, dachte er.
Claudia holte ein Rätselheft für Kinder hervor.
»Ein anderer Name für Dorfplatz.«
»Hmm«, sagte Michael.
»Anger«, sagte Claudia und trug das Wort ein.
»Ausscheidungsorgan«
»Ähhh«
»Niere!«
»Anderes Wort für Halt«
»Hmm«
»Stop«
Claudia suchte eine Weile herum.
»Die Farbe der Liebe?« Sie sah ihm fest in die Augen und schwieg. Hastig sagte er »Rot!«, obwohl sie die Antwort sicher längst gewusst hatte. Lächelnd trug sie das Wort ein.

				*

Die Sonne stand schon tief am Horizont. Es war Zeit für den Abschied. Sie verabredeten sich für den nächsten Tag. Er versicherte Claudia, dass sich seine Eltern für die nächsten zwölf Tage nicht mehr als drei Meter von ihrer ›Burg‹ fort wagen würden, und Peter und Maria – sie bestanden darauf, dass er sie duzte – versprachen auch an derselben Stelle zu bleiben, als sie Claudias bittenden Blick sahen. Sie musste ihre Eltern tatsächlich nur ansehen, um etwas bei ihnen zu erreichen. Den Trick würde er nur zu gerne von ihr lernen. Aber da fehlte ihm wohl das glasklare Blau ihrer Augen.
Auf dem Weg zurück zum Bungalow nahm er ohne zu murren den Korb mit den Strandutensilien, schwang ihn hin und her und sang dabei wilde Lieder.
»Was ist denn mit dir los?«, fragte seine Mutter. »Du bist doch sonst die ersten drei Tage immer nur schlecht gelaunt.« Sie klang dabei weniger erfreut, als vielmehr besorgt. Alles Ungewöhnliche besorgte sie. Nein, korrigierte er sich: Eigentlich besorgte sie alles. Michael antwortete nicht, sondern ging einfach schneller, fort von seinen dummen Eltern. Seine kleine Schwester kam hinterher ihm hergestapft. Als sie ihn eingeholt hatte, grinste sie ihn breit an und sagte in leisem Singsang: »Mein Bruder ist verliiehiibt.« Im Gegensatz zu ihren Eltern war dem Mädchen nicht entgangen, mit wem er den ganzen Tag verbracht hatte.
»Gar nicht! Dumme Kröte!«, fauchte er. Doch sie war keine dumme Kröte, dachte er. Sie hatte ihre kleine Gemeinheit immerhin so leise gesagt, dass ihre Eltern davon nichts mitbekamen. Sie war eine gute Schwester. Er hatte sie wirklich lieb. Zumindest in einem Augenblick wie diesem.
Am nächsten Morgen trieb er seine Familie auf dem Weg zum Strand vor sich her, wie eine Herde Schafe. Er wäre am liebsten gerannt. Wieder waren da die Besorgnis im Gesicht seiner Mutter und das breite Grinsen in dem seiner Schwester.
Claudia war noch nicht da, als sie ankamen, aber schon nach kurzer Zeit sah er sie und ihre Eltern über die Dünen zum Strand gehen. Er wartete, solange er es aushalten konnte. Wie uncool wäre es gewesen, sofort zu ihr herüber zu rennen?

Sie spielten Karten, lösten Kreuzworträtsel, sie badeten, sie redeten, sie stritten, sie sammelten Muscheln.
Sie war so anders, als die Mädchen, die er kannte. Sie war intelligent, witzig, schlagfertig, aber auch in den richtigen Momenten, rücksichtsvoll oder mitfühlend. Nicht, dass er das mit seinen elf Jahren schon diese Wörter benutzt hätte. Er fasste ihr wundervolles Wesen so zusammen: Sie war einfach toll.
Und sie war – das musste er widerstrebend zugeben – schön. Er schämte sich dafür, sie nur wegen ihres fehlenden Bikinioberteils interessant gefunden zu haben. Er hatte das schon nach den ersten Minuten, die er mit ihr verbracht hatte, nicht mehr wahrgenommen.
Dies war der beste Urlaub seines Lebens. Schade, dass es noch immer die graue Ostsee war, die da am Ende des Strandes vor sich hindümpelte. Claudia schlug vor, ein wenig am Meer entlang zu wandern. Michael hatte eigentlich keine Lust dazu, aber als sie ihn bittend ansah, willigte er sofort ein. Auch bei ihm wirkte die Magie ihres blauen Blickes.

					*

Sie waren schon einige Zeit unterwegs. Sie hatten den Strand und die Masse der Urlauber hinter sich gelassen. Hier gab es nur noch Felsen und Geröll. Abgesehen von gelegentlich vorbeikommenden Spaziergängern, waren sie allein. Sie machten eine Pause auf einem großen, flachen Felsen. Michael stand im warmen, ablandigen Wind und sah missmutig auf das graue Meer hinaus.
»Was hast du?«, fragte Claudia. »Warum schaust du so böse aus?«
»Ich mag die Ostsee nicht! Sie ist nichts weiter, als eine riesige graue Pfütze.«
Claudia sah ihn fassungslos an. »Aber das ist nicht wahr. Sie ist wunderschön.«
Er sah auf das Meer hinaus, als hoffte er, etwas übersehen zu haben, aber da war nur die graue Wasserwüste.
»Warte, ich zeige es dir« Sie stellte sich dicht hinter ihn und hielt ihm mit beiden Händen die Augen zu. Michael war überwältigt, von der plötzlichen Nähe des Mädchens. Er erstarrte.
»Was hörst du?«, fragte sie leise.
»Nichts«, antwortete er irritiert. Sie umschlang ihn fester, seine Augen immer noch verdeckend, ihren Mund dicht an seinem Ohr. Er fühlte ihren Herzschlag an seinem Rücken.
»Hör genauer hin!«
Er versuchte es. Natürlich gab es etwas zu hören:
»Da sind die Wellen. Ich höre, wie sie an den Felsen brechen. Und das Murmeln der Kieselsteine, wenn sie zurückfließen. Da sind Möven. Sie klingen immer, als ob sie über irgendetwas stinksauer wären. Ich höre den Wind.«
»Und, wie findest du es?«
»Es ist … schön.« Er wusste, dass sie das hören wollte, aber ein klein wenig fühlte er tatsächlich so.
»Was riechst du?«, fragte sie weiter. Er nahm einen tiefen Atemzug.
»Ich rieche die salzige Gischt und die angespülten Algen und Quallen.«
»Und?«
»Es riecht gut, frisch und würzig.«
»Was spürst du?«, hauchte sie in sein Ohr.
»Ich spüre den warmen Wind und die Sonne auf meiner Haut. Und …« er zögerte und sammelte jedes kleine Häufchen an Mut ein, die er in sich finden konnte. Als er glaubte, genug gefunden zu haben, sprach er weiter: »Und ich spüre dich!«
Sie nahm ihre Hände von seinen Augen und setzte sich. Er schaffte es, sich aus seiner Erstarrung zu lösen und ließ sich kraftlos neben sie fallen.
»Und ist die Ostsee nun so schrecklich?«
»Nein«, sagte er. »Sie ist wunderschön.« Doch er sah nicht auf die brechenden Wellen hinaus, er blickte tief in ihre meeresblauen Augen.
Sie sahen einander eine Weile an. Schließlich sprang Claudia auf.
»Lass uns weiter gehen!« Er folgte ihr, mit dem quälenden Gefühl einen wichtigen Augenblick vertan zu haben.

				   *

Die Zeit verging, und Michael wünschte sich, dass dieser Urlaub nie zu Ende gehen würde. Doch es blieben nur noch zwei Tage. Und auch dieser Vorletzte näherte sich seinem Ende. Er versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie ihn die unausweichliche Trennung von Claudia quälte. Er hätte gerne mit ihr darüber geredet, fand aber nicht den Mut dazu.
Sie stand alleine am Strand und winkte ihn zu sich. Er rannte zu ihr herüber.
»Ich hab da eine Idee«, sagte sie.
»Was denn?«
»Meinst du, du kannst dich heute Nacht raus schleichen? Wir könnten uns hier am Strand treffen.« Michael war begeistert. »Ja, das wird kein Problem.«
»Aber zieh dich warm an, es wird nachts echt kalt. Und nimm eine Taschenlampe mit. So um 12, oben am Weg?«
»Ja«, sagte er. Claudia ging davon. Er blickte ihr hinterher. Warum waren sie nur nicht früher auf diese wundervolle Idee gekommen?

				*

Er hatte sich einen Wecker gestellt, aber das war gar nicht nötig. An Schlaf war nicht zu denken. Er hörte seine kleine Schwester im Schlaf murmeln. Sie würde kein Problem darstellen. Er hätte sie wahrscheinlich an einem Bein kopfüber baumelnd in die Höhe halten können, ohne dass sie aufwachte.
Halb zwölf! Er zog sich leise an, nahm die bereitgelegte Taschenlampe, und stieg durch das Fenster. Er bemühte sich, es so weit wie möglich zu schließen, verriegeln konnte er es aber nicht. Er schaltete seine Taschenlampe an und schlich hinaus in die Nacht.
Er hatte trotz der Dunkelheit nur ein paar Minuten gebraucht, Claudia war noch nicht da. Er spähte in die Finsternis, und nach endlos scheinenden Minuten, sah er das Flackern einer Taschenlampe. Er schaltete seine eigene Lampe an und zielte auf den herannahenden, leuchtenden Fleck. Es war Claudia.
»Hallo!«, sagte sie, als sie ihn erreicht hatte. Sie gingen zum Strand hinab, und Claudia setzte sich, Michael ließ sich neben ihr nieder.
»Es ist wirklich verdammt kalt.« Sie lehnte sich zu ihm herüber. Michael legte einen Arm um ihre Schulter und zog sie näher zu sich heran. Eine Weile saßen sie einfach nur da, wärmten einander und lauschten dem Rauschen des Meeres.
»Morgen ist unser letzter Tag«, sagte er schließlich.
»Ich weiß. Aber wir werden uns doch schreiben, oder?«
»Natürlich! Wir dürfen morgen nur nicht vergessen, unsere Adressen austauschen. Kommt ihr nächstes Jahr wieder her? Wir fahren nie woanders hin.«
»Wenn ich meine Eltern dazu überreden kann, ja. Aber sie sind eigentlich nicht so die typischen Strandurlauber. Sie fahren lieber in die Toskana oder was Ähnliches. Und wer weiß, ob wir wieder zur selben Zeit Ferien haben?«
Michael fühlte einen Stich in seiner Brust. Die Vorstellung Claudia nie wieder zu sehen, war unerträglich.
»Wenn es nicht klappt, werden wir uns als Erwachsene wieder treffen. Verabreden wir uns doch für das Jahr 2000!«
Er schwieg. Das Jahr 2000 war Science-Fiction. Er wäre längst ein alter Mann und Claudia lebte dann wahrscheinlich auf dem Mond. Es gab keine Worte, die ausdrücken konnten, was er fühlte.
»Was willst du mal werden?«, fragte sie nach einer Weile. Michael dachte nach. Er wusste, was er werden wollte, doch das hatte er bisher noch niemandem gesagt. Wie hätte er denn bei seinen Freunden dagestanden, wenn er etwas weniger Aufregendes als ›Astronaut‹ gesagt hätte? Doch Claudia verdiente eine ehrliche Antwort.
»Ich möchte Koch werden. Ich helfe meiner Mutter immer in der Küche. Manchmal darf ich auch ganz alleine kochen. Ich mag es, mir neue Gerichte auszudenken. Meine Spagetti mit Salami und Champignons sind das Lieblingsgericht der ganzen Familie.«
Claudia lächelte. »Das ist ein schöner Beruf. Und das passt. Ich will später ein Restaurant eröffnen, bei uns in Bremen. Das wollte ich schon immer. Mein Opa hatte eins. Ich werde es ›Ostsee‹ nennen. Am Morgen decke ich die Tische ein, und du wirst hinter dem Tresen die Gläser abspülen. Später bediene ich dann die Gäste, während du kochst. Abgemacht?« Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
»Abgemacht!«, antwortete er und genoss dabei den blumigen Duft ihres Haars. Sie schwiegen wieder und sahen dabei zu, wie die heraufziehenden Wolken den Mond verschleierten. Wie lange sie dort saßen, konnte Michael nur schätzen. Doch dann spürte er, wie das Mädchen neben ihm zu zittern begann.
»Wir müssen gehen. Sonst erfrierst du mir noch«, sagte er mit klappernden Zähnen. Sie erhoben sich und standen einander gegenüber. Er nahm sie fest in den Arm.
»Bis Morgen«, sagte er traurig. Claudia sah ihn an und löste sich aus seiner Umarmung. Sie war schon einige Schritte gegangen, als sie sich unverhofft umdrehte und zu ihm zurückkehrte. Sie beugte sich vor, und ihre Lippen berührten sich für einen viel zu kurzen Augenblick. Dann verschluckte sie die Dunkelheit.

Als er am Bungalow ankam, war das Fenster verriegelt. Verdammt! Was sollte er tun? Die Türen waren ebenfalls verschlossen. Er begann an die Scheibe zu klopfen, in der Hoffnung, seine Schwester aus ihrem totenähnlichen Schlaf wecken zu können. Nachdem sich nichts rührte, trommelte er immer heftiger gegen das Fenster, stumm betend, dass seine Eltern, die nur ein Fenster weiter schliefen, es nicht hörten. Er wurde erlöst, als ihn endlich die trüben, verschlafenen Augen seiner Schwester finster musterten. Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um an den Fenstergriff zu gelangen.
»Was hast du denn da draußen getrieben?«, fragte sie und rieb sich die Augen.
»Das geht dich nichts an!«
»Als ob ich das nicht sowieso wüsste«, sagte sie grinsend.
»Wieso war das Fenster zu?«
»Es stand offen, und es wurde verdammt kalt.« Sie sah ihn tadelnd an.
»Das wird aber Ärger geben, wenn ich Mama und Papa erzähle, dass du dich rausgeschlichen hast und ich fast erfroren wäre.«
»Das wirst du aber nicht tun!«
»Und warum sollte ich das nicht?«
»Weil ich dich dann umbringe!«
»Pah!«, antwortete sie selbstsicher und schlüpfte wieder in ihr Bett.
Sie würde ihn nicht verraten, da war er sicher. Das tat sie nie. Er zog sich aus und legte sich in sein Bett. Er spürte die Müdigkeit und sah dem Wetterleuchten des aufkommenden Gewitters zu, während er sich in seinen Träumen verlor. Und es waren schöne Träume.

					*

Am Frühstückstisch sitzend hing Michael seinen Gedanken nach. Der letzte Tag! Das war ein so erschreckender Gedanke. Mit einem Filzstift schrieb er seinen Namen und seine Adresse auf einen Zettel in krakeliger Jungenhandschrift. Seine Eltern waren in ein Gespräch vertieft, doch er hörte nicht zu. Er konnte sich nicht erinnern, wann seine Eltern je etwas gesagt hatten, das ihn interessierte. Doch dann stand sein Vater plötzlich auf.
»Also los. Packt eure Sachen! Wir fahren schon heute zurück. Dann ist die Autobahn auch nicht so voll. Was sollen wir hier im Regen rumsitzen?«
Michael glotze seinen Vater verständnislos an.
»Aber das geht nicht! Wir müssen an den Strand.« Doch seine Eltern waren schon längst in hektische Aktivität ausgebrochen und sein Protest verhallte ungehört.
Michael blieb einfach sitzen. Er wollte davonlaufen. Doch was hätte das für einen Sinn? Er sah den peitschenden Regen die Fensterscheiben verschleiern. Am Strand war Claudia sicher nicht. Leider wusste er nicht, in welchem Bungalow sie wohnte. Es gab Hunderte. Mit seinen Eltern konnte er nicht reden, selbst wenn sie ihm zugehört hätten. Sollte er ihnen erzählen, dass er sich von seiner Freundin verabschieden musste? Das war undenkbar. Er blieb einfach weiter sitzen und suchte in der Leere seines Kopfes nach der rettenden Idee.

				    *

Als sie im Auto saßen und losfuhren, hockte er sich auf die Knie in Richtung des Rückfensters und starrte durch die regennasse Scheibe. Er hoffte gegen jede Vernunft, Claudia würde einfach auf der Straße erscheinen und ihm zuwinken. Der Bungalow wurde immer kleiner, so wie seine Hoffnung. So sehr er sich auch dagegen wehrte, fühlte er, wie sich Tränen in seinen Augenwinkeln sammelten. Er spürte, wie die kleinen Finger seiner Schwester nach seiner Hand tasteten und sie fest drückten. Sie sah ihn dabei nicht an noch sagte sie ein Wort. Allein dafür liebte er sie. In der anderen Hand hielt er noch immer den nutzlosen Zettel mit seiner Adresse. Er zerknüllte ihn.

					* 

Als Erstes spürte er den Kuss nicht mehr auf seinen Lippen, dann vergaß er ihn, schließlich verschwand auch Claudia aus seiner Erinnerung. Die Jahre kamen und gingen. Er studierte, er heiratete, zeugte ein Kind, baute ein Haus. Er tat, was man von ihm erwartete.
Dann starben seine Eltern und kurz danach auch seine Ehe. Was blieb, war die Erkenntnis an jeder Weggabelung seines Lebens die falsche Richtung eingeschlagen zu haben. Und als hätte sein Leben nicht schon genug in Trümmern gelegen, war nun auch noch seine kleine Schwester gestorben. Der Krebs hatte sie Stück für Stück aufgefressen und schon lange vor ihrem Tod nichts mehr von ihr übrig gelassen.
Er hatte seine Frau nie so geliebt, wie sie es verdient hätte, und er wollte niemals Volkswirtschaft studieren. Er erinnerte sich, dass er eigentlich hatte Koch werden wollen. Und daran, dieses Geheimnis nur mit einem Menschen geteilt zu haben. Auf einmal war Claudia wieder da. Er erinnerte sich an den kurzen Augenblick, als sich ihre Lippen berührt hatten, und den süßen Stich in seiner Brust. Ob ihre Träume wohl in Erfüllung gegangen waren? Er würde es nie erfahren. Doch dann wurde ihm klar, dass das Blödsinn war. Er lebte im 21ten Jahrhundert. Wozu gab es denn das verdammte Internet? Er startete seinen Computer.

					*

Er stand vor dem Restaurant. ›Ostsee‹ stand in großen Lettern über dem Eingang. Wie oft mochten die Gäste fragen, wieso ein Restaurant in Bremen diesen Namen trug? Was die Wirtin dann wohl antwortete? Es regnete, wie damals, an jenem schrecklichen, letzten Ferientag. Was für ein Wahnsinn war es gewesen, mitten in der Nacht aufzubrechen, um hier herzufahren. Er hatte seinen Computer ausgeschaltet, sich in sein Auto gesetzt und war losgefahren. Er hätte Claudia doch genauso gut anrufen oder ihr eine Mail schicken können, anstatt 600 Kilometer quer durch Deutschland zu fahren, mit keiner Rechtfertigung, als einer flüchtigen Kindheitserinnerung.
Es war noch früh am Morgen. Das Restaurant war mit Sicherheit noch nicht geöffnet. Dennoch zog er an der Tür. Sie war nicht verschlossen. Nun gab es kein zurück mehr. Wohlige Wärme schlug ihm entgegen. Claudia stand nur fünf Meter von ihm entfernt. Sie sah noch genau so aus, wie früher, wenn auch 35 Jahre älter. Doch das 11-jährige Mädchen mit den meeresblauen Augen war noch da. Sie sah zu ihm herüber, ihr Blick so klar und wissend wie damals. Ohne zu zögern, sagte sie: »Du hast dir aber verdammt viel Zeit gelassen. Hatten wir uns nicht für das Jahr 2000 verabredet?« Er konnte nicht antworten, dazu hätte er atmen müssen. Sie fuhr fort, als er weiterhin stumm blieb: »Möchtest du mir nicht beim Spülen helfen?«
»Gerne!«, sagte er, zog seinen Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl. Er ging hinter den Tresen und begann mit seiner Arbeit.

Ende

Alle Namen sind frei erfunden. Laut Internet gibt es weder eine »Claudia von Theeßen« noch ein Restaurant »Ostsee« in Bremen. Die 10000 »Michael Meier« werden hoffentlich großzügig über die Benutzung ihres Namens hinwegsehen.

Zur selben Zeit

Jaipur
Sieben Frauen liegen nebeneinander auf Metallliegen, eine davon auf einem Tisch, den man notdürftig in den Geburtssaal gestellt hat. Ihre Saris liegen hochgezogen bis auf den Bauch. Sie sind geburtsbereit. Die Wehen kommen in unterschiedlichen Abständen. Ein Arzt ist nicht anwesend. Die Hebamme arbeitet routiniert. Kein Mann ist bei ihnen. Sie arbeiten oder suchen Arbeit. Sie reparieren notdürftig Dinge, verkaufen Früchte, die sie in den randnahen Wäldern Jaipurs oder auch weiter draußen finden oder sie schlagen die Zeit tot. Keiner von ihnen würde jetzt bei seiner Frau sein wollen, bei diesem Leib im höchsten Grad der Unreinheit. In allen wohnt die bange Frage, ob es ein Mädchen wird, das gleich zur Welt kommt. Zweitrangig die berechtigte Frage, ob man die Geburt komplikationsfrei überlebt. Sie alle tragen eine vage Hoffnung in sich; ein Versprechen vielleicht auf etwas mehr Stabilität im Leben. Eine der Frauen liegt ohne ein Versprechen da. Sie ist sehr jung. Sie wusste nicht, dass sie einer Zeugung beiwohnte, als es geschah. Die Frau neben ihr, älter, geburtserfahrener, wirft ihr einen wissenden Blick zu. Den Ausdruck von Mitleid oder Verachtung vermeidet sie. Aber er hätte seinen angestammten Platz in dieser Szene finden können. Ein Schmerz, der sie durchfährt, reißt ihren Blick an die Decke, wo ein Stück abgeplatzter Farbe kurz davor ist, auf den Boden zu fallen. Ihr vergehen die Sinne in einer letzten großen Wehe.

Tscherkassy
Zur selben Zeit liegt Irina im Krankenhaus. 265 Tage dauert dieser Krieg schon, 280 Tage ihre Schwangerschaft. Sie wollte eigentlich ihr Kind zu Hause auf die Welt bringen. Das kam Irina immer modern vor. Nun ist es hier aber sicherer, seit es an vielen Stellen in der Stadt Explosionen und Zerstörungen an Gebäuden gibt. Auch das Krankenhaus könnte es treffen, aber es vermittelt den Eindruck, dass die Hilfe im Zweifelsfall schneller bei einem ist. Die Abstände der Wehen sind schon kürzer. Sie liegt auf einem Bett in der Nähe des Kreißsaals und wartet. Ihr Vertrauen darauf, dass jemand weiß, wer sie ist, wo sie sich befindet und weshalb sie hier ist, hat die Form einer offenen Frage.
Andrij, ihr Ehemann, ist irgendwo bei Lyssytschansk. Die Front ist dort äußerst fragil und trotz der letzten Erfolge dabei, die Invasoren zurückzuschlagen, halten sich diese dort hartnäckiger als sonst. Irina trägt diese Tatsache als eine beharrliche Sorge in sich. Andrij berichtet von Verletzten und Toten. Einmal hat er Irina sogar ein Handy-Video von der Front geschickt. Irina hat ihm daraufhin geschrieben, dass sie keine derartigen Bilder möchte. Er soll lieber schreiben oder Sprachnachrichten schicken. Ihre Hoffnungen ob der letzten Erfolge sind mit großen Ängsten vermischt, die niemand aussprechen muss. Jeder weiß, dass in Moskau eine Ratte regiert, die umso unberechenbarer und hemmungsloser agiert, je mehr man sie in die Enge treibt.
Eine Tür öffnet sich und aus dem Licht tritt eine Krankenschwester auf sie zu, die trotz der Mühen, die man ihr ansieht, ihr Lächeln mit Stolz und Würde trägt. In ihre Hände legt Irina etwas erleichtert ihre ganze Gegenwart.

Los Angeles
Zur selben Zeit liegt Susan in ihrem Zimmer und fotografiert wohl ein letztes Mal ihren runden und makellosen Babybauch. Eigentlich hätte sie noch ein paar Tage, bis es soweit ist. Aber vieles spricht dafür, das Kind heute Nachmittag per Kaiserschnitt zur Welt zu bringen. Der Arzt versicherte ihr, man würde von der Narbe nicht den Hauch einer Spur sehen können. Schon wenige Momente nach dem Eingriff sei sie wieder bereit für die ersten Aufnahmen. Sie würde die Klinik so makellos verlassen, wie sie gekommen sei.
Die Krankenschwester richtet Blumen und einige Einrichtungsgegenstände, legt einige Kleidungsstücke für Susan bereit und scheint eher dafür zu sorgen, Susans Eindruck zu sichern, dass alles bestens läuft und dass zu jeder Zeit jemand für sie da ist.
„Wird die Spritze wirklich nicht wehtun?“
„Höchstens ein winziges Zwicken. Danach läuft alles wie von alleine. Sie werden gar nicht merken, dass Sie ein Kind bekommen.“
Die Krankenschwester lacht. Susan auch.
„Der allerbeste Service wäre es eigentlich, wenn man bei Ihnen auch noch jemanden engagieren könnte, der einem die Geburt abnimmt.“
Wieder lachen beide. Susan schaut auf ihren Bauch.
„Wenn ich nicht diesen Bauch hätte, würde ich denken, ich bin bei Ihnen in einem Hotel. Hier wird wirklich an alles gedacht.“
„Wir würden uns sehr freuen, wenn Sie Ihren Eindruck bei Ihrer Bewertung berücksichtigen könnten.“
Susan wird das tun, denn es wird nicht nur der Klinik nützen. Alles passt perfekt zusammen.
Der Arzt, der kurz darauf Susan eine Spritze gibt, tut dies mit demselben warmen Lächeln, wie es auch die Krankenschwester trägt, mit derselben Wärme, die das Interieur verströmt und die auch die milde Herbstsonne ins Zimmer trägt. Eine Wärme, die sich jetzt auch wohlig in ihrem Körper auszubreiten beginnt. Susan freut sich darauf, der Welt ihr Kind zu zeigen.

Shaoxing
Zur selben Zeit ist Chen Lu am Ende ihrer Kräfte. Sie liegt seit zwölf Stunden in den Wehen, aber das Kind macht keine Anstalten, auf die Welt zu kommen. Die Krankenschwestern witzeln halb im Ernst, halb ich Scherz darüber, dass das Kind diese Welt wohl bereits verstehe. Sie wissen nichts über Chen Lu und auch der diensthabende Arzt, der seinen ratlosen Vorgänger an Chen Lus Bett abgelöst hat, kann nur Vermutungen anstellen. Chen Lu arbeitet in einer der vielen Textilfabriken der Umgebung, vermutet man, weil dies der wahrscheinlichste Fall in dieser Gegend ist. Sie ist diversen und allgemein nicht bekannten Chemikalien ausgesetzt, die sicherlich von Anfang an ein großes Risiko für ihre Schwangerschaft waren. Was soll man hier tun? Das Kind scheint keine äußeren Zeichen einer Schädigung zu haben. Eventuell sind es die Arbeitszeiten, die Chen Lus Körper erschöpft haben, oder die Tatsache, dass sie bis eine Woche vor ihrem Geburtstermin hat arbeiten müssen. Vielleicht sind es die fortgesetzten Repressalien, die psychische und physische Gewalt ihrer Vorarbeiter, die es ihr unmöglich machen, dem Kind den Weg in die Welt zu bahnen. Alle Spekulation führt hier zu nichts. Bis eben zeigten Chen Lu und offenkundig auch das Kind alle Zeichen einer weit unter dem Sollwert liegenden Sauerstoffsättigung im Blut. Ihr Puls raste und war für den Assistenzarzt, der bei ihr versuchte, den Blutdruck zu messen, kaum zu hören, was er nur mit einem hilflosen Kopfschütteln quittiert. Die Ahnungen scheinen keine Spur zu sein, auf der man den offensichtlichen Komplikationen folgen kann, die zur prekären Lage geführt haben, in der sich alle, wirklich alle Beteiligten nun befinden. Der gellende Schrei, der die Flure der Station füllt und der alle Menschen für einen Augenblick dazu bringt, in ihren Verrichtungen innezuhalten, rührt daher, dass ein verzweifelter Arzt Chen Lu in den Unterleib greift und das Kind mit bloßen Händen zur Welt bringt, das sich nur einmal gedreht und mit der Nabelschnur fast erdrosselt hat. Er rettet mit dieser beherzten Aktion diese beiden Leben; das einer chinesischen Textilarbeiterin und das ihres Kindes.

Planet Erde
Zur selben Zeit fragt sich ein Teil der Menschen, was er aus seinem Leben machen soll. Ein anderer Teil fragt sich, was er aus seinem Leben machen kann.

Gestohlene Zeit - Liebe von Feuer und Wasser

„Aiden!“ Um sie herum tobte die Schlacht noch wilder als zuvor. Doch ganz gleich wie wüst es zuging, sie würden einander immer finden. Als Merles blaue Augen auf seine braunen trafen, wusste sie es: Hier an den gewundenen Ufern des Boyne River sollte es sich also entscheiden. Tagelang hatten sie gekämpft, in Dunkelheit, Regen und Schlamm für das Banner der Freiheit.
Viele ihrer Freunde hatten diesen Traum bereits mit ihrem Leben bezahlt. Ihr Blut hatte den Fluss rot verfärbt. Doch jetzt war nicht die Zeit zu trauern und ihren Tod zu beweinen.

Merle hob ihren Rundschild über den Kopf, als ein Hieb auf sie hernieder sauste. Laut knackte es, als das Holz über ihr splitterte und unter der Wucht des Schwertes brach. Mit einem Schrei, in den sie all ihre Kraft legte, warf sie sich gegen den Angreifer und holte ihn von den Füßen. Ihren Speer in seiner Seite, blieb er röchelnd im Schlamm des Flussbettes liegen. Ein weiteres namenloses Opfer des Krieges. Merle riss sich von seinen aufgerissenen Augen los, als ein Schatten auf sie fiel. Eine Hand, blutig und verdreckt, streckte sich ihr entgegen. Merle hob den Kopf und blickte in Aidens lodernde braune Augen. Wasser traf auf Feuer. Sie ergriff die dargebotene Hand.
Und in dem Moment, da er sie auf die Füße zog, brach ein neuer Tag an. Hinter den Hügeln von Tara erhob sich eine glutrote Sonne über den Rand der Welt und flutete die Ebene mit gleißendem Licht. Nie war er in ihren Augen schöner, als genau jetzt. Mit wildem, schwarzem Haar, vom Kampf versehrt und gezeichnet, aber mit einem ungebrochenen Leuchten in den Augen. Sein Name bedeutete Feuer und er war Feuer.

Ein Lächeln legte sich auf Merles Lippen, auf denen unausgesprochen Aidens Name lag. Sie halten das Handgelenk des jeweils anderen fest umschlungen, erneuern an diesem furchtbaren Ort stumm ihr heiliges Versprechen, dass sie sich im Angesicht der Götter gegeben haben. Mein sollst du sein, so wie ich deines bin. Ein Herz … für immer.
Wasser umspült ihre Füße und in dem Bruchteil dieses Augenblicks bleibt die Zeit einfach stehen. Der Kampfeslärm um sie herum verblasst zu einem kaum wahrnehmbaren Rauschen. Freund oder Feind, sie hören auf zu existieren. Denn nichts ist gerade von Bedeutung. Aiden, ihr Aiden zieht sie zu sich heran. Durch den zerrissenen Stoff seines Hemdes kann Merle das kräftige Schlagen seines Herzens spüren. „Mein Herz…“ Sein Gesicht senkt sich zu einem Kuss herab. Seine warmen Lippen schweben nur Millimeter über ihren, als seine Augen sich weiten.

„Aiden? Was…“ Der Griff um ihr Handgelenk löste sich … und Aiden fiel.

Merles Puls dröhnte in ihren eigenen Ohren, als sein Körper wie in Zeitlupe zu Boden ging, ein schwarzer Pfeil ragte wie ein unnatürlicher Dorn aus seiner Brust. Als sein Leib auf dem Wasser des Flusses auftraf und unter den Wogen begraben wurde, prasselte die Realität mit solcher Geschwindigkeit auf Merles Bewusstsein ein, dass plötzlich alles gleichzeitig zu passieren schien. Blut mischte sich im Schlamm und tränkte die Erde rot. Im Tod haben alle dieselbe Farbe.
Ein Hagelschauer aus Pfeilen regnete über dem Fluss herab und mähte alles nieder, Kriegstrommeln ließen die Erde erbeben. „Aiiiiden!“ Ihr Schrei hallte donnernd über das Land. Ihr Schmerz zerriss den Schleier zwischen den Welten. Plötzlich war es nicht mehr ihre eigene Stimme. Die Rufe tausender Mütter, Schwestern, Frauen, Töchter vor ihr hallten in ihrer Kehle wieder und kündeten von unbändigem Leid und Verlust.

Statt sich wie alle anderen zu ducken und nach Deckung zu suchen, stand Merle nur da und starrte auf die Stelle, an der ihr Herz gefallen war. Mehr und mehr Pfeile zerfetzten die Wasseroberfläche um sie herum, doch keiner davon konnte ihr etwas anhaben.
Sie watete tiefer in den Fluss hinein, einem uralten Ruf folgend.

„Du bist mein, so wie ich deines bin, mo Cridhe.“ Als Merles Tränen sich mit den Wassern des Boyne River mischten, hatte die Flussgöttin, deren Namen Merle trug, Mitleid. Sie nahm sie zu sich, verwandelte sie in eine Nymphe, einen Elementargeist mit der Macht über Wasser und Sand. Und seid jenem Tag durchstreift Merle alle Gewässer auf der Suche nach ihrem Geliebten, der ihr Herz mit sich nahm.

Auch heute, hunderte von Jahren später, kann man ihren Gesang noch immer im Plätschern des Wassers hören. Ein Lied von der Liebe zwischen Feuer und Wasser.

Ich möchte gern glauben, dass Merle ihn eines Tages finden wird, denn geht man heute durch das Boyne Valley, leuchtet das Tal in sattem Grün - Grün, wie die Farbe der Hoffnung.

Flashback

Erika zittert und duckt sich. Neben ihr im Keller sitzt ihre Mutter, daneben die Nachbarn. Staub rieselt von der Decke; das ganze Haus bebt. Wieder dieses schreckliche Heulen und Jaulen, ein Moment der Stille, schnell die Decke über den Kopf ziehen, dann der Einschlag, das Beben, das nasse Tuch vor die Nase halten. Wieder Staub, Rieseln, die Decke ächzt. Sie warten mit angehaltenem Atem, lauschen, lauschen, ob das Haus standhält. Dann Rufen, Klopfen an der Kellertür, Hämmern, Schreien. Der Nachbar öffnet die Tür. Vor der Tür steht ein Geist, ein Mädchen über und über mit Staub und Mörtel bedeckt.
„Ihr müssen hier raus. Schnell! Die Kohlen in Müllers Keller brennen.“
„Irmi!“
Erika schließt ihre Freundin in die Arme. Sie schluchzen.
„Über’s Treppenhaus geht nicht.“
Die Männer greifen sich einen Vorschlaghammer. Einen Durchgang zum Nachbarhaus. Schnell, schneller, schneller. Wie lange noch? Sie arbeiten, schwitzen, ohne Pause. Erika und Irmi merken nicht, dass ihnen die Tränen über die Wangen laufen, aus rotgeränderten Augen. Sie müssen es doch schaffen. Warum geht das nicht schneller! Die Backsteine geben nach; sie drücken.
„Die Mädchen zuerst!“
„Mutter“, sage ich, „ Mutter, was ist los?“
Sie sitzt am Tisch, zitternd und leichenblass.
„Nein!“ Nur ein Flüstern. „Nein, nein, nein!“
Sie sieht mich nicht. Ich nehme sie in den Arm und schaue auf den Fernseher.
Ich hatte ihn eingeschaltet, als ich kurz in die Küche ging, um den Tee zu holen.
Sirenen heulen. Ein Flugzeug fliegt in das World Trade Center, Flammen, Menschen stürzen aus Fenstern, der Turm stürzt ein. Staub- und Trümmerwolken. Menschen rennen durch Straßen, staubbedeckte Geister.
„Nie wieder“, sagt meine Mutter schließlich, „nie wieder hatten wir uns geschworen. Er kommt immer wieder, der Krieg!“
Wir halten uns in den Armen, im Fernsehen die Bilder in Endlosschleife. Wir halten uns fest.
Eine Ewigkeit.

Dämonenjäger

Das unvermutete Auftauchen von Ella heute während des Boxtrainings hatte beinahe mit einem K.O. für mich geendet. Sie war seit fast zwei Monaten nicht im Gym gewesen. Deshalb war ich bei ihrem Anblick überrascht erstarrt. Mein Puls ging dabei rasant in die Höhe. Diese Reaktion war mir ein Rätsel, das ich entschlüsseln wollte.

Inzwischen hatte ich sie erfolgreich zum Essen eingeladen und war nun auf einen Nachtisch bei Ihr eingeladen.
„Du hast mich also vermisst?“, erkundigte Ella sich, während sie mich in die Wohnung bat.
Jeder einzelne Atemzug ohne ihre Nähe war verschwendete Lebenszeit. Zumindest empfand ich genau das in diesem Augenblick. Ich könnte ihr nicht erklären, wo diese Sehnsucht nach ihr herkam. Wir hatten nie mehr als zwei, drei Sätze miteinander gewechselt und doch schlich sie sich seit geraumer Zeit immer wieder in meine Träume.
„Du warst lange weg“, antwortete ich ausweichend.
„Ich war in Kolumbien. Ciudad Perdida. Die verlorene Stadt.“ Sie wandte mir fragend das Gesicht zu, als würde sie darauf warten, dass bei mir etwas klingelt.
„Hört sich gefährlich an. Hast Du gefunden, was du gesucht hast?“
Sie schüttelte den Kopf. In ihren Augen stand eine unergründliche Art von Traurigkeit. Ich hatte das Gefühl, sie mit irgendetwas aufheitern zu müssen. Also tat ich den ersten Schritt und ließ meine Hände und Lippen lustvoll über ihre Hügel und Täler wandern. Ihr Körper entfachte eine nie gekannte Begeisterung in mir. Meine Finger zitterten und ihr Duft vernebelte mir die Sinne. Noch war ich nicht überall. Ich genoss diese Erkundung zu sehr, um den nächsten Schritt zu machen. Ihr Körper war so vollkommen. Die Luft knisterte rund um uns vor Spannung. Immer wieder trafen sich unsere Lippen in leidenschaftlichen Küssen. Die Sehnsucht dieses Moments ließ sich nicht mehr in Worte fassen.
Ella vergrub ihre Zähne in meinen Nacken. Ein unbeschreiblicher Schmerz durchfuhr mich. Wie festgefroren erstarrte ich. Schon wieder. Blitzartige Halluzinationen durchfluteten meinen Geist. Bilder, von unvorstellbaren Schauplätzen entstanden in meinem Gehirn. Wie in einem Strudel rissen sie mich mit in Sphären, die mir vage bekannt vorkamen.

Hitzewallungen strömten durch meinen Körper. Ella! Ein lautes Brüllen dröhnte in meinen Ohren. Mein Brüllen.
Dann kam die Erkenntnis. Ella! Eleonora von Langenstein. Meine unsterbliche Geliebte. Seit mehr als eintausendunddreihundert Jahren war ich ihr verfallen. Immer und immer wieder aufs Neue. In unzähligen Reinkarnationen, männlichen wie weiblichen, war ich ihr ausgeliefert gewesen. Ergeben. Alles begann in den Jahrhunderten, die heute als Phantomzeit bezeichnet wurden. Als das Grauen die Erde heimgesucht hatte. Gemeinsam versuchten wir seit damals, den Fluch zu besiegen. La Ciudad Perdido, der Ort meines letzten Todes. Erschöpft senkte sich mein Kopf in Ellas Halsbeuge.

Ihre Stimme flüsterte an meinem Ohr. „Willkommen zu Hause!“

Das Los des Schriftstellers

Stopp sagte der Schriftsteller - ich muss innehalten. Was will ich denn eigentlich erzählen?
Will ich Leser erreichen, die mich auf Händen tragen? Will ich Leser erreichen, die mich hassen?
Ist mir eigentlich egal, sagte der Schriftsteller. Ich will auf jeden Fall Aufmerksamkeit.

Ein paar Jahre harter Arbeit waren das schon. Mehrfach hatte er den Stoff sondiert, nach besseren Argumenten gesucht, bildhafte Formulierungen eingebaut und wieder verworfen. In einem Anflug von Verzweiflung löschte er alles, Ausdrucke zerriss er und trat sie in die Papiertonne. Er fing ganz neu an. Und da war sie plötzlich, die Spur, die er lange gesucht hatte und die er dann akribisch verfolgte. Wo würde sie ihn hinführen?

Vor ihm liegt das fertige Manuskript. Niemand würde es lesen, niemand sollte es lesen. Es war viel zu persönlich.

Der Brief

Das Gehirn ist ein seltsamer Begleiter. Schon als ich noch klein war, habe ich mich immer gefragt, welche Erinnerungen ich behalten und welche verblassen werden. Ich dachte immer, dass es sich in dem Moment entscheidet, in dem die Erinnerung gebildet wird. Dass es unmöglich ist, dies zu beeinflussen und sich beispielsweise für den Rest seines Lebens daran zu erinnern, was man an einem Dienstag gefrühstückt hat. Inzwischen glaube ich das nicht mehr.
Denn ich weiß bis heute ganz genau, was ich an jenem Dienstag gefrühstückt habe. Und das, obwohl dieser Tag zu diesem Augenblick ganz gewöhnlich erschien. Es war ein Müsli. Das gottverdammte Müsli.
Hätte ich mich für Toast entschieden, wäre mein Leben anders verlaufen und nicht nur meines. Das Problem war gar nicht so sehr das Müsli, sondern, dass mir nach der Hälfte die Milch ausging. Der Supermarkt war nur wenige Minuten entfernt und ich beschloss, an meinem freien Tag schnell mit dem Auto zu fahren, da es regnete. Noch so eine Sache. Der gottverdammte Regen.
Ich saß also am Steuer und fuhr die Landstraße entlang, die ins Nachbardorf führte. Im Radio spielten gerade die letzten Klänge von Bon Jovis it’s My Life. Mein absolutes Lieblingslied. Kein Problem, dachte ich mir. Ich hatte sein Best of Album im Handschuhfach. Ich kramte also mit der rechten Hand darin rum, während ich versuchte die Straße, trotz der sich rasch bewegenden Scheibenwischern, im Auge zu behalten. Der gottverdammte Bon Jovi.
Ich realisierte nicht wirklich, was passierte, als es geschah. Ein hefiges Ruckeln, ein Sprung in meiner Windschutzscheibe. Das war es. Das war der Moment, in dem ich einen Menschen überfahren hatte.

„Möchten Sie auch einen Tee?“, frage ich höflich. Nicht, dass ich in der Lage dazu wäre, ihn selbst zu holen. Ich würde eine Schwester darum bitten, falls der Journalist sich dafür entscheidet.
„Vielen Dank. Ich bin versorgt.“, antwortet er und tippt schon wieder auf dem Laptop herum, der auf seinem Schoss liegt.
„Wie lange sagten Sie ist das jetzt her?“
„72 Jahre.“ Ich muss keine Sekunde überlegen.
„Und sie war ohne Begleitung joggen, als Sie sie erfassten?“
Ich nicke. Müde von dem langen Gespräch. Meine faltigen Hände umfassen die halbleere Tasse.
„Kann ich ihn sehen?“
Ich weiß gleich, was er meinte. Unzählige Male wurde mir diese Frage gestellt. Ich habe sie mein Leben lang verneint. Ich sehe zu dem Dialyse-Gerät, dass mich die letzten zwei Jahre am Leben gehalten hat. Spüre, wie mein Brustkorb sich immer schwerer hebt und senkt.
„Er liegt in meiner Schublade.“
Der Journalist hält den Atem an. Ich habe diese Zeilen, der Welt immer vorenthalten. Habe ihre Last mein Leben lang gespürt. Es ist der Brief der Tochter, des Unfallopfers. Es sind Zeilen der Vergebung und dennoch kann auch sie mich nur von dem Tod ihrer Mutter freisprechen. Den Rest der Schuld werde ich mit ins Grab nehmen.
„Was glauben Sie wäre passiert, wenn Sie seine Frau niemals überfahren hätten?“
Ich schließe meine Augen und schaffe es nur mit Mühe, die nächsten Worte über meine Lippen zu bringen.
„Dann hätte es diesen Krieg niemals gegeben. Diesen gottverdammten Krieg.“

Unvergesslich

In einem großen Haufen Blätter lag ein kleiner Igel fest an seine Mutter geschmiegt. Jeder Herzschlag ihres wärmenden Körpers ließ seine zarte, rosige Gestalt zittern. Da waren andere Babies, alle neu und weich wie er. Kein Licht drang von außen herein. Jeder Atemzug duftete nach Igelmilch, Igelmutter, Geschwistern und Herbst. Der kleine Igel lag umgeben von diesem Geruch und rutschte langsam, ganz im Takt mit dem gemütlich wummernden Pochen des Igelmutterherzens, tiefer in die Lücke zwischen ihrem weichen Bauchfell und dem Boden des Nests. Dort lag er sehr unbequem auf einem unangenehm federnden Trieb, der einen komischen Gestank absonderte.
Für die Igelmutter vergingen die Tage wie im Flug. Die Kleinen wuchsen heran, ihre Stacheln machten das gemeinsame Kuscheln zu einem Quell der Frustration, der Laubhaufen wurde obsolet. Das Wetter schien ihr das Gemüt ihrer kleinen Schützlinge zu spiegeln. Sie ertrug gutmütig stürmisches Aufgebaren, wütende Tränenflüsse und wildes Blätteraufwirbeln. Der kleine Igel vom Anfang wurde zu einem selbstgefälligen Halbstarken, der einen großen Fehler aufwies: Er behielt seine Erinnerungen wie eine Eiche die Blätter im Herbst. Es mochte ein, zwei Dinge geben, die sich an den Ästen seines Verstandes festklammerten, aber der Großteil wehte davon.
Umso größer war Igelkotts Verwunderung, als er eines düsteren Nachmittags, der voller Unannehmlichkeiten gewesen war, auf etwas stieß, das ein Feuerwerk an Erinnerungen in ihm auslöste. Auf einmal war es innen heller als draußen, schien ihm. Worauf er stieß, war ein Gestank. Süßer als alles, was er je gerochen hatte, stach es ihm in die Nase – süß aufgrund der wiedergefundenen Erinnerung. Ansonsten war dieser Geruch scharf und auf seine Art einzigartig. Im Halbdunkel tapste er aufgeregt herum.
„Ah!“, kreischte eine Stimme. Igelkott rollte sich zusammen.
„Was war das denn?“, rief die Stimme etwas versöhnlicher. Igelkott schielte an seinem Hintern vorbei nach draußen und sah, wie sich ein paar braune Herbstblätter bewegten. Sie schienen sich aufzurichten, und fielen dann zu Boden. Enthüllt streckten sich vor ihm drei lange, grüne Blätter in die Höhe. Sie rochen unvergesslich.
„Ich bin Lökk“, stellte die Zwiebel sich vor. „Was für ein Gemüse bist du?“

Abschied für immer

Die nächtliche Flucht vor ihren Verfolgern nahm ein jähes Ende als George die Kontrolle über das Auto verlor. Nachdem sich der Wagen mehrmals überschlug kam er unterhalb der Straße auf dem Dach zum Stillstand.

Nur das Zischen heißen Dampfes aus dem völlig zerstörten Motorraum durchbrach die gespenstische Stille. Ava spürte ihren Körper kaum. Ihr Kopf dröhnte, Blut lief ihr übers Gesicht. Vorsichtig tastete sie hinüber zu George und fühlte seine Hand.

„Schatz, kannst du mich hören? „ Panik stieg in ihr auf. „Schatz, wir müssen hier raus!“

George versuchte, seine blutverschmierten Augen zu öffnen.

„Du lebst, Gott sei Dank. Ich hol dich hier raus Liebling“, krächzte Ava heiser. Metallischer Geschmack von Blut klebte an ihren Lippen.

Als sie sich mühsam aus dem Wrack befreit hatte hörte sie herannahende Stimmen und sie wusste, dass dies keine rettenden Helfer sein werden. Panik stieg in ihr hoch. Unter größten Schmerzen versuchte sie, George durchs zerbrochene Fenster zu ziehen aber sie hatte zu starke Schmerzen und keine Kraft. „ Verschwinde hier. Sie wollen Dich, nicht mich“ röchelte er.

„Nein“ winselte Ava tränenüberströmt. „Ich lass dich nicht hier allein.“

„Geh, solange du noch kannst! Bitte geh.“

George schloss erschöpft seine Augen.

Ava zögerte. Die Stimmen kamen näher, sie sah Licht einer Taschenlampe aufblitzen und wusste, dass sie verschwinden musste wenn sie überleben wollte. Jetzt sofort.

Verzweifelt und am ganzen Leibe zitternd umfasste sie mit beiden Händen Georges Gesicht. Sie übersäte ihn eilig mit Küssen als könne sie ihm damit den Schmerz nehmen.

Ein letzter inniger Kuss auf seine blutverschmierten Lippen der für einen kurzen Moment alles Leid der letzten Monate ausblendete. „Es tut mir so leid“, ihr brach die Stimme weg. „Es tut mir so wahnsinnig leid.“ Sie wussten beide, dies ist ein Abschied für immer. Nur getrennt hatte sie eine Chance zu überleben.

„Ich liebe Dich. Und jetzt lauf, bring dich in Sicherheit.“

Dann rannte sie so gut es für sie möglich war und verschwand im Schutz der Dunkelheit…

„Lasst mich los!“ schweißgebadet richtete Ava sich im Bett auf und stellte fest, dass es erst drei Uhr nachts war. Ihr Herz raste und sie fing an zu weinen.

Kelly, Ihre Mitbewohnerin stürmte zur Tür hinein. „Hey, Süße. Alles okay?“

Beruhigend nahm sie Ava in den Arm.

„Seitdem ich dich vor fünf Jahren am Straßenrand aufgelesen habe quälst du dich mit diesen Alpträumen. Wann willst du mir endlich erzählen was damals passiert ist? Ich würde dir gerne helfen“

„Nein, niemand kann mir helfen. Und solange du nichts weißt, bist du auch nicht in Gefahr. Glaub mir, es ist besser so“.

Ava ging auf den Balkon um frische Luft zu schnappen.
Ihre Gedanken spielten, wie so oft, verrückt. Hätte sie lieber im verunglückten Auto bleiben sollen und sich tot stellen? Was wäre passiert wenn sie geblieben wäre? Würde sie George jemals wieder sehen?

„Achso, ich hab ganz vergessen, dir zu sagen, dass heute ein ehemaliger Arbeitskollege von dir hier war und nach dir fragte“ riss Kelly sie aus ihren Gedanken.
Ava wurde kreidebleich.
Sie wusste, dass sie hier nicht mehr sicher war.

Die Nacht des Feuers

Rhea spürte, wie die Magie in ihr aufstieg, in jede Faser ihres Körpers drang, sie vollends ausfüllte und, als sie nicht mehr genug Platz fand, aus ihr heraus brach. Die Luft schien fester um sie herum zu werden, heißer und stickiger. Und dann brach das Feuer aus ihren Händen hervor. Es griff hungrig nach dem Holz der Balken und nährte sich vom Stoff der Vorhänge. Rhea ließ es wüten und starrte fasziniert auf die Flammen, wie sie immer höher und höher loderten.
Das Feuer tauchte den ganzen Nachthimmel in ein orangenes Licht. Die Flammen leckten durch Fenster und Giebel hervor und fraßen gierig am Holz. Dort machten sich der Hass und der Zorn, die all die Jahre in ihr gehaust hatten, endlich Platz. Und es war wie eine Befreiung, als sie sah, wie er sich endlich austoben konnte. Danach würde er vielleicht für immer verebben.
Eine Weile stand sie so da und blickte auf das brennende Gebäude.
Plötzlich jedoch sah sie Schatten im Schein des Feuers auftauchen. Die Dorfbewohner hatten den Brand entdeckt und kamen nun herbei geeilt, um ihn zu löschen. Sie hörte Rufe, deren Inhalt sie nicht verstehen konnte, und sah, wie man eine Menschenkette vom Brunnen bis zur Schule bildete und Eimer hin und her gereicht wurden.
Und dann überkam sie ein neues Gefühl: Angst.
Was hatte sie getan? Sie hatte die Schule niedergebrannt. Sie war eine Brandstifterin und wenn man sie jemals zu fassen bekam, würde man sie dafür hängen.
Einen Moment lähmte sie diese Erkenntnis. Die Flammen kamen ihr auf einmal so rasend und unbezähmbar vor und ließen sie zittern. Sie konnte ihren Anblick nicht länger ertragen und wandte sich ab. Jetzt lag der kühle, dunkle Wald vor ihr.
Er bot tausend Verstecke und Rhea kannte sie alle. Hier würde man sie nicht finden.
Die Rufe hinter ihr wurden auf einmal lauter. Ob man sie entdeckt hatte? Sie fuhr herum, doch im nächsten Moment gab das Gebälk nach und das brennende Gebäude stürzte in sich zusammen. Funkenwolken stoben gen Himmel und tanzten für einen Augenblick wild in der Nacht, dann erloschen sie, als wären sie nie gewesen.

Rhea riss die Augen auf. Sie brauchte einen Moment, bis ihr bewusst wurde, dass sie sich nicht mehr im Wald befand, dass jene Nacht schon viele Jahre vergangen war. Der Geruch nach Feuer kam vom Kamin, in dem das letzte Holzscheit verglühte. Durch das Fenster drang kühle Nachtluft, während sich am Horizont bereits die ersten Wolken rötlich färbten.
Stöhnend kämpfte sie sich aus den Daunen und taumelte zur Waschschüssel hinüber. Mit beiden Händen schöpfte sie sich kaltes Wasser ins Gesicht, um die Erinnerungen zu vertreiben, dann blickte sie auf in den Spiegel über dem Waschtisch. Ihr blickte nicht das verängstigte Mädchen zurück, das sie einst gewesen war, als sie die Schule niedergebrannt hatte. Sie war nicht mehr klein, arm, abgemagert und die Schande des Dorfes. Stattdessen sah sie im schwachen Licht des Feuers das Gesicht einer jungen Frau, der der Schreck des Alptraums noch in den Knochen steckte. Doch das war es nur gewesen, ein Alptraum, nicht mehr.
Ein kleiner Schwung ihres Handgelenks und schon flammten ein paar Kerzen in ihrer Nähe auf. Nachdenklich beobachtete sie das Flackern der Flammen, so klein und kontrollierte, nicht zu vergleichen mit dem Sturm, den sie einst entfesselt hatte. Wie jung und naiv sie damals gewesen war. Sie hatte geglaubt, Macht über das Feuer zu haben, nicht wissend, was echte Macht wirklich bedeutete. Doch heute war sie weiser. Sie kannte ihre Macht und wusste, sie zu kontrollieren. Die Angst von damals lähmte sie nicht mehr. Sie hatte gelernt, wer sie war und welcher Platz ihr rechtmäßig Zustand. Und genau das würde sie in ein paar Stunden bei ihrer Hexenprüfung jedem beweisen.

Der kleine Tiger

Der kleine Tiger in der Ecke der Serviette war Frida super gelungen. Die außerordentliche Mühe hatte sich gelohnt. Gestern hatte sie ihm einen Superman mit Stethoskop hingekritzelt, davor war es eine Eule mit einem Buch, weil er an dem Tag ein dickes Medizinbuch unter dem Arm hielt. Wenn es an der Theke wenig los war und ihre Zeit erlaubte, kritzelte sie immer eine Kleinigkeit auf das weiße Quadrat. Es bereitete ihr Spaß und zauberte ein Lächeln sowohl auf die Gesichter der Patienten als auch auf die der Ärzte und Pflegekräfte.
Sie redete sich ein, dass er ein Gast wie jeder andere war. »Du Pinocchio!«, schimpfte sie sich im Geiste. Leugnen war sinnlos, sie dachte während ihrer Schicht oft an ihn. Sie überlegte im Voraus, was sie auf seine Serviette zeichnen würde, wenn er das nächste Mal ein heißes Getränk bestellte. Gewiss kam er nur wegen des Kaffees. Manche Ärzte benötigten eine Unmenge davon, aber in ihrem Magen flatterten tausend Schmetterlinge, wenn er um die Ecke kam und sie hoffte im Geheimen, dass er wegen ihr öfters in der Cafeteria auftauchte.
Wenn sie an diesem Tag bloß die Vertretung nicht übernommen hätte. Dann hätte sie ihm keinen Tiger gemalt und er hätte sie zu keinem Abendessen eingeladen. Wenn sie bloß seine Einladung nicht angenommen hätte… dann wären sie nicht noch einmal miteinander ausgegangen, hätten nicht geheiratet und es gäbe es ihren Sohn nicht. Das wäre jammerschade, denn Yann-Patrick war ihr Herzstück, das ihr von der Liebe übrig blieb.
Den kleinen Tiger gab es noch, er hing in einem Rahmen an der Wand im Wohnzimmer. Jan hatte ihre Zeichnung als Hochzeitsgeschenk eingerahmt, kurz bevor er in den Flieger stieg und mit »Ärzte ohne Grenzen« nach Afrika flog. Frida befreite ihren Blick vom Bild und ihre Gedanken von der Vergangenheit. Sie stand von der Couch auf und ging in die Küche, um ihre leere Teetasse in die Spülmaschine zu stellen. Sie hasste herumstehendes Geschirr.