Seitenwind Woche 6: Kannst du die Zeit anhalten?

Küss sie nicht!

Paris, 1905

Warum habe ich das getan?
So viele hatten mich gewarnt. Und waren nicht genug meiner Liebsten schon dort, wo ich nun auch bald sein werde?
Aber ich fragte nichts, wollte nichts hören von den mahnenden Stimmen.
Ich wollte nur eines wissen… wie er schmeckt … der Kuss der Meerjungfrau.
„Das kann man schlecht beschreiben – es ist … so süß, und zugleich bitter … nicht zu erklären, diffizil, ein Erlebnis ohne Gleichen.“
Die Worte meines Bruders sind noch in meinem Ohr. Scheinbar ohne Gewissen schwärmte er von den Vorzügen des Abgrundes, an dem er damals bereits stand.
Doch er konnte ja nicht anders. Heute weiß ich das.

Jede Nacht träume ich wieder von diesem – vom allerersten Kuss.
„Komm … ich nehme dich mit, auf eine Reise in meine Welt“, flüsterte es in mir, nachdem ich vorsichtig gekostet hatte. Ich wollte natürlich mehr, und die Arme der grünen Fee griffen nach mir und zogen mich in die Tiefe.
Zuerst schien sie allen Sauerstoff aus meinen Lungen zu saugen. „Es macht nichts, das wird gleich besser“, meinte ich zu hören.
Eine köstliche Schwerelosigkeit, sie und ich, wir trieben in der Strömung nach unten, nicht ins Dunkel, sondern auf ein Licht zu, das magisch flimmerte.
Ein Schloss, zwar unbewohnt, aber bereit für mich und meine Angebetete, um dort alle Sorgen des Lebens zu vergessen.

Wenn ich heute aufwache, ist der Traum vorbei, und die schleimig-zähe Realität hat ein anderes Gesicht. Es schaut mich im Spiegel an… ich erschrecke nicht mal mehr.
Die Stimme, die jetzt meinen Körper auf die Straße zwingt, die säuselt nicht; sie schreit. Es sind Schmerzen - echte Qualen. Ich habe nur ein Ziel… einen weiteren Kuss, denn ohne kann ich nicht mehr sein. Die Meerjungfrau hält mich gefangen, und sie bestimmt den Weg.

Und alsbald finde ich mich dort, wo die Horden der verlorenen Seelen einander treffen, um sich und andere zu belügen. Neue Kunden für die grüne Fee.
Dort sehe ich auch meinen Bruder wieder, der einem jungen Mädchen, mit unschuldigen Augen von den Wundern berichtet, die er gesehen hat. Ich sollte ihn schlagen, ob seiner Verführung… doch ich denke nur „ warum habe ich sie nicht zuerst gesehen … sie hätte mir das nächste Glas bezahlt.“

Weshalb habe ich das nur getan? Die Frage hallt im Kopf – eine Antwort gibt es nicht.
Ich hätte es wissen müssen, nach all den Warnungen.
Aber die Flasche mit dem lieblichen Meermädchen. Sie sieht so harmlos aus.
Komm – koste den süßen Kuss.
Die grüne Fee im Absinth kann nur gewinnen – und wir, die ihr verfallen sind, haben alles verloren.

Gedankenkind

„Ich war drei Jahre alt, ein kleines hellblondes Geschöpf, das aussah wie aus Zucker. In jenem Sommerurlaub kam ich mit meiner Familie vorbei an einem gut gefüllten Schaufenster im Süden Frankreichs an einer unscheinbaren Straßenecke. Dort war kein Touristen-Hotspot, einfach eine Ecke am Fußweg einer gut befahrenen Straße, ohne Glanz oder mediterranes Flair. Unser Weg führte da vorbei. Vielleicht wollten wir essen gehen oder zurück zur Ferienwohnung. Manche würden sagen, wir kamen an einem vollgerumpelten Geschäft vorbei. Tatsächlich hat mich das Schaufenster aber an einen Traum erinnert: In der Traumlandschaft waren die Wege oft gesäumt von Spielsachen und es gab Läden voller Süßigkeiten, die man nicht bezahlen musste, atemberaubende Ballonfahrten mit grandioser Aussicht über das Spielzeugland.
Für die meisten Menschen war es nur eines von vielen Kuscheltieren und Spielsachen, die aus purer Platznot in Regalen am Fenster zusammengepfercht ausgestellt waren. Aber mein Herz begann zu pochen, lauter und lauter. Nur dieses eine weiße Häschen unten, ziemlich weit links, neben ein paar gruselig anmutenden leblosen Puppen, schaute mich direkt an und sprach zu mir auf eine vertraute Weise. Sofort hatte ich den Wunsch und die Gewissheit, dass es meines sei, quasi für mich bestimmt. Ich wurde langsamer und versuchte, die Hand meiner Mutter zart zu lenken, ohne zu zerren. Mein Atem stockte, ich konnte nicht aufhören hinzuschauen. Das war mein Moment. Sie müssen es einfach merken, dachte ich. So ein lieber flauschiger Freund kommt kein zweites Mal zu mir. Meine Hand zog sachte und drückte dabei Mamas Finger ganz fest. Ich dachte: Halt, Stop, mein Häschen, es will zu mir! Was stimmt mit den Erwachsenen nicht… meine Eltern müssen mich doch verstehen! Oder nicht? Trotzdem war ich mir im Herzen sicher, bald das Häschen in die Arme schließen zu können. Nun zog ich meine Mutter an der Hand weiter auf das Schaufenster zu, hatte allen Mut zusammengenommen, damit sie es endlich auch bemerkte und sehen konnte. Ich dachte: GUCK! DOCH! HIER!
Beim Anblick des Häschens sprudelte mein Herz über vor Glück. Meine Mutter ging weiter und zog mich mit sich. Statt näher zu kommen, entfernten wir uns. Es drehte sich alles in meinem Kopf. Und meine Mutter, als wäre nichts gewesen! Hatte sie nicht gemerkt, was für eine Gefühlsexplosion in ihr stattfand?

Meine Gedanken spielten Achterbahn, alles lief im Kreis, immer wieder:
Was, wenn ich dieses Häschen nicht bekomme?
Was, wenn meine Eltern mich einfach nicht verstehen können, obwohl ich doch so laut denke!
Wie ist es überhaupt möglich, dass sie mich nicht verstehen können?“

Rose hielt inne, als ihre Stimme zittrig wurde vor Aufregung. Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen.
Ihr Leben war im Eimer. Wie war das möglich. All die Jahre wurde sie nicht verstanden. Ausbildung statt Studium? Keiner verstand sie. Heirat mit 24? Keiner verstand sie. Sie zog aus ihrer Heimat weg? Keiner verstand sie. Sie trug ihr Kind aus, von dem sie wusste, dass es nur im Bauch leben würde? Kaum einer da, der es verstand. Sie trauerte anders. Jahrelang. Keiner verstand sie. Sie bekam Depressionen, keiner verstand sie.

„So…das ist also Ihre früheste Urlaubserinnerung mit Ihrer Familie?“ fragte der Therapeut seine Patientin und machte sich eine kurze Notiz, bevor er den Blick intensiv und konzentriert auf sie richtete, die Beine betont locker übereinandergeschlagen.
Roses Miene verhärtete sich. Wie hatte sie nur denken können, dass er sie verstehen würde. Jetzt war sie sich sicher. Sie spürte es.
Ihre Lippen wurden schmal, die Finger pressten sich in den Handballen, während sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen.
Es ist doch zum Verzweifeln!, dachte sie, auch mein Therapeut versteht mich nicht!

Scherenkampf

Wir nannten es Scherenkampf. Meine erste Freundin in der Grundschule und ich ließen die Scheren zuschnappen. Schnipp. Metall kratzt auf Metall. Schnipp. Zwei offene Scherenmünder starren sich an. Schnipp. Das Hautläppchen zwischen Daumen und Zeigefinger erzeugt einen Widerstand, als die Spitze der Schere glatt hindurchgleitet. Schnipp. Sie schreit kurz auf, hält sich den Mund zu, dann umklammert sie die Hand. Meine Augen im Schock weit aufgerissen. Sie ist leise, versteckt die Hand unter dem Schultisch. Sie lässt sich nichts anmerken, damit die Lehrerin nicht erfährt, was gerade geschehen ist.
Nach 30 Jahren funktioniert das Werkzeug immer noch einwandfrei. Ich halte die Schere zwischen Daumen und Zeigefinger, ertaste mein Hautläppchen, wie ich es damals oft getan hatte. Ob ich mich auch so umsichtig verhalten hätte, wenn es mich erwischt hätte? Sie wollte nicht, dass ich Ärger bekomme. Vielleicht sah sie mein ehrliches Entsetzen darüber, dass unser Spiel so plötzlich ernst geworden war. Womöglich gab sie sich die Schuld, weil der Scherenkampf ihre Idee gewesen war. So oder so, diese Schere und die damit verbundenen Erinnerungen begleiten mich jetzt 30 Jahre lang.

Verlust

Absolutes Glück. Ich liege auf der Liege und warte auf den Arzt. Bis jetzt war alles gut, keine Beschwerden, keine Blutungen, kaum Übelkeit, alles bestens. Noch der Gedanke, jetzt haben wir es geschafft, wir haben die Linie überschritten. Der Arzt sagt noch: „Jetzt ist es groß genug, da müssten wir es über den normalen Ultraschall sehen.“ Ich blicke hoch zur Decke, auf die das Ultraschallbild projiziert wird. Und erstarre. Mein Kopf ahnt es, ein böses Gefühl beschleicht mich. Aber wir haben es doch geschafft. Der Arzt, der erstmal nichts sagt, macht dann doch noch einen vaginalen Ultraschall, doch das Bild bleibt gleich. Die Fruchthöhle ist da, aber du, mein wertvollster Schatz, bist es nicht mehr. Ich sehe die leere Fruchthöhle vor mir, von dir ist nichts mehr zu sehen. Tränen steigen auf, ich sehe verzweifelt zwischen Arzt und Ultraschallbild hin und her. „Es tut mir Leid, aber sie hatten eine Fehlgeburt. Ich vermute, dass es kurz nach dem letzten Termin passiert ist.“ Der letzte Termin, bei dem dein Herz noch geschlagen hat. Mehr von seinen Worten bekomme ich nicht mit. Mein Mann nimmt mich in den Arm, ich werde von heftigen Schluchzern erfasst. Danach passiert alles wie in Zeitlupe. Ich soll mich anziehen. Aber wie soll das gehen? Wie soll ich da rausgehen? Da raus, wo andere gerade glücklich über ihre Schwangerschaftsbäuche streichen? Der Arzt bittet darum, nochmal ins Besprechungszimmer zu gehen. Er erklärt die Möglichkeiten, doch wie soll ich jetzt gerade in so einer Situation eine Entscheidung treffen? Mein Mann lässt die ganze Zeit über nicht meine Hand los. Auch der Weg nach Hause läuft wie in Trance ab. Werden die Schluchzer und der Schmerz zu groß, bleiben wir stehen, bis die Welle abebbt und wir es wieder ein paar Meter weiter schaffen bis die nächste Welle uns erfasst. Zuhause legen wir uns ins Bett, halten uns am anderen fest, als müssten wir uns gegenseitig vor dem Ertrinken retten. So vergehen Stunden, nur wir zwei, der Traum von drei vorerst zerstört.

„Hey, und weißt du was? Die Babypartys stehen ja auch bald an. Ist es in Ordnung, wenn ich über sowas rede?“
„Ja, natürlich alles gut. Sie sind jetzt beide im achten Monat, oder?“, sage ich, bin in Gedanken aber in die Vergangenheit versunken. Ich wäre nun im siebten Monat mit dir schwanger. Vielleicht hätte ich auch eine Babyparty veranstaltet. Oder eher eine von meiner besten Freundin organisiert bekommen. Ich hatte dein Zimmer schon gedanklich eingerichtet, nun ist es immer noch ein Raum, der für alles Mögliche genutzt wird und noch auf seine wahre Bestimmung warten muss. Ich streichele sacht über die Stelle, wo sich mein neuestes Tattoo befindet. Ein violetter Schmetterling. Für dich. Denn in meinem Herzen wirst du immer bleiben.

Am Grab

Die Zeit berührt die Ewigkeit,
so dass der Zeiger stehen bleibt.
Ich leg den Hörer aus der Hand,
nicht sicher, ob ich es verstand,
was der am anderen Ende mir gesagt.
Was das für mich bedeutet, wird mir langsam klar.
Frierend, wie erstarrt, wend’ ich mich um und such den Schalter,
um die Zeit zurück zu drehen, die dich mir nahm.

Was habe ich mit dir erträumt.
Was habe ich an dir versäumt.
Erst jetzt, wo es dich nicht mehr gibt,
begreif ich, du hast mich geliebt.
Ein Aufbegehren. Ich schreie in die Nacht:
„Komm zurück, es blieb doch noch so vieles ungesagt!“
Als Antwort hör ich nur das Ticken meines Weckers.
Unbarmherzig dröhnt die Stille in mein Ohr.

Glockengeläut’. Der Pfarrer sprach
am Grab, in dem mein Leben lag.
Steh tot davor, in meiner Hand
die Schaufel mit dem bisschen Sand.
Mit ihr schaufle ich in dein offenes Grab
meine Träume, meine Liebe, meine Hoffnungen.
Der Schmerz raubt mir den Atem. Mir bleibt nur der Weg
in ein ungewisses Dunkel. Ganz allein.

Jahre kamen, Jahre geh’n.
Wie konnt’ die Uhr sich weiterdreh’n?
Wer fragte, ob ich leben will
so Schritt für Schritt, ganz ohne Ziel?
Und doch, ich musste einsehen, es ist wahr.
Das Leben, es läuft weiter – und du bist nicht mehr da.
Gemeinsam hatten wir eine Geschichte, eine Zeit,
unser „Gemeinsam“ wurde zur Vergangenheit.

Das ist nun schon so lange her.
Vermissen tut dich kaum noch wer.
Ich bin jetzt alt, das warst du nie,
nicht mal in meiner Fantasie.
Dein Lachen seh’ ich vor mir jeden Tag.
Es blieb mir mehr von dir als ich einst wahrgenommen hab’.
Der Schmerz wurd’ zur Gewohnheit, fühl mich nicht mehr so allein.
Deine Liebe, sie wird immer bei mir sein.

Die Flut

Die drei Kinder hatten am Strand vollkommen die Zeit vergessen. Zu Beginn der Ferien hatten sie sich in der Bücherei das Buch „Die Schatzinsel“ ausgeliehen und an jenem Morgen eine ihrer Lieblingsszenen im Gasthaus ‚Admiral Benbow‘ nachgestellt, als der Gezeitenriese im Meer plötzlich ausatmete und die Flut in die zahlreichen Klippenhöhlen schwappte. Hatten ihre Eltern sie nicht genau davor gewarnt? Heiko und Timo flohen aus der Höhle und erklommen die zerklüfteten Felsen bis zur sicheren Flutkante, aber wo war Anna geblieben? Sie hatte unbedingt den blinden Piraten Pew spielen wollen und sich versteckt. Zunächst hatten die Jungen noch rumgealbert und sich über die ‚blinde‘ Transuse mokiert und immer wieder nach ihr gerufen, doch dann hatte die Panik ihre scharfen Krallen nach ihnen ausgestreckt. Das Wasser stieg viel schneller, als sie es sich vorgestellt hatten. Und wie kraftvoll es dabei strudelte und schäumte! Ob Anna einen anderen Weg aus der Höhle gefunden hatte und sie in der Pension, in der sie zusammen mit ihren Eltern Urlaub machten, längst erwartete? Hämisch grinsend, um die feigen Brüder anschließend zu verpetzen? Das roch nach einer gewaltigen Menge Ärger und womöglich nach einer Tracht Prügel. Kleinlaut schlichen sie in das Küstendorf zurück, aber die kleinen Herzen voller Angst und Sorge um die jüngere Schwester, die ihnen anvertraut war.

„Macht bloß, dass ihr wegkommt, ihr verfluchten Mistviecher!“ Der Greis fuchtelt, so weit seine Arthrose es zulässt, drohend mit seinem Gehstock in der Luft. Stare sind wie ein Schwarm Heuschrecken in den Garten eingefallen und sitzen zeternd im Kirschbaum. In der anderen Hand trägt er eine Milchkanne aus weiß emailliertem Metall. Im Takt seines Stocks reiht der Alte vorsichtig einen Schritt an den nächsten, wobei seine Hüfte einen neckischen Kreis beschreibt. Durch die hintere Gartenpforte gelangt er auf den Deichweg, überwindet geduldig die Deichstufen und erreicht den Plankenweg hinunter zum Strand. Das Meer ist noch in sich gekehrt, hat sich schmollend zurückgezogen, und der Alte wartet am Spülsaum auf die tiefen Atemzüge des Riesen, der sie wie an jedem Jahrestag für eine kurze Zeit an Land bringen wird. An ihren grauenerregenden Anblick hat er sich noch immer nicht gewöhnt. Wahrscheinlich wird sie wie immer stinkwütend sein. Er hat ihr die ganze Kanne voller Süßkirschen mitgebracht und sie würde sich vielleicht daran erinnern, wie sie die Brüder im Kern-Weitspucken immer geschlagen hat. Heiko muss ihr heute sagen, dass Timo nie mehr kommen wird und dass auch seine Tage gezählt sind. Das Haus, einst erworben, nur um ihr nahe zu sein, ist schon verkauft.

Sein Tod wird Anna endgültig von ihrem Fluch erlösen, so hofft er.

Auf der Flucht

Ein lauter Knall durchbrach die friedliche Stille der Nacht. Ernst schreckte aus dem Schlaf hoch. Er hörte, wie sie unten miteinander redeten und versteckte sich rasch unter seinem Bett. Wenn sie hereinkommen sollten, würden sie ihn nicht sofort finden. Das war sein erster Gedanke. Als es wieder still geworden war, ging er zu seinen Eltern, die schon die Treppe nach unten genommen hatten. Das Ladengeschäft war mit Glassplittern übersät. Ein dicker Pflasterstein lag auf dem Boden. Sie hatten den Eingang mit Farbe beschmiert. Am anderen Schaufenster war der Davidstern in Ölfarbe und die Aufschrift „Juden raus“ gepinselt.

Wochenlang diskutieren sie. Ernst wollte weg. Sein Vater beschwichtigte. Das ginge vorüber, es sei ein kultiviertes Land, das große humanistische Persönlichkeiten hervorgebracht hätte. Freunde gaben ihre Ratschläge. Die Eltern wollten bleiben, den Laden wieder instand setzen, reparieren. Sie vertrauten auf die Mehrheit der Vernünftigen im Lande. Ernst, der ohnehin schon geplant hatte, bei seinem Onkel in der Schweiz seine Kenntnisse zu erweitern und bei ihm zu arbeiten, entschloss sich, die kleine Stadt zu verlassen.

Er arbeitete in der Firma seines Onkels, einer Lederwarenhandelsgesellschaft und beobachtete, wie ein Adler die Geschehnisse im Nachbarland. Sehr viele Jahre in der Schweiz wurden es nicht. Sie waren schnell stärker geworden. Seinen Vater verschleppten sie nach Buchenwald, misshandelten ihn. Nur eine hohe Geldzahlung konnte ihn retten. Sie hatten den Krieg angefangen, überfielen die Nachbarvölker. Was, wenn sie auch hier in das neutrale Land einfielen und ihn aufstöberten?

Ernst entschloss sich, weiterzuziehen, nahm den Zug nach Genua und ging dort an Bord eines Dampfers nach Schanghai. Für viele Jahre wurde das überfüllte Getto in China seine Heimat, wenn man das so nennen kann.

Eine günstige Gelegenheit nutzte er schließlich, um ein Schiff nach Amerika zu ergattern. Er war jung, gesund und stark. So was kann man überall gebrauchen. Er ging zur US-Army, wurde einer der berühmten Ritchie Boys, ausgebildet in Maryland, um in seiner alten Heimat eingesetzt zu werden. Dort sollte er als Dolmetscher in einer Spezialmission arbeiten. Seine Landsleute verhören und demoralisieren. So kam Ernst Strauss zurück in seine Heimat.

Auf den Rheinwiesen hatten die Sieger Zehntausende Kriegsgefangene eingepfercht auf blankem Ackerboden. Ernst, der jetzt Ernest hieß, musste viele verhören, herausfinden, wer das Gute oder das Böse in seinem Inneren trug. Nebenbei studierte er die Listen, soweit sie die Namen und Herkunft der Männer enthielten.

Bei einem wurde er stutzig und ließ den Gefangenen herausrufen. „Mein Gott, Ernst, du bist es, in amerikanischer Uniform.“ Verdreckt und ausgemergelt stand der ehemalige Soldat da im Verhörraum.

„Ja, Ewald, ich habe dich hier in meinen Unterlagen gefunden und sehe dich jetzt leibhaftig wieder.“

„Ich kann es gar nicht glauben. Was alles passierte, seit sie dich aus unserer Schulklasse rausgeworfen hatten.“

„Wir reden später mal,“ sagte Ernst, „jetzt schau, dass du nach Hause kommst.“ Ernst wusste, dass sein damaliger Schulkamerad nicht zu den Steinewerfern gehörte.

Nun sitzt Ernest Strauss am Kamin in seinem Hause in Pasadena, Kalifornien. Im Fernsehen spricht Präsident Reagan. Ernest ist nur kurz abgelenkt. Lange hatte er nicht mehr diese Aufzeichnungen, die bei den vielen Briefen, Zeitungsausschnitten in einer Kiste lagen, durchgesehen. Viel Zeit zum Aufschreiben hatte er zeitlebens nicht. Er nahm die Briefe seiner Eltern zur Hand. Sie hatten damals ihre gesamte Habe verkauft und sich auf der „St. Louis“ eingeschifft, um nach Amerika zu entkommen. Nachdem dieses Auswandererschiff nirgends anlegen durfte, kamen sie wieder zurück. Der Vater starb an diesen Strapazen. Ernest nimmt ein Schreiben der Gedenkstätte Yad Vashem zur Hand. Seine Mutter und seine Schwester waren abtransportiert worden. Sie wurden nie gefunden. Er legt alles wieder zurück in den Karton. Und murmelt vor sich hin: “Wenn doch ein junger Mensch vorbeikäme und darüber ein Buch schreiben würde. Vielleicht will das aber auch niemand mehr hören.“

Wo Liebe ist
wird das Unmögliche möglich. (Buddha)

Das Wohnmobil ist bestellt. Heute holt er Susanne vor der Senioren-Residenz ab. Unzählige Gesichter drücken sich hinter den Fensterscheiben die Nasen platt, als Adam ihr die Türe weit aufhält: „Steig ein, geliebte Eva!“

„Wir feiern das Leben!“, ruft sie lachend.

Noch vor zwei Monaten saß sie einsam am Fenster. Ihr Panorama war nicht die prachtvolle Kastanie, die gerade ihre ersten Blüten öffnet, die aufrecht wie weiße Kerzen auf ihren Zweigen stehen. Auch der verlockende Duft, der Geruch von Frühling, konnte sie nicht erreichen. Ihr schwermütiger Blick ver­lor sich in unsichtbarer Ferne.

In Gedanken war sie im Ruhewald. Die Bäume scheinen unberührt von den Urnen zu ihren Füßen. Und mittendrin Rosemaries Asche. Soll das Häuflein, das nach meinem Tod von mir übrigbleibt nicht lieber mit dem Wind fortgetragen werden, weit weg in eine grenzenlose Freiheit?

Ihr Haus sei zu groß für sie allein, sagte ihr Sohn. Er fand eine noble Senioren-Residenz. „Du brauchst dich um nichts mehr kümmern. Endlich kannst du dich ausruhen.“

„Das kann ich immer noch“, verteidigte sie sich. „Ich bin doch erst siebzig, das ist heutzutage kein Al­ter.“ Regelmäßig besuchte sie mit ihrer Freundin das Fitness-Studio, sie gingen walken oder trafen sich in ihrem Lieblingscafé.

Eines Morgens klingelte das Telefon. Mit einer düsteren Vorahnung nahm sie ab und hörte die trau­rige Stimme von Rosemaries Tochter: „Ich hab Mama gerade tot in ihrem Bett gefunden.“

„Nein!“, rief Susanne. „Das kann nicht sein. Gestern haben wir noch telefoniert.“

Abend für Abend war sie vertieft in die alten Fotos. Mit Rosemarie ging sie Hand in Hand in den Kin­dergarten. Sie war ihre erste Freundin. In der Schule saßen sie nebeneinander. Eine wurde Erzieherin, die andere Arzthelferin. Die Freizeit wurde knapper. Aber an den Wochenenden waren sie gemein­sam unterwegs, besuchten ihre Lieblingsdisco und nie ging eine ohne die andere Nachhause. Rose­marie verliebte sich und bald hatte auch sie einen Freund. Sonntags trafen sie sich in ihrer Bude, räumten die Möbel bei Seite, tanzten bei lauter Musik, Cola und Salzstängelchen. Als sei es abgesprochen, wurden sie gleichzeitig schwanger, organisierten eine Doppelhochzeit und bald schoben sie nebeneinander ihren Kinderwagen, gingen auf den Spielplatz oder im Sommer an den Baggersee.

Seit etwa zehn Jahren lebten beide alleine. Nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren, stellte Rose­maries Mann fest, dass sie sich auseinandergelebt hatten. Susanne verlor ihren Mann bei einem Au­tounfall. Die beiden Freundinnen waren wieder – wie früher – unzertrennlich.

Nach Rosemaries Beisetzung begann eine bleierne Zeit. Früher stand Susanne gerne in der Küche, nun hatte sie die Freude am Kochen und Backen verloren. Müde und antriebslos schob sie sich manchmal eine Fertigpizza in den Backofen oder begnügte sich mit einer Scheibe Brot und Käse. Gerade kam die Meldung in den Medien über eine Corona-Pandemie. Was interessiert mich das? Sie ging sowieso nur noch zum Einkaufen aus dem Haus.

Es war im November, eine dünne Schneedecke lag über der Landschaft. In der Nacht hatte es gefro­ren. Mit dem Einkaufskorb im Arm rutschte sie aus auf dem Gehweg und brach sich den Fuß. Nach der OP kam die Reha. Besuch durfte nicht empfangen werden.

„So ein Glücksfall!“, meinte der Sohn am Telefon. „In der Residenz ist gerade ein Platz frei gewor­den.“

Sie darf ihren Sekretär, ihr Sofa und ein paar Bilder für die Wände mitbringen. Täglich bekommt sie Physio und soll sich regelmäßig bewegen. Gleichgültig läuft sie mit ihren Stöcken am Nachmittag im­mer zur gleichen Zeit durch den Park. Auf einer Bank ruht sie sich zwischendurch aus. Am Abend sitzt sie alleine im Zimmer. Die Bewohner müssen den Kontakt untereinander vermeiden, sehen sich nur noch selten und durch die Maskenpflicht erkennen sie sich oft gar nicht mehr.

„Darf ich mich zu ihnen setzen?“, fragt eine tiefe männliche Stimme. Susanne ist vertieft in das Büch­lein Meersburger Gedichte von Annette Droste-Hülshoff, das letzte Geschenk ihrer Freundin. Kurz sieht sie auf, zieht die Stirn in zwei senkrechte Falten, räuspert sich und fragt: „Ist das nicht verbo­ten?“ Er grinst: „Es tut gut, manchmal etwas Verbotenes zu tun, meinen sie nicht auch?“

Das ist doch die Höhe!, denkt sie und rückt keinen Zentimeter zur Seite. Er bleibt vor ihr stehen, kramt in seiner Jackentasche und holt einen Walkman heraus. Gleich darauf hört sie die mitreißende Stimme von Brian Adams und „Summer of 69“. Einen Augenblick glaubt sie, keine Luft zu bekommen. Der alte Song trifft sie völlig unerwartet. Blitzartig taucht sie ein in eine alte Erinnerung: Sie war mit ihrer Freundin in der Disco, sie tanzten, lachten, flirteten, machten ihre Späße, das Leben war schön, da war kein Platz für den Gedanken an ein Ende.

Dieses Lebensgefühl scheint auf einmal in ihrem Gesicht zu stehen. Gerade schaut die Sonne hinter einer Wolke hervor und bringt die ganze Gestalt zum Leuchten. Wie elektrisiert starrt er sie an. Er schluckt und flüstert mit bebender Stimme: „Wie schön du bist!“

Sie zuckt zusammen und reist die Augen auf. Für einen Augenblick hat sie vergessen, dass sie nicht allein ist. Sie war weit weg, in einer längst vergangenen Zeit. Sie hatte längst vergessen, wie es ist verliebt zu sein, und ohne Rosemarie hat sie auch die Lust am Leben verloren.

„Ich heiße wie der Mann von Eva“, sagt er mit einem Augenzwinkern. „Wie du heißt, weiß ich nicht, für mich bist du Eva, wie die Eva, die dem Adam im Paradies den Apfel gab.“

Heimlich treffen sie sich jeden Nachmittag. Und am Abend ist sie immer öfter in Gedanken bei ihm. Heute verspätet er sich, denkt sie. Sie sitzt auf der Bank, die Schale mit dem Nachtisch in der Hand und steckt sich eine Erdbeere nach der anderen in den Mund. Da kommt er auch schon auf sie zu, drahtig, fast wie ein junger Mann mit schnellem Schritt. Schon von weitem sieht sie ihn. Wie alt mag er wohl sein? Als er vor ihr steht, nimmt er mit einer Verbeugung seine Kapitänsmütze vom Kopf: „Entschuldige, liebe Eva, hab heut mein Toupet vergessen.“

Seine Glatze glänzt in der Sonne und Susanne bricht in schallendes Gelächter aus. Sie kann wieder lachen, unbeschwert, wie schon sehr, sehr lange nicht mehr.

Adam setzt sich zu ihr und sucht ihre Hand. Sie seufzt leise. Mit jedem Atemzug strömt die Wärme seiner Hand zu ihr herüber, bis ihr ganzer Körper von einem Wohlgefühl erfasst wird und ihr plötzlich eine Gänsehaut über den Rücken rieselt. Er sieht sie mit einem Blick von der Seite an, dass ihr schwindlig wird. Dann zieht er sie mit einem schelmischen Blick hinter die Kirschlorbeerhecke, nimmt sie stürmisch in die Arme und küsst sie so unvermutet, dass sie keine Zeit hat nachzudenken, ob sie einverstanden ist.

„Mmmh! Dein Kuss schmeckt nach Erdbeeren!“, sagt er überrascht und sieht ihr verliebt in die Augen. Sie lacht, geht zur Bank, holt die Schale, steckt ihm flink eine große Beere in den Mund und knabbert die andere Hälfte von seinen Lippen.

„Adam und Eva naschen Erdbeerküsse und denken keinen Augenblick daran, ob jemand sie sehen kann!“, sagt er, als sie kichernd nach der nächsten Beere greift.

Mit Adam kann sie lachen und auch weinen und über ihren Kummer, über den Tod und die Einsam­keit reden.

„Nie mehr will ich auf deine Erdbeerküsse verzichten“, flüstert er ihr ins Ohr.

###Gedicht „Unendlichkeit“

Dein Geist hat den Körper schon verlassen.
Deine Seele in der Hülle ist kaum noch zu fassen.

Die Maschinen halten dich am Leben,
Ich sehe den Todesnebel schweben.

Zwei Seelen berühren sich ein letztes Mal,
Ein Zucken deiner Lider erreicht mich final.

Du hast dich entschieden,
bist den Weg gegangen,
Ein letzter Moment ist geblieben,
vorüber das hoffnungsvolle Bangen.

Ich bleibe zurück,
im Hier und Jetzt,
Gedanken voll Glück,
meine Seele verletzt.

Der Schmerz wird erträglich,
ich trage ihn gern.
Die Erinnerung bleibt ewig,
du bist ganz nah und niemals fern.

Dein Körper ruht friedlich,
das Licht für immer verloren.
Innere Leere erfüllt mich,
dein letzter Funke in die Unendlichkeit geboren.

Das Geschoss traf sie unerwartet. Die Kugel drang unterhalb ihrer linken Schulter ein, durchschlug die Lunge und trat auf der rechten Körperseite wieder heraus. Der Schlag war so heftig, dass sie in die Knie ging und dann nach vorn fiel. Erst als sie auf dem Boden lag, kam der Schmerz. Er wühlte sich wie eine Feuerwalze durch ihre Lungen, die sich innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde mit Blut füllten. Jeder Atemzug wurde zur Qual. Sie wollte aufstehen. Wegrennen. Fliehen. Nur fort von den Schmerzen und diesem widerlichen metallischen Geschmack. Es gelang ihr, ein Bein aufzustellen. Doch weiter reichten ihre Kräfte nicht und sie sank zurück auf den Boden. Fiel in die Lache ihres eigenen Blutes, das inzwischen auch aus der Austrittswunde schoss. Sie röchelte verzweifelt. Noch war sie nicht bereit für den letzten Weg. Vor ihrem inneren Auge erschien Dan, ihr Sohn. Er begann gerade erst eigene Wege zu gehen. Ob er jemals erfahren würde, was mit ihr geschehen war? Die Bilder wechselten. Sie sah sich, wie sie jung und ohne Argwohn war. Ihre Mutter, die auf einmal nicht mehr wiederkam. Hatte sie damals ein ähnliches Schicksal ereilt? Der Schmerz ließ langsam nach. Ihr wurde kalt. Sie wollte husten, spie aber nur blutigen Schleim. Ihr letzter Blick galt dem wolkenlosen Himmel. Es schien, als wollte das Sternenlicht sie trösten. Dann brachen ihre Augen.
Aus dem Wald traten zwei Jäger. Der Ältere davon hieb dem jüngeren anerkennend auf die Schulter. „Na bitte! War doch gar nicht so schwer.“ Der Angesprochene, der fast noch ein Kind war, sah auf das Reh herab, das in einer Blutlache lag. Er wurde blass, drehte sich abrupt herum und erbrach sich ins Gebüsch.

Der Ring

Große und kleine Narren zogen vergnügt im großen Faschingszug, unserem Gaudiwurm, durch die Nachbarschaft.
Mittendrin im Gewusel von Monsterchen, Prinzessinnen, Tigern und Katzen tummelte ich mich im Mäusekostüm und warf fleißig Bonbons für die Kinder in die Menge.
Der Februar zeigte sich noch sehr winterlich und meine Hände waren bereits nach kurzer Zeit eiskalt. Nur noch eine Handvoll Bonbons bevor ich sie endlich in den gefütterten Jackentaschen hätte wärmen können.
Mit besonders viel Schwung warf ich die letzten Süßigkeiten in die Menge. Unglaublich, was dann passierte.
Mitten in der Wurfbewegung rutschte mein Ring vom eiskalten Finger und flog in hohem Bogen mit all den bunten Naschereien in die feiernde Menge.
Nicht irgendein Ring, nein, mein mir, wenige Wochen zuvor, frisch angetrauter Ehering. Zeit und Raum schienen um mich herum in absolutem Stillstand als ich unter Schock regungslos dastand. Geräusche waren völlig ausgeblendet. Meine weit aufgerissenen Augen verfolgten die Flugbahn des Ringes bis er in der närrischen Meute unterginge.
Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen schrie ich nur „Stop!“
„Mein Ehering!“ rief ich panisch als ich wieder zu mir kam. Mein Ehering ist weg! Er ist mir vom Finger gerutscht und mit den Bonbons weggeflogen.“
Tatsächlich kam der Gaudiwurm zum Stillstand. Die Leute schauten mich ungläubig an bis sie begriffen was passiert ist.
„Bitte nicht weiterlaufen.“ Völlig aufgelöst lief ich an die Stelle an der ich den Ring am ehesten vermutete.
Alle halfen mir beim Suchen.
Tausende Steine fielen mir vom Herzen als eine Frau mir wenige Minuten später freudestrahlend meinen Ring überreichte.

Der Ring trägt seine Narben davon, die, auch zehn Jahre später noch, durch viele kleine Schrammen sichtbar sind.
Sie erinnern mich daran, dass ich mit den kostbaren Dingen des Lebens besonders achtsam sein muss.

Unangenehme Entwicklungen

Jetzt war es also so weit. Es würde unangenehm werden, hatte man ihr gesagt. Und es wurde unangenehm.
Sie würde es abbrechen wollen, hatte man ihr gesagt, und sie wollte es abbrechen. Aber sie konnte nicht. Auch das hatte man ihr gesagt. Sobald es angefangen hätte, gäbe es kein Zurück mehr.
Ihre Füße spürte sie schon nicht mehr, auch ihre Unterschenkel schienen verschwunden zu sein.
Warum musste das eigentlich schrittweise erfolgen? Sie hatte immer gedacht, man würde komplett und schlagartig in Stasis versetzt. Quasi schockgefroren.
Aber nein, jetzt hatten auch ihre Oberschenkel jede Rückmeldung eingestellt. Und ihr Bauch kribbelte ebenfalls schon ganz fürchterlich.
Verdammt! Sie wollte schreien. Aber was brachte das? Der Behälter, in dem sie lag, war absolut schalldicht.
Immer höher stieg das Taubheitsgefühl. Wenn man diese Empfindung überhaupt so nennen konnte. Sie spürte einfach nichts, war sich nicht sicher, ob sie noch vorhanden war, schob suchend die Hände auf den Bauch. Oder wollte es tun, doch mitten in der – vermeintlichen – Bewegung verlor sie auch die Hände, spürte ihren Körper nicht mehr.
Die Augen fielen ihr zu, glaubte sie, vielleicht waren auch sie schon betäubt. Jedenfalls sah sie nichts, was sie merkwürdigerweise erleichterte. Trotzdem blieb eine Frage hartnäckig in ihrem Kopf, hielt sie an der Oberfläche ihrer Restwahrnehmung. Warum hatte sie sich bloß auf dieses Experiment eingelassen? So gern wollte sie dann doch nicht zu den Sternen reisen. Zu spät.

Ihre Augen schmerzen immer noch leicht in dem viel zu grellen Licht, das sich aus irgendwelchen Gründen im ganzen Schiff nicht dimmen ließ. Ansonsten hatte sie die lange Tiefschlafphase am besten von allen Teilnehmern überstanden. Sie wünschte, es wäre nicht so.
Seit zwei Jahren schon hatte sie rund um die Uhr einen phantastischen Blick auf die Sterne, wenn sie denn überhaupt die Zeit fand, sie anzusehen.
Sie war die Erste gewesen, die von der Aufweckroutine aus der Stasis geholt worden war. Für die anderen Glück im Unglück, denn die nächsten beiden, die geweckt wurden, hatten es nicht so gut überstanden. Beide hatten bis heute ihre Sehkraft nicht zurückgewonnen, brauchten ständig ihre Hilfe und fielen für die Durchführung der geplanten Experimente vollständig aus.
Auch die restlichen drei Besatzungsmitglieder sahen nur eingeschränkt und konnten nur wenig beitragen. Inzwischen hatte sich herausgestellt, dass die stufenweise »Einfrierung« schuld an den Augenproblemen war, zusammen mit dem abrupten Aufwecken.
Am Terminal in der Steuerzentrale blinkte der Nachrichteneingang, vermutlich schon seit Tagen, unerträglich grell. Sie war lange nicht hier gewesen, denn Nachrichten kamen nur noch selten und nur als kurze Texte, etwas anderes war aufgrund der Entfernung längst nicht mehr möglich.
Sie öffnete die Nachricht und ließ sich entsetzt in den Kommandantensitz sinken. Die automatische Notfallmitteilung war kurz vor der Zerstörung ihrer Welt planmäßig an alle Explorer verschickt worden. Inzwischen trieb nur noch eine Gesteinswolke anstelle ihrer Heimat durchs All. Sie konnte nie wieder zurück, alle Experimente und Forschungen waren auf einen Schlag sinnlos.
Jetzt schrie sie doch. Laut und lange. Niemand hörte sie. Das Raumschiff, der Behälter, in dem sie saß, war absolut schalldicht.

Es war lange her, dass sich meine kleine Schwester bei mir gemeldet hatte, es war eh lange her, dass wir geredet hatten. Wie oft kam was dazwischen und man denkt sich, mache ich morgen?
„Na Lieblingsnervensäge, was bringt dich dazu, mich mal anzurufen?“, frotzelte ich liebevoll ins Telefon.
„Hallo, hier ist Tim, sie sind als Notfallkontakt ihrer Schwester angegeben.“
Die Zeit stand still.

„Oh Maman, wie wunderschön du bist!“ rief die kleine Aénor begeistert und betete im Stillen, sie möge auch einmal so hübsch werden wie ihre Mutter. Große Hoffnung hatte sie allerdings nicht, denn schon jetzt sah man, dass sie mehr auf ihren Vater kommen würde. Anstatt dieses flammenden Rots, für das ihre Mutter so berühmt war und das ihr den Namen „Dangerosa“ eingebracht hatte, zeigte ihr eigenes Haar das tiefe Braun derer von Châtellerault.

Ihre Mutter lachte, nahm sie bei den Händen und tanzte mit ihr durch den Raum. An der Tür angekommen, gab sie ihr einen Kuss auf die Stirn, sah ihr in die Augen und sagte: „Pass auf dich auf, ma petite.“ Sie drehte sich noch einmal um sich selbst, dass die Röcke nur so bauschten, dann entschwand sie durch die Tür - und aus Aénors Leben.

Lange Zeit haderte Aénor mit sich. Hätte sie nicht irgendetwas merken müssen? Hätte sie nicht etwas dagegen tun können? Tagtäglich stellte sie sich diese Fragen. Erst nach und nach erfuhr sie die Wahrheit, und dass es absolut nichts genutzt hätte, was immer sie hätte tun können. Ihre Mutter war an diesem Tag fest entschlossen gewesen, sie alle zu verlassen.

ER, Wilhelm lX., Herzog von Aquitanien und weit über die Grenzen hinaus bekannter Troubador, hatte nach ihr verlangt. Wilhelm, der so mächtig war wie liebenswürdig, so lebenslustig wie skrupellos, so charmant wie unnachgiebig. Sein Hof in Poitiers war der schillerndste und lebendigste in ganz Frankreich und bei einem der vielen Feste hatte die schöne Dangerosa die Aufmerksamkeit und das Verlangen dieses mächtigen Mannes auf sich gezogen. Als er sie wollte war sie zu ihm gegangen, ohne sich noch einmal umzusehen.

Aénor verzweifelte oft daran, ihre Mutter keine 40 Meilen entfernt zu wissen, und doch schien sie weiter weg als der Mond, der sich des nachts so hell in der Vienne spiegelte.

Und nun, neun Jahre später, saß Aénor auf der Gartenbank ebendieses Herzogs, die rauhe Mauer des Burgturms im Rücken, und genoß die nachmittägliche Stunde. Die Sonne schickte ihre letzten Strahlen golden über das Land, eine Amsel sang ihr bittersüßes Lied und der warme Wind strich über ihre Haut, durch die Bäume und über die Felder. Sie gab sich ganz dieser ruhigen Stimmung hin und ließ ihren Gedanken freien Lauf.

Ein kleines Lächeln hing in ihrem Mundwinkel. Wie entsetzt sie damals gewesen war, als sie erfuhr, dass sie den Sohn des Herzogs heiraten sollte. Von allen in Frage kommenden Bewerbern war er doch das größte Übel. Der Sohn des Mannes, der ihr die Mutter genommen hatte! Wie verzweifelt sie versucht hatte, diesem Schicksal zu entgehen. Vergebens. Und wie sich dann mit der Zeit die Gefühle gewandelt hatten. Ihre Wut auf seinen Vater und seine, eben so große, auf ihre Mutter, hatten sie zusammenwachsen lassen. Sie hatten zusammengefunden und führten mittlerweile eine vertrauensvolle Ehe.

Glücklich lächelt sie auf das kleine Mädchen in ihrem Schoß herunter. „Meine süße kleine Aliénor. Eines verspreche ich dir. Niemals werde ich dich alleine lassen!“

In Gedanken

Die Stelle unter ihrem Ohrläppchen – und nicht nur die! – kribbelte immer noch, wenn sie an ihre erste gemeinsame Nacht zurückdachte. Jasmin glaubte sogar, die Lippen noch dort zu spüren, wo sie ihre Erkundungsreise gestartet hatten.

Nie zuvor hatte sie jemand so dermaßen in Ekstase versetzt und ihren Körper so derart zum Beben gebracht. Jeder Quadratzentimeter ihrer Haut war mit einem Fähnchen markiert, auf dem stand: ›Erogene Zone‹. Niemand kannte sie so gut, keiner konnte sie lesen wie ein offenes Buch und gleichzeitig all ihre Wünsche erfüllen, sogar diejenigen, von denen sie bis zum jeweiligen Zeitpunkt nicht die geringste Ahnung hatte.

„Erde an Jasmin!“

Jemand schnipste mit den Fingern neben ihrem Ohr und sie öffnete die Augen. Kopfschüttelnd versuchte sie, die auf den Tag genau fünf Jahre zurückliegende Erinnerung zu verscheuchen.

»Na, wo bist du denn wieder mit deinen Gedanken? Keine Zeit zum Grübeln! Du siehst wunderbar aus! Was sagst du zum Lippenstift? Gefällt dir die Farbe?«

Doch alles, was Jasmin hörte, war nur: Bla, bla, bla …

Was interessierte sie die Farbe des Lippenstifts, wenn sie in weniger als einer Stunde ihre Seelenverwandte, ihre beste Freundin, die Liebe ihres Lebens heiraten würde?

Sternenwirbel

Manche nannten ihn nur einen malenden Irren. Aber alles hatte seinen Sinn, sie verstanden ihn nur nicht. Alles, was er malte, hatte er so vorgefunden, oder doch so ähnlich. Bräunlich, eng und stickig war diese Welt, und so waren auch seine Bilder. Kartoffelesser. Bauern auf dem Felde. Grobe Gestalten, zerfurchte Wangen, hohle Augen in dunklen Erdtönen. Unter dem niedrigen Dach einer Kate, zusammengedrängt vor den grauen Mauern einer alten bedeutungslosen Kapelle unter einem noch graueren Himmel. Wozu Krapprot, wozu Ultramarin, wozu Magenta und gelber Ocker – wer benötigte das. Aber dieses Land, dieser wolkenschwere Himmel, diese Klumpige, in dem sich alles Leben erniedrigte, waren ihm so zuwider, und man sah es seinen Bildern an. Kein Wunder, dass sich niemand für sie interessierte.
Oft ging er hinaus auf die Felder, wenn er die bräunliche, erstickende Enge in der Kate nicht mehr ertragen konnte. Aber der graue schwere und so gestaltlose Himmel erdrückte ihn. Jeden Abend betrank er sich im Wirtshaus, manchmal fiel er auf dem Heimweg betrunken hin, hieb sich den Schädel an und sah Sterne vor den umnachteten Augen, und das war dann das Bunteste und Leuchtendste in seinem Leben. Und immer quälte ihn diese Sehnsucht nach Weite und Herzensaufschwung, die er in seinen Bildern nicht einfangen konnte! Manchmal dachte er, er hätte wohl besser bei der Theologie bleiben sollen.
Als er einmal sturzbesoffen heimkam und auf sein Bett fiel, das ihm unwillig entgegenknarzte, war ihm, als begänne in dem Drehen und Kreiseln, das sein Hirn durchzog, sobald er die Augen schloss, er sich von sich selbst zu lösen und über dem Bett zu schweben und trudeln, als sei er ein Ballon, der über einer dunkle Erde sich drehte. Ein schneidender Herbstwind pfiff um die Kate, wehte die Erde um sich selbst, und in des Malers Ohren summte und brummte ein funkelndes Gewirr.
„Ah, die verdammten Sterne“, ächzte er, aber das Funkeln um ihn herum hielt an, ebenso wie das Drehen und Kreiseln, auch als er die Augen öffnete und krampfhaft versuchte, sie auf einen Punkt zu fixieren. Es wirbelte und schraubte ihn immer höher, das Dach löste sich auf, und ein starker Sog zerrte ihn kreiselnd nach oben in einen dunklen Nachthimmel hinein. Je näher er ihm kam, desto stärker wurde das Funkeln, desto heller wurde das Licht, und die Sterne und Planeten, die sich mit ihm drehten und kreiselten, wurden bunt und tanzten in atemberaubendem Schwirren magentafarben und krapprot und ultramarinblau mit ihm in ihrer Mitte einen kraftvollen Strudel. Sie umwirbelten brausend eine Sonne, so groß und mächtig und strahlend gelb, dass ihre Strahlen seine Glieder streichelten und kitzelten und ihn mit Weite und Wärme erfüllten. Eine glorreiche, gewaltige Hitze, in Schwefelgelb und goldenem Zitronengelb, in deren Glanz sich die anderen Farben desto leuchtender tummelten und wirbelnd miteinander verschmolzen. Er schwamm aufjauchzend mit ihnen im Weltall, trieb, tanzte, Jahre, Jahrhunderte lang, rot vor Lebenslust, blau wie eine Weissagung, oder in einem geheimnisvollen Zypressengrün, das, kaum noch erkennbar, fast in samtenem Schwarz verging. Auch Schwarz war Licht, alles war ja Licht und Farbe und Leuchten, und im Sternentanz entführte ihn dieses Leuchten in eine Unendlichkeit, wo die Farben allmählich immer langsamer kreiselten und endlich erstarrten, als sei die Zeit stehengeblieben.
Vincent fand sich schwebend, schwimmend, tauchend, zwischen den bunten Sternenwirbeln und betrachtete staunend das eingefroren stehende Bild. Als er gerade damit beginnen wollte, die Linien und Kreise und Farbverläufe im einzelnen zu studieren, warf ihn etwas zurück auf den dunklen Planeten, auf dessen brauner Erde seine Kate stand, und er fand sich erwachend und noch genauso auf dem Bette liegend, wie er vor wenigen Stunden sich darauf hatte fallen lassen. Draußen graute der Tag.
Nur wenige Stunden später saß der Maler im Zug nach Süden. Es zog ihn an einen Ort, wo Licht war und alle Farben leuchteten. Er würde von nun an völlig anders malen, mit rot und blau und geheimnisvollem Zypressengrün, und vor allem mit strahlendem Gelb. Er würde Sonnen malen, ja Sonnen, und Sonnenblumen, und Sternenwirbel.

Verlorene Zeit

Noch eine Stunde. Ein letzter Blick in den Spiegel. Ob sie auch schon graue Strähnen in ihrem Haar hat? Nein, Sara hat sie garantiert gefärbt. Ich meine, ich höre sie schon quietschen: „Oh, Hanni, die grauen Strähnen in deinem blonden Haar stehen dir sehr gut.“ Ja. sie ist die einzige, die mich nicht Johanna nennt. Zu mindestens nannte sie mich so noch, bevor wir uns 1980 trennten.
Seit vierzig Jahren haben wir keinen Kontakt mehr. Wieso will sie sich jetzt mit mir treffen? Ob was mit Jürgen ist? Gleich werde ich es erfahren.
Eine halbe Stunde später stehe ich vor dem Café. Da sitzt sie schon. Trotz der vielen Jahre, die wir uns nicht gesehen haben, erkenne ich sie sofort. Sara hat ihre Haare nicht gefärbt. Sie glänzen silbern in der Nachmittagssonne. Es ist Anfang September und noch warm. Sara trägt ein figurbetontes Sommerkleid, was ihr ausgezeichnet steht. Mein blaues ähnelt eher einem Umstandskleid. Irgendwie muss ich meine Pölsterchen verstecken.
Ich will mich schon Umdrehen und gehen, da winkt sie mir zu. Jetzt gibt es kein Zurück. Sie lächelt mich unsicher an. Ich tue es ihr gleich und setze mich zu ihr. Mehr als ein „Hallo“ kommt nicht über unsere Lippen. Die Bedienung kommt und nimmt die Bestellungen auf.
„Ich freue mich so, dich wiederzusehen. Du hast dich kein bisschen verändert.“ Was für eine Komödie sie abzieht. „Das kann ich nur zurückgeben.“ Ich muss ja nicht gleich unhöflich sein. „Was willst du von mir? Warum treffen wir uns?“, fall ich dann mit der Tür ins Haus.
„Ach Hanni!“ Echt jetzt? Sie nennt mich bei meinem Spitznamen? „Ich bin mitten im Umzug. Da ist mir eine kleine Kiste aufgefallen, die ich schon seit Jahren nicht mehr geöffnet habe. Genau gesagt, seit vierzig Jahren.“
Ich sehe Sara erwartend an. Was mag jetzt kommen?
„Darin lagen Erinnerungsfotos von uns. Plötzlich merke ich, wie sehr du mir doch fehlst. Ich habe mich gefragt, warum ich damals nicht mit dir gesprochen habe.“
Mir fällt die Kinnlade runter. „Die Erkenntnis kommt ein bisschen spät.“ Was vor vierzig Jahren auch nicht geändert hätte. Sie wusste, das ich in Jürgen verliebt war.
„Wie geht es Jürgen?“ Fragt sie mich das jetzt wirklich? Irritiert schaue ich in ihre braunen Augen. „Woher soll ich wissen, wie es Jürgen geht? Du bist doch mit ihm durchgebrannt und hast so unsere Freundschaft zerstört.“ Ich werde fast wieder so wütend wie damals. Aber als ich ihre großen Augen und die Blässe in ihrem Gesicht sehe, verfliegt meine Wut.
„Du bist nicht mit Jürgen zusammen?“ Ihre Stimme ist kurz vorm Versagen.
„Nein. Er hat mir vor vierzig Jahren gesagt, dass er mit dir weggeht. Dann wart ihr beide verschwunden.“ Ich glaube, so langsam verliere auch ich die Farbe im Gesicht.
Sara sieht mich ungläubig an. „Jürgen hatte mir gesagt, dass er mit dir zusammen sein wollte. Weil ich mich nicht zwischen euch stellen wollte, bin ich weggezogen.“
Warum hat Jürgen uns so ausgetrickst und unsere Freundschaft zerstört? Vierzig Jahre, die wir nie wieder aufholen können. Entschlossen sieht Sara mich an. „Wir werden herausfinden, wo Jürgen heute lebt. Und dann statten wir ihm einen Besuch.“
Ich stimme ihr zu und wir tauschen unsere Handynummern aus.
Einige Tage nach unserem Treffen, ruft Sara bei mir an. Sie hat Jürgens Adresse herausgefunden und wir verabredeten uns gegenüber seines Hauses, am Rande eines Parks. Es ist eine ruhige Gegend. Auf einer Bank haben wir platz genommen. Die Einfamilienhäuser in diesem Straßenzug sind mindestens so alt wie wir. Jürgens Haus ist in einem hässlichen gelb gefärbt. Die Fensterläden schreien regelrecht nach Farbe. Ebenso das hölzerne Garagentor. Auch der Vorgarten sieht nicht so aus, als würde hier ein Gartenliebhaber wohnen.
Da kommt ein alter, hässlicher Fiat die Straße entlang und fährt in Jürgens Garageneinfahrt. Mit Spannung beobachten wir das Geschehen. Ein alter Mann mit weißem Haar, Brille und sehr mager, steigt aus. Sara und ich bekommen große Augen. Das ist Jürgen? Er öffnet die Beifahrertür. Heraus steigt eine ältere Frau, die bestimmt mehr als 100 Kilo auf die Waage bringt. „Jürgen! Bring den Einkauf rein und mach was zu essen. Mein Magen hängt schon auf den Knien!“, schreit diese Frau den armen Jürgen an. Was? Er tut mir doch jetzt nicht wirklich leid.
„So“, kommt es von Sara, nachdem wir aus unserer Erstarrung erwacht sind. „Ich glaube, unsere Meinung brauchen wir ihm nicht mehr zu sagen.“
Grinsend nehme ich Sara an die Hand und ziehe sie mit mir. „Nein, das brauchen wir nicht mehr. Er ist mehr als bestraft.“
Seit diesem Tag sind wir wieder beste Freundinnen und schwören uns, dass kein Mann sich mehr zwischen uns stellen wird.

Mittelalter meets Maskenbildner

Seit über zwei Stunden saß er vor dem Spiegel und ließ das Pinseln und Malen des Maskenbildners über sich ergehen. Er war der perfekte Darsteller eines mittelalterlichen Ritters, breitschultrig und muskulös mit langen blonden Haaren und einem gepflegten Vollbart. König Arthur nannten ihn seine Schauspielerkollegen und Highlander seine durchgedrehte kleine Freundin.

Mit geübten Pinselstrichen wurde das Kunstblut aufgetragen, eine tiefe Schnittwunde, die sich über sein Gesicht zog. Erstaunlich wie echt sie aussah und trotzdem war die Maske nur ein Abklatsch von richtigen Kampfspuren. Die Haare von Schmutz und Schweiß verklebt, sein Antlitz vom Blut der Feinde bespritzt.
Er blickte in den Spiegel, sah die Wunde und verlor sich in der Vergangenheit.

Sein letzter Kampf war ein langer gewesen, der sich über Stunden gezogen hatte. Es war sein Schicksal als Ritter, immer wieder zu kämpfen, von einer Schlacht in die nächste zu ziehen. Einer nach dem anderen waren seine Freunde gefallen und irgendwann kämpfte auch er sein letztes Gefecht. Dabei war er gut in Form gewesen, selbst als sein Pferd von einem Angreifer mit einem gezielten Stoß getötet wurde, kämpfte er erfolgreich am Boden weiter. Hatte Feinde mit dem Schwert geköpft oder mit der Hellebarde vom Ross gestochen.

Aber dann traf er auf den einen Gegner, der ihm an Kraft und Geschicklichkeit ebenbürtig war. Nichts war danach so gewesen wie vorher. Es gab keine fremde Armee mehr, keinen Feind oder Freund, nur noch er und der andere. Sie trieben einander in die Enge und schlugen bis zur Erschöpfung aufeinander ein. Er hatte schon mit seinem Schicksal abgeschlossen, als es ihm gelang, dem Feind sein Schwert aus der Hand zu schlagen.
Er holte zum tödlichen Hieb aus, da zog der andere einen Zauberstab aus der Schwertscheide und feuerte einen Fluch auf ihn ab. Ein Feuerstrahl traf seine Brust, drückte den Panzer ein und verursachte Schmerzen, wie er sie noch nie zuvor empfunden hatte.

Er schrie aus Leibeskräften und schrie auch noch, als er längst im Dreck eines heruntergekommen Hinterhofs einer Großstadt lag. Zum ersten Mal in seinem Leben lag er unter künstlichem Licht und atmete Abgase ein, aber er bemerkte es nicht. Erst als er eine Frauenstimme über sich hörte, erkannte er, dass er die Augen zusammengepresst hatte. „Alles klar, Highlander?“

Seine Brust schmerzte, als ob der Zauber sie in viele kleine Stück zerrissen hätte. Er war bewegungsunfähig, konnte aber immerhin die Augen öffnen. Unerwartet blickte er in das Gesicht einer Frau, wie er sie noch nie gesehen hatte. Kurze rote Haare mit Piercings in Nase und Augenbrauen. Ein Nasenring und tätowierte Arme.
„Hast du ein Date?“, fragte sie.
„Ich weiß nicht was du meinst“, antwortete er und überlegte, ob er gestorben war. Vielleicht war sie ein Engel, obwohl die in den Kirchen ganz anders aussahen.
„Ob du auf dem Weg zu einer Frau bist.“
„Hier auf dem Schlachtfeld?“
Sie runzelte die Stirn. „Du gefällst mir, Highlander.“
Erst viel später, als sie schon längst ein Paar waren und sie ihm den Film zeigte, verstand er, was sie mit den Worten meinte.
„Wir drehen einen mittelalterlichen Historienschinken und brauchen noch einen Darsteller wie dich. Du bist die perfekte Besetzung. Kommst du mit?“
Er verstand kein Wort von dem, was sie sagte, nickte aber schwach. Vielleicht weil der Schmerz und der lange Kampf seine Sinne vernebelt hatten.

Er tauchte aus der Vergangenheit auf und sah sein gepflegtes Gesicht mit der tiefen künstlichen Schnittwunde im Spiegel. Natürlich durften die Zähne nicht eingeschlagen sein und das Blut der Feinde ihn nicht beschmutzen. Schließlich musste er nach dem Kampf die Prinzessin retten und küssen.
„Perfekt!“, rief der Maskenbildner begeistert. „Findest du nicht auch?“
„Auf jeden Fall.“
„Dann auf zum Dreh. Damit wir die Szene in den Kasten kriegen.“
Er stand auf, klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter und verließ den Raum.

Traum vom Fliegen

Marie rast um die Ecke. Begleitet vom leisem Rauschen der plötzlichen Geschwindigkeit bewegt sich ein kleiner Körper durch die Luft, und doch geschieht alles wie in Zeitlupe. Die Zeit scheint stehen zu bleiben. Durch einen hellen Nebel vollgestopft mit weißem Licht hallen die Worte „Ich kann fliegen“. Wie oft hatte Marie davon geträumt fliegen zu können, einfach ganz weit weg. In ihren Träumen sah das etwas anders aus als in diesem Moment, das Gefühl der Leichtigkeit ist ihr jedoch bekannt, unbeschreiblich, und genau richtig, wie in ihren Träumen,… träumen, träumen träumen. „Ich darf diesen Traum träumen solange ich mag“, sagt Marie zu sich selbst und dem Rest um sie herum. Niemand stört, niemand bestimmt, so wie die Nachbarin in ihrer albernen Kittelschürze die ständig sagt: „Marie, träum doch nicht schon wieder vor dich hin. Du sollst dich doch mit der Milch beeilen, sonst gibts gleich wieder Ärger und jede Menge Striemen auf deinem Hinterteil“. Jetzt ist auch die kleine Milchkanne aus beigefarbenem Kunststoff mit Henkelgriff , der so schön schwingen kann, unterwegs in der Luft. Natürlich ist das Schwingen der Milchkanne verboten, das weiß Marie und die Milchkanne auch. Nur scheint das beiden gerade gleichgültig zu sein. Sie schwebt mit ihrer Flüssigkeit, die ihren Behälter zu überholen droht durch die angehaltene Zeit, solange bis sie ihren Flug beendet. Ein paarmal macht es ein leises Plock, Pock, Klock als sie auf dem Boden aufkommt, der Deckel abhebt und die weiße Flüssigkeit ein Muster auf den Boden zeichnet, wie eine weiße Leinwand. Eine kleine Ewigkeit später landet auch Marie und reißt mit vielfältigen Geräuschen ein Loch in die angehaltene Zeit. Ein Quietschen, Schaben und Knacken drängt sich in die Köpfe der Zusehenden.

Marie landet genau … na wo schon, in ihrem nächsten Traum. Sie träumt, dass Menschen sich um sie kümmern, sie sanft berühren und ihr sagen, dass alles gut wird. „Dabei ist doch alles gut, so gut wie nie zuvor“ denkt Marie während Blut aus Mund uns Nase fließt.
Der Autofahrer, der Marie das Fliegen gelehrt hat, sitzt auf dem Bordstein, sein Gesicht grauweiß, die Hände kneten ein Papiertaschentuch, der Körper zittert.
Eine freundliche Frau schiebt ihr eine blonde Locke aus dem Gesicht, streicht ihr liebevoll über die Wange, hält ihre kleine Hand. Marie sagt: „So soll es immer bleiben“, und vielleicht hört es ja jemand obwohl sich ihre Lippen nicht bewegen, wie immer.

Marie schenkt dem Gemälde auf dem Boden eine neue Farbe, mischt mal wieder alles auf.
Rot war schon immer ihre Lieblingsfarbe. Diese Farbe kann sie schmecken, sie schmeckt nach Erdbeermarmelade, nach Kirschmund, nach Freundschaft, weil man das Frühstück mit der besten Freundin Jule teilt, die immer feine Sachen aus ihrer Pausendose zaubert, dazu das kribbelige Wasser aus der Glasflasche, so fein.
Ein Lächeln schleicht sich über ihr Gesicht und ein Wunsch drängt sich durch den Traum: "Bleib bei mir, lass mich nicht allein“, ihre Lippen bewegen sich nicht, wie immer.

Ein Morgen, eingehüllt in wohlige Träume, gehalten von einem zärtlichem Mann. Geträumt berührt ER Maries Herz, taucht ein in ihre Seele, schwingt mit ihr Hand in Hand durch die Schönheit des Lebens. Nichts kann sie trennen, denn ihre Liebe ist so unbeschreiblich stark, wie es die beste Liebesgeschichte nicht schreiben könnte. Marie öffnet die geschwollenen Augen, es war eine lange Nacht. Jonas, der Mann ihrer Träume, kam spät nach Hause. Ein unbekannter Duft umfing seine elegante Silhouette. Energien schoben sich Marie entgegen, die Anwesenheit einer weiteren Person, nicht sichtbar, doch klar spürbar. Ein Zeitriss, Schreie, Tränen, unendlicher Schmerz erfüllte den Raum der letzten unwirklichen Stunden. Angehaltene Zeit, in eine Schublade gesteckt, wie so oft, abgeschlossen und vergessen, vergessen, vergessen, träumen, träumen, träumen, und dann … doch erwachen. Jetzt dringt der Duft von Früchten in ihre Nasenflügel welche ängstlich beben, warum weiß sie gerade nicht. Ein goldig schimmerndes Tischchen, strahlt sie an. Darauf zartes Porzellan mit den restlichen Erdbeeren, ein paar vereinzelte waren heute Nacht wohl auf der Bettdecke gelandet. Weiß schimmert der Satin, bemalt mit Rot. Die kribbelige Flüssigkeit aus der Flasche Moet & Chandon daneben. Marie schaut auf das Bett, Weiß und Rot. Vereinzelt steigen noch kleine Blasen vom Boden der Champagnerschale auf, Plopp…Plopp. Sie schiebt den Stoff über ihrem Körper beiseite. Ein Geräusch als würde ein Gemälde von Marie in der Leo Castelli Gallery von weißem Stoff befreit und den bewundernden Blicken der Fachwelt vorgestellt. Ja, Marie hatte fliegen gelernt, von der Londoner Lisson Gallery zur Mendes Wood in Sao Paulo, weiter zum Sprüth Magers in Berlin, von einer großen Galerie zur nächsten, während sie sich ihr Blut aus den Adern malte, dem inneren Schrecken auf weißer Leinwand Ausdruck verlieh. Jemand schiebt Marie eine Locke aus dem Gesicht, streicht ihr zärtlich über die Wange und sagt: „Alles wird gut“. Dabei ist doch schon alles gut. „In meinen Träumen ist immer alles gut. Da gibt es niemanden der auf kleine Hände schlägt, der wütend und ohne Besinnung den Gürtel aus der Hose zieht, der alles kurz und klein schlägt, niemanden, der der Mutter die Kehle zudrückt. Niemanden der fremde Frauen in das eigene Heim bringt, um mit ihnen Dinge zu tun, die weder ein kleines Mädchen noch eine erwachsene Frau sehen sollte“. Worte stehen flehend in der Zeit still. „Bleib bei mir, lass mich nicht allein“, Maries Lippen bewegen sich nicht, wie immer. Auch jetzt finden die Worte nicht den Weg über die rot geschminkten Lippen im Gesicht der erwachsenen Frau, während Blut aus Mund und Nase rinnt. Rot, Marie`s Lieblingsfarbe, sie schmeckt nach Erdbeermarmelade, nach Kirschmund, kribbeliger Flüssigkeit und Freundschaft.

Ein Krankenzimmer, auf dem Nachtschrank eine geöffnete Pausendose. Zwei Brote, dick bestrichen mit Erdbeermarmelade verströmen ihren Duft im ganzen Raum, eine Schale mit dunkelroten Kirschen und eine Glasflasche Prickelwasser daneben.
Jule hält eine zarte Frauenhand und spricht Worte, die die Frau daran einhüllen und ganz wach träumen lassen. Jules Lippen bewegen sich und die Worte finden den Weg nach draussen, direkt in das Herz der Freundin: „Ich bleibe bei dir, alles ist gut“.

»So, Fräulein Stein!« Der Arzt blickte Regina über die Ränder seiner klobigen schwarzen Brille an. Der gestärkte weiße Kittel bis zum Hals zugeknöpft. Die Lippen zu einem schmalen Strich karikiert, bevor er weiterredete.

Sie ahnte ohnehin, was er ihr mitzuteilen hatte. Dennoch zog sich die kurze Sprechpause so zäh dahin wie zu lange gekochter Sirup. Einzelne Sekunden formierten sich zu einer quälenden Ewigkeit. Später in ihrem Leben würde es nur noch ein Davor und ein Danach geben.

Dann sagte er sie. Worte, die ihr in Fetzen um die Ohren flogen, ihr den Boden unter den Füßen wegzogen. Sie stellte das Atmen ein und wurde immer kleiner auf dem unkomfortablen Stuhl.

Wie in Zeitlupe sah sie sich in dem Behandlungszimmer um. Gegenstände hoben sich scharfkantig von den kalten weißen Wänden im Neonlicht ab. Der Wandkalender zeigte den zwölften September an.1962. Der zweite Stuhl neben ihr war leer.

»… Sie befinden sich in anderen Umständen!« Der Arzt räusperte sich. »Das heißt, Sie sollten alsbald heiraten …« Kein Glückwunsch, kein freundliches Lächeln begleiteten seine Worte. Regina schaute zu Boden. Tränen rollten über ihre Wangen und landeten auf den verkrampften Händen, die ineinander verhakt in ihrem Schoß lagen.

Sie hatte es allein geschafft, ihr Kind großzuziehen. Längst hatte Stolz das tiefe Schamgefühl abgelöst. Immer dann, wenn sie ihre Tochter ansah.

Anfangs war es schwer gewesen und an das Getuschel der Leute hinter ihrem Rücken hatte sie sich nie gewöhnen können.

Die Zeiten hatten sich gewandelt. Die Gesellschaft auch. Heute hatte das Etikett „Unehelich“ zum Glück keine Relevanz mehr.