Seitenwind Woche 7: Göttlicher Auftritt

Das Flüstern der Ewigkeit

Ein weiterer Zyklus ist vollbracht. Ich bin erwacht, schaue mein Werk und sehe. Sie sind zahlreicher geworden. Fruchtbar sind sie. Aber sie beginnen an einigen Orten zu viel zu wollen, zu viel zu fordern, sich zu überfordern. Viele ignorieren das Gleichgewicht, viele haben den Bezug zu sich selbst verloren. Und den Bezug zu mir. Sie glauben, aber dieser Glaube ist … flach. Dieser Glaube hat mit mir nicht mehr viel zu tun. Ich bin für sie fast unsichtbar geworden. Es ist zu lange her. Was sind diese flachen Kästchen, die sie stetig in der Hand halten, auf die sie starren und Selbstgespräche führen? Was sind das für große, fahrende Räderkisten in denen sie sitzen, die teilweise üble Dämpfe ausstoßen?

An Erfindungsreichtum hat es ihnen nie gemangelt, aber jetzt übertreiben sie, finde ich. Vielleicht hätte ich ihnen doch die Levitation lehren sollen, dann bräuchten sie diese stinkenden Kisten nicht. Es scheint, sie fürchten sich vor Stille, Ruhe, inne halten. Sie gaukeln sich selbst Geschäftigkeit vor und haben sich doch verloren. Vielleicht wird es Zeit, sie wieder aus ihrer Lethargie reißen und eine Katastrophe herbei zu führen, damit sie wieder lernen, mit!einander zu leben.

So steige ich herab, bewege mich unter ihnen, unsichtbar und doch spürbar. Sie hetzen vorbei, gefangen in ihren eigenen kleinen Welten. In ihren Augen sehe ich die Leere, das Verlangen nach etwas, das sie nicht benennen können. Sie haben den Himmel vergessen, die Erde unter ihren Füßen, die Luft, die sie atmen. Alles ist ihnen selbstverständlich geworden, nichts ist mehr heilig.

An einem Platz, der einst ein heiliger Hain war, jetzt aber von kaltem Stein und Glas umgeben ist, halte ich inne. Eine junge Frau sitzt dort, ihr Blick auf ein leuchtendes Kästchen gerichtet. Plötzlich blickt sie auf, als ob sie meine Anwesenheit spüren würde. Unsere Blicke treffen sich, und für einen Moment scheint sie mich wirklich zu sehen. Ein Hauch von Erkenntnis, ein flüchtiger Gedanke an etwas Größeres als ihr kleines Gerät. Dann schüttelt sie den Kopf und wendet sich wieder ab. Doch der Samen ist gesät.

In den Straßen sehe ich Kinder spielen, lachend und unbeschwert. Sie sind es, die noch eine Verbindung zu mir spüren, die noch nicht ganz verloren sind in dieser Welt der Maschinen und des Lärms. Vielleicht ist es durch sie, dass ich wieder Einfluss nehmen kann, eine sanfte Erinnerung an das, was einst war und wieder sein könnte.

In einer belebten Straße, umgeben von glitzernden Schaufenstern und hektischem Menschentreiben, fällt mein Blick auf einen alten Mann. Er sitzt auf einer Bank, sein Gesicht gezeichnet von den Spuren der Zeit, und füttert die Tauben. Um ihn herum herrscht das wilde Treiben der Stadt, doch er scheint in einer anderen Welt zu sein. Als ich mich ihm nähere, blickt er auf und murmelt Worte, die an längst vergessene Zeiten erinnern. Er spricht von einem Fluss, der hier einst floss, von Bäumen, die Schatten spendeten. Seine Worte sind wie ein Echo aus der Vergangenheit, und für einen Moment erkennt er in meinen Augen das Alter und die Weisheit. Wir teilen einen stillen Moment des Verständnisses, bevor die laute Welt uns wieder einholt und er sich erneut den Tauben zuwendet.

Schließlich, in einer kleinen, ruhigen Gasse, begegnet mir eine Gruppe von Straßenkünstlern. Sie malen mit Kreide auf dem Pflaster, schaffen bunte Welten und fantastische Landschaften. Ein kleines Mädchen steht dabei, staunt über die Bilder, die wie durch Magie entstehen. Ihre Mutter versucht, sie wegzuziehen, doch das Kind ist gefesselt von der Schönheit der Kunst. Ich knie mich neben das Mädchen und flüstere ihr eine Geschichte zu, die zu den Bildern passt. Ihre Augen leuchten, und für einen Moment ist sie Teil dieser magischen Welt, ein lebendiger Teil der Geschichte, die ich ihr erzähle. Ihre Mutter, nun auch verzaubert von dem Anblick, lächelt dankbar, bevor sie das Mädchen sanft an der Hand nimmt und weitergeht.

Ich streife durch die Stadt, ein Geist der vergangenen Zeiten, ein Flüstern im Wind. Vielleicht ist es noch nicht zu spät. Vielleicht gibt es noch Hoffnung für diese Welt, diese Kinder der Sterne, die so sehr vergessen haben, wer sie sind. Ich werde warten, beobachten, und wenn die Zeit reif ist, werde ich handeln. Denn ich bin der Wächter, der Lehrer, der ewige Beobachter. Und mein Werk ist noch nicht vollbracht.

In Asche gebettet, erwachte ich.
Mein Herz erbebte sowie die Erde unter mir und ich spürte, wie das Leben durch meine Adern kroch.
Seit Anbeginn der Zeit hielt ich die Waage zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Nur wenn dieses Gleichgewicht drohte aus der Balance zu geraten, würde ich meinen Schlaf verlassen und mit klarem Auftrag zur Erde hinabsteigen.

„Mut, den Mutigen. Fäulnis, den Faulen. Freiheit, den Freien. Verderben, den Verdorbenen.“

Vier Tage hatte ich Zeit, um ein Urteil zu fällen und das Schicksal derer zu besiegeln.

Am ersten Tag, widmete ich mich den Mutigen. Ich sah erstaunlich viele Kämpfer, welche erhobenen Hauptes in ihre Schlachten zogen.

Am zweiten Tag, suchte ich nach den Faulen. Dort glaubte ich zu erkennen, dass sie gar nicht mehr faul waren.
Sie hatten Energie gefunden, forschten und entwickelten.
Angenehm überrascht, setzte ich meine Reise fort.

Am dritten Tag, besuchte ich die Freien.
Es war kaum zu glauben, denn sie bereisten die Welt, folgten ihren Bedürfnissen und hatten dem Materialismus den Rücken gekehrt.
All diese Einblicke führten mich hoffnungsvoll an das nahende Ende meines Aufenthaltes.

Am vierten Tag, musste ich mir die Verdorbenen ansehen. Es war stets der schlimmste Teil des Besuches hier unten, doch glaubte ich jenes Mal, meinen eigenen Augen nicht zu trauen.

Die Verdorbenen hatten Mut gefunden. Sie waren hinausgegangen und hatten sich der Menschheit offenbart. Präsent und mit lauter Stimme, versprachen Sie den Völkern das Blau des Himmels.

Doch plötzlich sah ich die Mutigen, wie sie nicht mehr wussten, wofür sie kämpfen sollten. Die Grenzen zwischen Richtig und Falsch waren verschwommen.

Ich verstand schließlich auch, dass die Faulen nur so überaus fleißig waren, um danach noch fauler sein zu können.
Roboter, welche deren Rasen mähten und ihr Heim reinigten. Sie kommunizierten bloß noch über Bildschirme, damit sie sich nicht vom Sofa wegbewegen mussten und ihre Mahlzeiten ließen sie sich vor der Haustür ablegen.

Und die Freien? Diese Heuchler wurden verdorben, indem sie ihre Freiheit, rund um die Uhr, mit Millionen von Menschen teilten, denen der Mut dazu fehlte.
Anstatt den Berg zu erklimmen, um letztendlich diese grenzenlose Lebensenergie am Gipfel zu inhalieren, suchten sie nach den passenden Lichtverhältnissen für Fotos und Videos.
Anstatt die Ruhe in sich aufzunehmen, welche das Meeresrauschen ihnen schenken wollte, bearbeiteten sie stundenlang die Aufnahmen, um sie möglichst attraktiv für die Fremden wirken zu lassen.

Und was war dann mit den Verdorbenen?
Es dauerte nicht lange, da sah ich sie alle.
Sie ließen ihr Leben als Bauern auf dem Schachbrett.
Sie erfanden mehr und mehr Unfug, um sich so wenig wie möglich bewegen zu müssen.
Sie machten andere auf ein Leben neidisch, welches sie doch selbst nicht hatten.

Allerdings habe ich dort noch etwas anderes entdeckt. Etwas Kleines und Seltenes. Zerbrechlich und dennoch unverzichtbar.

Wieder zurück bei den anderen Göttern, verkünde ich nun mein Urteil.

„Die Zeiten ändern sich sowie das Leben in ihnen. Einzig gerecht wäre, meiner Reise einen fünften Tag hinzuzufügen. Vernunft, den Vernünftigen.“

Gott sagt ciao

Selbst ich, der Allwissende, verstehe diese Menschen nicht mehr. Einst beteten sie mich an. Ehrfurcht und Demut begleiteten ihre Gebete. Und Dankbarkeit.
Inzwischen ist das ganz anders. Ihre Opfer bringen sie auf dem Altar des Geldes dar, angetrieben von Egoismus und Machtgier. Geopfert werden Tugenden wie das gute alte Gewissen, das viele von ihnen längst den Höllenhunden zum Fraß vorgeworfen haben.

Jetzt lagern sie auch noch das Denken aus. Verlieren sich in einer Welt, die bestimmt ist von Nullen und Einsen. Dort wimmelt es nur so von neuen Göttern. Ein Teil davon sind die sogenannten Influencer. Beeinflusser! Geht‘s denn noch? Allein der Name spricht Bände. Wie kann man sich wissentlich manipulieren lassen? Wozu habe ich ihnen einen freien Willen, einen geflügelten Geist mitgegeben auf ihre Lebensreise?
Ob das im Internet wirklich Menschen sind, das weiß natürlich auch niemand mehr so genau. Die Künstliche Intelligenz ist inzwischen so fit, dass sie den armen Schäfchen alles unterjubeln kann.
Wie wäre es zur Abwechslung mal wieder mit natürlicher Intelligenz? Kaufentscheidungen selber treffen. Meinungsbildung aufgrund von Fakten treffen. Verschwörungserzählungen hinterfragen.

Wer heutzutage keine E-Mail-Adresse besitzt und nicht in irgendwelchen sozialen Netzwerken aktiv ist, der existiert ja quasi gar nicht. Daran ändert nicht einmal seine Geburtsurkunde etwas.
Und genauso ergeht es mir auch. Aus dem Leben der meisten Menschen bin ich verschwunden. Gut, einen amtlichen Nachweis über meine Existenz konnte ich sowieso noch nie erbringen. Man glaubte einfach an mich und mein Wirken, Punkt.

Es kommt aber noch schlimmer. Und ich weiß gar nicht, ob ich traurig oder zornig sein soll. Sie vernichten ihre eigene Lebensgrundlage. Dabei schenkte ich ihnen den schönsten Ort im Weltall. Ein Paradies – die Erde. Nun ausgebeutet, vermüllt und vergiftet. Kontinuierlich katapultieren sie Mitgeschöpfe aus dem wundervollen Kreislauf des Lebens. Dabei wissen sie ganz genau, dass selbst die kleinste Kreatur und das unscheinbarste Pflänzchen ihren Sinn im großen Räderwerk erfüllt.

Das wird wohl nichts mehr mit mir und den Menschen.
Ich sag dann mal ciao.

Schöpfer ausgeschöpft

Berge gepflanzt und Meere gefestigt, Kreaturen gezimmert und Welten geboren. Mein Licht bringt Wälder zum Brennen und Eis zum Schmelzen, Gesichter zum Strahlen und Augen zum Tränen. Kein Spiegel der Erde ist meines Antlitzes würdig.

Leben ohne mich - früher nicht lebenswert. Mittlerweile nur dann gut genug, wenn es besser werden soll. Glauben verloren, glaube ich. Sonne geht auf, Welt geht unter. Hoffnung wird wohl hoffnungslos. Lachen nur in Missgunst und Güte nur gegen Bezahlung.

Die Welt braucht keinen Gott. Die Welt braucht ein Ende.

Gott oder nicht

Die Stadt pulsiert vor Leben, als ich erwache. Das Dröhnen der Straßen und das Spiel der Lichter ist mir fremd. Menschen hasten an mir vorbei, den Blick auf leuchtende Vierecke gerichtet.

Ein junges Paar geht an mir vorbei, die Hände fest ineinander verschlungen. „Schau mal Schatz, ein Typ in einem alten Kostüm. Cosplay, denk ich mal“, sagt die Frau und zwinkert mir zu.

Ich nicke und lächele. Was auch immer ein Cosplayer ist, es scheint in diese Zeit zu passen. Ich wende mich ab und versuche, mich an die flirrenden Lichter und den ohrenbetäubenden Lärm der Stadt zu gewöhnen.

In einem Park finde ich eine Bank und setze mich, um meine Gedanken zu ordnen. Eine junge Frau mit violettem Haar und einem Edelstein im Nasenflügel setzt sich zu mir. „Coole Robe! Welche Figur stellst du dar?“

„Ähm, ich bin … kein Cosplayer“, antworte ich und sie lacht.

„Egal“, sagt sie. „Jeder hat seine eigene Geschichte. Also, was treibt dich nach New York City?“

Ich erzähle ihr von meiner göttlichen Herkunft und meinem Erwachen hier. Sie hört aufmerksam zu, ihre Augen leuchten vor Neugier. „Wow, das klingt nach einem wilden Trip. Aber hey, willkommen im 21. Jahrhundert, Gott oder nicht.“

Ein älterer Herr mit grauer Hose, grauer Jacke und grauem Hut bleibt stehen und mustert mich. „Ein bisschen viel auf einmal, oder?“

„Ja“, sage ich. „Die Welt hat sich verändert.“

„Schon verrückt, was hier alles passiert, nicht wahr?“ Sein rechter Mundwinkel hebt sich zu einem wissenden Grinsen und er wechselt einen Blick mit der jungen Frau. „Aber man gewöhnt sich daran. Hier findet jeder seinen Platz. Gott oder nicht.“

Göttliches Flüstern zwischen Beton und Blumen

Als ich erwachte, lag eine fremde Welt unter einem Himmel, der sich nicht verändert hatte. Die Sterne, meine alten Freunde, funkelten gleichgültig über die endlose Ausdehnung von Beton und Stahl, die sich unter mir ausbreitete.

Ich, einst verehrt als Göttin der Natur, fand mich in einem Dschungel wieder, der nicht aus Lianen und Blättern, sondern aus glänzenden Türmen und blinkenden Lichtern bestand. Die Erde, die ich unter meinen Füßen erwartete, war verborgen unter steinharten Wegen. Und die Menschen, meine Kinder, schienen mich vergessen zu haben. Sie hetzten vorbei, ihre Blicke fest auf kleine leuchtende Rechtecke gerichtet, die sie in ihren Händen hielten.

Es dauerte eine Weile, bis ich verstand. Dies war die neue Welt – eine Welt, die sich weit von den Wurzeln und Flüssen entfernt hatte, die einst ihr Herz waren. Doch inmitten des Lärms und der Hektik fühlte ich ein Ziehen, einen stummen Ruf. Die Natur war immer noch hier, verborgen, aber lebendig.

Ich begann, dort zu wirken, wo ich kaum bemerkt wurde. Ein Grashalm, der sich durch einen Riss im Gehweg kämpfte. Eine Blume, die plötzlich in einem kleinen ungenutzten Stück Erde blühte. Die Menschen gingen vorbei, einige bemerkten es, lächelten vielleicht, bevor sie weiterzogen in ihren geschäftigen Tagen.

Dann wagte ich mehr. Ich ließ die Flüsse klarer fließen, reinigte die Luft mit einem Hauch meiner Macht. Bäume, die in der Enge zwischen den Gebäuden standen, trugen plötzlich reichere Früchte. Und die Menschen begannen, innezuhalten. Sie sahen auf, ihre Augen suchten nach dem Ursprung dieser kleinen Wunder.

In ihren Gesichtern sah ich Verwunderung, manchmal Dankbarkeit. Einige begannen zu sprechen, von der Natur, die zurückkehrte, von der Erde, die atmete, auch inmitten des Betons.

Ich erkannte, dass ich nicht kämpfen musste, um wieder einen Platz in dieser Welt zu finden. Es reichte, ein Flüstern zu sein, eine sanfte Erinnerung an das Grün, das einst überall war. Meine Präsenz würde ein subtiler Hauch bleiben, eine Einladung, die Schönheit des Lebens inmitten der Hektik nicht zu vergessen.

In der Stille der Nacht, wenn die Stadt zur Ruhe kam, sprach ich mit den Sternen. Ich erzählte ihnen von den kleinen Veränderungen, den Keimen der Hoffnung. Und in diesen Momenten wusste ich, dass mein neues Reich nicht verloren, sondern nur verändert war – ein heiliger Garten, verborgen zwischen den Zeilen der modernen Welt.

Zwei Boten

„Verzeihung! Sie sind wohl einer meiner innigsten Verehrer?“ Verärgert, drehte sich Tobi um. Er war von kleiner Statur, die durch einen beeindruckenden Bauchumfang abgerundet wurde. „Ich? Ne-ich kenn’ Sie nich’!“, brummte er einsilbig, während er routiniert Pakete aufeinander stapelte. „Aber Ihr Stoffgewand-in wundervollem blau, wie es nur in den Gewässern des tosenden Ilisos zu finden ist!“, fing der Mann mit diesem lächerlichen Topf auf dem Kopf wieder an." Hä? Willst Du Ärger? Ich arbeite für Hermes ok! Und jetzt lass mich in Ruhe!" Erleichtert lächelte ihn der Andere an. „Meinem Vater sei Dank! Er schickt Sie-würden Sie mir nun gnädigerweise zeigen wie ich in dieser neuen Welt mich zu Recht finde? Sie dürfen auch ruhig die Pferde holen. Ich habe noch kein Pferd heute gesehen!“ Tobi schnaubte. „Sie tritt gleich ein Pferd! Besoffen oder von einer Sekte?“ „Oh-wo ist es? Schlägt es bereits aus?Sekt wäre auch ganz vorzüglich!“ Der Mann drehte sich schwindelerregend schnell um sich selbst. „Ich sehe leider kein Pferd! Aber, wenn Sie mich mit sich nehmen, werde ich Sie-“ „Hey-die Ampel ist rot!“ Schnell zog Tobi den Fremden von der stark befahrenen Straße weg. Viereckige Gefährte rasten blitzschnell vorbei. Sie waren aus Glas und bunt bemaltem Metall geformt. Hephäst, der Gott der Schmiede, hatte wohl in seiner Abwesenheit, ganz neue Leidenschaften für sich entdeckt. „Na schön! Ich nehm Sie mit!“ Genervt rollte Tobi mit den Augen, während er dem Fremden die Beifahrertür zu seinem Lieferwagen öffnete. „Sie können mich auch, nach meines Vaters Wille und gerechter Namengebung, einfach Hermes nennen!“, sagte der Götterbote während er sich neben den Versandboten plumpsen ließ. Tobi schüttelte den Kopf während er den Motor anließ. „Wo sind denn nun die Pferde?“

Je weiter sie im kriechenden Verkehr durch die Stadt tuckerten, desto mehr fragte sich Tobi, was mit dem Kerl neben sich eigentlich los war. Er führte sich auf, als ob er noch nie in seinem Leben ein Auto gesehen hätte. „Wunderliche Metallgefährte habt Ihr hier! Von Hephäst erbaut nehme ich an -aus glühenden Metallerzen in seinen Werkstätten tief unter der Erde langwierig geschmiedet?“ Stirnrunzelnd beobachtete Tobi das Profil des Anderen. Irgendwie wirkte er wie eine dieser Statuen, die in diesen Ausstellungen über Griechenland immer herum standen.
„Nö-Volkswagen!“ Verdutzt blickte Hermes auf. Der Name sagte ihm überhaupt nichts. Um seine Unwissenheit zu kaschieren, wechselte der Göterbote schnell das Thema. „Lassen Sie uns doch zu den Tempeln fahren! Mein Vater freut sich stets über die Opfergaben!“
Erschrocken wandte Tobi seinen Blick von der Straße ab und zu dem Kerl neben sich. „Opfergaben? Ist Dein Papa ein Killer oder so?“ „Killer-so wie Ker? Oh nein! Mein Vater ist kein Kind der Nyx! Mein Stammeserzeuger ist das Oberhaupt, der Göttervater Zeus höchstpesönlich!“, straffte der Mann sich, während stolz in seiner Stimme mitschwang. „Zeus? Dein Papa? Was hast Du denn geraucht?“ Lachend, reihte sich Tobi auf der Abbiegerspur ein. „Zuletzt, als ich wach war-Tabak, Kalk und etwas Stechapfel, warum?“

Kurz darauf hielt der Paketbote an, um einen Stapel Pakete zu einem Paket Shop aus zu tragen. „Sogar in leuchtender Schrift, steht mein Name hier! Welch Gott und Göttertat steckt da dahinter?“, verkündete der Halbgott fröhlich, während neben ihm Tobi unter der Last ächzte. „Strom! Das nennt man Strom!“ „Und er leuchtet immer so grell? Welch Götterabkömmling ist er?“ Schulterzuckend legte Tobi die Lieferung ab. „Kernkraftwerk landaufwärts?!“ „Merkwürdige Namen haben die Göttersöhne und-töchter bekommen!“

Nachdem Tobi, die restlichen Pakete ausgeliefert hatte, war er diesen Hermes immer noch nicht los geworden. Die Wolkenkratzer hatte er als „Innbrunst der göttlichen Geschmacklosigkeit“ bezeichnet. Smartphones hatte der Komische mit irgendeinem Orakel aus einem Delphi verglichen und sie nicht annähernd so hübsch gefunden wie besagtes Orakel. Die Kanalisation dagegen hatte ihm regelrecht gefallen-so sähe wahrer Fortschritt aus! Die Moderne hätte tatsächlich einen Sinn! Doch in der Pokerrunde an diesem Abend in der Bar, erlebte Tobi eine Glückssträhne nach der anderen. Er gewann Spiel um Spiel, während Hermes schmunzelnd neben ihm ein Bier trank, das ihm sogar schmeckte. Vielmehr noch, wurde Tobi mehr Aufmerksamkeit zu Teil als sonst üblich und bevor der Abend vorrüber war, hatte der Bote endlich eine Verabredung mit der Besitzerin der Bar, die er insgeheim sehr mochte. Zu frieden liefen Hermes und der Hermes-Bote, an diesem Abend in die kalte Nacht hinaus. Tobi glaubte nicht, dass der Kerl neben ihm ein Halbgott war. Das musste der Bote auch gar nicht. Vielmehr spürte er wie dieser Fremde sein Leben zum Besseren verändert hatte und dies hoffentlich noch ein Weilchen länger tun würde. „Die Sterne sind noch dieselben wie früher!“, seufzte Hermes erleichtert, als er glücklich etwas aus seiner alten Welt wieder erkannte. Selbst in all dem Neuen, hatte etwas Altes überdauert. Die Geschichten und Mythen hatten überlebt und leuchteten als Sternbilder auf sie herab.

Ein Grieche in Manhattan

In Gedanken versunken trat der alte Mann an die lichtdurchflutete Glasfront und schaute hinaus. Fünfundachtzig Etagen unter ihm, auf der Fifth Avenue, brodelte das Leben von Midtown Manhattan.
Es war Sommer. Der Himmel präsentierte sich wolkenlos, erstrahlte in einem tief Dunkelblau.
Vorbeihuschende schwarze Schatten rissen ihn aus seiner Gedankenwelt. Er sah genauer hin. Zwei Raben segelten heran und setzten sich direkt vor ihm auf die Brüstung.
Ein wissendes Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Dann erhob er zur Begrüßung seine Hand und verneigte sich.
Es klopfte an der Tür und eine junge Frau trat ein. »Ein Mr. Odin wünscht, sie zu sprechen.«
»Ja! Vielen Dank, Layla! Soll hereinkommen.«
»Zeus! Was für eine Freude!« Ein Mann schob sich an Layla vorbei ins Zimmer.
»Odin! Nach all der Zeit sehen wir uns endlich wieder!« Beide Männer fielen sich in die Arme. »Und wie elegant du aussiehst.« Zeus klopfte Odin freundschaftlich auf die Schulter.
»Das ist die moderne Zeit, mein lieber Zeus. Giorgio Armani, Karl Lagerfeld, Joop. Mein Schrank steckt voll von diesen Modekünstlern. Du hast dich aber auch prima gehalten. Dein Bart ist kürzer. Steht dir! Siehst jünger aus.«
»Ich muss mit der Zeit gehen.«
»Das sieht man. Ein modernes Büro hoch über den Wolken. Eine Chefsekretärin zum Anbeten. Du bist jetzt Rechtsanwalt? Erstaunliche Karriere!«
»Ja, aber komm, setzen wir uns.« Zeus führte Odin zu einer Sitzgruppe aus braunem Büffelleder. Vor ihnen auf dem Tisch standen zwei Hörner mit süßem Wein gefüllt.
»Gemütlich.« Das Leder knirschte. Odin grinste. »Was für eine Aussicht. Aus der Distanz betrachtet, wirkt alles gleich leichter und unbeschwerter.«
»Lass uns anstoßen, Odin! Auf unser Wiedersehen!« Die Männer prosteten sich zu.
»Dein Auge, Odin. Es sieht so gesund aus.«
»Moderne Chirurgie. Hab ich in Chicago machen lassen.«
»Und Hugin und Munin …«
»Es sind meine treuesten Gefährten. Ich bin halt der Rabengott. Aber nun sag, was machst du als Rechtsanwalt in Manhattan?«
»Ich verwalte das rechtliche Erbe unserer griechischen Götter, mich eingeschlossen natürlich. Aber im Grunde sorge ich mich um unser Erbe.«
»Du sorgst dich? Wie soll ich das verstehen?« Odin nahm einen Schluck von dem Met.
»Kannst du dir unsere griechische Siegesgöttin als einen Schuh vorstellen? Oder meinen Sohn Hermes als einen Paketzusteller?«
»Das nennt sich »Modernes Marketing«, mein Freund. Hier!« Odin legte seinen Fuß auf den Tisch.
»Das ist das Neuste vom Neusten! Ein High – Tech - Schuh vom Feinsten. Zur Zeit der Renner auf dem Markt. Mit Luftdämpfung. Leuchtet sogar im Dunkeln. Den würde selbst deine griechische Siegesgöttin tragen.«
»Trotzdem, ich sehe darin eine Verunglimpfung unserer Göttlichkeit. Den Menschen fehlt der Respekt vor uns Göttern.«
»Hör auf dich zu beschweren. Die Menschen verehren die griechischen Götter, bis heute.« Odin musste schmunzeln. »An jeder Ecke begegnet mir ein Name aus der griechischen Mythologie. Oder glaubst du, du könntest sie mit deinem Donnerkeil noch erschrecken.«
»Der funktioniert nicht mehr.«
»Genau, weil Blitz und Donner, die vier Jahreszeiten, der Verlauf der Sonne wissenschaftlich begründet wurden. Du lebst in ihren Produkten weiter, die sie konsumieren. Was für eine Ehre, die dir zuteilwurde.«
»Glaubst du?«
»Mein Freund, du bist ein Glückskind in jeglicher Hinsicht. Nach mir wurde ein Hundehalsband und eine Seife benannt!«

Warum musste ich meinen Boss auch ärgern?

Erst wurde Mars blass um die Nase. Dann wurde er rot im Gesicht. Dann wurde er sehr, sehr laut. Geschrien hat er, dass ich endlich mal wieder meinen Job machen soll. Und ich könne gleich damit anfangen und ZACK hab ich mich hier wiedergefunden.

Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich bin doch nur ein kleiner Untergott, den die Menschen nicht sehen können. Warum redet kein anderer Gott mit mir? Seit 4 Wochen ist Funkstille. Ich bin doch ein Lares viales. Zuständig als Schutzgeist für die Straßen und Wege an einem Ort.

Wer mich nicht achtet und anbetet, dem lege ich Baumwurzeln in den Weg. Auch gebe ich Ungläubigen, auf der abschüssige Straße, einen kleinen Schups.

Ich bin auf einer Insel gefangen. Diese liegt nicht im Wasser, sie ist von dunkelgrauen Wegen umgeben. Am ersten Tag habe ich die Insel verlassen, um ein paar Passanten zu ärgern, und WUMM, traf mich eine große Wand auf Rädern.

Als ich wieder zu mir kam, lag ich wieder an meinem Ankunftsort. Als Untergott kann ich nicht sterben, aber mir tat trotzdem jeder Knochen im Leibe weh.

Ich habe es noch viele Male versucht. Immer das gleiche Ergebnis!

Peinlich ist mir, dass die Menschen dieses graue Band ohne Probleme überqueren können. Und die Wände auf Rädern halten ehrfurchtsvoll vor ihnen an.

Inzwischen sehe ich rote und grüne Lichter. Ich glaube, es geht mit mir zu Ende.

Betriebsausflug
»Drei in ein und ein in drei.« Gott atmet tief und bedeutungsvoll ein und fährt dozierend fort:
»Ich bin es und wir sind es.
Die Dreieinigkeit, nämlich Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist.«

»Schön und gut,« nickt Jesus bestätigend.
»Aber In letzter Zeit läuft es, wenn wir mal ehrlich sind, eher dreifaltig, dreikantig als dreieinig.
Und da fällt uns wahrlich kein Zacken aus der Krone, ich sag´s mal so salopp, wenn wir mal eine dieser Teambuilding-Maßnahmen unserer Geschöpfe ausprobieren.«

»Und an was hast du da gedacht? Doch nicht etwa so etwas Albernes wie ein
Coaching?« Der Heilige Geist wippt unruhig auf seiner Wolke auf und ab.
»Kein Ringelpietz mit Anfassen, kein Führungskräfte-Rollenspiel oder Feedback-
Training, da bin ich raus!«

Jesus rollt mit den Augen und Gott winkt mit großer Geste ab.
»Keine Angst, ich denke, wir nehmen uns mal etwas ganz Profanes vor.
Wie wäre es, wenn die Dreieinigkeit auf Betriebsausflug geht?
Ich als Gott-Vater schlage vor: Nach Jerusalem!«
»Och nee,« entgegnet Jesus. »Da habe ich schlechte Erfahrungen gemacht.
Mein Gegenvorschlag lautet: Rom!«
»Fantastisch!« Ruft der Heilige Geist. »Ich bin dabei. Da war ich nämlich noch nie!«

Himmel - Agentur für Glaubenshilfe

„Der Nächste! Dionysos, Gott der Freude.“ Leiert ein Unter-Engel in an einem der unendlich vielen Schalter in einem Tonfall daher, der irgendwo zwischen Desinteresse, Verachtung und völliger Teilnahmslosigkeit angesiedelt ist.

„Dioysos!“ Tönt es etwas lauter und drängender, nachdem eine halbe Ewigkeit lang nichts passierte.

Langsam, leicht schwankend und mit einer Weinamphore unter dem Arm schlurft Dionysos zum Schalter. Mit einem dümmlichen Grinsen wuchtet er seine nicht gerade zierliche Gestalt auf den viel zu unbequemen Stuhl vor dem viel zu aufgeräumten Schreibtisch, hinter dem einer dieser himmlischen Bürokraten saß, von denen er schon so viel (aber selten Gutes) gehört hat.

„Salut!“ Lallt er leicht beschwippst, wie es nun mal so seine Art ist.

„Gott des Weines, der Freude, der Trauben, der Fruchtbarkeit, des Wahnsinns und der Ekstase, Sohn des Zeus, Sohn der Io, Sohn der Demeter, Sohn der Lethe, Sohne der Semele, letzter Einsatz um 300 v. Chr., Glaubenshilfebezug seit über 2700 Jahren, nur gelegentliche Tätigkeitsaufnahmen, laut Aktenlage auf Grund wiederholtem und übermäßigem Alkoholkonsums während der Arbeit nur schwer vermittelbar…“

Der himmlische Bürokrat zitierte noch eine viertel Ewigkeit weiter was so in der Akte stand, während Dionysos langsam in dem Stuhl zusammensackte und leise anfing zu schnarchen.

„…auf die Erde versetzt.“

„Wa… was?“ Dionysos wurde schlagartig nüchtern. Nun, zumindest so nüchtern wie es seine göttlicher Stand erlaubte.

„Wohin wollt ihr mich versetzen? Warum? Was soll’n das?“ Leierte er.

Der Engel rollte die Augen und schnaufte genervt.

„Wie ich eben sagte, glauben die Menschen nicht mehr an alte Götter. Es gibt keinen bedarf mehr. Sogar Allah, Buddha und ER haben immer mehr mit Auftragsrückgängen zu kämpfen. In Anbetracht interdimensionaler Restruktruierungsmaßnahmen und um Synergieen zu heben…“

„Restruktuwas? Synergien? Was zum Teufel?!?“

„Nein, der Kollege hat ausreichend zu tun und aktuell keine freien Stellen. Wie dem auch sei…“ fuhr der mittlerweile nicht nur gelangweilte sondern auch schwer genervte Engel weiter fort, „…sehen wir uns gezwungen deinen Aktuellen Glaubenshilfebezug bis auf weiteres auszusetzen und dir die einmalige Chance einzuräumen, auf der Erde selbst für neue Glaubensenergie aufzukommen.“

„Ihr wollt mich rauswerfen?!?“ Stammelte Dionysos schockiert.

„Wir wollen dir… die Chance zur Aufnahme einer selbständigen Tätigkeit in der Glaubens-Erzeugung geben. Quasi als Selbstversorger. Als dein eigener Boss. Zeus hat schon unterschrieben.“

Dionysos klappte die Kinnlade runter und wieder hoch. Er atmete tief durch.

„Aber… Aber… was… und wie….?“

„Du bekommst einen Glaubensvorschuss in Höhe von Drölfundneuzig Ätheronen zum Aufbau einer Selbständigkeit. Das umfasst begrenzte Unsterblichkeit und nur eine eingeschränkte Nutzung deiner Kräfte.“

„Nur Drölfundneunzig? Das ist ja zum Wirken zu wenig und zum Vergehen zu viel! Eine bodenlose Frechheit ist das!“

„Vielleicht. Aber so sind die Regeln. Ich habe sie ja nicht gemacht. Sollte das übertragene Guthaben aufgebraucht sein und keine neue Glaubensquelle aufgetan sein…“

„…werde ich sterblich?“ Dionysos klang bei dem Wort „sterblich“, als wäre er baren Fußes auf eine Nacktschnecke getreten und sein Gesichtsausdruck war ganz ähnlich.

„Korrekt.“

„Das könnt ihr doch nicht…“

„Gemäß Verfügung 8542B des Letzten Gerichts, Seite 94023, Absatz vier, Satz 3, zweiter Halbsatz, nach dem Komma - können wir. Aura-Abdruck bitte hier, hier und dort.“

Vor Dionysos erschien eine Steintafel, die wirkte, als wäre sie da und doch nicht ganz da, umgeben von einem Schimmer der wirkte, als würde sie von innen heraus leuchten und trotzdem dunkel sein. Darauf wechselten in irrwitziger Geschwindigkeit, die nur ein Gott lesen konnte unzählige Seiten voller Buchstaben die jede Sprache des Multiversums darstellen konnten und kamen dann abrupt an einem Punkt zum stehen, an dem die entsprechende Signatur gefordert wurde.

Er zögerte.

„Und was, wenn ich nicht unterschreibe?“

Der Engel zog die rechte Augenbraue hoch und deutete wortlos über seine rechte Schulter. Dort saß Heimdall, und leierte gelangweilt und teilnahmslos „Concordia, Göttin der Eintracht, letzter Einsatz um 250 v. Chr., Glaubenshilfegezug seit über 2600 Jahren, nur gelegentliche Tätigkeitsaufnahmen…“

Wortlos hinterließ Dionysos seinen Aura-Abdruck, stand auf und schlurfte in Richtung Abreiseterminal zur Erde. Wenn er einen guten Schluck Wein brauchte - dann jetzt.

Seine nudeligen Anhängsel aka Follower

Mein Herz rast. Mein erstes Reel auf Instagram lädt gerade hoch. Ganz schön schwierig diese seltsamen Tanzmoves, die die Jugend da abliefert. Der Schweiß tropft von meinem salzigen Kopfschmuck und ich muss mir mit dem Sieb Luft zu wedeln. Drückt mir die Daumen, dass es viral geht - den Begriff kann ich. Toll oder? Eigentlich müsste ich meinen Kollegen, Feinden wie auch immer ich Zeus, Shiva, Thor und wie sie alle heißen, nennen soll, einen Schritt voraus sein. Ich bin immerhin einer der jüngsten. Meine Geburtsstunde ist noch gar nicht allzu lange her, um ehrlich zu sein. Aber ich bin mir ganz sicher, dass ich mit Medusa verwandt bin - die Frisur ist zumindest beinahe dieselbe. Sie behandelt mich auch immer so komisch. Vielleicht weil ihr meine Haare so gut gefallen…ich schweife schon wieder ab. Der Upload ist komplett, los Universum, tu deinen Dienst. Ich brauche Follower. Da, da ist es, mein erstes Like. Adrenalin fließt von meiner Fußspitze bis in die Griffe des Nudelsiebs. Noch eins und zwei neue Follower. Yeehaw. Wie ein Neuzeitcowboy werde ich Social Media erobern. Instagram, TikTok, dann die Welt. Ich kann’s Leute. Trust me, I’m an engineer - naja das ist gelogen, aber eins kann ich euch sagen:
Macht euch alle weniger Sorgen & mehr Nudeln. Ich spreche aus Erfahrung.

Erhaltende Maßnahmen

Erwacht von einem Schlaf, der tiefer und dunkler ist als der Tod eines jeden Sterblichen, wandere ich nun schon seit Monaten durch diese neue, alte Welt.
Niemand erkennt mich, niemand nimmt mich wahr. Ich bin nicht viel mehr als ein kalter Hauch in einer warmen Nacht. Ich bewege mich frei und erkenne alles um mich herum, ohne selbst bemerkt zu werden. Diese Sterblichen wären nicht dazu bereit, mich zu erkennen. Das sind die Sterblichen nie. Der Schock würde sie töten.
Ich begutachte ihre Werke und Errungenschaften.
Ich betrachte die gläsernen Tempel mit ihren Skeletten aus Stahl, die höher sind als viele Gebirge. Ich betrachte die funkelnden Städte, die heller und erstaunlicher leuchten als die hellste Sternennacht. Ich betrachte Scharen von Menschen, die mit gefüllten Bäuchen unter einem sicheren Dach die Nacht verbringen. Ich betrachte Gelehrte, die ins All schauen. Die den Funken des Lebens betrachten und zu berechnen versuchen. Sie sind blind. Nicht viel mehr als ihre behaarten Vorfahren, die fasziniert und ängstlich zugleich, ihr Spiegelbild im Wasser betrachten.
„Wenn sie wüssten, wie sehr ihr Gesichtsausdruck, dem ihrer Vorfahren gleicht.“
Ich betrachte Flussläufe, die in neue Betten gezwungen wurden. Ich betrachte Wüsten, die vorher Wälder waren. Ich betrachte gewaltige Maschinen, die nur für Krieg und Vernichtung erschaffen wurden. Ich betrachte Scharen von Menschen, die hungernd, nackt und schutzlos die Nacht verbringen.
Ich spüre, dass ich dieser neuen Welt etwas überdrüssig werde. Zuviel gutes Essen, oder zu viel schlechtes Essen… das Gefühl danach ist stets gleich schlecht. Genau dieses Gefühl bemächtigt sich meiner. Ich wandere zu einsameren Plätzen. Plätzen ohne diese Menschen. Es sind einfach zu viele.
Ich gehe zum höchsten Ort dieser Welt. Schneebedeckt und von mörderischen Sturmböen umtost reckt sich der Gipfel des Mount Everest in den schwarzen Nachthimmel. Einer meiner Lieblingsplätze.
Ich stutze. Eine Lichterkette kriecht über den tiefer gelegenen Kamm. Ein Trupp Bergsteiger. Ich schaue mir meinen Berg genauer an. Die Spuren sind auch ohne göttliche Sinne unübersehbar. Wo einst kein Mensch seinen Fuß setzen konnte… leere Zelte, Kleidung, Müll, Sauerstoffflaschen und Scharen von Menschen.
Ich überlege. Vielleicht sollte ich die anderen wecken. So wie damals, vor sechzig Millionen Jahren. Auch da wurden wir geweckt, betrachteten gemeinsam das Ergebnis dieser Schöpfung und trafen eine Entscheidung.
Damals betraf die Entscheidung die Dinosaurier, die dabei waren, Lebensräume anderer Lebewesen in bedenklichem Umfang zu stören. Ihre Herden hinterließen Wüsten. Ein Ungleichgewicht war entstanden, das die Schöpfung und ihre heiligen Ziele bedrohte. Damals schickten wir ein reinigendes Feuer vom Himmel, in Form eines Meteors.
Wird es wieder nötig sein? Ich werde die anderen wecken.

Der Pfad zurück zu ihren Wurzeln

In den Tiefen des Zeitstroms, verborgen unter den Schichten vergangener Äonen, erwachte ich, ein Gott alter Mythen, plötzlich im Jahr 2023. Verwirrt und neugierig, schritt ich durch eine Welt, die ich kaum wiedererkannte.

Die ersten Schritte fühlten sich an, als würde ich auf einem fremden Planeten wandeln. Überall ragten gigantische Glas- und Stahltürme empor, die mich an die majestätischen Tempel meiner Zeit erinnerten, doch ohne deren erhabene Ruhe. Die Menschen eilten hektisch umher, ständig starrend auf kleine leuchtende Rechtecke in ihren Händen – moderne Orakel, wie es schien.

Mein erster Kontakt mit der modernen Sprache war ein komisches Missverständnis. In einem Café bestellte ich „Nektar und Ambrosia“, woraufhin mir ein verdutzter Kellner einen Kaffee und ein Croissant servierte. Ich lernte schnell, dass hier „Latte Macchiato“ und „Panini“ die Götterspeisen waren.

Beim Besuch eines Kinos erwartete ich eine Art zeitgenössisches Theater. Doch statt lebender Schauspieler fand ich mich in einem dunklen Raum wieder, in dem Bilder auf einer riesigen Leinwand lebten. Ich musste laut lachen, als eine Gruppe Teenager erschrak, weil ich versuchte, mit den „Schauspielern“ zu interagieren.

Einmal wagte ich es, einen „Burger“ zu essen – ein kurioses Gericht, bei dem Fleisch zwischen zwei Brotstücken klemmte. Die Götter würden sich im Grabe umdrehen! Doch trotz seiner Simplizität fand ich Gefallen daran, besonders als ich erfuhr, dass man ihn mit „extra Käse“ bestellen konnte.

Das Fliegen in einem Flugzeug war eine Erfahrung, die mich demütigte. Einst konnte ich über Wolken schweben, doch nun saß ich eingepfercht zwischen Reihen von Sitzen, während eine freundliche Stimme aus dem Nichts Erklärungen gab. Ich fühlte mich wie in einem fliegenden Tempel, der die Menschen näher zu den Göttern brachte.

Mein Gang ins Fitnessstudio war ein weiteres Abenteuer. Die Menschen stemmten Gewichte und liefen auf Maschinen, die sie nirgendwohin führten. Ich fand diese moderne Form der Askese faszinierend, auch wenn mein göttliches Wesen keine körperliche Ertüchtigung benötigte.

Der Besuch im Zoo war ein Moment der Erkenntnis. Ich sah Tiere aus aller Welt, eingesperrt und zur Schau gestellt, fernab ihrer natürlichen Umgebung. Hier erkannte ich meine Mission: Ich musste der Menschheit helfen, ihre Verbindung zur Natur wiederzufinden.

Mit Witz und Weisheit, die mir eigen waren, begann ich, die Menschen zu lehren. Ich nutzte soziale Medien, die neuen Tempel der Kommunikation, um meine Botschaft zu verbreiten. Ich lehrte über den Respekt vor der Natur, die Bedeutung des Gleichgewichts und die Wichtigkeit, in Harmonie mit der Erde zu leben.

Meine Reise war nicht nur eine der Entdeckung, sondern auch der Erneuerung. Ich, ein alter Gott in einer neuen Welt, fand meinen Platz, indem ich die Menschen daran erinnerte, dass sie, trotz all ihrer technologischen Fortschritte, immer noch Kinder der Natur waren. Und so, mit einem Burger in der einen und einem Smartphone in der anderen Hand, führte ich die Menschheit auf den Pfad zurück zu ihren Wurzeln.

3-2-1-

Letzter Akt: Gewaltiges Donnergetöse, überirdisch laut, höllisch schauerlich!

„Kniet NIEDER! Schöpfet Erde in beide Hände und hebet diese über eure Köpfe!

99-98-…, los runterzählen befehle ich euch. In Erdestiefen habe ich geschlafen, bis ihr mich erwecket habt.

Kinder, Kinder, was habt ihr da bloß gemacht? Ich gab euch einst das Paradies! Und ihr? Macht Kriege, Mord-Mörder-am Mördesten, Feuerpause als neuer Frieden, Klimatisierte sollten sich auf Panzer kleben!, 24-Stunden-TV-Verblödung! Meine schöne Natur habt ihr mir vergiftet und ausgerottet auch, ihr seid im Informationsrausch, wollt die Weltalleroberung aber zu blöd um Hunger auf Erden zu vernichten!

Ich lehrte euch aramäisch, aber ihr habt über 7000 Sprachen draus gemacht, nein, nicht genial, weil ihr einander nicht mehr versteht. Die Lehren der Alten verstehen die Jungen nicht und diese Kindsköpfe beten nur noch ihren vermeintlichen SchlauphonGOTT „Handy“ an.

Es götterdämmerte seit langem tieffinster für euch, all das Elend, Kinder, was daran habt ihr nicht verstanden?

Los! Weiterzählen: 63, 62, … lauter!

Ich gab euch HIRN, Verstand! Warum benutztet ihr ihn nicht? Nein, euer Spielzimmer kann und mag ich nicht mehr aufräumen! Ich bleibe hart.“

So also sprach Urmutter Erda.

„Weiterzählen! 17, 16, 15, …, los, weiter runterzählen! Was ich geschaffen, das kann ich auch zerstören durch meinen göttlichen Hauch! 6-5-4-…“

„Hel zum Teufel, da nimm sie! Alle! Zünd dein weithin leuchtendes und unermüdliches Feuer an mit den Unwürdigen!“ So sprach Erda.

Garm, der bösartige Höllenhund, rannte los und trieb die Heulenden, Wimmernden, Schreienden nach Helheim.

SHALYUTHO
(Stille auf aramäisch)

Die Vertretung

Als ich an diesem Morgen an den gepflegten Gärten kleiner Einfamilienhäusern in einem kleinen Dorf entlangmarschierte, freute ich mich auf den vor mir liegenden Arbeitstag. Ich war aber auch sehr nervös, denn schliesslich war dies erst meine zweite Vertretung, seit ich den Job vor etwas weniger als 2000 Jahren abgegeben habe. Bei meiner letzten Vertretung, Mitte des 14. Jahrhundert, hatte einiges vermasselt. Offenbar waren in diesem Zeitraum mehr Menschen gestorben, als geplant gewesen wäre.
Der Tod hatte mich jedenfalls gründlich zusammengestaucht, nachdem er aus seinen Ferien zurückgekehrt und für das von mir verursachte Chaos von höchster Stelle gerügt worden war.
Zu meiner Verteidigung kann ich nur vorbringen, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits seit rund 1000 Jahren in Rente gewesen war.
Ich finde den Elan vom Tod bewundernswert. Seit rund 1800 Jahren macht er nun schon diesen Job und macht nun erst zum zweiten Mal Ferien und über die Pensionierung hat er noch nie gesprochen. Ich habe diese Arbeit nur etwa 1300 Jahre lang gemacht und den grössten Teil dieser Zeit habe ich mir die Arbeit mit meinem Vorgänger Seth geteilt, der sich dann schrittweise aus dem Berufsleben zurückgezogen hat, aber noch sehr lange 60% gearbeitet hat.
Die Pensionierung ist schön, endlich habe ich wieder mehr Zeit für meine Hobbys, aber wenn ich ehrlich bin, vermisse ich meine Arbeit. Und genau darum habe ich es auch das letzte Mal so genossen, als ich den Tod vertreten durfte und ja, es kann sein, dass ich dann im Überschwang ein wenig übertrieben habe.
Aber ich habe mich ja noch gar nicht richtig vorgestellt. Thanatos ist mein Name. Oder Mors, je nachdem welchem Kulturkreis man angehört. Ich bin ein alter Totengott, der vor allem für die Griechen und die Römer zuständig war.
Eigentlich würde ich ja noch gerne länger mit euch plaudern, aber die Pflicht ruft.
Als erstes muss ich den Bewohner von Haus Nummer 31 abholen. Damit ich dieses Mal keinen Fehler mache, hat mir Tod eine sich laufend aktualisierende Liste mit Namen auf mein Smartphone geschickt.
Vor dem Haus kontrolliere ich nochmals Ortschaft, Strasse, Hausnummer und Name und gleiche sie mit den Angaben meines Navis und der Anschrift am Briefkasten ab.
Dann sehe ich mir das kleine Einfamilienhaus an und umrunde es einmal. Das ist einer der ersten Tipps, die mir Seth damals gegeben hat, als ich neu in dem Job anfing.
«Mache dich stets zuerst mit dem Gebäude und dem Gelände vertraut, so kannst du böse Überraschungen vermeiden.», schärfte er mir vor jedem meiner Einsätze ein, die ich noch gemeinsam mit ihm absolvierte.
Auf der Rückseite des Hauses entdecke ich eine Hintertür. Da ich die Kundschaft noch von früher kenne, schaue ich mich kurz um, schnappe mir eine herumliegende Gartenharke und drapiere sie mit grösster Sorgfalt eineinhalb Schritte von der Hintertür entfernt. Ich betrachte mein Werk, bin aber noch nicht ganz zufrieden und so schiebe ich noch ein wenig, von dem überall umherliegenden Herbstlaub über die Harke, so dass sie nicht mehr auf den ersten Blick erkennbar ist.
Zufrieden kehre ich zur Haustür zurück, mache mich sichtbar und klingle.
Ich höre, wie Schritte näher kommen, dann öffnet mir ein Mann die Tür, der wohl so um die 40 Jahre alt ist.
«Sind Sie Herr Franz Schmid?», frage ich mit sanfter Stimme.
«Ja.», antwortet der Mann, «Aber ich kaufe nichts und möchte auch nicht Mitglied werden.»
Ich ignoriere den Einwurf und sagte behutsam: «Es tut mir sehr leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Sie in den nächsten Minuten sterben werden und bitte Sie mir zu folgen.»
Er schaute mich nochmals an. Dann weiteten sich seine Augen. Er wirbelt herum und rennt zur Hintertür, reisst sie auf und stürzt hinaus. Seine aussichtslose Flucht vor dem unausweichlichen endet, als er über die unter dem Laub verborgene Gartenharke stolpert und stürzt. Es gibt ein hässliches Knacken, als er unglücklich aufkommt und sein Genick bricht. Dann bleibt er reglos in einer unnatürlichen Position liegen.
Gemächlich durchquerte ich sein Haus, trete zur Hintertür hinaus, ergreife Herrn Schmids Seele beim Arm und ziehe sie sanft mit mir.
Wie hatte ich die Arbeit mit Menschen vermisst.

Ruf der Freiheit

An einen Baum gelehnt mit verschränkten Armen stehe ich am Rand der Straße und rümpfe die Nase.
Es ist der kräftigste von vier Bäumen, die ich im Umkreis finden konnte, aber sein Blätterdach hängt träge an den Zweigen und schenkt nur einem winzigen Nest Zuflucht.
Ich drücke mich an die Rinde, als könnte ich hinein gleiten.
Die Menschen, die an mir vorbeilaufen, beachten mich nicht. Sie starren auf Geräte in ihren Händen, auf ihre Füße oder stur geradeaus. Daneben eilen Vehikel auf vier Rädern die Straßen entlang, brummend und stinkend. Nur im entferntesten erinnern sie mich noch an die Streitwagen unseres früheren Volkes. Von Pferd und Esel keine Spur.
Ich lausche.
Der Gesang der Vögel erreicht mich zwischen dem Lärm der Fahrzeuge kaum, aber ich kann sie deutlich spüren, wie sie über dem Smog der Stadt kreisen; Futter suchen.
Ich vermisse den Wald, die Hirsche und Bären.
Ich vermisse den Duft der Wildnis und den Ruf der Freiheit.
Aber wer bin ich, zu urteilen? Jede Gottheit hat ihre Zeit. Die meine und meiner Familienbande ist vor Jahrtausenden abgelaufen- die Menschen hatten uns aufgegeben; ausgetauscht, und Zeus hatte uns fortgebracht, der nächsten Gottheit Platz zu machen.
Im Zeitlosen fristen wir nun unser Dasein.
Nur von Zeit zu Zeit werfen wir einen Blick ins Diesseits zur seichten Unterhaltung. Doch seit der Gottesjunge geboren wurde, und sein Vater, ein eigenbrötlerischer Pionier, den Laden übernommen hatte, hat sich vieles verändert. Mein letzter Besuch ist schon eine ganze Weile her, zu sehr widert mich der Fortschritt an, wie sie ihn nennen.
Ich nenne es Freiheitsraub.
Doch Athene und Apollon hatten mich gedrängt, der Welt noch eine Chance zu geben. Und so stehe ich hier, die Stirn in Falten gelegt über das absurde Menschentreiben.
„Oh là là, schöne Frau. Ist ein Cosplay in der Nähe? Umwerfendes Kostüm.“
Ich schaue zur Seite. Der Mann, der mich anspricht, macht mir verführende Augen. Er deutet auf den Silberbogen, und den Köcher mit Pfeilen, die ich auf dem Rücken trage.
Ich antworte nicht.
Er räuspert sich. Röte steigt ihm in die Wangenknochen.
„Man sieht hier nicht alle Tage bewaffnete Damen. Sieht täuschend echt aus das Teil.“
Ich wende meinen Blick ab.
„Darf ich deinen Namen erfahren?“, versucht er es nochmal.
„Artemis“, sage ich endlich.
Er freut sich zuerst, dann überrollt ihn meine Erhabenheit, wie ein Sturmschlag.
„Göttin der Jagd, des Waldes und des Mondes, Göttin der Geburt, Beschützerin der Frauen und Kinder.“ Mit jedem Wort nimmt meine Gewalt zu, unter meinen Füßen wirbelt Laub.
Der Mann weicht erschrocken zurück. Er starrt. Ich starre zurück, bis er umdreht und strammen Schrittes geht, flieht; so schnell er kann, ohne allzu panisch auszusehen.
Ein schmales Lächeln huscht über meine Lippen, während ich ihm nachschaue.
Ich tätschele meinen Baumfreund. Sehnsüchtig nach Waldgeruch.
Schließlich lasse ich von ihm ab und gehe weiter; fort um die nächste Ecke. Ich kann nicht verstehen, was ihm an dieser modernen Zeit, dieser modischen Menschheit liegt.
Staub kitzelt mich im Hals.
Ein paar Straßen weiter bleibe ich stehen und sehe mich um. Ich bemerke ein großes Gebäude; schrille Stimmen rufen, durcheinander, lachend. Ein Hauch Freiheit durchdringt das Spielen der Kinder auf dem Hof.
Gerade will ich den Ort ansteuern, als ein Hund mir zu rennt. Er heftet sich an mein Bein, hechelnd zur Begrüßung. Der Schwanz wedelt froh gestimmt. Er erkennt mich; Herrin der Tiere. Ich will mich hinunterbeugen und ihm das graubraune Fell kraulen, als ein Mensch kommt, ihn nuschelnd am Halsband packt und wegreißt. Mit einer Leine nimmt er ihn gefangen, zieht ihn hinter sich her wie einen Sklaven. Sein Gesicht vergräbt der Mensch in eines dieser Handgeräte; den traurigen Blick des Tieres, sehe nur ich.
Zorn erfasst mich. Ich muss mich zusammenreißen, konzentriere mich auf die Kinderstimmen. Ein Klingeln durchschneidet das Gewirr. Ich beobachte, wie die Kinder sich aufstellen und still werden. Dann werden sie von Erwachsenen ins Gebäude geholt.
Wie auf der Jagd pirsche ich mich an ein Fenster heran und schaue ins Innere.
Was ich sehe, bestürzt mich. Schürt schon wieder meine Wut.
Was ist das für ein Ort, wo sie Kinder an Tische setzen, ihnen Papiere mit Baumbildern zeigen, statt die Bäume im Wald? Fortschritt nennen sie es. Ich lache Tränen.
Keine milde Pointe. Kein Schlusssatz, der das Unwohlsein bricht. Gefangene seid ihr!
Ich kringele mich lachend vor Empörung.
Hinfort. Weg von diesem Ort. Raus aus der Stadt.
Athene, Apollon, zum Zeus, ihr irrt euch!
Ich lausche. Folge dem Ruf der Freiheit. Dem Ruf der Natur, der Jagd und des Mondes. Schließe die Augen, und als ich sie wieder öffne, sitze ich in der Abenddämmerung auf dem starken Ast eines Baumes am Rand eines dicht bewaldeten Hügels. Das Glitzern der Tränen noch im Augenwinkel blicke ich demütig in den Himmel.

DER GOTT DES SCHLECHTEN GESCHMACKS

Jetzt stehe ich vor dir.
Groß. Strahlend. Mächtig. Von überirdischer Statur. Mein Haupt umkreisen Galaxien, meine Augen senden Licht und Dunkelheit, wenn ich atme, erschaffe ich und zerstöre.
Ich, ein Gott!
Aber das siehst du natürlich nicht. Weil du hast schon lange die Fähigkeit verloren, hinter die Dinge zu blicken.

Was deine Augen statt dessen wahrnehmen, ist ein Durchschnittstyp in einem pinken 80er Jahre Trainingsanzug. Teigiger Teint und ein Allerweltsgesicht, das sich hinter einer Sonnenbrille in schmerzendem Mintgrün versteckt.
»Kennen wir uns?«, fragst du, die Form wahrend. Aber ich lese in deinen Gedanken: Warum, rätselst du, glotzt mich dieser Kerl so an?
»Wir haben uns schonmal gesehen.«, erkläre ich.
»Ähem«, fängst du an. Dein Hirn streikt. Du stockst.
»Da vorne beim Buffet«, helfe ich dir. »Beim Thai-Curry. Entschuldigen Sie, aber ist es in Ordnung, wenn ich mich zu Ihnen setze?« Und nachdem du nicht gleich reagierst: »Es ist wirklich sehr voll gerade.«
»Äh, ja, bitte.« Womit du mir eigentlich sagen willst: Zieh ab, Alter, ich warte hier auf jemanden.
Artig bedanke ich mich und platziere mein Tablett dir gegenüber. Dabei lasse ich wie beiläufig fallen: »Das Essen war auch schonmal besser hier.«
»Meinen Sie?«
»Die Auswahl. Da hat es auch Haxen gegeben. Richtige Schnitzel, so weichgeklopft, dass sie bis über den Teller gequollen sind. Aber das? Weltküche. Stehen Sie darauf?«
Ich vernehme die Stimme in deinem Kopf. Sie schrillt förmlich: Wie werde ich den wieder los?
»Dafür war’s aber ein echtes Schnäppchen«, fahr ich fort. »Zwei Wochen Vollpension, zu dem Preis! Ich denke, ich spinn, da schlage ich zu! Hier machst du nichts falsch. Und was soll ich sagen? WHAM, schon hab ich auf BUY geklickt. Prost!«
Ich halte dir mein Glas entgegen, und du stößt an. Verlegen, ich kann es sehen.
Mit kräftigen Schlucken spüle ich die saure Plörre runter. Du nippst am Glas.
»Und das nennen die Wein«, lache ich spöttisch auf. »Frechheit! Aber bei dem Preis wollen wir auch nicht meckern, stimmt’s?«

Ich ergötze mich an dir. Einem Mann im mittleren Alter, krampfhaft um den Schein seiner vergangenen Jugend bemüht. Dein Hemd: Zwei Knöpfe zu weit geöffnet. Die Kette um deinen Hals: Zuhälter-Style, und sei mir nicht böse, aber Gold ist echt nicht deine Farbe. Dann deine protzige Armbanduhr: Zu kostspielig und viel zu klobig für deine dürren Ärmchen. Es fehlt nur noch das Porsche-Emblem an deinem Schlüsselbund. Den hast du auf dem Zimmer gelassen.

Das peinliche Schweigen ist dir unangenehm, und du reichst mir deine Hand. »Stefan.«
»Panagiotis«, erwidere ich und strecke dir die meine entgegen.
Was für ein Händedruck. Labbrig wie ein feuchter Schwamm.
Fast würde es mich reizen, aber ich will dir nicht weh tun. Du hast momentan genug zu kämpfen. Ich sehe es an deiner verkrünkelten Nase. Mach dir nichts draus, ich weiß, dass dir mein Geruch nicht zusagt. Das tut er nie. Streng und nach Ziege. Wird jedenfalls behauptet.
»Ich war auch schon in Griechenland«, sagst du.
»Ich nicht«, erwider ich.
»Oh, ich dachte, der Name…«
Herrlich, wie du dich windest!
»Ich komme aus Castrop.«
Das tue ich natürlich nicht. Aber deinen verblüfften Blick war diese Lüge wert. Abgesehen davon, dass Deine erste Assoziation beim Wort Olymp sowieso nur einer Marke für Herrenoberbekleidung gilt.
Ich schenke uns nach.
»Prost!«
»Prost!«
Brrr, der Wein taugt wirklich nichts.
»Alleine hier, Stefan«?
Du druckst um die Antwort herum, dann stotterst du: »Mit einer Freundin.«
»Einer Freundin?«, hake ich frech nach.
»Ja, also einer … Bekannten. Thérèse ist…«
Wunderbar! Deine putzige Scham ist purer Nektar für mich. Ich labe mich daran und tanze innerlich, während du nach Worten ringst.
Da unterbricht uns eine Stimme: »Stefan?«
Ein blond eingefärbtes Girlie tritt an den Tisch.
»Deine Tochter?« erkundige ich mich scheinbar unschuldig.
»Nein«, stammelst du, kommst aber nicht weiter zu Wort.
»Sag mal Stefan, wie hat mich der komische Opa da grad genannt?«
»Also nicht die Tochter?«, setze ich mit diebischem Vergnügen noch einen drauf und studiere deinen bemitleidenswerten Blick, während du verkündest: »Das ist Thérèse.«
»Oh«, entschuldige ich mich. Stehe auf und greife nach dem Tablett. »Dann will ich nicht länger stören.«
Ihr bleibt zurück, und ich koste das Chaos in deinem Kopf aus, diesen emotionalen Nebel, aus dem sich für dich allmählich das Bild deiner Frau herausschält. Jener, die du für dieses jugendliche Abenteuer verraten hast.

Ich bin gemein. Ich weiß. Und ihr seid mir auf den Leim gegangen. Aber das ist meine Natur. Und die ist euch wahrlich nicht neu. Auch wenn euch mein Name nicht viel sagt, ihr kennt mich. Ihr und jeder andere auf dem Erdenrund. Jetzt und zu allen Zeiten.
Ich bin der Gott, der immer da ist.
Ich.
Der Gott des schlechten Geschmacks!

ICH bin

Susan betrachtete das Artefakt aus Südamerika an dem sie, seit Tagen arbeitete. Ein vielfach sorgfältig mit schmalen Stoffbahnen umwickeltes Holzstück. Der Stoff war vor hunderten Jahren mit Baumharz verklebt worden. Inzwischen war er pechschwarz, roch sehr streng nach Teer und würzigen Kräutern und liess sich nur äußerst mühsam ablösen. Das antike Objekt war Ende des 19. Jahrhunderts in einem Konvolut von den Erben eines englischen Sammlers zusammen mit sehr viel interessanteren Exponaten angekauft worden. Seitdem lag es unbeachtet in Berlin im fensterlosen Magazinkeller des Museums für Völkerkunde, ohne dass sich jemand dafür bisher interessiert hätte.

Was auch immer sich darin befinden sollte, demjenigen, der es damals umwickelt hatte, kam es entweder darauf an, den Inhalt sehr dicht einzuschliessen, oder 500 Jahre später eine Archäologie-Studentin im 4. Semester als Praktikantin tagelang erfolgreich zu beschäftigen. Anfangs hatte das obskure Objekt, dessen Ursprung mangels Aufzeichnungen über den Fundort nicht zu rekonstruieren war, noch den Umfang eines Ziegelsteines. Jetzt, nachdem Susan sorgsam Stoffbahn um Stoffbahn gelöst hatte, war es nur noch so groß wie eine Zigarettenschachtel. Gleich würde sie am Ziel sein und das Geheimnis des Inhalts gelüftet. Mit der letzten Stoffbahn löste sich unerwartet auch der Holzdeckel, der noch an ihr klebte und nur lose auf den von innen ausgehöhlten Holzklotz aufgelegt war. Verblüfft sah Susan in die geöffnete Schachtel in ihrer Hand. In ihr war nichts, sie war völlig leer.

„Ich bin da.“

Susan sah auf. Am Arbeitstisch gegenüber saß ihr Tutor Dr. Fernández, der eine Terracottafigur von Ablagerungen reinigte und sie nun überrascht ansah.

„Hablan español?“, fragte er leicht amüsiert und lächelte sie an. Susan hielt noch die letzte Stoffbahn in der einen und die leere Holzschachtel in der anderen Hand. Sie beschloss, ihre Verwirrung nicht zu verbergen.

„Zuerst ist die Schachtel hier leer, Sie sagen ‚Ich bin da’ und fragen mich dann, auf Spanisch, ob ich Spanisch spreche? Finde ich jetzt nicht so witzig.“

Der amüsierte Ausdruck wich aus Dr. Fernández’ Gesicht und machte Verärgerung Platz: „Susan, Sie sagten zuerst ‚Estoy aquí‘, nur deshalb fragte ich Sie, ob Sie Spanisch sprechen. Was soll das. Ist das ein Spiel?“

Die Priester sahen anders aus als letzte Mal. Was normal war. Es konnten viele Generationen vergangen sein, seitdem sie seinen Schrein zuletzt geöffnet hatten, um IHN im Kampf gegen ihre Feinde als Beistand anzurufen. Aber bei diesen Priestern war alles falsch. Was für ein unwürdiger Tempel das hier war und die schmucklosen, weissen Mäntel, ohne kunstvolle Ornamente und prächtigem Gold. Nichts was dem feierlichen Anlass Seiner Herbeirufung, nichts was IHM angemessen wäre. Sein Schrein war sogar von einer Frau geöffnet worden. Die fremden Priester waren nicht von dem Volk, dessen Beschützer ER war. Hatte das Volk der fremden Weisskittel sein Volk ausgelöscht und seinen Schrein geraubt? Und warum hatten sie IHN nicht zur Hilfe gerufen? ER würde es herausfinden und die Schuldigen vernichten. Doch zuerst musste die Respektlosigkeit ihrer Priester bestraft werden.

„Ich bin Kriminalhauptkommissar Thomas Schneider, ich leite die Ermittlungen. Frau Yilmaz, ist Ihnen heute bei Ihrer Arbeit etwas Ungewöhnliches aufgefallen?“ Die junge Frau, die einen Arbeitskittel mit dem Logo einer Gebäudereinigungsfirma trug, hatte die Toten im Labor entdeckt und die Polizei verständigt.

„Ick hab da zwee Tote in ihrem Blut zu liegen. Is schon unjewöhnlich jenug für mich, det reicht für die janze Woche, Herr Kommissar!“, berlinerte die Leiterin der Putzkolonne. So forsch ihre Antwort auch war, sie konnte das Entsetzen nicht überspielen, welches der Anblick der Leichen bei ihr hinterlassen hatte.

„Bitte, denken Sie nach, jede Beobachtung kann uns weiterhelfen“, hakte Schneider nach.

„Jesehen hab ich janüscht, abba jehört! Als ich die Labortüre uffjemacht jemacht hab, hab ich janz deutlich ‚Ben Özgürum’ jehört.“

„Ein Herr Özgürum war bei Ihnen? Wo ist er jetzt? Warum ist er nicht da?“ Schneider sah von seinem Notizblock auf und blickte sich suchend im Gang vor dem Laborraum um. „Ist er Mitarbeiter von Ihnen?“

Nazan Yilmaz schüttelte ihren Kopf. „Nee, det ist keen Kollega und den könnse ooch nich als Mörda verhaften.“

„Und wieso nicht?“

„‚Ben Özgürum‘ is uff Deutsch ‚Ick bin frei’“.

Gott

Der Mann saß in meinem Stammcafè, in der hinteren Ecke und beugte sich über einen Pott und schien sich zu verstecken. Mir war es ein bisschen unangenehm, ihn zu stören, aber genau so einen hatte ich gesucht. Und wenn du ordentlich Marketing machen willst, musst du manchmal ein bisschen unangenehm sein.

“Haben Sie schon mal daran gedacht, Weihnachtsmann zu werden?”, fragte ich ihn. Eigentlich eine dumme Frage. Ein alter Mann mit weißem Rauschebart und einem veritablen Bauchumfang. Der spielte garantiert für seine Enkel jedes Weihnachtsfest Weihnachtsmann. Aber es geht im Leben nicht nur um Kreativität, es geht um Mut, nur so kann man gewinnen.

“Fräulein?”, fragte er verdutzt, als hätte er niemals damit gerechnet, angesprochen zu werden.

Ich setzte mich ihm gegenüber.

“Nehmen Sie doch Platz”, sagte er, als ich mich schon zu ihm rüberbeugte, um ihm meine Idee zu pitchen. “Sie sind der ideale Kandidat. Es ist gar nicht schwer und Sie würden tausenden Kindern eine riesige Freude machen.”

“Was?”

Ein schwieriger Kerl. Es ist nur zu natürlich, dass sich Leute überfahren vorkommen, wenn man sie einfach so anspricht. Aber das ist gar nicht schlecht, das Wichtigste ist, dass man dann dran bleibt. Ich bin wie eine Anglerin, die den Fisch, wenn sie ihn erst mal hat, mit Geduld und Kraft erschöpft und dann an Land zieht. “Es ist natürlich auch ein kleines Taschengeld drin. Aber solche Jobs macht man einfach nicht wegen des Geldes. Die Dankbarkeit in den Kinderaugen ist schon Lohn genug.” Für die Show suchten wir schon seit Wochen einen geeigneten Mann, der wie ein Weihnachtsmann aussah. Es gab da ein paar Schauspieler, die verlangten Unsummen. Dabei musste der Weihnachtsmann nicht viel machen. Still sitzen und gut aussehen. Das sollte eigentlich jeder hinbekommen. Kein Grund, sich finanziell zu verausgaben.

“Job?” Der Alte kratzte sich an der Stirn. “Das sagt mir was.”

Langsam kam es mir so vor, als sei er ein bisschen verrückt. Aber so leicht würde ich nicht aufgeben. Solange er nicht gewalttätig wurde, konnte man ihn verwenden. Um so besser, denn er würde wahrscheinlich sogar weniger kosten. Ich reichte ihm die Hand. “Mein Name ist Melinda Seiffart, Melinda. Ich suche gerade nach unkonventionellen Talenten. Wie heißt du?”

Der Alte schluckte. “Eli … Eli Däus.” Er griff neben sich in eine Aktentasche, kramte eine Weile herum und legte mir dann einen Ausweis und eine Geburtsurkunde auf den Tisch. Eli Däus, noch keine 70 Jahre alt. Kein Grund schon senil zu sein. “Was wollen Sie von mir?”

“Ich möchte einen Vertrag mit Ihnen machen. Mit dir, Eli. Du bist eine Unterschrift davon entfernt, ein Star zu werden, den man in der ganzen Stadt kennt.”

“Vertrag”, flüsterte er. Er sackte förmlich zusammen, vergrub sein Gesicht in den Händen. “Himmel!”

“Eli, hast du denn ein paar Erfahrungen mit Auftritten? Laientheater, Chor, Krippenspiel, irgendwas?”

Er sah mich an. “Ich hatte da ein paar Auftritte.”

“Super, dass du schon Bühnenerfahrung hast.”

Er wackelte mit dem Kopf. “Bühne, naja …”

Der Alte war tüchtig durch den Wind, aber er schien wenigstens nicht abgeneigt. Und weil mir mein Chef im Nacken saß, dass wir endlich den Cast der Show anheuern sollten, war ich fest entschlossen dran zu bleiben. “Was machst du denn so, Eli.”

Sein Blick hellte sich auf. “Ich war bei der Polizei.” Seine Stimme war lebhaft, wie ein Schüler, der wenigstens eine Antwort im Test wusste.

“Super, bist du in Pension.”

“Nein, ich habe einen festen Wohnsitz”, schoss es aus ihm raus und schon wirkte er wieder wie ein geprügelter Hund.

Das würde ein langes Gespräch werden. Aber ich wollte das jetzt. Wenn ich ihn an Land zog, dann war ich die Retterin der Show. “Ich meinte, was du beruflich machst. Du hast doch Arbeit?”

“Selbstverständlich”, sagte er und klang dabei, als sei das überhaupt nicht selbstverständlich. “Ich schaffe Dinge.” Er kramte wieder in seiner Aktentasche und holte einen Stapel Papiere heraus, die ich als Antrag für Arbeitslosengeld erkannte. Prima, ein Künstler. Wenigstens erklärte das das schräge Verhalten.

“Es gibt keine bessere Werbung, als Star der Weihnachtsshow auf dem Marktplatz zu sein. Tausende werden dich live sehen und es ist sogar ein Fernsehteam vom Lokalsender dabei. Außerdem wird das auf unserer Firmenseite gestreamt. Das gibt dir eine ganz neue Reichweite.”

“Reichweite”, wiederholte er mit aufgerissenen Augen. “Ich will keine Reichweite. Ich will meine Ruhe, ich will Frieden und vor allem will ich nichts unterschreiben.”

Eine schlechtere Verhandlerin wäre jetzt entmutigt gewesen, aber das ist das Ziel, dass dein Verhandlungspartner sich öffnet und seinen Preis preisgibt. Ich lächelte und sah ihm in die Augen. “Die Welt ist ein gefährlicher Ort, man wird immer nur bedrängt. Es fühlt sich so an, als würde man immer überfordert und das geht so lange, bis das Einzige, was einem noch zu tun bleibt, ein Befreiungsschlag ist.”

“Ja!” Endlich leuchteten seine Augen. “Das ist es. Seit ich hier bin, wollen alle nur was von mir und ich weiß nicht warum.”

Ich lächelte ihn ermutigend an. “Ich weiß genau, was du meinst, Eli. Aber das ändert sich jetzt. Ich bin für dich da.” Ich winkte den Kellner heran. “Eli, möchtest du noch was?”

Er wünschte sich nur ein stilles Wasser, ich nahm noch einen Kaffee. “Bist du dir sicher, dass du nichts Stärkeres brauchst?” Eli nickte und meinte, es wäre schon gut.

Als unsere Getränke vor uns standen, redete ich noch beruhigenden Unsinn auf ihn ein. Dann plötzlich steckte er den Finger in sein Wasser und rührte darin herum. Das Wasser färbte sich langsam rot. Ich wollte erst um Hilfe rufen, weil ich befürchtete, dass er sich verletzt hatte, aber die Farbe war eindeutig kein Blut, das sah aus wie Wein. “Cooler Trick.”

“Trick?”, fragte Eli verdutzt.

“Bist du Zauberer oder was?”

Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da brüllte es hinter der Theke. “Keine mitgebrachten Getränke!”

Eli zuckte zusammen. Er nahm einen tiefen Schluck. “So geht das schon die ganze Zeit.”

“Ey, hast du nicht gehört, du fliegst gleich raus.”

Ich hatte das Gefühl, hier würde mir langsam etwas entgleiten. Drum beruhigte ich den Kellner. Er kannte mich, er wusste, dass ich auf Suche nach Talenten war und Eli war ein Zauberkünstler, der mir eine Kostprobe für eine Show gegeben hatte. Kein Grund sich aufzuregen.

Die Wogen waren schnell geglättet. Eli roch tatsächlich nach Wein.

“Hier ist alles verboten. Wenn du dich richtig verhalten willst, musst du eine ganze Bibliothek auswendig lernen.” Er begann wieder in seinem Koffer zu kramen und holte das BGB raus. “Und wie das geschrieben ist, das kann doch kein Mensch lesen. Das ist doch kein Gesetz, das ist eine Ungeheuerlichkeit.” Eli schien wahrhaft entsetzt zu sein. Wahrscheinlich war irgendwas wirklich schwerwiegend kaputt an diesem Mann. Ich hatte jedenfalls noch niemanden erlebt, der sich ernsthaft über ein Gesetzbuch aufregen konnte.

Die Augen des Alten fuhren herum. “Und das Schlimmste ist, die wollen alle Papier sehen. Ich weiß gar nicht, was die damit wollen. Die Leute in der U-Bahn, die Polizei, diese fürchterliche Frau in diesem Amt. Alle wollten sie Papier, überall sollte ich unterschreiben. Und dann haben die mir Fragen gestellt. Das bin ich ja eigentlich gewohnt, aber diese Fragen hatte ich noch nie gehört. Ob ich einen zustellfähige Adresse habe. Ob ich Zeugnisse oder eine Ausbildung habe. Ob ich Einkommen aus Wertpapieren habe”, schluchzte er. “Wert … Papiere.”

Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte, also hatte ich ihm einfach gesagt, dass er sich mal zusammenreißen solle, weil die Leute schon guckten.

“Ich habe ihnen alles gegeben. Alles. Ich habe ihnen Adressen gegeben, Zeugnisse und auch Wertpapiere. Alle Wertpapiere haben sie bekommen und dann fragen die mich, was ich überhaupt bei ihnen will. Ich sei doch ein wohlhabender Mann. Ich sag noch, dass ich überhaupt nichts von ihnen will, dass man mich zu ihnen gebracht hatte und ich einfach gefolgt war, weil ich dieses ganze Tohuwabohu nicht durchschaut hatte. Und wissen Sie, was die mir dann gesagt haben, Melinda? Können Sie sich das vorstellen? Die haben gesagt, sie seien nicht zuständig. Ich habe da vier Stunden gewartet, habe ihnen alles vorgelegt, was sie wollten und dann sagen die mir, dass sie nicht zuständig sind. Was soll das alles? Melinda, erklären Sie mir das!”

Ich hatte keine Ahnung, wovon der Alte redete. Aber was ich wusste, war, dass wir uns gefährlich von meinem Auftrag entfernt hatten. “Ich verstehe, dass du heute einen schlechten Tag hattest, aber das ist kein Grund, warum er schlecht bleiben muss. Es hat keinen Sinn, immer nur in die Vergangenheit zu sehen und darüber zu klagen, dass irgendetwas schief gelaufen ist. Ich kann dafür sorgen, dass der Tag für dich gut endet.”

“Oh ja, das wäre schön. Ich brauche Ruhe”, nuschelte Eli in seinen Bart. Dabei fielen ihm die Augen zu. Ich fürchtete, dass er einschlief, aber er schreckte gleich wieder hoch und sah sich gehetzt um.

Ich hätte dieses Gespräch schon längst abgebrochen, hätte dieser Kerl nicht so unverschämt wie der Weihnachtsmann ausgesehen.

“Melinda”, flüsterte er.

“Ja, Eli.”

“Kann ich jetzt gehen?”

Jetzt kam es darauf an. Er entglitt mir. Wenn ich ihn jetzt nicht richtig anpackte, war dieses Gespräch umsonst gewesen. Ich legte meine Hand auf seine. “Eli, gleich. Ich möchte, dass du noch eins für mich tust.”

Er nickte resigniert. “Alles”, sagte er tonlos.

Ich legte meine Aktentasche auf den Tisch und holte einen Vertrag heraus. “Ich möchte, dass du das hier unterschreibst. Du trägst hier, deine Daten ein.” Ich zeigte mit der Spitze meines Kugelschreibers auf die Felder. “Dann trägst du hier deine Adresse und hier unten, wo ich das Kreuz mache, schreibst du noch deine Bankverbindung hin.”

Elis Augen wanderten über den Vertrag, dann wieder zu mir, dann wieder auf den Vertrag. Dann blickte er mich noch mal an. In seinen Augen standen Tränen. “Nicht du auch, Melinda!”, rief er. Dann brach er schluchzend und weinend zusammen. Erst war es mir peinlich mit einem weinenden, erwachsenen Mann an einem Tisch zu sitzen, als er dann aber von der Bank rutschte und sich auf dem Boden krümmte, wurde es mir so unheimlich, dass ich aufstand und mich an ein einen anderen Platz in der Nähe des Eingangs setzte. Er lag zwar nur zuckend und heulend auf dem Fußboden, aber man wusste ja nie, wozu solche Männer fähig waren.

Der Kellner rief einen Krankenwagen. Die zwei Sanitäter hoben Eli vom Boden auf und bugsierten ihn auf eine Trage. Ich hörte einen der beiden Fragen, ob Eli eine Krankenkarte habe, worauf sein Schluchzen noch mal lauter wurde. Alle Leute im Café sahen mich betreten an. In einigen Mienen erkannte ich stillen Vorwurf. Ich bezahlte und verließ das Geschäft.

Das Letzte, was ich mitbekam, war, dass ein Sanitäter im Rettungswagen auf den in Embryohaltung zusammengekrümmten Eli einredete, ob er mal seine Papiere sehen könne.