Die Vergessene
Ich treibe durch Leere, das absolute Nichts, einen unendlichen Ozean der Gestaltlosigkeit, in dem ich weniger als ein Tropfen bin. Selbst die Farben sind gewichen. Alles, was ich sehe, gleicht der Tonlosigkeit geschmolzenen Bleis. Ich hätte Schwarz bevorzugt, satt und alles bedeckend, aber hier ist alles Grau, wie die zerstörte Hälfte meines Gesichtes. Ich spüre, wie ich dahinschwinde, Stück für Stück. Jahrhunderte dauert er schon an, dieser schleichende Prozess der Zersetzung oder sind es Jahrtausende? Ich lache von Zeit zu Zeit, lache, um meine Stimme zu hören, lache, um nicht wahnsinnig zu werden. Meine Stimme ist grausam schön. Ihr Echo tröstet mich. „Wie lange noch?“, denke ich, „wie lange, bis ich endgültig verschwunden bin, mich aufgelöst habe, wie die Götter vor mir?“
Das ist es, was sie mir nicht rauben konnten, meine Gedanken. Das ist mein Halt und mein Trost. Wieder lache ich und das Echo meiner Stimme hallt durch die Korridore meines einsamen Gefängnisses. „Worüber beschwerst du dich?“, jagt es mir durch den Kopf, „ist das nicht das Los aller Götter, die sich gegen ihr Schicksal aufgelehnt haben? Besonders das der rebellischen und der bösen? Prometheus, der den Menschen das Feuer brachte, und dafür an einen Berg gekettet wurde und Loki, den sie an einen Stein fesselten. Und das war nur ein Teil der Strafe.“ Ich lache und die dämonische Seite in mir windet sich in konvulsivischen Zuckungen, während die schöne betreten zusieht. Prometheus wurde von einem Adler besucht, der täglich seine Leber fraß - was heißt wurde besucht - wird er wohl noch, und Loki, der kleine Ränkeschmied, der bösartige Trickstergott, hat es mit einer Schlange zu tun, die fortwährend giftige Säure auf ihn träufelt. Auch bei ihm hat die Strafe etwas immerwährendes, denn Ragnarökk wurde abgesagt wegen mangelnder Beteiligung der Gläubigen…Ich lache bei diesen Bildern und über das Lachen bemerke ich nicht, wie ich fort gesogen werde. Fort, an einen anderen Ort. Erst als ich spüre, wie jede Faser meines Körpers unter dem Druck des Übergangs erbebt, begreife ich. Aber da ist es längst zu spät.
Als ich die Augen wieder öffne, befinde ich mich in einem leuchtenden Bannkreis. Silberstaub, nordische Runen, meine Hochachtung, hier war ein Meister am Werk. Vorsichtig strecke ich den Zeigefinger aus und berühre den Wellenfluss der rot leuchtenden Kuppel, die mich vollständig umschließt. Ein Zischen antwortet mir, begleitet von der Empfindung brennenden Fleisches. Ja, sie tut, was sie soll. Ich schiebe den Vorhang meines schwarzen Haares zurück um einen Blick auf meinen Peiniger zu werfen. Vor mir sitzt ein Mann in einem weißen Anzug. Alles an ihm ist weiß, selbst das samtene Einstecktuch, das sorgfältig gefaltet aus seiner Brusttasche lugt. Er hat das rechte Knie übergeschlagen und sitzt da wie eine Heiligenfigur, hoch aufgerichtet, den Blick starr geradeaus gewandt. Aber der Kopf, aus dem mir dieser Blick entgegen gesendet wird, ist nicht menschlich. Es ist der Kopf eines schwarzen Wolfes, der sich mir entgegenstreckt. „Fenris“, denke ich, „bist du das, geliebter Bruder?“ Aber nein, das kann nicht sein. Ich sehe genauer hin und erkenne meinen Irrtum. Fenris Macht zeichnet sich aus durch ungeheure Zerstörungswut und Körperkraft, gepaart mit dunkelster Magie. Die Aura dieses Gottes ist anders, sanfter und kühler aber mit ebenso großer Macht. Ich sehe es an seinen Augen, die mir, über der langgestreckten, schmalen Schnauze, gleich Bernstein entgegen funkeln.
Der Wolf, Hund, was auch immer, hebt seine Lefzen und deutet mit seinem makellos weißen Gebiss ein Lächeln an. Seine Reißzähne blitzen. Unablässig schaue ich auf den Stab, den er in den behandschuhten Händen dreht. Er ist aus schwarzem Holze und bedeckt mit fremdartigen Zeichen. Auf dem gewundenen Schaft erkenne ich eine Schlange, einen Adler und einen Mann mit einem Falkenkopf. Der silberne Griff ist einem Wolfsschädel nachempfunden. Ob es eine Waffe ist?
Der Wolf, Hund, erhebt sich. Ich sehe seine glänzenden Schuhe näher kommen, höre das Klicken seines Stabes auf den marmornen Fliesen. Einen Fußbreit von dem Rand des Bannkreises entfernt bleibt er stehen und lächelt mich wölfisch an. Er tippt leicht gegen das gestreute Silber, das ihm zischend antwortet.
„Ich bin weder Wolf noch Hund, „Schakalgott“ lautet die korrekte Bezeichnung. Nein, ich bin gewiss nicht Fenris und ja, das hier ist eine Waffe. Eine sehr nützliche, wenn ich das hinzufügen darf, neben vielen anderen Dingen.“
Er schultert lässig seinen Stab und beugt sich zu mir herunter.
„Überrascht?“
Bei Helheims Höllenschlund, hatte er etwa meine Gedanken gelesen? Ja, das hatte er, und er tat es wahrscheinlich noch. Oh, ich Närrin! Wie konnte ich nur so unachtsam sein?
„Das ist verzeihbar“, sagt der Schakal im Anzug mit gefährlich sanfter Stimme, „Ihr seid etwas aus der Übung. Kein Wunder, nach jahrhundertelanger Einkerkerung. Hat Euch mein kleines Gefängnis gefallen? Vermutlich, wisst ihr nicht einmal, wo ihr Euch befunden habt. Oder doch? Nein? Ich will Euch erhellen. Ihr wart im Leib der Apophis, einer alles verschlingenden Anti- Gottheit. Äußerlich eine Schlange, ist sie das genaue Gegenstück zu Eurem Bruder, dem Fenriswolf. Beide sind Weltenverschlinger, kosmische Entitäten, Schwarze Löcher, sozusagen, nur das ihre Energie magisch gespeist wird, vorzugsweise durch die Kraft anderer Götter.“
Er trommelt mit den Fingern auf das Holz seines Stabes, vermutlich, um nach neuen Worten zu suchen. Soll er reden, das verschafft mir die Gelegenheit meine geistigen Barrieren zu errichten…
„Aber woher sollt Ihr wissen, was ein Schwarzes Loch ist, geschweige denn eine kosmische Entität? Ihr trinkt mit Honig gepanschten Wein und glaubt, dass die Erde eine Scheibe ist und das Universum ein Baum. Überraschung! Ist es nicht.“
Er beugt sich noch weiter hinunter, prüft, ob ich zuhöre.
„Aber wie soll eine Leichensammlerin wie Ihr die Wissenschaft verstehen?“
Leichensammlerin, denke ich, wie vermessen. Ich habe die Toten abgeholt und in die Unterwelt geführt, das ist wahr. Aber ich war eine gütige Herrscherin. Kinder, Frauen und alte Leute habe ich mit Freuden aufgenommen, ihnen habe ich das Paradies geschenkt, nur die Mörder und Feiglinge habe ich bestraft.
„Rede weiter, Schakal“, sage ich, „nur zu, ich bin ganz Ohr.“ In Wahrheit bin ich schon bei Schwarzes Loch ausgestiegen.
„Anubis ist mein Name, kleine Göttin“, verkündet der Schakal, „Ankläger und Vollstrecker des Totengerichts.“ Er setzt sich dicht vor mir in die Hocke und streckt mir seinen kantigen Schädel entgegen. Seine gelben Augen gleißen, in seinem Stab knistert Macht. „das ist mein Titel und so werdet Ihr mich von nun an ansprechen, ist das klar?“
„Und wenn ich es nicht tue?“
Der Schakalgott blickt zur Decke, dann zu Boden, schüttelt den Kopf.
„Dann werde ich Euch töten, obwohl, wenn ich ehrlich sein darf, töten werde ich Euch sowieso. Habt Ihr den rötlichen Schimmer der Kuppel bemerkt, die euch umschließt? Er hebt den Stab und klopft sacht gegen die fluktuierenden Felder, die sich knisternd entladen.
„Sie besteht aus reiner magischer Energie, gewonnen aus der Kraft der Götter, die ich hier vor Euch eingeschlossen habe. Erahnt Ihr den Zweck?“
Ich schüttele den Kopf, was hat er vor?
Anubis fletscht mit den Zähnen, was einem Grinsen gleich kommt. Seine Augen funkeln böse.
„Das dachte ich mir. Ich will es Euch erzählen. Das ist nur fair, da Ihr diesen Ort nicht mehr lebend verlassen werdet.“
Ich hätte große Lust ihm ins Gesicht zu spucken.
„Ihr seid zu großzügig.“
„Ich weiß.“
„Ich stelle mich auf einen weiteren Vortrag von ihm ein und werde nicht enttäuscht. Anubis schwenkt mit großer Geste den Stab und beginnt zu erzählen:
"Wie Ihr wisst, haben die alten Götter im Laufe der Jahrhunderte immer mehr an Bedeutung verloren. Alle Götter, auch wir Todesgottheiten. Wir wurden dämonisiert, gegen andere Götter ersetzt und gerieten dadurch in Vergessenheit. Eine wahre Schande. Unsere Reiche, einst blühende Stätten unseres Wirkens, wurden vor unseren Augen verschlossen. Damit waren wir so gut wie tot.“
Anubis hält inne und sieht mich aus gleißenden Schakalaugen an. Ich spüre, wie die Luft um ihn erzittert.
„Ich habe mich nie damit abgefunden. Isis und Osiris mögen verschwunden sein, ebenso Horus und der weise Thot. Selbst mein böser Bruder Seth ist von uns gegangen, aufgelöst in seinem eigenen Chaos. Aber die Felder der Seeligen existieren noch und dorthin will ich zurückkehren. Ich habe den Schlüssel dazu. Leider hat die Sache einen Haken: Um das Tor zur Unterwelt zu öffnen, brauche ich gewaltige Energiemengen. Erst dann wird sich die Duat mir auftun.“
Das also ist sein Plan. Eine Böse Vorahnung überkommt mich und seine nächsten Worte bestätigen meinen Verdacht.
„Unglücklicherweise sind nicht alle Energien dazu in der Lage.“
Anubis lässt den Stab sinken. Er stellt sich direkt vor die rot schimmernde Kuppel und sieht mich mit seinen Bernsteinaugen an.
„Ich habe es mir nicht leicht gemacht, das dürft Ihr mir glauben, aber am Ende stellte sich nur eine Kraft als geeignet heraus. Die Magie von uns Todesgöttern. Sie, und nur sie allein vermag die magischen Siegel zu lösen und die Tore zur Duat zu öffnen. Also habe ich getan, was getan werden musste. Ich habe sie hierher zitiert, die Todesgötter der anderen Familien, Yama, Thanatos, Izanami und wie sie alle heißen, und sie sind gekommen, nichtsahnend, und ich habe sie unter diese Kuppel gestellt, genau, wo Ihr jetzt steht, und ihnen ihre Essenz genommen.“
Anubis legt den Kopf schräg und betrachtet mich wie ein seltenes Ausstellungsstück. Als er spricht, ist seine Stimme kühl und distanziert.
„Aber es reichte nicht. Ich wollte meinen Plan schon aufgeben, als ich mich erinnerte, dass es da noch eine weitere Todesgöttin gibt: Euch! Ich hatte Euch damals in dem Leib von Apophis zurückgelassen, als Aktivposten, sozusagen, und jetzt habe ich Euch wieder hervorgeholt. Ich bin dicht davor, das Tor zu öffnen, es fehlt nur noch ein Hauch von Energie, eine Winzigkeit, und die, kleine Göttin werdet Ihr mir nun geben.“
Nach den Worten des Schakals tritt Stille ein. Ich schweige. Was soll ich auch sagen? Es wurde bereits alles gesagt. Schließlich, nach sekundenlangem Warten, fange ich doch an zu sprechen.
„Bravo, das habt ihr wunderbar eingefädelt.“
„Danke.“ Anubis macht einen Ausfallschritt und deutet tänzelnd eine Verbeugung an.
„Ich hoffe Ihr krepiert dabei.“
„Zu gütig. Ihr habt sicher bemerkt, dass Ihr schon schwächer werdet? Das sind die Kräfte des magischen Feldes , es saugt Euch aus, verzehrt Euch, verschlingt eure Atome, bis ihr Eins mit der Kuppel seid. Dann extrahiere ich eure Essenz und gebe sie dem Gemenge der anderen Gottheiten bei.“
„Ihr seid ein Teufel“, zische ich, „schlimmer als euer Bruder Seth.“
„Ihr vergleicht mich mit Seth?“ Anubis entblößt die Zähne, mein Vergleich amüsiert ihn.
„Seth war ein Schurke. Ich bin Wissenschaftler.“
„Ja“, erwidere ich, „ein Wissenschaftler des Bösen.“
„Nennt es, wie es Euch beliebt.“
Der Schakalgott greift nach seinem Taschentuch und betupft sich die Stirn. „Ich spüre, wie sich die Hitze im Raum ausbreitet, das bedeutet dass der Zersetzungsprozess im vollen Gange ist. Das erinnert mich an Yama, er hat die Tortur der Auflösung klaglos über sich ergehen lassen, ein wahrer Gott bis zuletzt. Anders Izanami. Die hat geschrien und getobt und mich tausendfach verflucht. Ich bin mir sicher, sie hätte weiter geflucht, wenn sie nicht vor meinen Augen zu Staub zerfallen wäre.“
Während mir die Worte des Schakals noch in den Ohren gellen, blicke ich zur Kuppel hinauf und erschaudere. Diese wabernden Ströme rot leuchtender Magie, das waren alles Götterbrüder und – Schwestern. Ich habe sie nie kennenlernt, dennoch spüre ich Verlust und Schmerz. Während ich auf die Kuppel schaue, kommt mir ein weiterer furchtbarer Gedanke: Was wird aus den Menschen, ohne die Möglichkeit zu sterben? Soll Anubis sie alle holen? Vermag er das?“
„Ich werde Euch jetzt verlassen“, höre ich den Schakalgott rufen, es ähnelt mehr einem Knurren als gesprochenen Worten, „ich würde Euch ja gerne Gesellschaft leisten, aber ich muss noch einiges vorbereiten, Ihr versteht. In einer Viertelstunde sehe ich noch einmal nach Euch, dann sollte alles vorbei sein.“
Durch das fluktuierende Feld sehe ich undeutlich, wie sich der weiße Anzug aus meinem Blickfeld entfernt Das Klicken des Stabes wird leiser und verhallt in der Ferne. Ich bin allein.
Kurz darauf beginnt es, ein Reißen und Ziehen, als versuche jemand mein Innerstes nach Außen zu kehren. Das rubinrote Feld leuchtet auf, entfaltet seine todbringenden Kräfte. Ich spüre seine Strahlen wie Geschossgarben in mich eindringen. Jedes kleinste Teilchen schreit in mir.
„Gib nicht auf, die Menschen brauchen dich!“, ruft die schöne Seite in mir, „wenn du jetzt aufgibst, töte ich dich selbst!“, erwidert die andere. Nein, ich werde nicht aufgeben. Ich werde nicht stoisch mein Ende erwarten, wie Yama es tat und ich werde auch nicht schreien und fluchen, wie Izanami und all die anderen. Ich werde kämpfen. Nicht weil ich eine Heldin bin, das war ich nie, sondern weil ich die Letzte bin, die Vergessene, die, die übersehen wurde.
Ich kratze alle Magie zusammen, die mir noch verbleibt, und sende meinen Geist aus. Es gibt ein ehernes Gesetz unter den Göttern, das für alle bindend ist und das lautet: „Eine Gottheit ist nur so stark, wie die Verehrung, die ihr zuteil wird“ und ich bin da keine Ausnahme. Wenn meine Person und mein Wirken in der Menschenwelt nicht ganz vergessen sind, dann müsste ich dafür Zeugnisse finden.Viel Zeit bleibt mir nicht mehr. Ich blende den Schmerz in mir aus und widme mich ganz meiner Aufgabe. Schweiß perlt mir von der Stirn, als ich meine Kräfte bündele und „Hagalaz“ heraufbeschwöre, die Rune des Göttlichen Wirkens. Sie steht in direkter Verbindung mit Mimirs Quelle, wo Odin einst sein Auge für die Gabe der Weisheit gab und wird mir den Weg weisen.
Als erstes sehe ich, wo genau ich mich befinde. Der Ort heißt „Shard“ und ist ein Turm von neunhundert Fuß Höhe. Er liegt in London, welches einst Londinium hieß, am Südufer der Themse. Gleich einem Riesendolch ragt er in den Himmel, seine blau schimmernde Fassade glitzert wie geschliffener Kristall. Ich ahne, weshalb Anubis ihn als sein Hauptquartier erwählt hat; seine Form erinnert entfernt an eine Pyramide. Offensichtlich bin ich nicht die Einzige mit Heimweh. Während ich das Bauwerk betrachte, erfasst mich erneut eine Schmerzwelle. Meine Zeit wird knapp. Wenn ich noch Hinweise auf mein Wirken in der Menschenwelt finden will, dann muss es jetzt geschehen. Rasch knüpfe ich die notwendigen magischen Fäden und verbinde sie mit den blitzenden Impulsen der modernen Zauberei. Das Ergebnis überwältigt mich. Gleich einem Lachs im schimmernden Strom werde ich in eine Flut von Bildern gerissen, die sekündlich vor mir aufflackern und wieder erlöschen. Wohl tausend Mal fällt mein Name. Ich sehe mich in meinem Reich, auf dem Thron sitzend und an der Reling des Schiffes Naglfar, das die Toten zu der letzten Schlacht nach Asgard bringt. Als blutiger Sturm zieht Ragnarökk an mir vorüber, die Götterdämmerung, in der die Kräfte von Gut und Böse gegeneinander kämpfen und untergehen. Auch ich. Manche Bilder wirken starr, wie gefroren im Atem der Zeit, andere bewegen sich, verändern sich stetig, bis wandernde Schriftzeichen erscheinen und das Ende der Schau verkünden. Durch den Äther dringt der Name dieser modernen Magie zu mir. Sie heißt „Popkultur“ und ist wahrlich ein mächtiger Zauber. Und sie ist mein. Mit der Gier der vergessenen Freude stürze ich mich auf sie, verleibe mir jedes Bild ein, reiße jedes Quentchen Kraft an mich, unersättlich, wie ein Schwamm. Und ich wachse, wachse und lache, beflügelt durch den Sog meiner neugewonnenen Macht, und wie ich dies tue, weicht der wühlende Schmerz aus meinen Eingeweiden, gebannt durch einen größeren Zauber.
„Ich bin zurück!“ jubelt es in mir und die Seiten meiner doppelten Natur, die schöne wie die hässliche, stimmen in meinen Siegesgesang mit ein. Berauscht von dem Zauber spreize ich meine Finger und presse sie auf das Runensymbol der Fesselung, in der Mitte des Bannkreises. Das rubinrote Feld feuert ohne Unterlass seinen Strahlen auf mich ab, aber ich lache nur und bade mich in seinen Energien. Es kann mir nichts mehr anhaben. Jetzt bin ich sein Meister. Ein energetisches Zucken, ein letztes Aufflammen und es bricht in sich zusammen. Triumphierend erhebe ich mich. Mit einem Wink meines Fingers zaubere ich ein Kleid aus der Luft, das nun statt der Lumpen meinen Körper bedeckt. Es schillert grün. Ein tannengrüner Umhang erscheint aus dem Nichts und schmiegt sich um meine Schultern. Seine silberne Spange schließt sich wie von Zauberhand. Ich bin zurück.
Anubis ist es auch. Ich höre seine Schritte näherkommen. Noch während er die Tür aufreißt, streckt er seinen Stab nach mir aus. Doch es ist zu spät. Ich hebe die Hand und sein hastig geschleuderter Blitz wird abgelenkt, gestoppt von einem magischen Schild, der grün leuchtend zwischen meinen Handflächen erscheint. Ein zweiter fährt krachend in die spiegelnde Fläche hinter mir. Glas regnet herab, zersprengt in tausend winzige Kristalle. Ein verzweifeltes Stöhnen entringt sich Anubis Kehle, mehr Winseln als Knurren. Seine Faust mit dem Stab zittert. Ich lächle nur.
„Wie…wie ist das möglich? stammelt er, ein unstetes Zucken in den schmalen Augen, „wie konntet ihr meiner Falle entkommen?“
„Ihr habt mich unterschätzt“, sage ich, noch immer lächelnd.
„Offensichtlich“, entgegnet er und weicht vorsichtig ein paar Schritte zurück. Dabei hält er den Stab weiter auf mich gerichtet. Soll er. Ich fürchte ihn nicht. Was jetzt kommt, will ich genießen.
„Eure Falle war gut, das muss ich Euch lassen. Aber Ihr habt einen entscheidenden Fehler begangen.“
„Welchen?“, scheinen seine Augen zu fragen, sein Maul indessen bleibt stumm.
„Das will ich Euch sagen. Oh, seid Ihr überrascht, dass ich Eure Gedanken lese? Auch ich beherrsche diesen kleinen Trick. Nicht, dass er in Eurem Falle notwendig wäre. Euer dummes Gesicht spricht Bände.“
„Sagt schon“, knurrt der Schakal, „wie habt Ihr das angestellt?“
„Oh, das war ganz einfach.“
„Ich warne Euch, Stellt meine Geduld nicht auf die Probe.“
„Zu Drohungen seid Ihr wohl kaum noch in der Lage, also seht Euch vor.“
„Sprecht schon.“
„Also gut.“
Wie schnell das Blatt sich wenden kann. Nun bin ich es, die einen kleinen Vortrag hält.
„Wie Ihr wisst, ist unsere Macht von der Anzahl unserer Gläubigen abhängig und dem Grad ihrer Anbetung. Ihr kennt diese nur aus alten Schriften, die eure Priester verfasst haben und bestenfalls aus Statuen, die man Euch zu Ehren errichtet habt. Aber es gibt noch eine andere, weitaus ergiebigere Quelle der Verehrung. Die Sterblichen nennen sie „Popkultur“. Eurem Staunen entnehme ich, dass Ihr noch nie davon gehört habt. Das ist verzeihlich für einen mit Lapislazuli geschmückten Hund, der glaubt, dass das Pantheon seiner Götter das mächtigste ist und für den ein popeliger Fluss in Afrika das Zentrum der Welt bedeutet. Überraschung, das ist er nicht.“
Danke „Internet“, denke ich, wer auch immer du sein magst.
Ich halte inne. Anubis ist still geworden. Seine Augen indes glühen vor Wut.
„Wo war ich? Ach ja, „Popkultur“. Ich habe herausgefunden, dass es tausende gedruckte Zeugnisse meines göttlichen Wirkens gibt, was sag ich, hunderttausende. Die Menschen nennen sie „Comics“. Und noch etwas habe ich entdeckt: Bewegte Bilder, die im Wechsel von Licht und Dunkel ganze Geschichten zu erzählen vermögen. In einer dieser Geschichten, von den Menschen „Movie“ oder „Film“ genannt, trete auch ich auf, als Gegenspielerin meines Bruders Thor.“
Bei dem Namen „Thor“ krümmt sich Anubis wie unter großen Schmerzen. Ich lasse seinen Stab keine Sekunde aus den Augen.
„Aber es kommt noch besser“, fahre ich mit meiner Rede fort, „allein von diesem Film sind Millionen von Abbildern, sogenannte Kopien, im Umlauf; könnt Ihr Euch vorstellen, wieviel Verehrung das für mich bedeutet? Magie im Überfluss! Ich brauchte sie nur einzusammeln. So gestärkt, war es für mich ein Leichtes Euren Bannkreis zu durchbrechen. Von Euch gibt es übrigens auch einen Film. Aber der war ein Flopp.“
Mit diesen Worten errichte ich einen neuen Schild, gerade noch rechtzeitig, denn ein Blitz aus Anubis Waffe durchschneidet die Luft und rast gleißend auf mich zu. Es knistert, als er auf meine Barriere trifft. Ich lächle geringschätzig.
Ehe Anubis reagieren kann, spreche ich den Zauber der Aneignung und strecke meine Hand aus. Ich sehe die Verblüffung in seinem Schakalgesicht, als ihm der Stab aus den Fingern gerissen wird und leicht wie eine Feder zu mir herüber segelt. Wie beiläufig fange ich ihn auf.
„Ich muss zugeben, anfangs habt Ihr mich verwirrt. Ich dachte der Stab sei der Schlüssel zu Eurem Reich - bis ich den glitzernden Gegenstand unter Eurem Hemd bemerkte. Als ich dann die Magie der Todesgötter darin wahrnahm, die Ihr ermordet habt, war der Fall klar. Dieser Gegenstand ist der Schlüssel zur Unterwelt, nicht Euer Stab. In Euren Gedanken lese ich, dass er Ankh heißt und ein Artefakt von großer Macht ist. Gebt Ihr ihn mir freiwillig oder muss ich ihn mir holen?“
Anubis stößt einen Fluch aus, gefolgt von hundert Verwünschungen.
„Das dachte ich mir.“
Zum zweiten Mal spreche ich den Zauber und nun befindet sich auch das Ankh in meiner Hand. Es ist ein Kreuz aus Silber, mit einem ovalen Bogen im oberen Teil. Durch das kalte Metall spüre ich seine gewaltige Macht.
„Hekau", flüstere ich, das Wort für ägyptische Magie und presse das Ankh gegen meine Stirn, so wie ich es in Anubis Geist gelesen habe. Auf meine Geste hin erscheint ein Licht im Raum, verbreitert sich und wird zu einem weiß glänzenden Tor, hinter dessen Gestalt fremde Sterne leuchten; der Eingang zur ägyptischen Unterwelt.
In diesem Moment wirft sich der Schakal mit einem Schrei auf mich und versucht mir das silberne Henkelkreuz zu entreißen. Gemeinsam stürzen wir in die Leere. Anubis ist durch den Kampf geschwächt, ich hingegen auf dem Höhepunkt meiner Kräfte. Mühelos stoße ich ihn von mir, direkt vor das Maul von Apophis, der Endzeitschlange, die hinter der Schwelle gelauert hat. Mit schnappenden Kiefern gleitet sie heran. Der Schrei, den Anubis ausstößt, als ihn die gigantische Schlange verschlingt, ist Musik in meinen Ohren. Nachdem sie den Schakal-Gott verspeist hat, windet sie sich in weiten Bögen in meine Richtung, doch das Ankh beschützt mich. Geblendet von seinem göttlichen Licht, rollt sich die dunkle Kreatur zusammen und versinkt in der Finsternis. „Bleib“, möchte ich ihr nachrufen, „fürchte dich nicht. Ich verschaffe dir mehr zum Fressen.“
In weiter Ferne erblicke ich wogende Kornfelder, unter einem blauen, wolkenlosen Himmel. Die Felder der Seeligen. Bei ihrem Anblick fallen mir die Worte meines Vaters, Odin des Allweisen, ein.
„Kind“, hatte er gesagt, „du musst Asgard verlassen, denn alle fürchten sich vor dir. Aber sei nicht traurig. Du wirst dein eigenes Reich erhalten, mit tausenden von Untertanen. Und täglich werden es mehr werden. Glaube mir, von allen Aufgaben ist deine die wichtigste. Straferin wirst du sein, grausam und unerbittlich, aber auch Trösterin, liebevoll und sanft.“
Ich sehe meinen Vater noch vor mir, stark und stolz, und dieses eine Mal, das einzige Mal, schließt er mich in die Arme. Die Erinnerung daran ist so frisch wie am ersten Tag. Was er wohl sagen würde, wenn er mich jetzt sehen könnte?
Ich lächle und das erste Mal seit Jahrhunderten bin ich wahrhaft glücklich. Hier, in der ägyptischen Unterwelt, werde ich mein neues Reich errichten, ich, Hel, letzte Göttin des Totenreichs.