Seitenwind Woche 7: Göttlicher Auftritt

Thors Tales

„In den nebelverhangenen Hallen und hallenden Gängen von Asgard, wo Heldenlieder gesungen werden und Götter in ewiger Pracht thronen, beginnt unsere Geschichte.“

„Mach mal halblang.“

„Zu schwülstig?“

„Wie ein Pfau in der Paarungszeit, Bruder.“

„Loki, du nervst. Irgendwas muss ich doch erzählen beim Berufsvorstellugnstag in der Kita.“ Thor spielte nervös an seinem Hammer herum.

Loki schüttelte amüsiert den Kopf. Warum hast du sich auch von „Valhallas Sprösslinge“ einladen lassen? Und Gott ist nun nicht wirklich kein Beruf.

„Das sehe ich anders“, grummelte ich. „Du denkst das nur, weil du nichts ernst nimmst.“

„Oh doch. Ich bin sogar gerade an einer Sache dran …“

„Ja? Sicher einer deiner üblichen Spinnereien.“

„Nein, es geht darum, unsere Kräfte für etwas ganz Großartiges einzusetzen!“

„Ein Kartenspiel gegen ein paar betrunkene Wikinger zu gewinnen? Deine großartigen Ideen führen immer nur zu Ärger oder Chaos.“ Ich wusste nicht, ob ich den Spinner auslachen sollte. Womöglich würde ihn das nur ermutigen.

„Du hast keinen Sinn für Abenteuer“, seufzte Loki. „Dein Hammer ist schon ganz stumpf. Ich habe einen Zauber entdeckt, der uns an Orte jenseits unserer Vorstellungskraft bringen kann.“

Bevor ich protestieren konnte, hatte mein Bruder aber bereits die magischen Worte gemurmelt. Ein grelles Licht umhüllte uns, und mit einem lauten Knall landeten sie inmitten einer belebten Straße. Und mitten im Jahr 2023. Woher ich das weiß? Herje, ich bin ein Gott.

„Bei Odins Bart, Loki! Was hast du getan?“, brüllte ich, während ich mich umsah. Wir standen mitten in einer fremden Stadt, umgeben von hohen Gebäuden und glänzenden Karren, die sich wie die Winde bewegten.

„Nur ein bisschen Spaß, Bruder“, kicherte Loki. „Entspann dich mal.“

Ich hob drohend meinen Hammer Mjölnir. „Rückgängig machen, Loki, oder ich schwöre…“

Loki lachte nur und wollte wohl etwas erwiedern, als uns ein junger Mensch unterbrach: „Coole Kostüme! Seid ihr Cosplayer?“, fragte er. „Kann ich ein Foto mit euch machen?“

Ich war verwirrt. „Ich bin Thor, der Donnergott, und das ist Loki, der … ach egal. “

Der Junge grinste und machte ein Bild mit uns mit seinem Taschen-Bifröst, oder wie die Menschen ihre Regenbogenbrücke ins Virtuelle nennen. „Krass, ihr bleibt echt in euren Rollen. Genial!“

Loki zog mich weiter in die Menge. „Lass uns sehen, was diese Welt zu bieten hat“, sagte er.

Wir schlenderten durch die Straßen und staunten über die seltsamen Dinge und Themen, die die Menschen beschäftigten. Wo waren denn hier die Trinkgelage? Wo die Lagerfeuer? Nicht mal einen anständigen Hafen mit Langbooten hatte diese Stadt. Aber trotz meiner Verärgerung über unsere ungewollte Reise, konnte ich nicht anders, als über einige der kuriosen Dinge, die wir sahen, zu schmunzeln.

„Siehst du, Bruder, so schlecht ist es hier gar nicht“, sagte Loki, als wir an einem Straßenstand anhielten, der etwas namens ‚Hot Dogs‘ verkaufte.

Ich kaute nachdenklich. „Seltsam im Geschmack, aber nicht ungenießbar.“

Am Ende des Tages fanden wir doch noch unser Trinkgelage. Die Menschen nennen es nun Bar, aber das Prinzip bleibt das gleich. Nach ein paar Bier – nicht mal Met haben sie mehr - waren wir umgeben von Menschen, die gespannt unsere Geschichten aus Asgard lauschten. „In den nebelverhangenen Hallen und hallenden Gängen von Asgard, wo Heldenlieder gesungen werden und Götter in ewiger Pracht thronen …“, setzte ich an.

„Nicht schon wieder!“, fiel mir Loki ins Wort.

Brautraub

Die zierliche Anhalterin steht auf dem Grünstreifen kurz vor der Autobahnauffahrt. Zwischen ihren Füßen steht ein Trekkingrucksack mit einer aufgerollten Matte als Topping. In regelmäßigen Abständen blickt sie besorgt in den Himmel, wo sich dunkle Gewitterwolken bedrohlich zusammenballen.

Erst im allerletzten Augenblick entschließe ich mich, anzuhalten. Sie hält sich ein Schild verkrampft vor ihre Brust, so dass es ganz verknickt und der Ortsname unleserlich ist. Zögerlich tritt sie an meinen abastorschwarzen Sportwagen, wirft noch einen letzten Blick hinauf zu den Wolken und fragt: „Fahren sie nach Athen?“ Sie hat welliges, langes Haar, das nur locker von einem Gummi zusammengehalten wird. Rotgoldene Strähnen haben sich daraus gelöst, und als sie sich zu mir herunterbeugt, versetzt es mir einen scharfen Stich ins Herz, so stark erinnert sie mich an Minthe, meine Ex.

Wie leicht es doch heute ist, eine junge Braut zu bewerben. Bride to go, sozusagen. Wenn ich da an die alten Zeiten denke … Nie war es mir vergönnt, eine Göttin für mich und meine Welt zu gewinnen. Ich schiebe mein Cap in den Nacken und sie begegnet meinem Blick. Fast augenblicklich löst sich ihre Zurückhaltung auf, und sie entspannt sich. Ohne dass ich ihre Frage bejahen muss, kennt sie meine Antwort. Ihr Blick tastet sich durch das Innere des Wagens, bleibt kurz an der Hundeleine mit den drei Halsbändern hängen, wandert dann verstohlen durch mein bärtiges Antlitz und verweilt auf dem Logo meines schwarzen Basecaps, das eine runde Münze mit dem Abbild eines Fährkahns und dem umlaufenden Schriftzug Obolus-Line zeigt.

Ich steige aus, helfe dem Mädchen beim Verstauen ihres Backpacks auf dem hinteren Notsitz, und kurz bevor die ersten dicken Regentropfen fallen, sind wir schon auf der Autobahn. Meinem Bruder missfallen meine Ausflüge. Wütende Blitze zucken über den Horizont, dicht gefolgt von warnenden Donnerschlägen und Gegrummel.
„Wohnen sie in Athen?“, fragt mich das Mädchen und bietet mir ein Minzbonbon an. Ich schüttele den Kopf. „Nein, danke, nicht für mich.“ Ich erinnere mich gut an diesen Geruch und verbinde ihn mit einer meiner zahlreichen unschönen Episoden meines alten Seins. „Ich bin nicht aus Athen. Ich lebe lieber im Untergrund. Es ist ruhiger dort“, sage ich.
Als ich meine Kappe, hinter der ich mein wahres Ich stets gut verbergen kann, abnehme und die junge Frau anschaue, steht ihr das nackte Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Es ist der Ausdruck des augenblicklichen Erkennens, denn ich bin der Eigner dieser größten Fährlinie – Hades.

Irren ist göttlich

‚Ich bin nicht hungrig!‘
‚Kommst du jetzt endlich?!‘
‚Jaa.‘
'Maul nicht ‚rum, Junior, los!‘
Ich kann mich noch gut erinnern - ich hab damals den halb fertigen Feuerball in eine Ecke des Universums gepfeffert. Nach dem Essen musste ich Mutter beim Pferdekopfnebel helfen und der Gürtel vom Orion war auch noch nicht fertig und Betegeuize wollte nicht leuchten - es war furchtbar. Ein paar Äonen später fand ich die begonnene Feuerkugel in der Milchstraße wieder. Sie sah komplett verändert aus und strahlte in einem ungewöhnlichen Blau.
Das war interessant. Ich besah den leuchtenden Ball in meiner Hand. Dann tupfte ich etwas Grün darauf. Das sah sehr schön aus. Dann wollte ich etwas Lebendes erschaffen. Mutter war natürlich dagegen.
‚Lass das! Das ist so hübsch. Verdirb es nicht.‘
‚Ich nenne des Blaue Meer und das Grüne Land. Und darauf setze ich Leben. Und dann schaue ich, wie sich das weiter entwickelt.‘
Die Sturheit der Jugend. Mutter sah großzügig darüber hinweg.
Hin und wieder warf ich einen Kontrollblick auf mein kleines Experiment Es ließ sich gut an. Zwar hatte ich es nicht hinbekommen, dass die Geschöpfe einfach existierten, ohne dass andere dafür sterben mussten, aber na ja, ich bin halt auch nicht als Meister vom Himmel gefallen. Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass es doch ziemlich ausgewogen zuging. Wenn die von Typ X zuviele Exemplare vom Typ Y frassen, dann mussten hinterher viele von der Typ X verhungern, weil zuwenig Nahrung vorhanden war, und der Typ Y konnte sich wieder erholen. So blieb ein gewisses Gleichgewicht erhalten.
Gelegentlich sah ich mich allerdings genötigt, doch ein wenig einzugreifen, zum Beispiel mit dem einen oder anderen Meteor, um den Riesenwuchs einiger Spezien nachhaltig zu stoppen.
Dazwischen arbeitete ich mit Mutter weiter an diversen Spiralgalaxien. Die eine oder andere Zwerggalaxie durfte ich im Alleingang gestalten.
Darüber vergaß ich den Ball, den ich der Einfachheit Erde getauft hatte. Bis Mutter mich darauf aufmerksam machte, dass in einer Ecke des Weltalls immer wieder seltsame Flugobjekte auftauchten, die nicht natürlichen Ursprungs waren. Ich mußte der guten Frau recht geben, da war etwas Seltsames im Gange.
In der Tat mußte ich mit Entsetzen feststellen, dass eine Art, die sich selbst als menschliche Rasse bezeichnete, die Oberhoheit übernommen hatte. Sie schossen Metall ins All. Oder jagten es sich gegenseitig in die Köpfe. Schockiert war ich über die Art, wie sie mich dafür verantwortlich machten, dass sie dieses tun mussten - in meinem Namen …
Ich war fassungslos und zeigte Mutter, was da geschah. Sie sah mich ausdruckslos an. Auf ihrer Stirn konnte ich lesen: Ich hab’s dir ja gleich gesagt …
Also habe ich die Konsequenzen gezogen und das Experiment Erde als gescheitert abgehakt.
Allerdings gibt es da noch Proxima Centauri b … vielleicht versuch ich es ja doch irgendwann wieder … aber zuerst geh ich etwas essen. ‚Ja, Mama, ich komme.‘

Wer wird Millionärin? Oder so was …

Nun sitze ich hier in diesem seltsamen Studio. So nennen sie es. Mich starren wildfremde Menschen an und applaudieren. Grade noch sass ich zusammen mit meinen Geschwistern im Tempel des Olymps und hatte mal wieder eine hitzige Diskussion über die besten Schlachtstrategien mit Ares. Dieser elendige Besserwisser. Überraschend sitze ich einem unbekannten schlaksigen Herrn gegenüber. Er trägt ein graues Gewand mit einer rosa leuchtenden Schlinge um seinen Hals.

Ich rutsche auf diesem unbequemen Stuhl hin und her, so ist der Name dieses mir fremdartigen Dingsbums. Beim Olymp! Da sind ja die Marmorblöcke im Tempel, weiß Gott kommoder. Er starrt mich überrascht an.

„Ich nehme an, sie sind nicht Frau Müller?“, fragt er irritiert, da auf seinen Karten aus Papyrus oder Pergament ein seltsamer Name steht, den ich nicht einmal über die Lippen bekomme. Ich schüttle meinen Kopf. Auch eine Göttin der Weisheit kommt hin und wieder an ihre Grenzen.

Etwas Warmes und sehr Helles strahlt mich an. Nein, es blendet mich förmlich. Mir ist warm, ich schwitze unter meinem weißen Gewand. Die Luft hier ist echt stickig. Können sie mittlerweile die Sonne einfangen?

Immer wieder schaue ich mich um. In welcher Epoche bin ich gestrandet? Mein Gesicht spricht Bände, denn dem Moderator, so stellt er sich vor, huscht ein Schmunzeln über seine Lippen.

„Am besten fangen wir an. Willkommen, mein Name ist Jünta Gauch. Und sie sind hier bei „Wer wird Millionärin? Oder so was …“. Ich stelle ihnen 15 Fragen und mit einwenig Glück gewinnen sie. Viel Erfolg“, weiht er mich ein.

Ich starre ihn leicht überfordert an. Da hat sich Apollon aber mal wieder selbst übertroffen. Seine Theaterstücke sind ja eh immer das bei Zeus beste, was es gibt. Ich atme durch. Ich kann und schaffe das! Voll konzentriert hänge ich an Jünta Gauchs schmalen Lippen. Ein wahrlich gebildeter Mann.

„Die erste Frage. Welche Gottheit wäre heute ein guter Influencer? A: Zeus B: Ares C: Medusa D: Aphrodite“, fragt er lächelnd. Wobei mir beim Namen von Medusa leicht übel wird. Schließlich konnte ich sie nicht ausstehen.

Ich denke kurz nach und bitte Zeus um Hilfe. Woher soll ich den wissen, was ein Influencer ist? Ich kenne Influenza, Bazillen, die einen krank machen. Ich vertraue auf meine Intuition. Ene mene Zeus, drei Mal starker Herakles und raus ist A, B und C. Ich grinse und nicke.

„Antwort D: Aphrodite.“, erwidere ich selbstsicher.

Alle Menschlein klatschen mir begeistert zu. Dieses ominöse Ding vor mir leuchtet so farbenprächtig auf wie das Feuer im Olymp. Meine Finger tippen wahllos darauf herum. Bis Jünta Gauch die Geduld verliert und meine Antwort selbst einloggt.

Ich wuschle mich von Frage zu Frage so durch. Stolpere ständig über diese seltsamen Worte, die nicht von dieser Welt sind. Jünta Gauch rät mir hin und wieder meine Joker zu nutzen. Die ich mit Bedacht einsetze. Schließlich steht hier mein guter Ruf auf dem Spiel. Aber dann stellt er mir die alles entscheidende Frage.

„Letzte Frage an sie. Wie heißt die Göttin der Weisheit? A: Bala Bala B: Fräulein Anke C: Aphrodite D: Pallas Athene“, fragt er mich hoffnungsvoll.

Bei Zeus will er mich hinters Licht führen? Grade als ich antworten möchte, unterbricht mich dieser knochige Kerl.

„Wir sind bei der Millionenfrage von „Wer wird Millionärin? Oder so was … „ angekommen. Lassen sie sich bitte Zeit. Nicht, dass sie auf die 500.000 Euro zurückfallen. Oder hören sie auf?“, fragt er mich herausfordernd.

Als würde ich jemals freiwillig aufgeben. Aber was sind Euros? Ich lese mir noch mal die Frage auf diesem Dingsbums durch. Dabei tippe ich schon wieder einfach drauf rum. Alles leuchtet und ist kurz eingefroren. Plötzlich fasst sich der Redner panisch an den Kopf.

„Stopp! Drücken sie unter keinen Umständen den roten Knopf. Ansonsten verlieren sie alles!“, ermahnt er mich fast im gleichen Ton, wie Zeus es immer tut.

Ich rolle mit meinen Augen.

„Bei Zeus! Dann markieren sie doch die Antwort für mich. D: Pallas Athene.“, antworte ich selbstsicher. Der schmächtige Kerl setzt sein Pokerface auf.

„Mein Name ist Jünta Gauch. Und Antwort D ist korrekt.“, schreit er mich an. Ich zucke kurz zusammen. Meine Hand geht automatisch zum Nacken, weil ich schon einen Pfeil bereit halten will. Aber ich bin unbewaffnet. Welch Glück für meinen neuen Verbündeten.

Schlagartig klatschen mir alle Leute begeistert zu, so als habe ich etwas gewonnen. Goldregen fällt auf mich hinunter, wie es sich eben für eine wahre Göttin gehört.

Eh ich reagieren kann, sitze ich wieder im Olymp am warmen Feuer zusammen mit meinen Geschwistern.

„Athene, wo warst du?“, fragt mich Ares neugierig.

Ich schüttele immer noch ungläubig meinen Kopf.

„Ich war im Jahr 2023. Die Menschen sind verloren. Sie ähneln sich und haben uns Götter vergessen. Viel Schlimmer, sie beten mittlerweile Influenza an“<<, berichte ich weiterhin schockiert von meinem kurzen, aber intensiven Erlebnis.

Auch ihnen hängt die Kinnlade schockiert herunter.

„Aber etwas Positives konnte ich mitnehmen. Ich habe einen neuen Titel gewonnen. Ich bin jetzt stolze Trägerin von „Wer wird Millionärin? Oder so was …“, den mir mein neuer Freund Jünta Gauch verlieh“, erzähle ich mit erhobenem Haupt, denn ich bin die Göttin der Weisheit.

Jesus loves you

»Und dann hat er Ihnen direkt in den Kopf geschossen, sagen Sie?«

»Ja, korrekt.« Ich zeigte mit dem Finger auf die Stelle zwischen meinen Augen.

»Und warum sind Sie dann nicht tot?« Der Polizist vor dessem Schreibtisch ich saß, wirkte etwas angestrengt. Verständlich. Es war ja auch schon spät.

»Das konnte ich doch nicht nicht zulassen!«

»Ach. Und warum nicht?«

»Wegen der Kinder.«

»Wegen der KINDER?« Seine Finger fingen an seine Schläfen zu massieren. Er hatte Kopfschmerzen, das konnte ich sehen, aber ich hatte genug Schlamassel angerichtet für heute. »Nachts um halb eins. In der Spelunke. DA WAREN KEINE KINDER!«

»Naiiin« Der verstand wirklich gar nichts. »Wegen denen in den Klassenräumen.« Da er auch nach zehn Sekunden nicht sichtbar reagierte erklärte ich mich. »Das letzte Mal, als sie mich hingerichtet haben hatten sie mich an ein Kreuz genagelt. Und -ZACK- in allen ordentlichen Klassenräumen hängen heute Kruzifixe. Hätte der mich heute erschossen würde das alles ändern. Was soll man dann an die Wand hängen? Pistolen? Wie stellen Sie sich das vor?«

Er hatte aufgehört sich die Schläfen zu reiben und nahm noch einen Schluck Kaffee. Sein Name war Peter Münsterlinger, wie auf dem Namensschild auf dem Tisch zu lesen war. Er wirkte nett im Rahmen der Uhrzeit. Ich würde mal nachschauen müssen, was er bisher so erlebt hat. Das mit der Allwissenheit und so ist so eine Sache. Eigentlich muss man ja gar nicht alles wissen. Man muss nur wissen, wo man es nachschauen kann. War schon immer so.

»Und warum hat er Sie überhaupt erschießen wollen?«

»Ja, das ist gut, das Sie das fragen. Und das ist mir jetzt echt auch ein wenig peinlich.«

»Ach.«

»Ja, wissen Sie. Das ist mir so ähnlich schon mal passiert.« Ich rutschte etwas auf dem Stuhl hin und her. Nicht, weil ich nervös war. Weil meine Hämorrhoiden juckten.

»Ihnen wird häufiger in den Kopf geschossen?« (Oje, es war wirklich spät.)

»Nein, ich mein das mit dem Grund. Ich war mal auf einer Hochzeit. Ist schon eine Weile her. Und da war der Wein alle. Und ich dachte so: Ey, Leute, gerade so gute Stimmung. Wär doch doof, wenn jetzt Ende wär. Und sorge dafür, dass da so ein paar dutzend Gallonen Wasser zu echt gutem Wein werden.«

»Ja, da waren Sie doch sicher der Held der Party, oder?« Der zynische Unterton in seiner Stimme war wirklich nicht nett. Das werde ich ihm später mal sagen.

»Denkste. Klar die Leute so: Hey, dufte schenk nach! Aber der Gastgeber war echt angefressen. Die Leute dachten ja nun, das er ihnen nur das billige Zeug serviert hat. Meins war halt echt besser. Gab noch ziemlich Zoff und ein paar unschöne Szenen, die zum Glück keiner aufgeschrieben hat.«

»Und was hat das mit heute Nacht zu tun?«

»So war das mit dem Gras auch. So jetzt ist es raus. Sein Zeug war alle. Die Stimmung war spitze, bis ich die Yucca-Palme in richtig guten Stoff verwandelt hab. Das ist dann irgendwie… eskaliert.« Ich lehnte mich vor. Gute Verschwörer tun so etwas. »Kann das unter uns bleiben?«

»Sicher.« Er stand so langsam und müde auf, dass er sich am Schreibtisch abstützen musste. »Bin kurz im Bad. Sie laufen mir ja nicht weg.«

Angesichts der Handschellen war er sich da sehr sicher. Kommissar Münsterliner verließ das Büro und verschloss sorgfältig die Tür.

Als er wiederkam war ich längst verschwunden. Die Handschellen hatte ich als Scherz an die Wand gehängt.

Die Siegerin

Ein Schubs und da stand ich. Auf allen Vieren. Eben noch war ich umgeben von allem, was ich kannte und nun? Ich schaue an mir hinunter. Wo sind meine Flügel, meine Hände? Ich sehe nur schwarze Pfoten. Was ist mit mir geschehen?
Vorsichtig hebe ich eine Pfote an, begutachte, was ich da sehe. Drehe mich um die eigene Achse, einmal im Kreis. Wo bin ich hier? Wo ist der Tempel? Wo meine Geschwister?
Ein Kribbeln macht sich in meinem Körper breit. Haare stehen mir zu Berge. Unwillkürlich drücke ich meinen Rücken durch, als ich eine Stimme gar nicht so weit entfernt nach mit rufen höre. »Nike!«, ertönt es noch einmal.
Langsam und zögernd bewege ich mich in Richtung der Stimme. Fremd sieht hier alles aus. Statt Marmor ziert irgendein Papier die Wände. Aber es duftet so unglaublich gut.
Und dieser Duft zieht mich an, fast schon magisch. Aus den Tiefen meiner Kehle dringt ein Schnurren. Huch! Was war das? Ich kann das gar nicht kontrollieren.
Rrrrrrr… da ist es wieder. Es brummt und summt in mir und ich nähere mich immer weiter dem Duft und dieser betörenden Stimme, die schon wieder meinen Namen nennt. Doch diesmal flüstert sie ihn: »Komm her, kleine Nike! Keine Angst. Ich tu dir nichts.«
Wer ist diese Frau? Weiß sie nicht, wen sie vor sich hat? Ich habe Siege nach Hause getragen, davon singen andere Lieder. Aber sie ist so groß, überdimensioniert. Vorsichtig wende ich meinen Blick nach oben. Machtvoll ragt sie über mir auf. Schnell senke ich den Blick wieder. Zurück auf ihre Schuhe, auf denen ein Zeichen prangt, was mich irgendwie an meine Schnelligkeit und Wendigkeit erinnert.
Da ist er wieder, der Geruch, der alles durchdringt, in jede meiner Poren zieht. Ich kann einfach nicht anders und erhebe wieder meine Augen. Sehe die Frau vor mir an. Sie hat etwas in der Hand. Hält es mir hin. Ich kann einfach nicht mehr widerstehen. Schmiege mich vorsichtig an ihre Hand und nehme es mit meinem Mund aus ihren Fingern. Oh Gott, das ist so lecker. Was auch immer das ist. Ich bin mir mit einer Sache ganz sicher. So fühlt es sich an, wenn man wiedergeboren wird.
Die Frau greift mir unter den Bauch, hebt mich hoch zu sich, streichelt dabei sanft mein Öhrchen.
Ganz egal, wo ich herkam. Hier bleib ich. Hier bin ich die Siegerin.
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Wenn der Frieden im Schrank feststeckt, macht Mars mobil.

Pax

„Ich habe es euch gesagt, ich bin nicht der Richtige für diese Mission, aber ihr wusstet es mal wieder besser. Jetzt sitze ich hier auf dem Baum und weiß nicht, was ich tun soll.“

Die Lage, in der ich mich befand, war alles andere als zufriedenstellend. Ich bin Pax, der Gott des Friedens. Was soll ich auf einem Planeten, der von Krieg, Gewalt, Missgunst, Intrigen, Neid und Egoismus dominiert wird? Man hätte wohl besser Mars herschicken sollen, der versteht was von Krieg, Aufruhr und solchen Sachen. Ich kann nur Frieden herstellen, wenn die Leute gesprächsbereit und einsichtig sind. Aber Mars gondelte gerade irgendwo in GN-Z11 herum und deshalb wollte man ihm den weiten Weg bis zur Erde nicht zumuten. Stattdessen riss man mich aus Voluptas Armen, mit der ich mich in den Andromeda-Nebel zurückgezogen hatte, um unser göttliches Dasein ein wenig zu genießen. Mein Pech, dass ich damit am nächsten dran war, am Zielplaneten dieser Mission.

Ich fragte mich, was Voluptas jetzt wohl macht, so ganz ohne mich, in den Weiten von Andromeda? Ich hoffe nicht, dass Silvanus sie aufspürt und mir wegschnappt. Der besamt doch alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Womit mich meine Gedanken zurück zu meiner augenblicklichen Situation führten.

Seit zehn Minuten, seit ich auf der Erde ankam, drückt mir dieser knorpelige Ast ins Gesäß und bereitet mir Schmerzen. Einen erhabenen Ort sollte ich mir aussuchen, so wurde es mir ans Herz gelegt, aber nicht zu erhaben durfte er sein, damit ich mit den Menschen noch ins Gespräch kommen kann. Also hatte ich mich für diesen Baum entschieden, von dem ich annahm, dass er strategisch günstig lag. Die Bauwerke in der Stadt waren viel zu hoch. Man hätte mich in solchen Höhen nicht mal bemerkt und ein Gerede wäre allenfalls als Geschrei möglich gewesen.

„Was habe ich getan, Jupiter, dass du so entschieden hast? Mars wäre vielleicht eine Stunde später hier gewesen, auf die es nicht angekommen wäre. Bei dem Zustand hier sind wir eh viel zu spät dran. Ich kann hier jedenfalls nichts mehr retten.“

Ich hörte mich reden und fragte mich, ob es für einen Gott angemessen ist, dass er Selbstgespräche führt. Die Verbindung zu meinen göttlichen Kollegen war unterbrochen, das hatte ich längst festgestellt. Wir funken auf 22,2 GHz. Um die Erde flogen aber so viele Satelliten, die alle im Mikrowellenbereich herum krächzen, dass unser Band komplett platt gemacht wurde. Womit klar war, dass ich auf mich allein gestellt war.

„Hey, Alter, was machst du da oben? Bist du nicht ein bisschen zu alt, um auf Bäumen herum zu klettern?“

Die Stimme kam von unten. Unter dem Baum stand ein junger Mann und blickte zu mir hoch, was ich als angemessen empfand. Er hielt etwas am Ohr und sprach hinein, was ich nicht verstand, weil es zu leise war. Als er das komische Ding wegsteckte, antwortete ich ihm.

„Ah, entschuldige, lieber Mensch, ich hatte dich nicht bemerkt.“

„Lieber Mensch? Hast du sie noch alle an der Waffel?“

„Nun, ich kenne ja deinen Namen nicht. Wenn du ihn mir nennst, werde ich dich gerne mit demselben ansprechen.“

„Sag mir doch erstmal, wer du bist.“

„Ah, ja, ich habe mich ja noch nicht vorgestellt. Das war unhöflich von mir. Mein Name ist Pax.“

„Pax, echt? Ich lach mich kaputt. Bist du bei Ikea ausgebrochen oder haben sie dich rausgeschmissen?“

„Ikea? Ähm, was oder wer ist das?“

„Du bist ja wirklich komplett von der Rolle was. Ikea, verstehst du? Pax. Schrank und so. Alter, die kennt doch jeder.“

„Nun, du scheinst dich auszukennen, aber ich komme ja nicht von hier.“

„Ach so, das erklärt alles. Wo kommst du denn her?“

„Von Andromeda. Das ist etwa 2,5 Millionen Lichtjahre von der Erde entfernt. Ich habe fast zwei Minuten gebraucht, um von dort hierher zu kommen.“

„Häh? Du schneist ja wirklich bekloppt zu sein. Plämpläm, wenn du verstehst, was ich meine.“

„Nein, das bin ich nicht. Ich bin Pax, der Gott des Friedens.“

„Na klar, und ich bin Elvis, der Gott des Rock and Roll.“

„Ah, schön, dass du dich mir jetzt auch vorgestellt hast. Hallo Elvis. Aber ein Gott kannst du nicht sein, sonst würde ich dich kennen.“

„Aber du bist einer, ja? Sitzt im Nachthemd auf einem Baum und weißt nicht, wie du runterkommen sollst. Toller Gott.“

So unrecht hatte der junge Mann gar nicht, ich war tatsächlich etwas ängstlich, ob ich nicht herabstürzen könnte. Meine nackten Füße waren es nicht gewohnt, auf derart unebenem Grund Halt zu finden. Vielleicht hätte ich mich doch besser auf einem der Gebäude platzieren sollen.

„Wenn du meine missliche Lage schon bemerkt hast, dann könntest du mir doch sicher auch herunterhelfen, oder?“

„Könnte ich schon, aber vielleicht ist es besser, ich rufe die Feuerwehr.“

„Wieso denn die Feuerwehr? Es brennt doch nicht. Wenn du mit deinen starken Schultern an den Stamm trittst, dann kann ich mich darauf abstützen und herunterkommen.“

„Ja klar, und dann fallen wir beide auf die Fresse und du zerreißt mir dabei meine neue Bugatti-Jacke. Nee, Alter, darauf hab ich keinen Bock.“

„Ja, ein Bock wäre noch besser, aber komm schon, wir haben keinen, also hilf mir herunter.“

Tatsächlich trat der junge Mann an den Stamm heran, streckte mir eine Hand entgegen und half mir, sodass ich unbeschadet auf festem Boden zu stehen kam.

„Vielen Dank, Elvis. Es steckt doch mehr Entgegenkommen in dir, als du zugeben willst.“

„Nun laber nicht so nen Stuss, Alter, ich heiße Martin. Das mit Elvis war doch nur ein Scherz.“

„Ah, Martin. Von einem Martin wurde mal in unseren göttlichen Kreisen etwas erwähnt. Ich erinnere mich aber nicht mehr, was es war. Aber sag doch mal, Elvis, ähm, Martin, wo sind wir denn hier eigentlich genau. Und nenn mich nicht immer Alter, ich heiße Pax.“

„Du willst mich doch wirklich verarschen, oder? Ist hier irgendwo eine Kamera versteckt?“

„Wieso Kamera? Ich möcht doch nur wissen, wie dieser Ort hier heißt.“

„Köln, Alter, ähm, Pax, oder so. Du bist hier in Köln. Guck mal, da hinten, geradeaus über den Bäumen, siehst du da die beiden Spitzen?“

„Nun ja, ich bin zwar ein Gott, aber nicht blind. Sicher sehe ich diese Spitzen. Sie scheinen von einem hohen Gebäude zu sein.“

„Oh, Schmerz lass nach. Das hält ja keine Sau aus. Das ist der Kölner Dom. Capito? Der Kölner Dom. Den musst du doch kennen. Er ist das größte Gotteshaus in Deutschland. Bist mir ein schöner Gott und weißt nicht mal, wo deine Häuser stehen.“

„Ah, ja, von diesem Dom habe ich auch schon mal etwas gehört, aber mein Haus ist es nicht. Auch wir Götter tun gut daran, das Eigentum der Anderen zu achten. Aber du könntest mich dorthin führen, dann kann ich mir das Haus mal ansehen.“

„Haus ist gut, das ist ein Dom.“

„Auch ein Dom ist ein Haus. Führst du mich nun hin oder nicht?“

In diesem Augenblick näherte sich langsam ein großer Wagen über den schmalen Weg. Kurz vor uns hielt er an. Zwei Männer in komischen Anzügen sprangen heraus und kamen zu uns herüber. Sie lächelten.

Noch bevor ich die Ankömmlinge freundlich begrüßen konnte, überrumpelten sie mich. Obwohl es nicht kalt war, zogen sie mir, in wohl geübter Manier, eine Jacke über. Die Ärmel dieser Jacke waren jedoch so unglücklich mit Bändern fixiert, dass ich meine Arme nicht mehr bewegen konnte. Offensichtlich wollten sie mich kidnappen.

Gerade, als sie dabei waren, mich in den Wagen zu zerren, gab es einen hallenden Donnerschlag und eine mir wohl bekannte Stimme schallte durch den Park.

„Halt. Was bildet ihr Erdlinge euch ein, so mit einem Gott umzuspringen?“

Erschrocken blickten sich die beiden Männer um. Auch der junge Elvis oder Martin oder wie er auch immer heißen mochte, sah zu der imposanten Erscheinung hinüber, die dies in grollendem Ton gerufen hatte. Im selben Augenblick öffneten sich die Verschlingungen der Ärmel meiner Jacke von ganz allein und sie fiel von mir ab.

„Mars? Du? Hier? Das hatte ich jetzt nicht erwartet. Wie kommt es dazu?“

„Die Verbindung zu dir ging verloren, Pax. Daraufhin hat Voluptas bei Jupiter interveniert und der Chef hat sofort reagiert.“

Als ich dies hörte, strich mir ein warmes Gefühl ums Herz. Aber Mars war mit seinen Ausführungen noch nicht am Ende.

„Er hat die Frequenz gewechselt und mich her delegiert. Wie es aussieht, ist der Frieden, also bis du derzeit bei ihr in Andromeda besser aufgehoben. Die Erde braucht jetzt eine harte Hand, vielleicht sogar eine sehr harte. Deshalb übernehme ich. Ab sofort. Bis auf Weiteres.“

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Besuch bei der alten Dame

»Guten Tag, darf ich mich zu Ihnen setzen?«

Die weißhaarige Dame vor mir, die Haut im Gesicht aufgewellt von vielen kleinen Falten, zuckt kurz zusammen, öffnet die Augen, und schaut mich an wie einen Ruhestörer.

»Gerne, wenn Sie wollen«, antwortet sie zögerlich. Jetzt würde ich gerne die Gedanken der Menschen lesen können. Meistens jedoch ist es besser, dass ich dies nicht kann. Wenn ich ehrlich bin, fast immer.

Ich beobachte, dass Sie die Decke auf ihrem Schoß hochzieht, sich suchend nach dem Rollator umsieht, der neben der Bank steht, auf der sie sitzt.

»Schönes Wetter heute. Nehmen Sie Platz«, sagt sie zu meiner Überraschung.

»Gern geschehen. Fünfundzwanzig Grad und Sonne«, antworte ich, ohne nachzudenken.

»Gern geschehen?«, ich verstehe nicht.

»Ach, nur so eine Redensart von mir. Danke. Dann setze ich mich zu Ihnen.«

Ich schaue mich um und bin erstaunt darüber, dass ich jetzt zwar neben ihr sitze, sie jedoch aufgrund der Konstruktion der Bank dabei unweigerlich ermuntert werde, sie anzuschauen. So eine Bank habe ich noch nie gesehen. S-förmig, in der Mitte eine Art Tisch und die Sitze so angebracht, dass man nebeneinander, gleichzeitig jedoch einander zugewandt sitzt.

»Ich habe sie geweckt? Verzeihen Sie bitte, aber der Platz hier war frei und ich dachte…«

»Der ist frei seit ich hier bin.«

»Die Bank ist doch schön, wenn auch in meinen Augen sehr ungewöhnlich.«

»Stimmt!«, erwidert die alte Dame. »So ein moderner Quatsch vom Heim. Nennen die eine Kummunikationsbank. Dabei sitze ich hier oft alleine.«

»Ah, ich verstehe. Sie haben recht. Die Bank sollte besser Kallbank oder Tötterbank heißen, das würde es vielleicht einfacher machen.« Ich warte auf ihre Reaktion, während ich dies sage.

»Kallbank, haha, das ist gut. Sie sprechen meine Sprache. Kommen Sie auch aus dem Bergischen? Dann können wir ja kallen.«

»Nein, ich bin gerade erst angekommen, sozusagen. Ich schaue mich ein wenig um. Hat sich sehr viel getan in den vergangenen Jahren.«

»Wem sagen Sie das?!«, erwidert die alte Dame und schaut gedankenverloren auf den Boden.

»Was hat sich denn bei Ihnen getan? Jetzt bin ich aber neugierig geworden.«

»Wollen Sie das wirklich wissen?« Die alte Dame scheint erstaunt zu sein.
»Für mich interessiert sich doch keiner mehr. Bei mir gibt’s nichts im Leben, was erwähnenswert wäre.«

»Wie kommen Sie darauf, dass sich keiner für Sie interessiert? Tun wir denen vom Heim doch einen Gefallen und kallen oder töttern etwas.«

Die alte Dame löst den Blick langsam vom Boden und schaut mir jetzt direkt in die Augen. Langsam verstehe ich diese Bank, denke ich. Sie nimmt die Decke mit beiden Händen vom Schoß und legt sie auf den Sitz des Rollators.

In der folgenden Stunde erzählt sie mir aus ihrem Leben. Sie erzählt von ihrer Ehe mit einem Polizisten. Von den drei Kindern, die sie mit ihm hat. Dass er für Recht und Ordnung gesorgt habe, nur zu Hause, da sei er selten gewesen. Das Geld in der Spielhalle gelassen. Gesoffen fast jeden Tag. Dass sie arbeiten musste, um die Kinder zu versorgen. Dann die Trennung, die Angst, dass er im Suff zurückkommen würde. Die neue Beziehung zu einem anderen Mann, ihre Unfähigkeit und ihr Unwillen, noch einmal mit einem Mann zusammenzuleben. Darüber, mit diesem neuen Mann jedoch die letzten dreißig Jahre irgendwie gelebt zu haben. Getrennt gewohnt natürlich, vergisst sie nicht anzufügen. Bis zu seinem Tod im letzten Jahr. Er sei noch älter als sie gewesen. Und jetzt hier im Heim, allein. Seit längerer Zeit wohne sie hier, nachdem sie die eigene Wohnung fast in Brand gesetzt habe. Hat ihr Sohn behauptet. Der Zettel am Backofen sei abgefallen, der sie daran erinnern sollte, ihn nach dem Kochen wieder abzuschalten. Den habe der Sohn dann einfach abgeklemmt, ohne sie zu fragen. Die ganze Wohnung sei von Zetteln übersät gewesen. Vollkommen überflüssig sei das gewesen, sagt sie.

Ich habe ihr die ganze Zeit aufmerksam zugehört. Gut, ich habe ein wenig geholfen, ansonsten wäre die Stunde auf ein Sechzigstel geschrumpft. Zu Beginn habe ich ihr im Minutentakt Fragen zu dem Gesagten gestellt, so dass sie auch manch bisher Nicht-Gesagtes schließlich ausspricht. Je länger die Unterhaltung geht, desto weniger muss ich Fragen stellen, bis schließlich ein aufmunterndes Nicken ausreicht. Aus Worttröpfchen wird so ein Wortschwall.

»Oh Gott, das wollte ich nicht. Jetzt habe ich Sie mit meinem ganzen Leben belästigt. Entschuldigen Sie bitte, ich weiß überhaupt nicht, wieso ich so viel gekallt habe. Ich kenne Sie doch überhaupt nicht.«

»Ich habe sie gefragt. Es interessiert mich ganz einfach. Manchmal muss man jemanden noch nicht kennen, um mit ihm über Dinge zu reden, über die man sonst nur mit Freunden oder Bekannten redet. Oder vielleicht erzählt man auch gerade deshalb, weil es ein Fremder ist. Dann fällt es leichter, irgendwie.«

»Ich fühle mich total erschöpft, aber andererseits auch…, ich weiß nicht, einfach besser. Hoffentlich vergesse ich das auch nicht wieder. Unser Kallen, meine ich. Wissen Sie, ich vergesse so viel. Nicht von früher, meine ich. Was gestern oder heute war. Entschuldigen Sie bitte, aber wenn wir uns morgen treffen sollten, dann kann es sein, dass ich mich nicht an Sie erinnere.«

»Das macht gar nichts. Diese Bank hat ja doch ihr Gutes. Sie bringt Menschen dazu, ins Gespräch zu kommen, sich auszutauschen und kennenzulernen. Warum die Menschen heute dazu solche Bänke benötigen, ist mir jedoch ein Rätsel.«

Ich sehe, dass die alte Dame im Begriff ist aufzustehen.

»Ich muss auch weiter.«, sage ich.

»Oh, schade«, erwidert sie. »Sie wohnen nicht hier im Heim? Was machen Sie denn jetzt?«

»Arbeiten! Für solche Bänke sorgen. Bis morgen, überall!«

Die alte Dame schüttelt den Kopf und schaut mich verständnislos an, sagt jedoch nichts. Sie steht auf, dreht sich um und geht eilig schlürfend in Richtung Heim.

»Auf Wiedersehen. Warten Sie einen Moment!«

Sie bleibt stehen, dreht sich zu mir um, schaut mich fragend an und sagt:

»Ja, was ist denn? Ich muss zurück, um halb zwölf gibt es Mittagessen.«

»Sie haben ihren Rollator vergessen.«

»Oh danke, sehr aufmerksam«.

Ich nehme den Rollator und gehe ihr ein paar Schritte damit entgegen. Sie nimmt ihn, dreht sich immer noch kopfschüttelnd um und geht weiter in Richtung des Heims. Nach wenigen Schritten stoppt sie, wendet sich mir erneut zu und sagt mit einem Lächeln:

»Das Kallen hat mir gutgetan. Morgen lade ich Erna ein, mit mir auf der Bank zu töttern. Es gibt ja nicht nur die ernsten Kallthemen zu besprechen.«

Searching for Noa

Krawumms! Die Eingangstür zu meinem Büro knallte gegen die Wand, der Luftzug wirbelte die Papiere auf meinem Schreibtisch durcheinander und das Stimmengewirr aus dem Großraumbüro überwältigte sogar meine Noise-cancelling Kopfhörer. Nicht schon wieder. Heftig atmend stand mein großer Bruder vor mir.

Resigniert legte ich meinen Stift beiseite und nahm die Kopfhörer runter.

„Nein, Jahwe, sag nichts, sie bekriegen sich schon wieder, sie ruinieren Deine Schöpfung, sie halten sich nicht an die Abmachung, das hast Du mir alles schon tausendmal …“

„Ich habe die Nase voll von den Menschen. Ich gebe das Projekt zurück. Soll sich doch jemand anderes mit der Erde rumärgern!“ Geduld war nicht wirklich seine Stärke.

„Jetzt mal langsam, was ist denn genau das Problem?“

„Erinnerst Du Dich noch an meine Abmachung mit Noah? Dass ich nie wieder mit einer Flut die Menschheit auslöschen würde? Das war mein größter Fehler, jetzt halten sie sich für unbesiegbar und machen was sie wollen, weil sie keine Konsequenzen mehr fürchten müssen.“ Er stützte sich mit einer Hand auf meinen Schreibtisch und warf mir einen zerknüllten Klimabericht unter die Nase. „Wenn die so weitermachen, überfluten die sich selbst. Und so wie ich die kenne, geben sie mir die Schuld. Und deshalb kann sich jetzt jemand anders um die Erde kümmern. Ich habe die Schnauze gestrichen voll.“ Ich wusste es.

Innerlich seufzend strich ich den Klimabericht glatt. Er sah wirklich nicht gut aus. Ich verstand seine Sorge, aber letztendlich war er selber schuld, so mit „macht Euch die Erde untertan“ und so. Aber das konnte ich ihm kaum unter die Nase reiben.

„Okay, kein Problem. Ich kümmere mich drum.“ Wer auch sonst?

Eine Woche später präsentierte ich meine neue Vision für die Erde dem Aufsichtsrat.

„Nachdem die Überflutungen sowieso nicht mehr aufzuhalten sind, stellt sich nur noch die Frage, wer die nächste Arche bauen soll, und wer mit auf die Arche darf. Nachdem wir noch ein paar Jahre Zeit haben, schlage ich vor, wir suchen uns geeignete Teilnehmer per Casting Show. Wir reaktivieren Atlantis, kreieren dort eine Internet-freie Zone und lassen Kandidaten-Pärchen aus aller Welt gegeneinander antreten.

Wir wissen ja inzwischen ziemlich genau, welche Kräfte die Erde zerstört haben und müssen danach trachten, dass die zukünftigen Bewohner nicht mehr dieselben Fehler machen wie ihre Vorfahren.

Also lassen wir jetzt mal das Experiment mit Religion.“ Ich warf einen Seitenblick auf meinen großen Bruder, doch der zuckte nur mit den Achseln, was so viel bedeutete wie, mach doch was du willst.

„Diesmal probieren wir es mit Wissenschaft.“ Lautes Raunen ging durch den Saal.

„Es hat keinen Sinn, wenn wir den Menschen Regeln geben, die jeder anders interpretiert und an die sich die Mehrheit sowieso nicht hält. Lassen wir Ihnen die Möglichkeit, nach den Naturgesetzen zu leben. Die Menschen hatten ja eh schon mal einen ganz guten Ansatz mit dem Daoismus. Den greifen wir wieder auf. Dann sorgen wir für ausreichend Diversität, entsprechende Intelligenz und Empathie unter den KandidatInnen und Gleichberechtigung zwischen Frauen und Männern. Wenn das den Männern nicht passt, kriegen sie als Ersatzoption ein Matriarchat. Und dann lassen wir das Projekt gleich von einer Frau leiten.“

Die paar hochgezogenen Augenbrauen in der Runde ignorierte ich gekonnt und kam zum Schluss meiner Präsentation.

„Wir besorgen uns die wichtigsten InfluencerInnen und BloggerInnen, laden sie nach Atlantis ein und machen danach die Ausschreibung für die größte Castingshow der Welt.

“Searching for Noa! Who will survive the flood?”

Tapio – finnischer Gott des Waldes

„Iß nicht vom blassen Apfel des Schicksals,
kannst du ihm nicht widerstehn´
werden zweitausend Jahr vergehn!“ Halten die warnenden Worte von Pykuul, einer Fruchtbarkeitsfee, in seinen Ohren.
So ein Unsinn. Er schluckte die letzten Bissen herunter, sah sich um.
Wo waren sie nur alle hin? Er hatte doch nur für einen Moment die Augen geschlossen, weil der Apfel so bitter geschmeckt hatte.
Er war an einem anderen Ort. Gleicher Wald, zweifelsohne, aber ein anderer Ort. Die Bäume wirkten hier viel schwächer, als dort, wo er sich um ihren Wuchs kümmerte.
Tapio ging langsam vorwärts, berührte den Stamm der Tanne vor sich.
„Zeige mir … alles“, raunte er mit dunkler Stimme. Der Baum gehorchte. Der Borke teilte sich mit schmatzenden Lauten, und zeigte ihm einen goldgelben Spiegel aus Harz. Er sah sein Gesicht. Zotteliger Bart, das Geweih der Herrschaft kam aus seinem Haar. Sein haselnussbrauner Pelzmantel war mit Eichenblättern durchsetzt.
„Zeige mir … Pykuul! Ich muss ernsthaft mit ihr reden!“
Bilder wechselten. Er sah eine seltsame Stadt. Riesige Gebäude aus Stein, vor denen eiserne Gespanne ohne Pferde fuhren. Ein Gebäude mit einem roten Kreuz kam in sein Sichtfeld. Das Sichtfeld vergrößerte ein Fenster und dort sah er einen Raum, indem ein ganzes Dorf an Kindern in seltsamen eckigen Glasgefäßen schliefen, lagen oder schrien. Sie wirkten krank und schwach.
Er erkannte Pykuul an ihren roten Haaren. Sie trug schlichte weiße Gewänder und schien sich um diese Menschen zu kümmern.
Sie hielt plötzlich inne, als ob ein eisiger Schauer sie frösteln ließ. Blickte dann direkt zu Tapio, obwohl sie ihn unmöglich sehen konnte.
„Tapio?“, fragte sie ungläubig. „Komme nicht hier her! Du würdest es nicht verst…“

„He, lass den Baum in Ruhe, du Lump!“, hörte er hinter sich, und ließ vom Harzspiegel ab.
Tapio drehte sich, sah in die Gesichter von zwei Sterblichen. Einer trug schwarz, der andere hatte grüne Gewänder, denen eine Aura der Unnatürlichkeit beiwog. Wie das schwarze Öl aus der Erde. Seltsam.
„Wir hätten dich beinah, über den Haufen geballert, hätten wir!“, sagte der Sterbliche in grüner Gewandung.
„Was bedeutet, wir sind auf der Jagd, du Waldschrat! Also, komme uns nicht in die quere und lass ja, die Natur in Ruhe, hörst du?“
Tapios Miene verhärtete sich.
„Wie redet ihr denn …“
„Alter, wir hören dir nicht zu! Du vertreibst uns noch die Tiere! Was soll das überhaupt, mit dem Geweih? Suchst du ne Hirschkuh?“
„Und wenn ja, was hättest du mit ihr vor?“
Der andere Sterbliche in Schwarz lachte.
„Was soll denn dabei herauskommen? Ein Mann mit angewachsenen Geweih?“
Tapios Augenbraue zuckte mehrmals. Er griff mit den Händen nach dem Gewebe, dass sie alle miteinander verband.
Er fand … sieben Raben, zwei Falken, sechzehn Wildschweine, einen Waschbären, siebzehn Eichhörnchen, zwei Wölfe, drei Bienenstöcke, vier Füchse.
Er rief sie alle.
„Du redest nicht viel, oder?“, meinte der Sterbliche in grün. „Und was soll dieser Tanz? Sammelst wohl Pilze mit Effekte, he? Hast du überhaupt einen Namen?“
„Tapio“, grollte es aus ihm hervor.
„Wie der Gott des Waldes und der Jagd?“
„Ein Olympiasieger hat doch einst zu ihm gebetet!“
„Heißt deshalb ein Stadtteil Tapiola in Espoo?“
Rings um ihnen herum begann es zu rascheln. Im Halbschatten des Dickicht tauchten zahlreiche Augenpaare auf. Kleine und große Pelzgesichter, Schulter and Schulter näherten sich. Bedrohliches Summen erfüllte die Luft, als eine Wolke Bienen herbeizog.
„Was passiert hier Tapio?“
Er streckte die Hand zu den beiden aus, und seine Stimme donnerte. „Ihr wolltet doch eine Jagd. Und jetzt jagen wir!“

Der Virus

Langsam wache ich auf und genieße die letzten Traumfetzen in meinem Kopf. Herrlich! Endlich mal wieder richtig ausschlafen. Ich strecke mich zufrieden unter meiner Decke aus, dehne dabei meine Muskeln. Autsch! Das fühlt sich irgendwie alles sehr steif und eingerostet an. Da hilft wohl nur aufstehen und etwas Bewegung. Ich drehe den Kopf und atme plötzlich eine dicke Ladung Staub ein. Woher…?

Ein Hustenanfall stoppt jeglichen weiteren Gedanken. Ich keuche und schnappe verzweifelt nach Luft, doch alles, was ich einatme, ist weiterer Staub und Dreck. Panisch richte ich mich auf und wische mir über das Gesicht. Meine Hände sind danach weiß. Wie Sand rieselt es an mir herunter und sammelt sich auf der Bettdecke. Sie ist grau. Wieso grau? Ich hatte sie doch gestern erst frisch bezogen und da war sie herrlich frühlingsgrün.

„Kann man endlich wach sein? Ich dachte schon, ich muss Dich zu mir holen.“

Ich drehe den Kopf. Nun rieselt es auch aus meinen Haaren auf das Laken. Mein Vetter, der Tod, steht an meinem Bett und blickt mitleidig auf mich herab. Was macht er in meiner Wohnung? In meinem Schlafzimmer? Ich springe aus dem Bett und halte mich im nächsten Moment schwankend am Bettpfosten fest. Um mich dreht sich alles. Er will mir helfen, doch ich weise ihn energisch ab.

„Fass mich nicht an! Du weißt genau, dass ich das nicht vertrage!“
„In deinem Zustand muss ich Dich nicht mal anfassen, um Dich auf meine Seite zu holen.“
„Halt die Klappe! Man wird ja wohl mal ausschlafen dürfen, ohne gleich in Dein Reich zu wechseln!“
„War ein bisschen lang, was du da an Schlaf nachgeholt hast…“
„Was meinst Du damit?“
„Komm einfach mal mit nach oben.“

Ich folge ihm, immer noch leicht schwankend, eine Spur aus Staub hinter mir herziehend. Was geht hier vor? Ob mein Vetter damit etwas zu tun hat? Doch wir sind auf dem Dach angekommen und ich blicke mich entsetzt um.

„Was, bei allen Unsterblichen, ist hier passiert?“
„Du hast geschlafen.“
„Das weiß ich selber! Aber wer oder was hat über Nacht so ein Unheil angerichtet?“
„Du hast Dir einen Virus eingefangen.“
„Einen Virus? Als ich eingeschlafen bin, war hier alles in Ordnung. Alle gedieh prächtig! Hast Du etwas damit zu tun?“
„Ich habe zwar, dank deiner Erkrankung, immer mehr zu tun, aber ich bin es nicht, auf den Du wütend sein solltest. Der Virus war schon da, als Du eingeschlafen bist.“

Ich blicke mich fassungslos um. Die Wälder sind abgeholzt oder krank. Nur kleine Inseln sind noch intakt. Die Meere sind voller Müll, der die Wasserbewohner bedroht. Flüsse sind zu stinkende Kloaken verkommen. Die Luft verbrennt mir beim atmen die Lungen und überall stehen komische Gebilde, in denen es von seltsamen Wesen wimmelt.

„Wie lange habe ich geschlafen?“
„Ein paar Jahrhunderte. Du warst einfach nicht wachzukriegen.“
„Wer hat mir das angetan? Wer wünscht sich meinen Tod?“
„Der Virus.“
„Geht’s vielleicht ein wenig genauer? Ich muss schließlich wissen, womit ich es zu tun habe und wie ich es wieder loswerde! Das krieg ich nur mit einem absoluten Neustart wieder einigermaßen hin. Wenn überhaupt…“
„Erinnerst Du Dich an diese seltsamen Affen?“
„Affen? Was für Affen? Die, die mit dem Feuer herumgespielt haben? Diese schwachen, nutzlosen Dinger? Was haben die damit zu tun?“
„Meine liebe Mutter Natur, Du hast Dir Menschen eingefangen.“

Deus X., genannt Machina

“Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle? Mac ist mein Name. Ich bin hier, um Sie zu retten.”
Die Frau sah mich an, als wäre ihr schlagartig bewusst geworden, dass nicht mehr alle Murmeln in der richtigen Reihenfolge durch ihr Oberstübchen kullerten.
“Jetzt hat es mich endgültig erwischt”, murmelte sie.
„Keineswegs, meine Gute! Wenn Sie durchgeknallt wären, hätten wir Dyonysos geschickt, Gott des Rausches und des Wahnsinns. Apropos, Sie haben nicht zufällig ein Fläschchen da?”
Sie starrte mich an. Ein bisschen zu entsetzt. Dann schüttelte sie den Kopf.
“Bedauerlich!” Ich seufzte melodramatisch und blickte mich in der kleinen Kammer um. Nirgendwo ein anständiges Regal mit Whiskyflaschen, nicht einmal ein verstaubter Primitivo. Kein Wunder, dass die Alte gerettet werden musste. Welche Schriftstellerin setzt sich ohne ein Gläschen an den Schreibtisch?
“Sie sind…”, ihr Zeigefinger zeigte zitternd auf meinen Unterleib, “nackt.”
“Upps!” Ich sah an mir hinunter und lachte entschuldigend. “Das passiert manchmal beim Teleport.“ Ein gewinnendes Lächeln, um die Peinlichkeit zu überwinden, dann schnippte ich mit dem Finger. Kurzes Warten. Die Arme nach oben gestreckt stand ich da. “Momentchen…” Endlich segelte ein Gewand von der Zimmerdecke herunter. Elegant schlüpfte ich in das göttlich weiße Tuch, das an der linken Schulter zusammengeknotet war und lässig bis über die Knie fiel. Ich fühlte mich großartig, wie eine Art pummeliger Zeus. Mit zu wenigen Muskeln. Aber doch, ja, gottgleich.
“Wer sind Sie? Was wollen Sie?”
Ich sah zu meinem Erstaunen, dass sie sich an den Lehnen ihres Sitzes festkrallte. Ob sie Angst hatte, vom Stuhl zu rutschen? “Sie retten, meine Beste, wie schon gesagt. Und nennen Sie mich Mac. Kurzform, eigentlich heiße ich Machina, aber das tut hier nichts zur Sache.“
Sie nickte verständnislos. “Warum brauche ich Rettung, Mac? Abgesehen davon, dass ein dicker, nackter Mann plötzlich mit einem Knall in meinem Arbeitszimmer auftaucht?” Ihre Stimme gewann ein wenig an Selbstsicherheit.
“Das fragen Sie noch! Seit vier Tagen sitzen Sie an dem Schreibtisch, haben nichts gegessen und kaum getrunken. Und das alles wegen eines leeren Blatt Papiers.”
“Sind Sie eine Art Stalker?” Sie beugte sich vor, die Augen verengten sich.
“Sind das nicht alle Götter?” Wieder versuchte ich es mit einem gewinnenden Lachen. “Aber nein, ich bin kein Stalker. Ich bin ein Rettungsgott! Zehnter Klasse zwar nur, aber immerhin! Menschen in Not zu beobachten, gehört zu meinem Job.” Ich ließ stolz meine Brust anschwellen. “Deus, X., Machina. Zu Ihren Diensten. Sie, meine Liebe, beobachte ich seit Tagen dabei, wie sie einen Fortgang für ihre Geschichte suchen. Wie sie den Stift ansetzen, ihn wieder sinken lassen und darüber verzweifeln.”
Sie öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn erneut.
“Es ist aber auch vertrackt!”, sagte ich mit sanfter, mitfühlender Stimme. “Der Held ihres Romans, Malte Woerrs, ist dem Bösewicht entkommen, doch jetzt hängt er mit einer Hand an der Klippe. Wie soll er bloß gerettet werden?”
Endlich fand die Schriftstellerin ihre Sprache wieder.
“Woher wissen Sie davon?”
“Berufsgeheimnis!”, trällerte ich fröhlich. “Aber keine Sorge, ich habe die Lösung, bevor sie endgültig an ihrem Schreibtisch verhungern. Schreiben Sie mit: ‘Plötzlich fiel Malte Woerrs ein, dass er ein Lasso an seinem Gürtel befestigt hatte. Mit letzter Kraft zog er es hervor und schleuderte es über den Rand der Klippe. Die Schlaufe fiel über einen kleinen Felsbrocken und mit zum Zerreißen gespannten Muskeln zog er sich hinauf.’”
Die Alte saß da und starrte mich fassungslos an.
“Gern geschehen”, sagte ich und ging zur Tür. “Erwähnen Sie mich ruhig in Ihren Danksagungen.”
Damit ließ ich sie allein, den Rest würde sie schon schaffen. Und auch ich wusste, wohin ich als nächstes gehen musste. Zwei Straßen weiter verzweifelte der Besitzer eines Weinladens seit Monaten an schwindendem Umsatz. Zeit für den nächsten selbstlosen Rettungseinsatz.

Er ist der Beste, heißt es. Nun, das werden wir sehen. Nichts Geringeres als das Beste steht mir schließlich zu. Er scheint ein sehr wohlhabender Diener zu sein. Es steht sogar an seiner Tür. Zwar falsch geschrieben, denn es muss Therapeutés heißen, aber Diener müssen ja nicht schreiben können. Ich sehe mich in seinen Gemächern um, klopfe auf das kostbare Holz seines Schreibtisches, streiche über den teuren Bezug des Diwans … nein, es heißt nun Sofa. Ich vermisse Wein und Trauben, Brot und Oliven. Er scheint nicht einmal selbst Diener zu haben, die sich um sein Wohlergehen kümmern. Nun, wichtiger ist ja wohl mein Wohlergehen!

„Schön, Sie kennen zu lernen, Herr …“ Er sieht auf seine allwissende Leuchtscheibe. Die Anrede gefällt mir, sie ist so schön altmodisch, aber schon redet er weiter. Es war nur ein Zögern. „Herr Cupido. Eros Cupido, richtig?“
„Herr wäre angemessen.“, seufze ich und mustere ihn. Kein bisschen Ehrerbietung in seiner Haltung! Diese Welt ist wahrlich verkommen. Ich seufze noch einmal.
„Bitte nehmen Sie Platz. Wo Sie möchten. Auf dieser Couch können Sie sich wunderbar entspannen.“, bietet er mir an. Na immerhin. Aber ohne eine Dienerin mit Trauben und Wein will ich nicht auf einen Diwan. Kurz verharren meine Gedanken bei der weiblichen Schönheit, der männlichen Kraft und … nein, das muss warten. Ich nehme den Sessel und atme tief durch.
„Ihr Name ist ungewöhnlich. Sind Ihre Eltern Griechen?“, leitet er das Gespräch ein.
„Meine Eltern sind Aphrodite und Ares!“, erwidere ich empört. Nun schmunzelt er, als hätte ich einen Witz gemacht.
„Sehr traditionell.“, meint er. „Wir sollten unsere erste Stunde nutzen, um uns kennenzulernen.“ Aha, er hat es eilig. Er ist also auch so ein Opfer der Zeit. Nichts ist mehr so, wie ich es liebte. Niemand hat Zeit. Sie liegt doch überall herum! Zeit füreinander, Zeit für Liebe und Hingabe, Zeit für Lust und Zuwendung. Begierde gibt es noch, aber es ist eine andere. Onkel Phthonos würde sich hier wohl fühlen. Neid und Missgunst regieren diese Welt.
„Ich bin sicher, du kennst mich schon. Ich bin Eros.“, erkläre ich ungeduldig. Ihn muss ich nicht kennenlernen, er dient schließlich mir und nicht umgekehrt. Huldigen wäre mir aber noch lieber.

„Natürlich… natürlich.“, murmelt er nickend und lehnt sich zurück, als würde er ein besonders kompliziertes Rätsel betrachten. Ich breite die Arme aus.
„Du musst mir diese Welt erklären! Niemand hört auf mich, niemand nimmt mich ernst, keiner glaubt an mich!“ Ich bin wirklich so verzweifelt, ich spiele das nicht. Es ist demütigend genug, einen Diener um Rat zu fragen UND ihn auch noch dafür zu bezahlen. Er nickt mit vorsichtiger Nachsicht.
„Das ist sicher nicht leicht.“, meint er verständnisvoll. Ich bin den Tränen nahe.
„Nicht leicht? Sie verstehen mich auch nicht!“ Ich werfe die Hände hoch. Er lächelt begütigend. Ich kann seine Gedanken hören, verstehe sie aber nicht. Dornröschen-Syndrom.
„Schlafen Sie viel?“, fragt er verständnisvoll. Mir stockt der Atem und ich starre ihn mit offenem Mund an. Woher weiß er das? Versteht er mich doch? Ich lächle und sehe zu seinem Diwan. Wir werden viel Zeit miteinander verbringen. Am Ende wird er eine Dienerin für mein Wohlergehen haben. Und er wird nicht mehr nur an seine Sekretärin denken, sondern sie auch… Nunja, ich bin ja kein Gott des Anstands. Das wird schon wieder.

Göttin der Erde

Vor langer Zeit habt ihr mich geliebt und verehrt. Ich war Gaia und Ceres, Prithivi und Demeter. Mit vielen Namen habt ihr mich besungen. Und doch war ich immer die Eine: die Göttin der Erde.

Jahrtausende habe ich über das Leben gewacht, das die Erde gebiert. War euch liebevolle und mahnende Mutter. Habe euch gelehrt, schöpferischer Teil der Natur zu sein, im Leben und im Vergehen.

Ich habe euch Raum gelassen für eure Entwicklung. Habe zugesehen, wie ihr mehr sein wolltet: Nicht mehr Teil der Natur, sondern Herrscher über die Natur. Ich habe euch mit euren eigenen Kräften spielen lassen. Und ich habe mich zurückgezogen. Bis jetzt.

Die Erinnerung an mich ist in euren Genen verblasst. Doch ich trete nun wieder in Erscheinung, wenn auch für euch gestaltlos. Ich bin der Gegenwind, der euch in euren Leben zum Stehenbleiben und Innehalten zwingt. Ich begegne euch in euren schlimmsten Albträumen, wenn sich die Erde vor euch öffnet und euch verschlingt. Ich bin das Unbehagen, das euren Blick gen Himmel lenkt und euch eure Hilflosigkeit gegenüber der Natur und ihren wilden Kräften erahnen lässt.

Ich bin es aber auch, die euch den Atem raubt, wenn ihr still werdet in all dem Chaos der modernen Zeit, und einen Sonnenuntergang genießt. Ich führe euch die Hand, wenn ihr mit euren Kindern ein wenig Grün in eure Balkonkästen pflanzt. Und ich bewege euer Herz, damit ihr euch an einem Käfer oder am Gesang eines Vogels erfreuen könnt.

Und gerade habe ich einen kleinen Jungen gesehen, der auf einem Spazierweg einen Regenwurm entdeckt hat und ihn sanft aufhob. „Mama“, sagte er, „ich bringe ihn dort drüben zu diesem Erdhügel. Damit ihm nichts passiert und er sich wieder verbuddeln kann“. Seine Mutter sah ihm liebevoll nach.

Und jetzt weiß ich, dass ich euch weiter mit euren eigenen Kräften spielen lassen kann. Ihr seid auf einem guten Weg.

Ein Gott zu falscher Zeit

Es war ein Moment des Erwachens, als ich urplötzlich zwischen Betonbunkern und blinkenden Tafeln auftauchte. Tief aus den Nebeln der Vergangenheit.
Die Welt hatte sich verändert.
Wolkenkratzer, moderne Tempel, ragten hoch in den Himmel auf und erinnerten mich an die Heiligtümer meiner Ära. Doch anstelle von Opfergaben und Riten sah ich ausschließlich Menschen, die gebannt auf kleine, leuchtende Scheiben starrten.
Aus Neugier begab ich mich näher, nur um zu erfahren, dass diese «Smartphones» die neuen Orakel dieser merkwürdigen Welt waren.
«Social-Media-Influencer», unbedeutende Sterbliche, schienen die Rolle von uns Göttern übernommen zu haben. Ungläubig beobachtete ich, wie diese Beeinflusser Anhänger sammelten, ihre Gemälde in die Welt hinausschickten und Daumen als Opfergaben ernteten.
Verwirrt und verärgert wanderte ich durch diese moderne Zeit, die mir so fremd erschien. Die Menschen schienen zahlreiche Stunden mit merkwürdigen Ritualen zu verbringen, bei denen sie ihre Aufmerksamkeit auf diese flachen Dinger richteten.
«Likes» und «Follower» waren die neuen Währungen, und ich verstand nicht im Geringsten, warum diese Sterblichen so besessen von ihnen waren. Welch armseliges Tauschmittel!
In meiner Fassungslosigkeit verwechselte ich die Begriffe und Rituale. Anstelle von Gebeten und Huldigungen, wie sie in meiner Zeit üblich waren, versuchte ich, mich in einer Welt der «Hashtags» und «Emojis» einzufinden. Doch meine göttliche Natur konnte diese Konzepte nicht begreifen, geschweige denn schätzen.
Die Welt hatte sich so verändert, dass meine einstigen Macht und Herrlichkeit hier keine Bedeutung mehr hatten.
Mit einem Seufzen der Enttäuschung beschloss ich, diese Welt wieder zu verlassen. Die Betonbunker, die leuchtenden Tafeln und die endlosen Ströme von Gemälden und Informationen waren zu viel für mich. Es war an der Zeit, in die Nebel der Vergangenheit zurückzukehren und zu warten, bis die Welt erneut nach göttlicher Führung verlangte.

Woran glauben Sie denn?

»Wir haben ein Problem!« Ohne Vorwarnung riss er die Tür auf. Sonnenstrahlen erhellten mein Antlitz.
»Was gibt es?«, fragte ich in strahlender Gleichgültigkeit.
»Chaos auf der Leiter … schnell … sie verursacht einen Stau.«
Mühsam erhob ich mich. Ich war Jahrtausende alt und niemand hatte daran gedacht, mir die Behändigkeit eines Zeus zu verpassen oder die donnernde Macht eines Thors. Nein, ich war einfach ein alter Mann, ein glühender alter Mann, dessen göttliche Rippen ätzten.
»Die Leiter funktioniert ohne mein Zutun. Eine einfache Entscheidung ist zu treffen. Himmel oder Hölle. Schwarz oder weiß.« Ich trottete murmelnd dem Engel hinterher. »Nichts davon ist schwer. Wir überfordern die Seelen weder mit Wiedergeburt in Tierkörpern noch kontrollieren wir, ob alle Glaubensprüfungen erfüllt wurden. Hoch oder runter? Himmel oder Hölle? Eine Frage, eine Antwort. Binär und einfach. Was um Himmelswillen kann dabei schief gehen?«

Das Ende der Leiter ragte zweifaltig empor. Die Verstorbenen drängelten sich hinter einer Frau, in deren tiefen Gesichtsfalten sich die Schatten tummelten.
»Da bin ich«, brüllte ich, damit es wirklich alle hörten. Ich zog den Bauch ein, straffte die Schultern. »Was ist los?«
»Ehrfürchtiger Gott«, der Engel ging auf die Knie, »sie verweigert eine Entscheidung.«
Ich betrachtete die wartende Seele ratlos. »Falsche Religion?«, fragte ich. Dass eine Leiter verwechselt wurde, passierte alle hundert Jahre, bei der ständig wachsenden Zahl an Religionen nicht verwunderlich. Selbst den Zeugen Jehovas wurden eigene Sprossen zugesichert… ich schüttelte den Kopf.
»Gar keine Religion!«, betonte die runzelige Frau und blickte unbeeindruckt zu mir auf. Sie schien meines Strahlens immun zu sein.
»WIESO nur?«, donnerte ich, im Versuch wie Thor zu klingen.
»Atheismus«, hauchte mir ein Engel zu.
»Oh nein …« Ich hatte davon gehört. »Sie können es sich nochmal überlegen, jetzt wo Sie schon einmal hier sind. Himmel oder Hölle, ewiges Sein. Im Licht baden, im Feuer brennen, wählen Sie einfach.« Zu betteln war meiner unwürdig, aber man tat, was man konnte.
»Daran glaube ich aber nicht.«
Das Strahlen meiner Brust verblasste, ich schrumpfte, nur ein Stück, aber die Schwere der Welt lastete plötzlich auf meinen Schultern, drückte mich zusammen. Wer brauchte schon einen alten Gott?
»Woran glauben sie denn?«, fragte der schwirrende Engel zu meiner Rechten.
»An die Wissenschaft!« Sie reckte den Kopf empor.

Ich seufzte schwerfällig, trat nach vorn und schnippte ihren Körper von der Leiter. Sie würde sich zu den Atomen des Universums gesellen gemeinsam mit meinen Nerven und mit meinem erhobenen Haupt.

Reprise

Kennt ihr das? Ihr geht nur mal eben ein Nickerchen machen, wacht auf und 2000 Jahre sind um? Nein? Glück für euch. Das ist nämlich genau das, was uns passiert. Mein Bruder und ich haben die Augen aufgemacht, gleichzeitig, wie es bei Zwillingen eben so ist, und haben feststellen müssen, dass da, wo unser Tempel einst thronte, nun ein ordinäres Haus hockt. Ist nicht einmal im guten Zustand. Scherben und zerbrochene Möbel liegen herum, der Putz bröckelt, wenn man gegen die Wand klopft, und das Gebälk seufzt und jammert, als wäre es lebendig.
Die Stadt, die sich vor der Tür ausbreitet, ist allerdings auch kein Traum. Häuser über Häuser, Menschen über Menschen, Konstruktionen über Konstruktionen. Ich bin noch dabei, all die Farben und Geräusche aufzunehmen und mir einen Überblick über das Chaos zu verschaffen, da ergreift mein Bruder bereits die Initiative. Er breitet die Arme aus und dröhnt eindrucksvoll: „Sehet! Eure Götter sind zu euch zurückgekehrt! Auf dass ihr feiern und uns huldigen möget!“
Zu unser beider Entsetzen fällt niemand auf die Knie und auch kein Rind wird hervorgezogen, um es uns zu opfern.
„Von welchem Stern kommst du denn?“, fragt ein junger Mann im Vorbeigehen und lacht abfällig. „Alien!“
Mein Bruder sieht hilflos zu mir, ich hebe die Schultern.
„Es scheint eine andere Zeit zu sein“, sage ich. „Sieh dich um. Ihre Streitwagen fahren ohne Pferde, als wären sie mit Leben beseelt.“
Ein besonders großes Exemplar braust so machtvoll an uns vorbei, dass es unsere Haare flattern lässt. Es hinterlässt eine Wolke grausigen Gestanks, der sich mit Schwertern und Mistgabeln gegen meinen Geruchsinn in die Schlacht wirft.
„Sie sollten uns trotzdem huldigen“, sagt mein Bruder. „Wissen sie etwa nicht, wer wir sind?“
„Wer sind wir?“, frage ich zurück und wir schweigen beide. Ich kann mich nicht an den Namen meines Bruders erinnern. An meinen eigenen auch nicht. Das sollte nicht passieren, solange es auch nur eine Person auf der Welt gibt, die noch weiß, wer wir sind.
Ein erster Tropfen fällt aus grauen Wolken, als würde das Wetter genauso weinen wie unsere Herzen. Vergessen. Wir sind vergessen worden. Für Götter gibt es nichts Schlimmeres.
Ich schaue zum Himmel empor und entdecke eine dreckige Straßentaube auf einer grell leuchtenden Tafel sitzen. Sie beobachtet uns aufmerksam.
„Die Tiere“, sage ich. „Die Tiere erkennen noch die Wahrheit.“
Mein Bruder folgt meinem Blick. „Dann lass uns zu ihnen gehen.“
Gleich darauf schwingen sich zwei rein weiße Tauben in den Himmel, und der Bettler auf seinem Posten auf der anderen Straßenseite fragt sich, ob er soeben eine göttliche Vision gehabt hat oder ob in einer der Flaschen vorhin etwas Stärkeres als Bier drin gewesen ist.

Kosmische Energie

Das letzte Mal, als ich die Erde besuchte, konnte ich in einem Wagen fahren, den noch gehörnte Kühe durch den Nachthimmel zogen.
Dieses Mal muss ich mir einen anderen Wagen aussuchen. Papa sagt, er wäre nicht passend in dieser Zeit und ich höre mal lieber auf ihn, wer will schon einem Titanen widersprechen.
Im Fuhrpark würde ich mein Gefährt finden, die Farbe silbern und mit einem Stern versehen, fast so bequem, wie meine alte Kutsche.
Ich mache mich auf dem Weg zu Merle, sie hat mich gerufen. In 365 Nächten hat sie zu mir hinaufgeblickt und mich angefleht ihr zu helfen.
Meinen nagelneuen Schlitten auf vier Rädern parke ich vor dem Klinikum und ziehe die Klamotten an, die auf der Rückbank liegen.
Auf der Intensivstation finde ich Merle, sie kauert vor einem Bett, welches links und rechts verkabelt ist und die darin liegende Frau ist mit einer Menge Schläuche versehen. Sie blickt auf, als ich das Zimmer betrete und überstürzt mich mit Fragen. Zum Glück kommen meine Halbbrüder mir rechtzeitig zu Hilfe. Die Götter in Weiß schauen mich befremdlich an und tuscheln unverständliches Zeug.
„ Sind sie die neue Herzchirurgin?“, will der Halbgottvater wissen. Ich drehe mich mehrmals um meine eigene Achse und meine Sichel auf dem Kopf taucht den Raum in Silberglanz. Ehe sie realisieren, was passiert, bin ich schon wieder verschwunden.
Ein stickiger, enger Kasten in dem Gebäude bringt mich in die erste Etage.
„Mama, warum hat die Frau ein silbernes, langes Kleid an und einen halben Kreis auf dem Kopf?“ Ich schaue entsetzt an mir herunter. Tatsächlich mein grünes Kleid, was wirklich ziemlich deprimierend aussah, ist verschwunden und die silbernen Pailletten erhellen das ruckelnde Etwas. „ Das ist ein Faschingskostüm mein Schatz, heute ist doch Rosenmontag.“
Ich eile weiter zu meiner Kutsche und drehe gerade den Schlüssel im Schloss herum, als sich eine hagere Hand auf meine Schulter legt.
„ Nimm mich mit“, fleht die fast durchscheinende Gestalt. Es ist die Frau, an dessen Bett ich eben noch stand. Ihr grünes Hemdchen flattert um ihre Arme, als wären es Flügel. „ Steig ein“, flüstere ich ihr zu. „ Es ist der Wunsch deiner Tochter, ich bin gekommen, um ihn zu erfüllen.
Ich nehme die Frau an die Hand und setzte sie neben mich in den Streitwagen. „Halte dich gut an deiner gehörnten Kuh fest! Oh, la Luna.“

Morpheus

Ich bin aufgewacht. In meinem eigenen Traum. Die Last jahrtausendealter Schreie, salziger Tränen, erstickender Angst lähmt meine Glieder. Langsam setze ich einen Fuß vor den anderen. Es ist kalt. „Vater, wo bin ich?“, frage ich in die Leere, doch es bleibt still. Ein Schwindel durchzieht meinen Kopf, wabert durch meinen Körper, bis er aus den Fingerspitzen herausströmt und mit der Umgebung verschmilzt. „Hypnos, Vater, warum schlafe ich nicht mehr?“ Ich konzentriere mich. Wer bin ich, wer bin ich gewesen? Gestalt. Traum. Wahrheit. Ich erinnere mich. Meine Worte schnitten sich in die Schlafenden hinein, damit sie am Morgen ihre Wunden lecken und dabei verstehen konnten. Ist die Erinnerung nur ein Déjà-vu? Ein Kribbeln kriecht über meine Haut. Ich schließe die Augen. Abermillionen Körnchen flimmern in einem leblosen, unendlichen Meer an Bildern. Ich strecke meine Hand aus, doch die Finger finden keinen greifbaren Grund. Ich sehe Menschen, Tiere, Leben … Nein. Nur Simulakren.

Messer fahren in mich hinein, ich sinke auf die Knie. Schreie, Kreischen, ein Dröhnen, als breche die Welt entzwei. Ich presse meine Hände auf die Ohren, doch die Kakophonie reißt sie in Partikel. „Warum schlafe ich nicht mehr?“ Stimmen in meinem Kopf. Die Klingen finden ihren Weg, sie wissen, wo sie suchen müssen. Langsam sezieren sie meine Seele. „Wie heiße ich?“ Als breche die Welt entzwei … Höre zu … Ich erinnere mich: Ich war Morpheus. Ich bin. Traum und Botschaft.

Ich schreie dem Verderben entgegen. Schwarze Galle strömt in meinen geöffneten Mund. Wach auf, Menschheit. Simulakren formen Wahrheit, doch das Leben ist auf der anderen Hälfte. Warnung. Warnung. Warnung. Ich spüre, dass das unendliche Meer meine Rufe aufnimmt und fortschwemmt. Werden die Menschen sie hören, wenn sie am Morgen die Nachrichten empfangen?

Es ist so dunkel und kalt. „Vater, warum bin ich hier allein?“

Wir Forianer

Wir Forianer sind Geschichtenerzähler.
Uns eint ein gemeinsames Interesse, die Leidenschaft für Geschichten. Gottgleich erschaffen wir Welten, Tiere und Menschen.
Wir helfen und unterstützen uns mit Ratschlägen und aufmunternden Worten. Aber trotzdem sind wir Rivalen und kämpfen hingebungsvoll gegeneinander um virtuelle Büchlein.
Ich frage mich, wie wohl ein Planet aussehen würde, den wir Forianer erschaffen. Ziemlich sicher gäbe es eine große allgemein zugängliche Bibliothek, Lesesessel frei Haus, viele Schreibstüblein sowie Buchstabensuppe als Nationalgericht.
Lasst uns gemeinsam diesen Planeten schaffen!
Wir wissen ja, wie das geht: Am Anfang war das Wort …