Seitenwind 2024 – die ganze Geschichte

Offene Enden – erster Teil

Zehntausend Euro

von Andreas Eschbach

 An einem Sonntagmorgen öffneten in einem der besseren Wohnviertel Frankfurts zwei schweigsame Männer eine schmiedeeiserne Gartentür, durchquerten den Vorgarten und klingelten. An der Tür prangte ein Schild aus Messing, in das der Name R. Berger graviert war.
 Richard Berger und seine Frau Dorothea, die sich gerade für den Kirchgang fertig machten, sahen einander verwundert an, als sie es klingeln hörten. Um diese Zeit kam normalerweise niemand.
 Berger zog den Knoten seiner neuen Krawatte fest, die goldfarbene Eurozeichen auf grünem Grund zeigte – ein Geschenk seiner Frau, ein liebevoll-spöttischer Kommentar zu seinen erfolglosen Abenteuern an der Aktienbörse –, und sagte: »Ich schau mal nach, was los ist.«
 Er ging zur Tür. Durch den Spion erspähte er zwei alltäglich aussehende Männer, die Jeans und Jacken aus Lederimitat trugen und ernst dreinblickten. Sie sahen nicht aus wie Missionare und auch nicht wie Vertreter, eher wie Vater und Sohn.
 Vorsichtshalber legte er die Sicherheitskette vor, ehe er öffnete. Es roch feucht. In der Nacht hatte es geregnet, man witterte den nahenden Herbst.
 »Sie wünschen?«, fragte er.
 Der jüngere der beiden Männer hielt sein Smartphone vor sich, schien alles zu filmen. Der andere, älter und graubärtig, sagte: »Guten Tag. Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.«
 »Was?«, entfuhr es Berger.
 Richard Berger, sei an dieser Stelle erwähnt, war Inhaber eines Reisebüros und hatte es zu einem gewissen Wohlstand gebracht. Er war jedoch nicht das, was man reich nennen konnte, jedenfalls nicht in Frankfurt. Dass dem nicht so war, bewies schon der Umstand, dass man ohne Weiteres von der Straße bis an seine Haustüre gelangte.
 Der bärtige Mann wiederholte seine Forderung: »Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um.«
 Richard Berger fühlte eine eigenartige Verblüffung. Das hier, sagte er sich, konnte nicht wirklich passieren. Und selbst falls doch, falls es ernst gemeint und kein Streich der Versteckten Kamera war, fand er sich außerstande, zu lachen. Mit so etwas machte man keine Witze.
 Hier ging etwas Ungutes vor sich, sagte sich Berger. Trug dieser Mensch womöglich einen Sprengstoffgürtel unter der Jacke, um sich in der Art eines Selbstmordattentäters vor seinem Haus in die Luft zu sprengen?
 Er fühlte die Türklinke hart und kalt in seiner Hand. Würde er es schaffen, die Tür rechtzeitig zuzuschlagen? Und wenn, war sie stabil genug, um seine Frau und ihn vor einer Explosion zu schützen?
 Er sah den anderen an, den mit dem Smartphone. »Filmen Sie das?«, fragte er. »Wozu? Was soll das alles?«
 »Geben Sie ihm zehntausend Euro«, sagte der Mann mit dem Smartphone. »Sie haben das Geld, und er braucht es.«
 Richard Berger schüttelte den Kopf. »Sie sind ja verrückt. Wie stellen Sie sich das vor? Ich kann doch nicht irgendjemandem einen Haufen Geld geben, nur weil er an meiner Türe klingelt. Und mir droht!«
 »Ich brauche zehntausend Euro«, beharrte der andere Mann, der, wie Berger bemerkte, nun regelrecht zitterte. »Wenn Sie mir keine zehntausend Euro geben, bringe ich mich um.«
 Berger entfuhr ein unwilliges Schnauben und der Satz: »Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?«
 Er zuckte zusammen, als der Mann daraufhin eine Pistole aus der Jackentasche riss, sich ihren Lauf in den Mund steckte und abdrückte. Der Schuss war lauter, als Berger es erwartet hätte, der Pistolenschüsse nur aus Fernsehkrimis kannte. Eine Art rötlich-graue Wolke sprühte aus dem Hinterkopf des Mannes, dann fiel dieser leblos nach hinten und hinab auf den Plattenweg, der vom Vorgartentor bis zu den Treppen vor der Haustüre führte. Blut breitete sich auf den Platten aus.
 Der Mann mit dem Handy hatte alles gefilmt. Jetzt richtete er das Objektiv auf Berger und schrie: »Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!«
 Berger tat, was er, wie er sich sagte, schon längst hätte tun sollen: Er schloss die Tür.
 »Ruf die Polizei«, sagte er dann mit bebender Stimme zu seiner Frau.

Zweiter Teil

Der Journalist

von @montypillepalle

Der Anruf erreichte Christian Pfeiffer in der Büroküche der Redaktion. Er sah auf das Display seines Tastentelefons. Es war nicht die Nummer von Maria. Milde enttäuscht legte er das Gerät auf die Küchenzeile. Wahrscheinlich ein Spamanruf. Alle wichtigen privaten Nummern hatte er eingespeichert und berufliche Anrufe gingen auf sein Dienst-Handy ein, auf diese ebenso teure wie fragile Mischung aus Glas und Aluminium. Mitglieder der Online-Redaktion mussten jederzeit online sein, hatte man ihm gesagt. Pfeiffer schüttelte den Kopf. Die Online-Redaktion. Das würde er Magnus nie vergeben. Online-Redaktion und das nach all den Jahren.
Er griff die Packung Kaffeepulver und füllte damit eine vergilbte Filtermaschine, ohne Löffel und nach Augenmaß. Hauptsache stark. Das Handy klingelte nervtötend, er blockte den Anruf ab und kümmerte sich weiter um sein Lebenselixier. Sein Kaffee war keine Kunst, er war ein Instrument, eine Medizin und in dieser Haltung unterschied sich Pfeiffer von seinen neuen Kollegen, die aus der braunen Suppe ein Lifestyle-Produkt machten. Wer keinen Flat-White trank, war outdated, das hatte er schnell begriffen. Um sein eigenes Outdated-Sein trotzig zu unterstreichen, hatte Pfeiffer deshalb vor drei Monaten die kleine Filtermaschine mitgebracht. Sie war ein Symbol des alten Geistes, eine Verbündete aus Zeiten, da in der Redaktion der Kaffee literweise getrunken worden war und die Konferenzräume den kalten Odeur von harter Arbeit und Zigarettenrauch verströmt hatten. Pfeiffer betätigte den Knopf und die Maschine röchelte los. Ein Anachronismus wie er selbst, Abgrenzung von der Generation Siebträger mit ihren Ungetümen aus Chrom.
Das Telefon klingelte erneut. Er nahm das Handy und hielt es unschlüssig in der Hand. Vielleicht doch Maria, die von einer neuen Nummer aus anrief, aber nein, das war unwahrscheinlich. Obwohl.
»Pfeiffer«, meldete er sich.
»Ich weiß«, antwortete eine Männerstimme. Sie klang tief und selbstsicher. »Christian Pfeiffer vom Frankfurter Generalanzeiger. Onlineredaktion, FGZ.NET. Gehen Sie zu Ihrem Rechner.«
»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Privatnummer?« Der Kaffee lief tröpfchenweise durch.
»Das tut nichts zur Sache, Christian Pfeiffer. Aber ich habe da etwas für Sie. Eine große Story. Interessiert? Dann gehen Sie zu ihrem Rechner.«
Pfeiffer hob die Augenbrauen. Klang nach einem Wichtigtuer, womöglich ein Scherzanruf seiner neuen Kollegen. Seiner ›Kolleg*Innen‹, wie sie selber sagten. Andererseits, dachte er, sollte kein Journalist auflegen, wenn jemand von einer großen Story sprach, am wenigsten er selbst. Und immerhin war der Kaffee fast durchgelaufen.
»Also gut, warten Sie einen Augenblick«, sagte er, schob sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und goss sich das braune Glück in einen Pott.
»Beeilen Sie sich, wir haben beide nicht viel Zeit. Sehen Sie in Ihre Emails.«
Pfeiffers Augenbrauen wanderten noch weiter Richtung Stirn, er nahm den Kaffee und ging ins Großraumbüro, nein, in den Coworking-Space. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz, direkt nebem dem Fenster und mit Ausblick auf den langgezogenen Europagarten. Die Bäume, die rings um dieses grüne Rechteck angeordnet waren, trugen erste herbstlich gelbe Blätter. Eine Oase inmitten grauen Steins.
Er war allein, als er den Bildschirm anschaltete und sich anmeldete. Im Coworking-Space gab es an einem Sonntagvormittag keine Coworker, die waren unterwegs oder saßen im Homeoffice. Er öffnete das Email-Programm. Neben zahllosen ungelesenen Nachrichten ploppte die Mitteilung einer neuen Mail auf, Absender qvu61039[at]kasor.com. Eine Wegwerf-Adresse, darin ein Link zu einem Cloudspeicher.
»Sie wollen, dass ich auf einen unbekannten Link von einer Spam-Adresse klicke?«
Die Stimme am Telefon lachte leise. »Ich bin kein nigerianischer Prinz, der Ihnen 3 Millionen Dollar überweisen will. Sie werden ein Video herunterladen. Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.«
Einen Moment zögerte Pfeiffer. Wie ironisch, wenn ausgerechnet er, der vom großen Magnus in die Online-Redaktion strafversetzt worden war, einen Virus herunterlud. Aber eine Story war eine Story. Er klickte. Ein kurzer Download, das Virenprogramm blieb stumm, dann öffnete sich ein Video. Eine gute Minute lang, aufgenommen im Hochkant-Format, wie diese ganzen grässlichen Social-Media-Schnippsel. Leicht verwackelt sah er ein Haus, zwei Männer schritten darauf zu, einer unsichtbar hinter der Kamera und ein älterer Graubart. Sie klingelten und nach kurzem Warten wurde die Tür eine Handbreit geöffnet. Das Bild zoomte auf den verdutzten Hausbesitzer. Ein rundliches Gesicht mit fliehendem Haaransatz war im Türspalt zu erkennen, dazu ein Sonntagsanzug und eine lächerliche Krawatte, die ihm vom Hals baumelte. Pfeiffer erkannte goldene Euro-Zeichen auf grünem Grund, als hielte der Hausherr sich für den Wolf of Euro-Wallstreet. Dann schwenkte die Kamera auf den Alten. Es folgte ein Dialog, ein absurdes Gespräch.
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, hörte Pfeiffer plötzlich die Stimme seines Anrufers auf dem Video. »Sie haben das Geld und er braucht es.«
Ihm wurde der Mund trocken, er ahnte, worauf dieses Video hinauslief, wusste es, bevor er den Schuss hörte und das Blut sah.
»Wo ist das aufgenommen worden? Und wann?« Seine Stimme war ruhig, professionell, jahrzehntelang trainiert, die freie Hand hatte automatisch nach Kugelschreiber und Block gegriffen.
»Das werden Sie erfahren«, sagte die Anruferstimme. Dieselbe, die auf dem Video den Hausbesitzer anschrie. »Doch zuerst tun Sie mir einen Gefallen. Laden Sie das Video auf dem Social-Media-Account Ihrer Zeitung hoch. Den Hashtag überlasse ich Ihnen, Christian Pfeiffer.«
»Sie sind verrückt!«
»Nein. Und sie haben zwei Minuten. Die Zeit läuft.«
»Auf keinen Fall«, sagte Pfeiffer mit aller Endgültigkeit, zu der er fähig war.
»Ich dachte mir, dass Sie so reagieren. Doch es ist wichtig, dass jeder Mensch die Chance hat, Zeuge zu sein. Noch eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden.«
»Sagen Sie mir, wer Sie sind.«
»Später. Zuerst etwas anderes. Wenn Sie in exakt 110 Sekunden das Video nicht hochgeladen haben, wird sich noch eine Person erschießen. Ihre Entscheidung, Christian Pfeiffer.«
Auf dem Computer-Bildschirm war das Ende des Videos als Standbild zu sehen. Der Grauhaarige mit einem roten Loch, wo vorher sein Mund gewesen war, inmitten einer Blutlache. Pfeiffer spürte, wie sein Atem schneller ging, wie der Magen sich zusammenkrampfte.
»Wer? Wo?«
»Das sind gute Fragen, wenn man noch eine Minute und vierzig Sekunden Zeit hat«, sagte die Stimme im Telefon. »Blicken Sie doch mal aus dem Fenster, direkt hinunter zur Straße vor dem Europapark. Sehen Sie die Frau im roten Mantel?«
Er stand auf, spähte hinab und suchte die Straße ab. Sein Atem erzeugte einen kleinen Kondensbeschlag auf der Scheibe. Dann fand er sie, eine Frau, roter Mantel, schwarze Haare. Sie verharrte steif in aufrechter Pose und erinnerte Pfeiffer an ein Mannequin.
»Sehen Sie genau hin«, sagte die Stimme. »Sie braucht ihre Hilfe, sonst lebt sie nur noch exakt 84 Sekunden. Doch lassen Sie mich nachhelfen.«
Einen Augenblick später hob die Frau zögerlich ihren Kopf, sah den Bürotower hinauf, in dem Pfeiffer stand. Ihr Blick schien über die Glasfassade zu gleiten und blieb an ihm hängen. Sie sah ihn an, die Wangen bleich. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Maria«, keuchte er.
»Oho, sie haben sie erkannt!«, sagte die Stimme. »Dann genießen Sie noch eine Minute lang den Anblick oder laden Sie das Video hoch.«
»Sofort«, antwortete Pfeiffer, »alles, was sie wollen.« Er öffnete den Browser, gab die Website ein. Unendlich langsam baute sie sich auf. Er tippte den Accountnamen, verschrieb sich, klickte mit der Maus an die falsche Stelle. Das Passwort, er kannte es, hatte es sich irgendwo aufgeschrieben, obwohl das verboten war. Wo war der verdammte Zettel? Er brauchte es nie, Posts setzten die jungen Kollegen ab, nicht er.
»45 Sekunden.«
»Ich mache es, ich mache es«, schrie er in den Hörer.
Bei 30 Sekunden fand er den Zettel. Bei zwanzig hatte er das Passwort eingegeben.
»Wo lädt man hier ein Video hoch, Scheiße, verfluchte Scheiße«, murmelte er.
»Sind Sie kein Online-Redateur, Christian Pfeiffer?«, fragte die Stimme höhnisch. »15 Sekunden.«
Er fand den richtigen Knopf auf der Website bei 12 Sekunden. Bei fünf Sekunden schob er die Datei vom Download-Ordner in den Browser.
Bei einer Sekunde war das Video hochgeladen und er drückte auf veröffentlichen.
Bei null hörte er den Schuss.
»Bedauerlich«, sagte die Stimme im Telefon. »Ihr Journalisten kümmert euch nicht um die Probleme der Menschen. Und wenn ihr es doch tut, dann nur aus Eigennutz und zu spät.«
Pfeiffer fiel das Handy aus der Hand, es prallte auf den Schreibblock, hüpfte zur Seite und blieb neben dem Kaffeepott liegen, der stumm vor sich hin dampfte.

Dritter Teil

von @Linna

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen stand Christian Pfeiffer an Marias Grab, den abgewetzten Fedora tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen. Es regnete, wie so oft in den vergangenen Tagen. Dicke Tropfen prasselten auf die Chrysanthemen herab, die Marias Mutter erst gestern vor den Grabstein gelegt hatte.
„Es war nicht deine Schuld, Christian.“ Sanft hatte die alte Dame ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt.
Sie hatte recht. Doch nicht jede Wahrheit fühlte sich auch wahr an. Und dass die Polizei dem eigentlichen Täter noch keinen Schritt nähergekommen war, machte es nicht besser. Immer wieder durchlebte Pfeiffer diese letzte Sekunde. Träumte sie, atmete sie, schmeckte sie bitter auf seiner Zunge, spürte sie brennend in seiner Brust. Die Sekunde seines Versagens.
„Ich werde eine Weile nicht kommen, Maria“, sagte er leise. „Ich muss etwas erledigen. Für dich. Für mich.“
Er würde Maria erst wieder besuchen, wenn ihm gelungen war, was er sich vorgenommen hatte. Oder wenn man ihn neben sie zur Ruhe legte. Auch das war ein mögliches Ergebnis der Nachforschungen, die er heute beginnen würde, da machte er sich nichts vor. Doch forschen würde er. War er nicht Journalist?
Er wandte sich ab, ging zu seinem Auto und zog den verknitterten Zettel mit der Adresse aus seiner Tasche.

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„Kaffee?“, fragte Frau Berger. „Ich kann Ihnen Cappuccino, Espresso, Latte Macchiato…“
„Nein, einfach Kaffee, bitte. Ohne alles.“ Aufmerksam sah Christian Pfeiffer sich im bergerschen Wohnzimmer um. Es hier bis auf das cremeweiße Ledersofa zu schaffen, hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet.
„Sie wollen also mit mir sprechen, von Opfer zu Opfer“, sagte Herr Berger, der ihm gegenübersaß. Mit einem Ausdruck tiefer Müdigkeit in den Augen.
„So ist es.“
„Die eigentlichen Opfer waren wohl der Mann mit dem Bart und Ihre Freundin, Maria.“
„Ja. Das ist richtig. Dennoch … stimmt es nicht, dass man Sie belästigt, seit dieses Video viral gegangen ist? Die Kommentare in den Social Media können Sie vielleicht ignorieren. Doch ich sah Reste von Eiern und Sprühfarbe an Ihrer Fassade. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich kaum noch vor die Haustür wagen. Dass nichts mehr ist, wie es war.“
Das kleine Schaudern, das sich durch Bergers Schultern zog, sagte Pfeiffer, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Letzte Woche wollten wir zum ersten Mal wieder essen gehen.“ Frau Berger setzte die Kaffeetassen auf den Glastisch. „Da hat jemand Richard erkannt und nannte ihn einen Mörder. Aber das ist er nicht. Können Sie ihm das klarmachen?“
„Ich hätte das Geld gehabt, Dorothea. Hier in unserem Safe. Für Notfälle.“ Herr Berger wirkte kurz etwas verloren und seine Frau streichelte ihm mitleidig über die Schulter.
„Ich kann Ihnen ebenso wenig Absolution erteilen, wie Sie mir, Herr Berger.“ Pfeiffer griff nach dem kleinen Notizblock in seiner Innentasche. „Aber ich will für Gerechtigkeit sorgen, indem ich die Wahrheit aufdecke. Sie haben von Angesicht zu Angesicht mit dem Täter gesprochen, darum fange ich hier an. Ich habe einige Fragen vorbereitet und …“ Er hielt inne, als es an der Tür klingelte, und ihn beschlich ein ungutes Vorgefühl.
Dorothea ging, um aufzumachen, und kam nur Augenblicke später zurück ins Wohnzimmer. Mit einem kleinen, braunen Päckchen. Es hätte vor der Tür auf dem Plattenweg gelegen.
Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie es auf den Salontisch legte. Vorsichtig, als könnte es jeden Augenblick in die Luft gehen. Das bange Vorgefühl schien nun auch die Bergers erfasst zu haben.
„Hatten Sie etwas bestellt?“ Pfeiffer kannte die Antwort schon, ehe seine Gastgeber den Kopf schüttelten. Auf dem Päckchen stand ja nicht einmal eine Adresse.
Ohne noch lange zu zaudern, riss er es auf und fand einen USB-Stick.
„Bring ihm doch mal den Laptop, Dorothea“, sagte Berger erstaunlich gefasst. „Er arbeitet in einer Online-Redaktion und ist Experte für sowas.“
Experte, ja genau. Da war es wieder, dieses bittere Brennen. Eine Sekunde. Wäre er eine Sekunde schneller gewesen … Nein, diese Gedanken nützten jetzt nichts. Um den Inhalt eines USB-Sticks zu öffnen, war er jedenfalls Experte genug.
Zwei Dateien. Pfeiffer klickte auf das Word-Dokument und las die erste Zeile.
An Richard Berger und Christian Pfeiffer
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Furcht des Jagdwilds, die erwartungsvolle Aufregung des Jägers. Er empfand beides gleichzeitig. Sein Feind war ihm einen Schritt voraus. Wusste, wo er war, und ahnte sicherlich warum. Würde vielleicht erneut versuchen, ihn zu benutzen, wie ein grauenhafter Puppenspieler. Doch diesmal war Pfeiffer darauf vorbereitet und gewillt, alles zu riskieren.
„Nein“, flüsterte Frau Berger, die gemeinsam mit ihrem Mann über Pfeiffers Schulter gebeugt mitlas.
Eine Adresse stand dort. Irgendwo im Industriegebiet. Zusammen mit der Aufforderung, pünktlich um 20:05 dort zu sein. Er und Berger beide. Es folgte die wenig überraschende Warnung, keine Polizei hinzuzuziehen.
Seine Gedanken rasten. Waren er und Richard Berger keine zufälligen Opfer? Gab es etwas, was sie verband, und hatte der Täter nur darauf gewartet, dass sie endlich zusammenfinden würden? War diese ganze Sache vielleicht persönlicher, als er gedacht hatte?
Er klickte auf die zweite Datei. Ein Video diesmal.
Da war eine graue Betonwand. Schnelle, flache Atemgeräusche, die nichts Gutes erwarten ließen. Die Kamera schwenkte zu einer Frau. An Armen und Beinen gefesselt lag sie am Boden, den Mund mit Panzertape zugeklebt, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Ihr Haar war verfilzt und ihr Kleid beschmutzt, als wäre sie schon länger in Gefangenschaft.
„Oh Gott!“, rief Dorothea.
„Marlene!“, riefen Pfeiffer und Berger gleichzeitig. Dann sahen sie sich fassungslos an.

Vierter Teil

Der Unbekannte

von @montypillepalle

Christian Pfeiffer hatte darauf bestanden, dass sie mit seinem alten Opel fuhren, weil das Video Richard Berger sichtlich mitgenommen hatte. Jetzt rauschten sie durch die Dämmerung der Stadt und Pfeiffer versuchte in seinem Gedanken, die losen Fäden zu greifen, die mit Marias Tod verbunden waren. Einer dieser Fäden war Marlene Romero, die Pastorin, eine Freundin von Maria, die Maria und ihn vor einem Jahr getraut hatte – und die, wie sich herausgestellt hatte, die Schwester von Richard Berger war.
»Marlene ist ein großartiger Mensch, gütig, selbstlos.« Berger wirkte, als wäre er den Tränen nah und Pfeiffer konnte es ihm nicht verdenken.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor einer Woche. Sie hat mich besucht, mir Trost gespendet. Doro und ich gehen sonntags nicht mehr in die Kirche.«
Das Gespräch erstarb. Berger trommelte leise und stakkatoartig auf der Plastikverkleidung der Beifahrertür und starrte durch die Frontscheibe auf die Straße. Pfeiffer bezweifelte, dass der Reiseveranstalter seine Umgebung wahrnahm. Noch im Hause der Bergers hatten sie diskutiert, ob sie trotz der Warnung die Polizei einschalten sollten. Dorothea hatte versucht, auf ihren Mann einzuwirken, aber Richard Berger hatte sich geweigert, wollte das Leben seiner Schwester nicht gefährden. Pfeiffer hielt das für einen schweren Fehler, doch wäre es um Maria gegangen… er brach den Gedanken ab. Stattdessen wühlte er in seinen eigenen Erinnerungen danach, was ihn selbst mit Marlene Romero verband. Ihm fielen Abendessen ein, Partys, die Maria organisiert hatte, aber nichts, was einen Verrückten dazu treiben konnte, die Pastorin zu entführen.
»Er hat Sie einen Ausbeuter, einen Kapitalisten, genannt, mir hat er vorgeworfen, Journalisten kümmerten sich nicht um die Probleme der Menschen. Gibt es etwas, dass Marlene getan haben könnte, was die Aufmerksamkeit des Täters geweckt hat?«
Richard Berger schien wie aus seinen Gedanken gerissen, er kratzte sich den stoppeligen Kinnbart, dann schüttelte er den Kopf, wie einer, der nicht wusste, was er denken sollte. »Ob es etwas gibt, was man der evangelischen Kirche vorwerfen kann? Sicher. Aber hätte er dann nicht genauso gut einen katholischen Priester entführen können?«
Pfeiffer nickte unbestimmt und fand keinen Ansatz, die Fäden zu verbinden. Maria, Marlene Romero, die Bergers, er selbst. Wenn es darum ging, Symbole für einen Werteverfall, für Fehler im System auszuwählen, warum dann gerade sie? Die Ahnungslosigkeit setzte sich wie ein Geschwür in Pfeiffers Kopf fest, der Täter war ihnen voraus, sie stolperten ihm blind hinterher.
Sie überquerten die Leunabrücke, die Uhr des Opels zeigte 19:31 Uhr. Linker Hand erstreckten sich nun kahle Felder, rechter Hand das Industriegebiet. Pfeiffer folgte dem Navigationsgerät durch einen Kreisverkehr und in das Labyrinth aus Bürogebäuden, Fabrikhallen, Schornsteinen und Gasleitungen. Eine Weile fuhren sie geradeaus, der einsetzende Sprühregen und die schwachen Laternen verwandelten das Straßenbild in eine Art apokalyptisches Detroit. Sie erreichten ihr Ziel in der Nähe einer Ansammlung riesiger Gas-Tanks und langgezogener Lagerhallen, die von einem stabilen Gitterzaun abgesperrt wurden. 19:43 Uhr. Sie stiegen aus, Pfeiffer setzte seinen Fedora auf und sah sich um. Es gab in der Nähe keinen Eingang und Stacheldraht verhinderte, dass man auf das Gelände klettern konnte, doch zwanzig Meter weiter erkannte er einen Zettel, der in einem Plastikumschlag an den Zaun gebunden war. Ein Pfeil war darauf zu sehen, der die Straße hinunter deutete und außerdem die Zahlen: 20:05 .
»Ob das eine makabere Schnitzeljagd wird?«, dachte Pfeiffer. Sie folgten dem Wegweiser bis zum Ende des Geländes, wo sie auf eine alte Gleisanlage trafen, die augenscheinlich nicht mehr genutzt wurde. Ausrangierte Waggons verrosteten hier, sie stiegen über die rutschigen Gleise hinweg, bis Berger einen Güterwagen entdeckte, an dem ein weiterer Zettel befestigt war. 20:05 . Kein Richtungspfeil.
Der Reiseveranstalter deutete auf eine spaltbreit geöffnete Schiebetür. Vorsichtig gingen sie darauf zu, lauschten auf Geräusche und als außer dem fernen Verkehr nichts weiter zu hören war, zogen Sie gemeinsam an dem Türbügel. Ein metallisches Quietschen begleitete ihre Bemühungen.
»Wir hätten Taschenlampen mitnehmen sollen«, sagte Pfeiffer und suchte die Funktion seines Diensttelefons. Er fand sie, doch der Lichtkegel seiner Handykamera fiel in einen leeren Raum. Über dem Eingang war ein alter, wahrscheinlich defekter Baustrahler montiert, sonst nichts. Eine überraschte Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er sah auf das Display, noch fünf Minuten bis 20:05 . Berger stand ratlos neben ihm, Pfeiffer leuchtete erneut die Wände ab, da bemerkte er ganz am Ende des Waggons zwei kleine Gegenstände. Nach kurzem Zögern nickten sie einander zu und kletterten ins Innere des Wagens, Pfeiffer dynamischer als der rundliche Berger. Die beiden Objekte entpuppten sich aus der Nähe als ein dicker, brauner A4-Umschlag und ein kleines Päckchen.
Christian Pfeiffer stand auf dem Umschlag. Richard Berger auf dem Paket.
»Eine Bombe?« Die Stimme des Reiseveranstalters klang zittrig.
Unwahrscheinlich, dachte Pfeiffer und wenn, dann würde sie wohl erst in vier Minuten hochgehen. Er griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Heraus kam ein Konvolut von Bildern und Schriftstücken, ausgedruckt auf billigem A4-Papier. Das erste Foto zeigte einen Mann mit gestutztem, grauen Bart, der ein kariertes Hemd trug und gerade ein Gebäude durch einen unscheinbaren Eingang verließ. Unter dem Bild stand ein kleiner Text.
Klaus Töpfer beim Verlassen des Venustempels.
»Das ist der Mann, der sich vor meinem Haus erschossen hat!«, rief Berger überrascht. Pfeiffer nickte, er erkannte den Mann aus dem Video ebenfalls, wenngleich er auf dem Foto wesentlich gepflegter erschien. Vor allem aber kannte er den Venustempel aus Recherchen. Ein Bordell, nach außen hin legal, doch hinter den Kulissen ein Hort illegaler Prostitution.
Auf der nächsten Seite waren zwei E-Mails abgedruckt. Derselbe Klaus Töpfer, der den Tempel verließ, forderte einen seiner Vertrauten auf, ein Reiseunternehmen zu finden, das Fahrten von Sofia nach Frankfurt organisieren konnte. Der Vertraute hatte geantwortet, dass Berger-Reisen die Busse bereitstellen würde. Zehntausend Euro pro Fahrt und es würden vom Inhaber keine Fragen gestellt.
Pfeiffer sah auf und selbst im Halbdunkel des Handytaschenlampenlichts konnte er sehen, dass Bergers Gesicht bleich geworden war.
»Das war…«, stammelte Berger. »Ich wusste doch nicht…«
Doch bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, flammte plötzlich Licht auf, als leuchtete jemand mit einem Scheinwerfer in den Waggon. Die beiden Männer wirbelten herum, wurden geblendet, Pfeiffer schirmte die Augen mit den Papieren ab. Der Baustrahler über dem Eingang leuchtete gleißend hell. Daneben erkannte er nun auch eine Webcam.
»Haben Sie das Foto von Marlene Romero schon entdeckt?«, rief jemand außerhalb. Pfeiffer brauchte keine Sekunde, um die Stimme zu erkennen, es war der Anrufer, der Unbekannte auf dem ersten Video. Pfeiffer spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, wie Adrenalin sämtliche Furcht verdrängte und einen Jagdinstinkt weckte, der stärker war als je zuvor in seinem Leben. Vergessen waren die Emails, die Richard Berger belasteten, mit einem Menschenhändler zusammengearbeitet zu haben. Mit einem Mal gab es nur noch den Drang, diesem Mann, von dem er nichts als die Stimme kannte, Schmerz zuzufügen, ihn büßen zu lassen für das, was er Maria angetan hatte. Doch bevor Pfeiffer zum Eingang rennen konnte, kletterte der Unbekannte selbst leichtfüßig in den Wagen. Er war auffällig groß und schlank, trug eine Jeans und eine Jacke aus braunem Lederimitat. Sein Gesicht lag im Schatten, er hielt sich außerhalb des Lichtkegels, der wie ein Scheinwerfer auf Pfeiffer und Berger gerichtet war.
»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er und ein bösartiger Unterton lag in seiner Stimme. »Ah, ah, ah, bleiben Sie stehen, Christian Pfeiffer, ich bitte Sie, ich bin bewaffnet. Sie enttäuschen mich, wenn Sie glauben, dass ich mich Ihnen zum Fraß vorwerfen würde.« Er zog eine Pistole betont langsam aus der Jackentasche und richtete sie auf seine beiden Opfer.
»Wo ist Marlene, du Widerling?«
»Eine hervorragende Frage, Herr Berger, die wichtigste des heutigen Abends. In einem fensterlosen, luftdicht verschlossenen Kellerloch und die Antwort befindet sich nur an einem Ort. Hier.« Er tippte mit dem Lauf der Pistole gegen seine Stirn. »Also reißen Sie sich zusammen und tun Sie, was ich sage. Öffnen Sie bitte das Paket, Herr Berger.«
»Sollen wir alle gemeinsam in die Luft gesprengt werden?«, warf Pfeiffer ein, damit der Mann weiterredete, irgendetwas preisgab.
»Ich bitte Sie! Menschen in die Luft zu jagen ist nicht mein Stil.«
»Sie zu entführen und in den Selbstmord zu zwingen dagegen schon.«
»Nein, das ist nicht wahr, ich zwinge niemanden. Jeder Mensch hat eine Wahl. Klaus Töpfer hatte eine und er hat sich entschieden, den Pfad der Tugend gegen Habgier und Wollust einzutauschen. Marlene Romero konnte wählen und hat die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen. Beide wurden von ihren Entscheidungen eingeholt.«
»Und was ist mit Maria, du dreckiges Arschloch? Was hat sie getan, dass du… dass sie…« Pfeiffer konnte es nicht aussprechen. Wut, Hass und Ohnmacht brannten ihm in den Augen.
»Sie hatte die Wahl, ihren Mitmenschen oder sich selbst zu helfen. Die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung war ihr Untergang. Ihre Gleichgültigkeit, Christian Pfeiffer, denn auch Sie hatten eine Wahl und haben sich entschieden, wegzusehen. Schauen sie sich die fünfte Seite an.«
Mit zitternden Händen blätterte Pfeiffer weiter. Was er sah, brauchte er nicht einmal zu überfliegen. Eine Nachricht von Konstantin Magnus, seinem Chef, ein halbes Jahr alt. Die strikte Anweisung, nicht mehr zu recherchieren, kein Wort in der FGZ über Menschenhandel, Prostitution. Stattdessen Versetzung zur Online-Redaktion.
»Sie hätten weitermachen und Ihren Job riskieren können«, sagte der Unbekannte. »Sie haben sich anders entschieden. Und damit kommen wir zu Herrn Berger! Denn der hatte ebenfalls eine Wahl und hat sie sogar jetzt noch! Er muss das Paket nicht öffnen, aber dann erstickt seine geliebte Schwester, die ach so selbstlose Pastorin, in einem kalten Kellerloch und niemand weiß, wo man ihre Leiche finden kann.«
»Schon gut!«, rief Berger. Langsam, wie in Zeitlupe kniete er nieder und öffnete mit zittrigen Händen das Paket. Dann erschrak er und zuckte zurück.
»Nehmen Sie sie, na los doch«, sagte der Unbekannte. »Zeigen Sie uns Ihren Fund.«
Zitternd stand Richard Berger auf und drehte sich um. In der Hand, wie in Trance darauf starrend, hielt er eine Pistole.
»Dieselbe mit der sich Klaus Töpfer vor ihrem Haus erschossen hat.« Die Stimme des Unbekannten klang betont ruhig, doch es lag Aufregung, ja sogar Freude darin, als spielte er ein Spiel, von dem er sicher war, es zu gewinnen. Aufreizend lässig steckte er seine eigene Waffe wieder in die Jackentasche. »Eine Kugel befindet sich im Magazin, Herr Berger, nur eine. Ihre Entscheidung, was sie damit tun. Sie könnten mich erschießen, aber wir wissen beide, dass sie das nicht sollten.« Er wartete ab, Richard Berger war wie erstarrt.
»Oder Sie töten sich selbst. Ich schlage Ihnen etwas vor! Sie werden in die Kamera sehen und laut und deutlich sagen:
›Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‹
Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten. Wenn Sie das getan haben, wird Christian Pfeiffer das Video auf der Seite der FGZ hochladen. Ich verrate im Gegenzug der Polizei, wo Marlene Romero gefangen gehalten wird. Sie sehen, ich zwinge niemanden. Ihre Entscheidung, Herr Berger.«
Er hob den Arm in Richtung der Webcam und drückte auf eine kleine Fernbedienung. Mit einem roten Licht zeigte die Kamera an, dass sie aufzeichnete.

Fünfter Teil

Endlich

von @Heather

»Action, Herr Berger! Die Augen der Öffentlichkeit sind erwartungsvoll auf sie gerichtet.«

Berger begann zu wimmern. »Machen sie das aus, ich flehe sie an! Ich … kann das nicht. So will ich nicht sterben, aber sie dürfen Marlene nichts tun. Bitte!« Tränen und Rotz liefen ihm über die Lippen und er schluchzte zum Gotterbarmen. Die rote Leuchtdiode über der Kamera erlosch. Der Wahnsinnige hatte die Aufzeichnung unterbrochen.

»Okay, your choice! Dann telefoniere ich jetzt mal kurz, damit sich jemand um ihre liebe Schwester kümmert. An ihren Händen, Berger, klebt nicht nur Blut, sie sind dann über und über damit besudelt! Manche würden ihr Verhalten mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Menschen entschuldigen – ich nenne es Feigheit.«

»Halt … halt!«, heulte Berger auf, als hätte man ihn getreten, »ich tu´s ja.« Ein dunkler Fleck breitete sich in seinem Schritt aus. Als wäre Angst nicht alleine schon grausam – sie raubte ihren Opfern jede Würde.

»Gute Entscheidung. Wenn nicht, wäre ich gerne behilflich. Wie bei Maria; die Ärmste schaffte es auch nicht aus eigener Kraft.« Pfeiffer biss sich vor unterdrückter Wut auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes tun!

Das Lämpchen über der Kameralinse glomm erneut auf. Der Journalist hatte die ganze Zeit in Panik erstarrt abgewartet, aber seine Gedanken liefen auf der Suche nach einem Ausweg Amok. Hier ging es nicht um moralische Werte – das war ein beschissener, persönlicher Rachefeldzug und sie könnten niemals gewinnen, wenn sie nach den Regeln dieses Irren spielten. Es musste hier und jetzt enden, aber nicht so!

Inzwischen hatte sich Berger etwas gefasst. Er sah in die Kamera und sagte: »Ich … bin …«, dann warf er Pfeiffer einen flehenden Blick zu, » ähm … bitte, sagen sie meiner Frau, es tut mir leid!« In einer unerwartet schnellen und fließenden Bewegung hob er die Pistole, setzte die Mündung unter sein Kinn und drückte ab.

»Himmel, nein!« Pfeiffer schloss in Erwartung eines Knalls reflexartig die Augen. Doch er hörte nur ein ›Klick‹. Pause. Jemand klatschte Applaus.

»Bravo, großes Kino!« Aus dem Schatten trat der Mann in das Licht des Scheinwerfers und grinste Berger selbstgefällig an. Den Journalisten ignorierte er.

»Aber sie sollten doch nicht gehen, ohne zu wissen, wer ich bin. Gesehen haben wir uns ja schon mal, sie erinnern sich. Ich bin Georgi Petrov. Für meine wundervolle Tochter wurde vor einem Dreivierteljahr eine ihrer Spezial-Reisen gebucht, Herr Berger. Sofia-Frankfurt, einfache Fahrt. Sie hatte in ihrem kurzen Leben kein Glück und hatte geglaubt, deshalb auch keine andere Wahl zu haben. In der Pathologie des Uniklinikums habe ich sie dann wiedergesehen, um sie zu identifizieren. Man hatte sie halbtotgeschlagen, weil sie nicht bereit war, ihre Reisekosten auf die geforderte Art und Weise im ›Venustempel‹ abzuarbeiten. Wie einen Sack Abfall hatten Klaus Töpfers Schläger sie in einer Seitengasse zum Sterben entsorgt. In der Klinik konnte man nichts mehr für sie tun. Sie starb um 20:05 Uhr. In der Zeit danach habe ich Marlene, die noch den Nachnamen ihres verstorbenen Mannes Romero trägt, kennengelernt. Sie arbeitet ehrenamtlich als Notfallseelsorgerin in der Krisenintervention, wissen sie das? Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Unsere Beziehung hielten wir jedoch geheim, und es war reiner Zufall, als wir erfuhren, dass ausgerechnet ihr Bruder Richard als Reiseveranstalter in diesen Menschenhandel verwickelt war. Ein unfassbarer Schock für uns! Ich war wie besessen, musste irgendetwas tun und fand Trost darin, meine Trauer und die Wut in einen Plan zu verwandeln. Marlene hat mitgespielt, obwohl sie ihn verabscheut. Also, verderben sie ihn mir nicht auch …«

Erheblich verspätet … kam der Knall jetzt doch!

Das Geräusch war von solch hässlicher Endgültigkeit, dass Pfeiffer glaubte, die Realität sei detoniert und er selbst dabei in Stücke gerissen worden. Im selben Augenblick hatte ganz Frankfurt scheinbar zu Atmen aufgehört. Georgi Petrov schaute die beiden Männer entrückt an, gleich einem Kind, dass sich wundert, wie aus einem klaren, blauem Himmel plötzlich ein Wolkenbruch niedergeht. Er blickte auf seine Brust, zog, wie in Zeitlupe, den Reißverschluss seiner Kunstlederjacke herunter und bestaunte die samtrote Pfingstrose, die auf seinem weißen Hemd erblühte. Der große Mann hielt sie sanft umschlossen und fiel wie zum Gebet erst auf seine Knie, um dann vornüber auf den Waggonboden zu kippen.

Es war vorbei! Die Zeit stand still. Es dauerte, bis der Grundton der City zurückkehrte und sich die vertrauten Obertöne einer lebendigen Metropole wieder hinzugesellten. Es roch nach nassem Rost und die Luft schmeckte sogar metallisch. Die Wirklichkeit hatte sich neu zusammengesetzt.

Vor dem Güterwaggon stand Dorothea, in beiden Händen den Smith&Wesson Revolver ›für Notfälle‹ aus dem Tresor der Bergers und starrte auf den Mann, den sie soeben kaltblütig von hinten erschossen hatte.

Pfeiffer sprang ungelenk vom Wagen und half dem untersetzten Reiseunternehmer hinunter. Der ältere Herr wirkte psychisch schwer angeschlagen, und Pfeiffer sorgte sich ernsthaft um ihn. Dennoch schwor sich der Journalist, die ganze Story ohne Rücksicht öffentlich zu machen. Zu viele Menschen waren einen sinnlosen Tod gestorben! Selbst wenn das bedeutete, Magnus den Job vor die Füße zu knallen!

Hinter Dorothea Berger, am Rand des Gleisbetts, hielt ein dunkler Mittelklasse-SUV mit laufendem Motor. Die mitteldeutsche Dezembermischung aus Regentröpfchen und Reif ließ den Lack funkeln.

»Unser Zweitwagen«, stellte Berger überrascht fest. »Doro, was machst du überhaupt hier?«

Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt und aus dem Sprühregen wurde Griesel. Feine Eiskörnchen raschelten und knisterten auf dem Autodach. Pfeiffer wollte seinen Fedora tiefer in die Stirn ziehen, doch sein Griff ging ins Leere. Sein Hut lag neben dem Toten im Waggon, mitten im wachsenden Pfingstrosenbeet. Er war ein Geschenk Marias gewesen. »Damit du immer gut behütet bist«, hatte sie gesagt.

Dorotheas Unterlippe zitterte vor Erregung und Kälte. Sie weinte lautlos, mit Stil.

»Ich wurde angerufen, kaum dass ihr aus dem Haus wart.« Sie wehrte den Versuch einer Umarmung ihres Mannes harsch ab. Ihre Mimik bestärkte die Geste des Widerwillens. »Nein, Richard, fass mich nicht an! Sieh, wozu du mich gebracht hast! Das und all das andere Schreckliche werde ich dir niemals verzeihen. Du ekelst mich an. Such nicht nach mir, denn ich will dich nie wiedersehen!« Martinshörner näherten sich aus der Ferne. Sie zeigte vage in die Richtung. »Die habe ich angerufen. Versuche, bei ihnen Absolution zu finden.«

Achtlos ließ Dorothea Berger den Revolver fallen und kehrte dem Schauplatz den Rücken. Einer Trauerweide gleich, mit ihren hängenden Schultern, aber mit trotzig erhobenem Kinn, ging sie um das wartende Fahrzeug herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Person am Steuer wandte ihr Gesicht den Männern zu. Ihre Augen waren die eines Menschen, der einmal zu oft die Endlichkeit gesehen hatte.

Marlene lächelte traurig und gab Gas.

Diese Geschichte wurde über vier Schreibwochen gemeinsam in der Community geschrieben.

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