Wo Liebe ist
wird das Unmögliche möglich. (Buddha)
Das Wohnmobil ist bestellt. Heute holt er Susanne vor der Senioren-Residenz ab. Unzählige Gesichter drücken sich hinter den Fensterscheiben die Nasen platt, als Adam ihr die Türe weit aufhält: „Steig ein, geliebte Eva!“
„Wir feiern das Leben!“, ruft sie lachend.
Noch vor zwei Monaten saß sie einsam am Fenster. Ihr Panorama war nicht die prachtvolle Kastanie, die gerade ihre ersten Blüten öffnet, die aufrecht wie weiße Kerzen auf ihren Zweigen stehen. Auch der verlockende Duft, der Geruch von Frühling, konnte sie nicht erreichen. Ihr schwermütiger Blick verlor sich in unsichtbarer Ferne.
In Gedanken war sie im Ruhewald. Die Bäume scheinen unberührt von den Urnen zu ihren Füßen. Und mittendrin Rosemaries Asche. Soll das Häuflein, das nach meinem Tod von mir übrigbleibt nicht lieber mit dem Wind fortgetragen werden, weit weg in eine grenzenlose Freiheit?
Ihr Haus sei zu groß für sie allein, sagte ihr Sohn. Er fand eine noble Senioren-Residenz. „Du brauchst dich um nichts mehr kümmern. Endlich kannst du dich ausruhen.“
„Das kann ich immer noch“, verteidigte sie sich. „Ich bin doch erst siebzig, das ist heutzutage kein Alter.“ Regelmäßig besuchte sie mit ihrer Freundin das Fitness-Studio, sie gingen walken oder trafen sich in ihrem Lieblingscafé.
Eines Morgens klingelte das Telefon. Mit einer düsteren Vorahnung nahm sie ab und hörte die traurige Stimme von Rosemaries Tochter: „Ich hab Mama gerade tot in ihrem Bett gefunden.“
„Nein!“, rief Susanne. „Das kann nicht sein. Gestern haben wir noch telefoniert.“
Abend für Abend war sie vertieft in die alten Fotos. Mit Rosemarie ging sie Hand in Hand in den Kindergarten. Sie war ihre erste Freundin. In der Schule saßen sie nebeneinander. Eine wurde Erzieherin, die andere Arzthelferin. Die Freizeit wurde knapper. Aber an den Wochenenden waren sie gemeinsam unterwegs, besuchten ihre Lieblingsdisco und nie ging eine ohne die andere Nachhause. Rosemarie verliebte sich und bald hatte auch sie einen Freund. Sonntags trafen sie sich in ihrer Bude, räumten die Möbel bei Seite, tanzten bei lauter Musik, Cola und Salzstängelchen. Als sei es abgesprochen, wurden sie gleichzeitig schwanger, organisierten eine Doppelhochzeit und bald schoben sie nebeneinander ihren Kinderwagen, gingen auf den Spielplatz oder im Sommer an den Baggersee.
Seit etwa zehn Jahren lebten beide alleine. Nachdem ihre Kinder aus dem Haus waren, stellte Rosemaries Mann fest, dass sie sich auseinandergelebt hatten. Susanne verlor ihren Mann bei einem Autounfall. Die beiden Freundinnen waren wieder – wie früher – unzertrennlich.
Nach Rosemaries Beisetzung begann eine bleierne Zeit. Früher stand Susanne gerne in der Küche, nun hatte sie die Freude am Kochen und Backen verloren. Müde und antriebslos schob sie sich manchmal eine Fertigpizza in den Backofen oder begnügte sich mit einer Scheibe Brot und Käse. Gerade kam die Meldung in den Medien über eine Corona-Pandemie. Was interessiert mich das? Sie ging sowieso nur noch zum Einkaufen aus dem Haus.
Es war im November, eine dünne Schneedecke lag über der Landschaft. In der Nacht hatte es gefroren. Mit dem Einkaufskorb im Arm rutschte sie aus auf dem Gehweg und brach sich den Fuß. Nach der OP kam die Reha. Besuch durfte nicht empfangen werden.
„So ein Glücksfall!“, meinte der Sohn am Telefon. „In der Residenz ist gerade ein Platz frei geworden.“
Sie darf ihren Sekretär, ihr Sofa und ein paar Bilder für die Wände mitbringen. Täglich bekommt sie Physio und soll sich regelmäßig bewegen. Gleichgültig läuft sie mit ihren Stöcken am Nachmittag immer zur gleichen Zeit durch den Park. Auf einer Bank ruht sie sich zwischendurch aus. Am Abend sitzt sie alleine im Zimmer. Die Bewohner müssen den Kontakt untereinander vermeiden, sehen sich nur noch selten und durch die Maskenpflicht erkennen sie sich oft gar nicht mehr.
„Darf ich mich zu ihnen setzen?“, fragt eine tiefe männliche Stimme. Susanne ist vertieft in das Büchlein Meersburger Gedichte von Annette Droste-Hülshoff, das letzte Geschenk ihrer Freundin. Kurz sieht sie auf, zieht die Stirn in zwei senkrechte Falten, räuspert sich und fragt: „Ist das nicht verboten?“ Er grinst: „Es tut gut, manchmal etwas Verbotenes zu tun, meinen sie nicht auch?“
Das ist doch die Höhe!, denkt sie und rückt keinen Zentimeter zur Seite. Er bleibt vor ihr stehen, kramt in seiner Jackentasche und holt einen Walkman heraus. Gleich darauf hört sie die mitreißende Stimme von Brian Adams und „Summer of 69“. Einen Augenblick glaubt sie, keine Luft zu bekommen. Der alte Song trifft sie völlig unerwartet. Blitzartig taucht sie ein in eine alte Erinnerung: Sie war mit ihrer Freundin in der Disco, sie tanzten, lachten, flirteten, machten ihre Späße, das Leben war schön, da war kein Platz für den Gedanken an ein Ende.
Dieses Lebensgefühl scheint auf einmal in ihrem Gesicht zu stehen. Gerade schaut die Sonne hinter einer Wolke hervor und bringt die ganze Gestalt zum Leuchten. Wie elektrisiert starrt er sie an. Er schluckt und flüstert mit bebender Stimme: „Wie schön du bist!“
Sie zuckt zusammen und reist die Augen auf. Für einen Augenblick hat sie vergessen, dass sie nicht allein ist. Sie war weit weg, in einer längst vergangenen Zeit. Sie hatte längst vergessen, wie es ist verliebt zu sein, und ohne Rosemarie hat sie auch die Lust am Leben verloren.
„Ich heiße wie der Mann von Eva“, sagt er mit einem Augenzwinkern. „Wie du heißt, weiß ich nicht, für mich bist du Eva, wie die Eva, die dem Adam im Paradies den Apfel gab.“
Heimlich treffen sie sich jeden Nachmittag. Und am Abend ist sie immer öfter in Gedanken bei ihm. Heute verspätet er sich, denkt sie. Sie sitzt auf der Bank, die Schale mit dem Nachtisch in der Hand und steckt sich eine Erdbeere nach der anderen in den Mund. Da kommt er auch schon auf sie zu, drahtig, fast wie ein junger Mann mit schnellem Schritt. Schon von weitem sieht sie ihn. Wie alt mag er wohl sein? Als er vor ihr steht, nimmt er mit einer Verbeugung seine Kapitänsmütze vom Kopf: „Entschuldige, liebe Eva, hab heut mein Toupet vergessen.“
Seine Glatze glänzt in der Sonne und Susanne bricht in schallendes Gelächter aus. Sie kann wieder lachen, unbeschwert, wie schon sehr, sehr lange nicht mehr.
Adam setzt sich zu ihr und sucht ihre Hand. Sie seufzt leise. Mit jedem Atemzug strömt die Wärme seiner Hand zu ihr herüber, bis ihr ganzer Körper von einem Wohlgefühl erfasst wird und ihr plötzlich eine Gänsehaut über den Rücken rieselt. Er sieht sie mit einem Blick von der Seite an, dass ihr schwindlig wird. Dann zieht er sie mit einem schelmischen Blick hinter die Kirschlorbeerhecke, nimmt sie stürmisch in die Arme und küsst sie so unvermutet, dass sie keine Zeit hat nachzudenken, ob sie einverstanden ist.
„Mmmh! Dein Kuss schmeckt nach Erdbeeren!“, sagt er überrascht und sieht ihr verliebt in die Augen. Sie lacht, geht zur Bank, holt die Schale, steckt ihm flink eine große Beere in den Mund und knabbert die andere Hälfte von seinen Lippen.
„Adam und Eva naschen Erdbeerküsse und denken keinen Augenblick daran, ob jemand sie sehen kann!“, sagt er, als sie kichernd nach der nächsten Beere greift.
Mit Adam kann sie lachen und auch weinen und über ihren Kummer, über den Tod und die Einsamkeit reden.
„Nie mehr will ich auf deine Erdbeerküsse verzichten“, flüstert er ihr ins Ohr.