Gott
Der Mann saß in meinem Stammcafè, in der hinteren Ecke und beugte sich über einen Pott und schien sich zu verstecken. Mir war es ein bisschen unangenehm, ihn zu stören, aber genau so einen hatte ich gesucht. Und wenn du ordentlich Marketing machen willst, musst du manchmal ein bisschen unangenehm sein.
“Haben Sie schon mal daran gedacht, Weihnachtsmann zu werden?”, fragte ich ihn. Eigentlich eine dumme Frage. Ein alter Mann mit weißem Rauschebart und einem veritablen Bauchumfang. Der spielte garantiert für seine Enkel jedes Weihnachtsfest Weihnachtsmann. Aber es geht im Leben nicht nur um Kreativität, es geht um Mut, nur so kann man gewinnen.
“Fräulein?”, fragte er verdutzt, als hätte er niemals damit gerechnet, angesprochen zu werden.
Ich setzte mich ihm gegenüber.
“Nehmen Sie doch Platz”, sagte er, als ich mich schon zu ihm rüberbeugte, um ihm meine Idee zu pitchen. “Sie sind der ideale Kandidat. Es ist gar nicht schwer und Sie würden tausenden Kindern eine riesige Freude machen.”
“Was?”
Ein schwieriger Kerl. Es ist nur zu natürlich, dass sich Leute überfahren vorkommen, wenn man sie einfach so anspricht. Aber das ist gar nicht schlecht, das Wichtigste ist, dass man dann dran bleibt. Ich bin wie eine Anglerin, die den Fisch, wenn sie ihn erst mal hat, mit Geduld und Kraft erschöpft und dann an Land zieht. “Es ist natürlich auch ein kleines Taschengeld drin. Aber solche Jobs macht man einfach nicht wegen des Geldes. Die Dankbarkeit in den Kinderaugen ist schon Lohn genug.” Für die Show suchten wir schon seit Wochen einen geeigneten Mann, der wie ein Weihnachtsmann aussah. Es gab da ein paar Schauspieler, die verlangten Unsummen. Dabei musste der Weihnachtsmann nicht viel machen. Still sitzen und gut aussehen. Das sollte eigentlich jeder hinbekommen. Kein Grund, sich finanziell zu verausgaben.
“Job?” Der Alte kratzte sich an der Stirn. “Das sagt mir was.”
Langsam kam es mir so vor, als sei er ein bisschen verrückt. Aber so leicht würde ich nicht aufgeben. Solange er nicht gewalttätig wurde, konnte man ihn verwenden. Um so besser, denn er würde wahrscheinlich sogar weniger kosten. Ich reichte ihm die Hand. “Mein Name ist Melinda Seiffart, Melinda. Ich suche gerade nach unkonventionellen Talenten. Wie heißt du?”
Der Alte schluckte. “Eli … Eli Däus.” Er griff neben sich in eine Aktentasche, kramte eine Weile herum und legte mir dann einen Ausweis und eine Geburtsurkunde auf den Tisch. Eli Däus, noch keine 70 Jahre alt. Kein Grund schon senil zu sein. “Was wollen Sie von mir?”
“Ich möchte einen Vertrag mit Ihnen machen. Mit dir, Eli. Du bist eine Unterschrift davon entfernt, ein Star zu werden, den man in der ganzen Stadt kennt.”
“Vertrag”, flüsterte er. Er sackte förmlich zusammen, vergrub sein Gesicht in den Händen. “Himmel!”
“Eli, hast du denn ein paar Erfahrungen mit Auftritten? Laientheater, Chor, Krippenspiel, irgendwas?”
Er sah mich an. “Ich hatte da ein paar Auftritte.”
“Super, dass du schon Bühnenerfahrung hast.”
Er wackelte mit dem Kopf. “Bühne, naja …”
Der Alte war tüchtig durch den Wind, aber er schien wenigstens nicht abgeneigt. Und weil mir mein Chef im Nacken saß, dass wir endlich den Cast der Show anheuern sollten, war ich fest entschlossen dran zu bleiben. “Was machst du denn so, Eli.”
Sein Blick hellte sich auf. “Ich war bei der Polizei.” Seine Stimme war lebhaft, wie ein Schüler, der wenigstens eine Antwort im Test wusste.
“Super, bist du in Pension.”
“Nein, ich habe einen festen Wohnsitz”, schoss es aus ihm raus und schon wirkte er wieder wie ein geprügelter Hund.
Das würde ein langes Gespräch werden. Aber ich wollte das jetzt. Wenn ich ihn an Land zog, dann war ich die Retterin der Show. “Ich meinte, was du beruflich machst. Du hast doch Arbeit?”
“Selbstverständlich”, sagte er und klang dabei, als sei das überhaupt nicht selbstverständlich. “Ich schaffe Dinge.” Er kramte wieder in seiner Aktentasche und holte einen Stapel Papiere heraus, die ich als Antrag für Arbeitslosengeld erkannte. Prima, ein Künstler. Wenigstens erklärte das das schräge Verhalten.
“Es gibt keine bessere Werbung, als Star der Weihnachtsshow auf dem Marktplatz zu sein. Tausende werden dich live sehen und es ist sogar ein Fernsehteam vom Lokalsender dabei. Außerdem wird das auf unserer Firmenseite gestreamt. Das gibt dir eine ganz neue Reichweite.”
“Reichweite”, wiederholte er mit aufgerissenen Augen. “Ich will keine Reichweite. Ich will meine Ruhe, ich will Frieden und vor allem will ich nichts unterschreiben.”
Eine schlechtere Verhandlerin wäre jetzt entmutigt gewesen, aber das ist das Ziel, dass dein Verhandlungspartner sich öffnet und seinen Preis preisgibt. Ich lächelte und sah ihm in die Augen. “Die Welt ist ein gefährlicher Ort, man wird immer nur bedrängt. Es fühlt sich so an, als würde man immer überfordert und das geht so lange, bis das Einzige, was einem noch zu tun bleibt, ein Befreiungsschlag ist.”
“Ja!” Endlich leuchteten seine Augen. “Das ist es. Seit ich hier bin, wollen alle nur was von mir und ich weiß nicht warum.”
Ich lächelte ihn ermutigend an. “Ich weiß genau, was du meinst, Eli. Aber das ändert sich jetzt. Ich bin für dich da.” Ich winkte den Kellner heran. “Eli, möchtest du noch was?”
Er wünschte sich nur ein stilles Wasser, ich nahm noch einen Kaffee. “Bist du dir sicher, dass du nichts Stärkeres brauchst?” Eli nickte und meinte, es wäre schon gut.
Als unsere Getränke vor uns standen, redete ich noch beruhigenden Unsinn auf ihn ein. Dann plötzlich steckte er den Finger in sein Wasser und rührte darin herum. Das Wasser färbte sich langsam rot. Ich wollte erst um Hilfe rufen, weil ich befürchtete, dass er sich verletzt hatte, aber die Farbe war eindeutig kein Blut, das sah aus wie Wein. “Cooler Trick.”
“Trick?”, fragte Eli verdutzt.
“Bist du Zauberer oder was?”
Er wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, da brüllte es hinter der Theke. “Keine mitgebrachten Getränke!”
Eli zuckte zusammen. Er nahm einen tiefen Schluck. “So geht das schon die ganze Zeit.”
“Ey, hast du nicht gehört, du fliegst gleich raus.”
Ich hatte das Gefühl, hier würde mir langsam etwas entgleiten. Drum beruhigte ich den Kellner. Er kannte mich, er wusste, dass ich auf Suche nach Talenten war und Eli war ein Zauberkünstler, der mir eine Kostprobe für eine Show gegeben hatte. Kein Grund sich aufzuregen.
Die Wogen waren schnell geglättet. Eli roch tatsächlich nach Wein.
“Hier ist alles verboten. Wenn du dich richtig verhalten willst, musst du eine ganze Bibliothek auswendig lernen.” Er begann wieder in seinem Koffer zu kramen und holte das BGB raus. “Und wie das geschrieben ist, das kann doch kein Mensch lesen. Das ist doch kein Gesetz, das ist eine Ungeheuerlichkeit.” Eli schien wahrhaft entsetzt zu sein. Wahrscheinlich war irgendwas wirklich schwerwiegend kaputt an diesem Mann. Ich hatte jedenfalls noch niemanden erlebt, der sich ernsthaft über ein Gesetzbuch aufregen konnte.
Die Augen des Alten fuhren herum. “Und das Schlimmste ist, die wollen alle Papier sehen. Ich weiß gar nicht, was die damit wollen. Die Leute in der U-Bahn, die Polizei, diese fürchterliche Frau in diesem Amt. Alle wollten sie Papier, überall sollte ich unterschreiben. Und dann haben die mir Fragen gestellt. Das bin ich ja eigentlich gewohnt, aber diese Fragen hatte ich noch nie gehört. Ob ich einen zustellfähige Adresse habe. Ob ich Zeugnisse oder eine Ausbildung habe. Ob ich Einkommen aus Wertpapieren habe”, schluchzte er. “Wert … Papiere.”
Ich wusste nicht recht, was ich tun sollte, also hatte ich ihm einfach gesagt, dass er sich mal zusammenreißen solle, weil die Leute schon guckten.
“Ich habe ihnen alles gegeben. Alles. Ich habe ihnen Adressen gegeben, Zeugnisse und auch Wertpapiere. Alle Wertpapiere haben sie bekommen und dann fragen die mich, was ich überhaupt bei ihnen will. Ich sei doch ein wohlhabender Mann. Ich sag noch, dass ich überhaupt nichts von ihnen will, dass man mich zu ihnen gebracht hatte und ich einfach gefolgt war, weil ich dieses ganze Tohuwabohu nicht durchschaut hatte. Und wissen Sie, was die mir dann gesagt haben, Melinda? Können Sie sich das vorstellen? Die haben gesagt, sie seien nicht zuständig. Ich habe da vier Stunden gewartet, habe ihnen alles vorgelegt, was sie wollten und dann sagen die mir, dass sie nicht zuständig sind. Was soll das alles? Melinda, erklären Sie mir das!”
Ich hatte keine Ahnung, wovon der Alte redete. Aber was ich wusste, war, dass wir uns gefährlich von meinem Auftrag entfernt hatten. “Ich verstehe, dass du heute einen schlechten Tag hattest, aber das ist kein Grund, warum er schlecht bleiben muss. Es hat keinen Sinn, immer nur in die Vergangenheit zu sehen und darüber zu klagen, dass irgendetwas schief gelaufen ist. Ich kann dafür sorgen, dass der Tag für dich gut endet.”
“Oh ja, das wäre schön. Ich brauche Ruhe”, nuschelte Eli in seinen Bart. Dabei fielen ihm die Augen zu. Ich fürchtete, dass er einschlief, aber er schreckte gleich wieder hoch und sah sich gehetzt um.
Ich hätte dieses Gespräch schon längst abgebrochen, hätte dieser Kerl nicht so unverschämt wie der Weihnachtsmann ausgesehen.
“Melinda”, flüsterte er.
“Ja, Eli.”
“Kann ich jetzt gehen?”
Jetzt kam es darauf an. Er entglitt mir. Wenn ich ihn jetzt nicht richtig anpackte, war dieses Gespräch umsonst gewesen. Ich legte meine Hand auf seine. “Eli, gleich. Ich möchte, dass du noch eins für mich tust.”
Er nickte resigniert. “Alles”, sagte er tonlos.
Ich legte meine Aktentasche auf den Tisch und holte einen Vertrag heraus. “Ich möchte, dass du das hier unterschreibst. Du trägst hier, deine Daten ein.” Ich zeigte mit der Spitze meines Kugelschreibers auf die Felder. “Dann trägst du hier deine Adresse und hier unten, wo ich das Kreuz mache, schreibst du noch deine Bankverbindung hin.”
Elis Augen wanderten über den Vertrag, dann wieder zu mir, dann wieder auf den Vertrag. Dann blickte er mich noch mal an. In seinen Augen standen Tränen. “Nicht du auch, Melinda!”, rief er. Dann brach er schluchzend und weinend zusammen. Erst war es mir peinlich mit einem weinenden, erwachsenen Mann an einem Tisch zu sitzen, als er dann aber von der Bank rutschte und sich auf dem Boden krümmte, wurde es mir so unheimlich, dass ich aufstand und mich an ein einen anderen Platz in der Nähe des Eingangs setzte. Er lag zwar nur zuckend und heulend auf dem Fußboden, aber man wusste ja nie, wozu solche Männer fähig waren.
Der Kellner rief einen Krankenwagen. Die zwei Sanitäter hoben Eli vom Boden auf und bugsierten ihn auf eine Trage. Ich hörte einen der beiden Fragen, ob Eli eine Krankenkarte habe, worauf sein Schluchzen noch mal lauter wurde. Alle Leute im Café sahen mich betreten an. In einigen Mienen erkannte ich stillen Vorwurf. Ich bezahlte und verließ das Geschäft.
Das Letzte, was ich mitbekam, war, dass ein Sanitäter im Rettungswagen auf den in Embryohaltung zusammengekrümmten Eli einredete, ob er mal seine Papiere sehen könne.