Seitenwind Woche 5: Verlassene Orte

Unser Schreibthema der Woche: Verlassene Orte

ANREGUNG

Jemand stirbt oder verschwindet spurlos, muss fliehen oder zieht ins Altersheim. Früher oder später dringt jemand Neues in den verlassenen Raum vor. Eine Freundin, ein Erbe, ein Fremder, irgendwann vielleicht eine Archäologin.

Beschreibe ein verlassenes Haus oder eine verlassene Wohnung. Zeig deinen Lesern anhand der Dinge darin, was das für ein Mensch war, der hier gelebt hat.

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Unberührt

Der Geruch hängt in den Möbeln, den Vorhängen, sogar die gerahmten Bildern riechen nach Rauch. Marlboro war stets deine Lieblingsmarke gewesen. Mich hat das an meine Oma erinnert. Dich an den Marlboro-Mann aus der Werbung. Ein verwegener Typ, der für seine Ideale stirbt. Der letzte Wunsch am Galgen: eine Zigarette der Lieblingsmarke. Bestimmt hast du dich damals so gesehen. Und ich dich vielleicht auch ein wenig. Es ist merkwürdig hier zu sein. Ohne dich.
Ich halte deinen Wohnungsschlüssel in meiner linken Hand. Die Plastiktüte, der ich ihn entnommen habe in der anderen. Der Notar übergab mir den Schlüssel so. Als dein einziger Freund habe ich dieses Erbe angetreten. Merkwürdig, dass du es in all den Jahren nicht geschafft hast, zumindest einen weiteren Menschen zu finden, der dir Nahe steht. Ich schlendere an dem Sideboard, dass einen Großteil deines Apartments einnimmt entlang. Es stehen Fotos dort. Von deinen Großeltern, Eltern und auch eines von uns. Wir sind jung. Ich habe lange Haare, du trägst einen Irokesen-Schnitt. Verrückt, dass wir uns damals zum attraktiven Teil der Gesellschaft gezählt hatten. Ich lächle.
Langsam nähere ich mich dem Mittelpunkt deines Wohnraumes. Ein Löffel liegt auf dem abgenutzten Tisch. Daneben ein Feuerzeug. Mein Lächeln schwindet sogleich. Die Polizei muss diese beiden Dinge damals liegengelassen haben. Vermutlich habe sie genug andere Dinge gefunden, um dich für Jahre hinter Gitter zu bringen. Hätte ich gewusst, dass du niemals mehr in Freiheit leben wirst, hätte ich dich sicher besucht. Zu groß war meine Angst erneut abzurutschen. Deine Festnahme war damals ein Schock für mich. Doch er half mir mein Leben in geordnete Bahnen zu lenken.
Auf dem Weg nach draußen nehme ich das Bild von uns an mich. Eine dicke Staubschicht hat sich in all den Jahren darauf gelegt. Es blieb lange unberührt. Genau wie all die Erinnerungen, die über mich hereinbrechen, als ich die Türe hinter mir zuziehe.

Ich bin müde und traurig.

Ich gehe in den zweiten Stock und öffne die Tür. Ich meine, ganz schwach Patchouli zu riechen – muffig, nach Moschus, Holz und Erde.

Im Flur hängt ein blauer Dufflecoat vor der orangebraunen Tapete.

Auf der Rauchglasplatte des Beistelltischs liegt eine aufgeschlagene „Neue Revue“, zu sehen ist eine junge Frau mit durchsichtiger Bluse, Minirock und roten Lackstiefeln. Ingrid Steeger aus Klimbim.

Im Regal finden sich nur wenige Bücher: Siegfried Lenz, Franz Kafka, Hermann Hesse, Günter Wallraff.

Neben dem Plattenspieler stehen Scheiben von T.Rex, Led Zeppelin und Genesis. Auch die „Alive“ von Slade mit dem Song „Darling bei home soon“.

Am Schrank kleben Pril-Blumen.

Meine Eltern scheinen in den 40 Jahren nichts an meinem Zimmer verändert zu haben.

Der einzige Ort

Der Ort, den ich verlassen habe, war der einzige, an dem ich leben konnte. Ich habe nicht viele Orte kennenlernen können. Wo ich jetzt bin, ist alles anders. Mein Ort war immer warm. Manchmal bekam die Umgebung einen goldenen warmroten Schimmer. Später in meinem Leben habe ich gerne gedämpfte Musik gehört, ganz zappelig wurde ich vom Radiowecker, besonders bei Singer-Songwriter-Pop. Meine Lieblingserinnerung ist die Stimme meiner Mutter, wie sie mir vorlas oder wie sie die Gitarre ganz nah an mir spielte. Die Schwingungen ließen mich am Leben da draußen teilhaben. Auch das wärmende Licht, das bis zu mir ins Herz vordrang, werde ich niemals vergessen. Was für eine Wonne das war. Ich konnte keine Laute machen, aber ich konnte lächeln und mich durch meine Bewegungen bemerkbar machen. Leider wurde dieser Ort immer enger mit der Zeit. Ich habe meine Mutter oft weinen gehört. Aber ich wusste nicht, warum sie traurig war.
Nie vergessen werde ich den Tag, an dem ich diesen Ort verlassen habe. Es war Zeit, ich war schon so groß. Ich musste mich nicht nur von ihm verabschieden. Auf meiner Reise verließ ich ebenso meinen eigenen Körper, der schon tapfer gewachsen war. Das bedeutete auch den Abschied von meiner Mutter und von meinem Vater. Meine Mutter muss in dem Moment, als ich fortgehen wollte, eine große Leere empfunden haben. Die Zeit stand still für uns beide. Als ob wir uns für einen Moment im Nirwana getroffen hätten. Für einen Moment gab es nur Stille. Beide waren wir regungslos geworden. Ein einziges Innehalten. Kurz danach war sie so glücklich, mich zu sehen. Ich war nicht mehr da wo ich vorher war. Ich tauschte den kleinen Raum gegen die Unendlichkeit ein. Eine kurze Weile blieb ich in der Nähe und schaute von oben. Das ließ ich alle spüren. Ich starb bei meiner Geburt. Es war für mich der schönste Ort, dieser Bauch.

Die Villa am Ortsrand

Sie muss weg. Baufällig, sagt das Amt nach der äußeren Insichtnahme. Keine Erben, also geht sie an die Stadt zurück, und ich habe den Auftrag zum Entrümpeln. Bitte vorsichtig, es hat einen Wasserschaden und möglichst bis nächste Woche räumen. Danke.
Ich steige die Stufen hinauf zur Haustür. An dem morschen Geländer halte ich mich lieber nicht fest. Einst muss es weiß gewesen sein, jetzt klammern sich nur noch Splitter von Farbresten am Holz fest.
Der Eingangsbereich ist mit mahagoniefarbener Holztäfelung verkleidet, an den Wänden hängen Gemäldereplikate und Porträtfotos sowie die Schwarzweißfotografie einer Familie. Der Vater in Uniform, Mutter und Tochter in gedeckten Kleidern mit hübschem Spitzenkragen. Die Kleine drückt einen Teddy an sich. Sie gucken so ernst, das kann nur aus den 30er Jahren stammen.
Am Boden ein abgewetzter Teppich mit Orientmuster, verwachsen mit den Holzdielen. Ich biege rechts ab. Die Küche wurde wohl in den 80ern eingebaut, leider kein Museumsstück. Auf dem Herd steht ein offener Topf, darin ein schwarzer Klumpen Essensreste. Die Fliegen sind schon fort.
Ich schlendere zum gegenüberliegenden Raum. Die Türklinke, tausende Male gedrückt und losgelassen, ihr Goldglanz verwaschen. Hinter der Tür verbirgt sich das Wohnzimmer oder Herrenzimmer, wie man es früher nannte. Deckenhohe Regale, befüllt mit uralten Büchern. Leineneinbände und Goldgravur. Sie sind alle feucht geworden.
Auf dem Beistelltisch thront eine Tiffany-Leuchte. Ihr Haupt ist wie ein Blätterdach gemustert, darunter gelbe, orangene und rote Formen, die mich an Jellybeans erinnern, diese kleinen Zuckerbonbons zum Kauen.
An der Wand mit einem Gestell befestigt, hängt ein Flachbildfernseher, der Größe nach zu schätzen, zehn Jahre alt. Auf dem massiven Eichenholztisch liegt eine Decke aus echter Spitze. Vergilbt. Auch nichts mehr wert. Darauf ein Stapel Fernsehzeitschriften vom letzten Jahr, Klatschblätter über Adelshäuser und gewellte Tageszeitungen. Ein grünes Brillenetui.
Ich gehe zurück über den Orientteppich bis an die Treppe. Am Geländer ist ein Treppenlift montiert. Die Stufen sind glattgetreten und knarzen hier und da. Oben tropft es von der Decke.
In den restlichen Räumen stehen abgedeckte Möbel, nur das Schlafzimmer ist noch benutzt worden. Ich trete ein. Die verblichene Tapete mit dem Blümchenmuster ist an den Seiten eingerollt. An ihrem Fuß wachsen Schimmelflecken, die kleine Landschaften bilden: Berge und Täler, auf denen schwarzer Regen fällt.
Auf den Fensterscheiben die Spuren der Jahre: Blütenstaub, Vogelkot, Überreste von Marienkäfern und Fliegen, durchkreuzt von Regenspuren. Hier drin tropft es auch.
In der Mitte steht das Ehebett. Eine Betthälfte ist mit altrosafarbener Tagesdecke abgedeckt. Vielleicht schon Jahrzehnte.
Auf dem Nachttisch verstaubt ihr Hochzeitsfoto. Es ist das kleine Mädchen, nun eine junge Frau. Glücklich sieht sie hier aus. In der benutzten Betthälfte liegt ihr feuchtes Kissen, auf dem einst Träume blühten und wieder welkten. Daneben der kleine Teddybär, so alt, sein Fell fühlt sich stachelig an wie ein Igel. Auch er ist feucht.

Bücher, hunderte Bücher schleppte sie heran, in Kisten, Kartons, ein alter Koffer voll.
„Ein Nachlass,“ sagte sie, „der alte Herr P., du weißt doch., bei dem meine Schwiegermutter den Haushalt führte. Niemand will etwas von seinen Sachen. Sie soll alles auflösen, behalten was sie brauchen kann. Die Bücher …“,sie sah sich um, das Zimmer war vollgestellt, Staub flirrte in der Luft, „…sie wollte sie wegwerfen oder auf den Flohmarkt geben. Da fiel mir ein, du liest doch so gern. Nimm, was du brauchen kannst, den Rest …“ Sie machte eine wegwerfende Geste.

Ich wußte kaum etwas über Herrn P., ein feiner alter Herr, der alleine lebte. Irgendwo hatte er Söhne, Professoren sollten sie sein, in Süddeutschland. Söhne, die nichts von ihrem Vater haben wollten.

Ich nahm die Bücher aus den Kartons. Alte, vergilbt, verstaubt. Und doch die Spuren seiner Hände, die in diesen Seiten oft geblättert hatten. Deutsche Literatur, viele Ausgaben schon aus den vierziger Jahren. Wolfgang Borchert, Kafka, Mann , Fontane ,Brecht, Schiller, Hauptmann , Benn und viele andere. Ein Rundgang durch die deutsche Literaturgeschichte. In jedem sein Name , stolz, dieses Buch zu besitzen. Wie die Kinder die schrieben : dieses Buch gehört Friedrich P.
Randbemerkungen, vieles war unterstrichen. Er hatte diese Bücher nicht nur besessen, er hatte sie gelebt.
Während ich packte, überkam mich ein Gefühl der Achtung. Politische Abhandlungen , Kunst, Philosophie, dieser feine, zurückhaltende alte Herr, war sehr belesen gewesen . Die philosophischen Bände… ich blätterte ein wenig, schweifte über die Inhaltsangabe, nein, zu hoch für mich. Aber er hatte sie gelesen. Wieder Bemerkungen am Rande, Fragezeichen , kleine Zettel mit Gedanken als Lesezeichen.

Bücher über die Kunst der deutsche Sprache, Stillehre, Grammatik, … War er ein Schriftsteller ? Nein, ich wußte, dass er Lehrer war. Ein Lehrer mit großer Liebe zur Sprache, ob er es geschafft hatte, diese Liebe an seine Schüler weiterzugeben?

Viel Bücher trugen persönliche Widmungen. Von Freunden…dir lieber Friedrich zu deinem Geburtstag… lieber Vater, was soll man dir schon schenken außer …
meiner liebsten Margarete zu ihrem Ehrentag… auch seine Frau mußte die Liebe zu den Büchern geteilt haben. Fast kam ich mir wie ein Eindringling vor, wenn ich in diesen Widmungen stöberte. Doch niemand, dem sie zugedacht waren, war mehr da. Er und seine Frau waren tot.

Gesammelt, geliebt, ein Schatz, den der alte Herr in Laufe seines Lebens angehäuft hatte. Und nun? Lieblos in Kartons geworfen, ein Leben sollte auf dem Flohmarkt verramscht werden.

Fremde Hände, die in diesem Leben wühlen würden. Die versuchten, sich ein Bild zu machen, von diesem Menschen, von dessen Leben nichts geblieben war. Wissen und Weisheit, die plötzlich verloren waren. Ein Schatz, der plötzlich nichts mehr wert war, weil dumme Menschen seinen Wert nicht zu schätzen wussten.

Vorsichtig wischte ich den Staub von jedem Buch und stellte sie in ein Bord, aus dem ich vorher alle meine modernen und unterhaltsamen Romane rausgeschmissen hatte. Ich betrachtete meine Bücher und nahm das erste zur Hand. Borchert. Ich würde mit Borchert beginnen und mich vortasten über Kleist zu Schiller bis Zweig. Ich würde eintauchen in dieses fremde Leben und würde es zu einem Teil von mir werden lassen.
Ich würde reich sein, denn ich habe in alten Kartons und in einem alten Koffer einen Schatz gefunden.

Der Kuschelhase

Erstaunlich normal wirkt es, dein Zimmer. Der Boden ist noch nicht ganz getrocknet. Kurz bevor ich kam, hatte deine Mutter ihn gewischt – wie jeden Tag. Auch das Bett ist frisch bezogen. Das letzte Mal, als ich hier war, war die Bettwäsche weiß-blau kariert. Heute ist es die mit den Sonnenblumen – deinen Lieblingsblumen. Der Stoffhase, den du jeden Tag in den Kindergarten mitgenommen hast, liegt dort zugedeckt zwischen den Kissen. Er war immer mit dabei, egal ob beim Sandburgen bauen oder auf der Rutsche. Es fiel dir schwer ihn beim Übertritt in die Grundschule zu Hause zu lassen. Aber große Mädchen schleppen nicht mehr ständig ein Kuscheltier mit sich rum. Aus deinem Bett wurde er nicht verbannt, bis heute nicht. Abends hast du ihm von deinen Erlebnissen des Tages erzählt, von denen er fortan ausgeschlossen war. Er kannte alle deine Wünsche und Geheimnisse. Vermutlich mehr als ich und bestimmt viel mehr als deine Eltern.
Auf dem Schreibtisch vor dem Fenster liegen noch Buntstifte und ein gezeichnetes Bild. Es zeigt uns zwei mit Schultüten, größer als wir selbst, einem Baum und einer lachenden Sonne. So hatten wir uns beide unseren ersten Schultag vorgestellt. Hand in Hand und mit einer Menge Süßigkeiten wollten wir den neuen Lebensabschnitt beginnen. Gemeinsam würden wir an diesem Schreibtisch sitzen und uns bei unseren Hausaufgaben unterstützen, Vokabel üben und Mathe lernen. Nach der Schule wolltest du Prinzessin werden oder Tierärztin. An den Wänden hängen noch die Tierposter von damals, doch die Farben verblassen immer mehr. So sehr sich deine Eltern bemühen den Raum zu konservieren, die Zeit bleibt nicht stehen. Bett, Schreibtisch, Stuhl, Kleidung, alles wäre nun zu klein für dich. Wenn du zurückkommst, müsste alles neu eingerichtet werden. Nur der Hase, der dürfte bleiben und du würdest ihm, wie damals, alles erzählen.
Falls du zurückkommst.

Der Zettel

Liebe Mama
wenn du diesen Zettel findest, dann haben wir nicht auf dich gehört.
Lisa und ich habe so lange wie möglich gewartet, doch Du bist nicht gekommen?
Wir haben Angst und so grossen Hunger!
Bitte, sei nicht böse auf uns.
Ida und Lisa

Lukas las den Text durch. Er hatte ihn erst vorhin im oberen Kinderzimmer der alten Frida gefunden.
Er half der freundlichen Nachbarin gerne bei der Renovation des Hauses. So verdiente er sich neben dem Studium etwas dazu. Als er die alte Täferung mühsam Brett für Brett runter riss, hielt er erstaunt inne. Er hatte hinter der Wand einen Hohlraum entdeckt. Vorsichtig steckte er den Kopf durch das Loch und fand auf dem Boden ein Zettel. Dieser war mit einer dicken Staubschicht bedeckt. Er nahm das Papier auf und blies den Staub weg.
Er las nochmals jedes einzelne Wort.
In seinem tiefsten Innern bäumte sich etwas auf, eine Warnung, ein ungutes Gefühl. Er entfernte trotzdem ein paar weitere Bretter, soviel, dass seine Schultern durchpassten. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit dahinter. Er erkannte dennoch nur Umrisse.
Er kroch zurück in das Zimmer und nahm sich aus der Werkzeugkiste einer der LED-Leuchten. Er steckte seinen Kopf voran in das Loch und spürte eine grosse Anspannung. Es war eiskalt und unheimlich. Lukas roch den alten Staub, der sich über viele Jahre hier niedergelegt hatte. Er leuchtete den Raum aus. Da lagen Kleider auf einem Haufen, dort standen schwarze Kinderschuhe. Er schwenkte mit dem Licht in die linke Ecke, sein Atem stockte. Was er sah, bestätigte seine innerste Vermutung. Ein kleines, weiss bemaltes Kinderbett. Daneben eine alte Matratze. Darauf lag ein Teddybär, als würde er schlafen. In der anderen Ecke befand sich eine grosse und wurmstichige Holztruhe. Gleich anschliessend ein Holztisch mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch lag etwas. Er stand auf, musste sich aber bücken, da der Raum durch das Schrägdach hier niedrig war. Er schritt vorsichtig darauf zu und erkannte durch den Staub einige Stifte wild verstreut liegen. Er blies von der Seite über die Platte, was Buntstifte und Zeichnungen freilegte. Lukas nahm eine der Kinderzeichnungen auf. Darauf waren Figuren gemalt. Ein grosses blondes und ein kleines, dunkelhaariges Mädchen. Daneben eine Frau im Kleid, sowie ein Mann mit einem Hut und einen langen Mantel. Auf diesen war ein gelber Stern gezeichnet. Lukas erinnerte sich, dass das Haus im Krieg als eines der wenigen Gebäude vor der Bombardierung verschont geblieben war. Frida hatte es ihm einmal bei einer Tasse Tee erzählt. Er blickte sich traurig im Raum um.
Lukas fühlte sich in diesem Moment mit Ida und Lisa eng verbunden.
Er hielt seine Gefühle nicht mehr zurück.
Eine dicke Träne lief ihm langsam über die Wange auf die Zeichnung.

Was bleibt

Ich stehe im Fahrstuhl. Es riecht nach Desinfektionsmittel und Urin. Diese Mischung setzte sich in meiner Nase fest.

Sie haben mich angerufen. Immerhin haben sie sich zwei Tage Zeit gelassen. „Es wär schön, wenn Sie am Wochenende das Zimmer räumen könnten. Die Warteliste ist lang. Sie können uns auch alles überlassen, dann machen wir das. Manche, die hier her kommen haben ja gar nichts.“

An deiner Tür hängt dein Bild. Ich nehme es behutsam ab und drücke die Klinge herunter. Es riecht nach Desinfektionsmittel. Der gut abwischbare hellbraune Linoleumboden quietscht unter meinen Füssen. Das Bett ist abgezogen und mit einer Plastikplane überzogen. Es ist ein neues Bett. Der Kloß in meinem Hals wächst.

Ich nehme die unzähligen Bilder von der Wand. Von dir. Von mir. Von uns. Von allen deinen Lieben. Jedes in seinem eigenen Rahmen. Jeder anders. Wie immer hängen alle schief. Ich habe es aufgegeben, sie bei jedem Besuch immer wieder gerade auszurichten. Stattdessen haben wir „Mensch ärgere dich nicht“ gespielt. Du hast immer gewonnen. Das Spiel liegt auf dem dunklen Sideboard.

Ich nehme deine Fellmütze vom Haken. Mit der sah`s du immer sehr mondän aus. Ich packe sie ein. Genauso wie das schwarze Tuch mit den silbernen Sternen, dass ich dir letztes Jahr zu Weihnachten geschenkt habe. Du wolltest es gar nicht mehr abnehmen. Es schimmerte so schön.

Im Bad steht nicht mehr viel von dir. „Manche haben ja gar nichts.“ Auf der Spiegelablage liegt dein roter Lippenstift mit der goldenen Kappe. Bis zum Schluss hast du ihn immer aufgetragen, bevor ich dich in den Essensraum gebracht habe. „Was muss, das muss.“ Hat du immer gesagt und mir verschmitzt zugezwinkert. Ich lächele und lasse den Lippenstift in meiner Manteltasche verschwinden.

Ich schließe die Tür hinter mir und gehe den langen mit Linoleum ausgelegten Flur zum Essensraum. Es quietscht. Auf deinem Platz sitzt eine fremde Frau. Der Kloß in meinem Hals nimmt mir den Atem.

Bist du sicher, dass niemand zuhause ist?« Tims Stimme zitterte leicht.
»Ich hab gesehen, wie die Schneider mit dem Krankenwagen abgeholt wurde. Und jetzt komm und scheiss dir nicht in die Hosen, die Alten haben doch immer irgendwo Kohle.«
Marvin lachte. Eher ein Grunzen. Tim hasste dieses Lachen, dreckig klang es. Dann nahm Marvin den großen Schraubenzieher aus seiner Innentasche und hebelte die Terrassentür auf. Altes, schwaches Holz. Die Farbe bereits abgeblättert. Einfachverglasung.
»Was verdammt noch mal mach ich hier?« Der Gedanke brannte in Tims Kopf. Frau Schneider war immer nett zu ihm gewesen. Als er ein Kind war, hat sie ihn manchmal ein Bonbon geschenkt. Angelächelt hatte sie ihn, als sie sagte: »Du bist nicht wie die anderen. Pass auf dich auf.«
Sie traten in die Küche, Mondlicht fiel durch die Fenster. Es würde ausreichen. Der Raum war einfach und spärlich möbliert. Die Tapeten mit Streublümchen waren alt, verfärbt durch die Küchendämpfe vergangener Jahre. Der Spülschrank und der Hängeschrank aus weißlackierten Sperrholzplatten, das Spülbecken blank poliert. Aufgeräumt war es, nichts, aber auch gar nichts, stand herum. Marvin zeigte auf das schlichte Küchenbuffet.
»Guck du hier, Keksdosen und so, die verstecken ihren Scheiß doch immer an den gleichen Orten, ich guck mal im Wohnzimmer.«
Tim schluckte, er wollte das nicht. Er hatte keine Freunde, war der Sonderling. Und als Marvin ihn fragte, ob er abends Lust hatte, mit ihm um die Häuser zu ziehen, da sagte er nicht nein. Endlich mal dazugehören. Sein Blick fiel auf den alten Resopaltisch. Ein kleiner Tisch, vielleicht für zwei Personen. Ein Tisch, aber nur ein Stuhl. Er fühlte sich schwer und müde und ging auf das Küchenbuffet zu. Öffnete die Türen. Eine Packung Haferflocken, vielleicht noch zu einem Drittel gefüllt. Ein paar Teebeutel. Und da, eine Keksdose. Tim öffnete sie. Ein einsamer 10 Euroschein lag darin. Tim verschloss die Dose wieder. Ansonsten fand er nur noch ein paar Briefe, eine Kiste mit Nähgarn.
»Hier ist nichts.«, rief er.
»Hast du im Kühlschrank nachgesehen? Da verstecken die auch immer ihr Geld.«
Der Kühlschrank war alt, brummte laut. Tim öffnete ihn. Margarine, die billige Sorte, ein kleines Stück Käse, ein Glas Marmelade, selbst eingekocht. Ansonsten nichts. Im Eisfach fand er nur eine kleine Folie mit 5 Scheiben Brot. Er schloss die Tür. Traurigkeit überkam ihn. Und Scham. Er durchquerte den kleinen Flur. An den Wänden waren Fotos angebracht, liebevoll gerahmt. Ein Mann, lächelnd. Ein kleiner Junge, der stolz einen Fisch und eine Angel in die Kamera hielt. Lachend, die Schneidezähne fehlten. Tim erschauderte, die Ecken der Bilderrahmen waren mit einem schwarzen Band markiert, er wusste, was das bedeutete. An der Garderobe hing ein verschlissener Mantel, viel zu dünn für diese Jahreszeit. Einsam hing er dort, verloren.
Tim betrat das Schlafzimmer. Kiefernholzmöbel. Ein Bett, ein Schrank, eine Kommode. Einfach, zweckmäßig. Das Bett war gemacht, nirgends lag Staub. Halbherzig öffnete er die Schubladen und Schranktüren. Viel fand er nicht, aber er suchte auch nicht. Ihm wurde schlecht. Aus dem Wohnzimmer drangen wütende Geräusche. Marvin fluchte.
»Fuck, was soll die Scheiße? Will die Alte mich verarschen?«
Tim folgte der Stimme. Die Schranktüren der Wohnzimmerschrankwand standen offen, die Schubladen waren herausgerissen. Eiche rustikal. »Gelsenkirchener Barock«,dachte Tim. Auf dem Boden lagen Briefe, Fotos, Kabel, Glühbirnen. Scheinbar hatte Marvin alles aus den Fächern gerissen und achtlos hinter sich geworfen. Nein, hier war nichts zu holen. Er bückte sich und sammelte die Papiere vom Teppichboden auf.
»Was soll das werden, du Spinner?«
Tim zögerte. »Damit man nicht sieht, dass wir da waren. Spuren und so.«
Marvin starrte ihn kurz an, dann nickte er.
»Ich verpiss mich jetzt. Solltest du auch machen. Man sieht sich.«
Tim blieb. Er blieb so lange, bis alles ordentlich war. Dann verließ er das Haus und zog die Terrassentür, so gut es ging, wieder zu. Die Frau war arm, das spürte er. Ein einsames, bescheidenes Leben. Ein Tisch, ein Stuhl. Hier kam niemand mehr zu Besuch.
Tim schluckte. »Die kann doch noch nicht einmal das Krankenhaus bezahlen, "flüsterte er. Sein Mund war trocken. Zehn Euro pro Tag, 28 Tage, Höchstsatz. Das wusste er. Dann wandte er sich ab und verschwand in der Dunkelheit.

»Frau Schneider, hier ist etwas für sie angekommen. schaun sie mal, wie schön die sind.«
Die Krankenschwester drückte der schmalen, blassen Frau einen Blumenstrauß in die Hand. Sonnenblumen, Gräser, gelbe Rosen. Frau Schneider betrachtete ratlos die Blumen. Ihr Blick fiel auf ein weißes Kuvert, sie zupfte es vorsichtig aus dem Strauß und öffnete es. Ihre zittrige Hand glitt hinein. Geldscheine? Sie zählte verwundert nach. 280 Euro. Sie dachte kurz nach. 10 Euro pro Tag, 28 Tage. Dann holte sie tief Luft. Ihre Augen brannten. Nach einem kurzen Moment atmete sie erleichtert aus. Sie würde das Krankenhaus bezahlen können.
»Aber…wer…?, wunderte sie sich, "aber… Wer?«

An mir fährt der Leichenwagen vorbei. Ich sitze in meinem warmen Auto, schaue dem Totengefährt kurz nach. Denke an dich, wie jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit, weil ich dir gleich deinen Kaffee bringen werde, heiß, dampfend mit drei Stück Würfelzucker gesüßt. Die Kaffeemaschine gluckst vor sich hin und ich stehe mit deinem Becher wartend davor. Meine Schritte führen mich aus dem Gebäude heraus. Kurz vor deinem kleinen Zuhause kann ich den Alkohol riechen, den Urin. Meiner Nase ist es egal. Ich freue mich auf dich, auf deine Augen, die mich anschauen und mir stumm entgegen blicken. Leuchtend. Doch heute ist dein dunkelblauer Schlafsack leer, wie ein gekrümmter Wurm liegt er auf der Pappe. „Wir packen das“, steht auf ihr, „Umzüge leicht gemacht“, in roter Schrift. Ich weiß es, weil ich sie dir gebracht hatte. Wo bist du? Soll ich dir den Becher hinstellen? Du musst den Hauseingang in einer Stunde räumen, dann schließt das Geschäft seine Türen für die zahlende Kundschaft auf. Ich schaue mich um. Dein Einkaufswagen steht wie immer in der linken Ecke, darin fein säuberlich aufgeschichtet, deine Habseligkeiten. Ganz unten kann ich eine Jeans erkennen, darüber Wollpullover, gemustert, der eine in Herbstönen, der andere rot-schwarz gestreift. Eine schmuddelige grau-braune Wolldecke liegt darin und ganz obenauf liegt ein hellbrauner Teddybär. An ihm kleben die Erinnerungen an deinen Sohn. Er liegt auf dem Rücken, sein Kopf ist in meine Richtung gedreht. Ich schaue ihm in seine dunklen Knopfaugen. Wo ist er? Das frage ich ihn. Er antwortet nicht. Mein Blick wandert zurück zu deinem Schlafsack, daneben sehe ich eine geöffnete Chipstüte, zerdrückt und offensichtlich leer, sie wippt leicht hin und her. Chipsfrisch steht darauf, ja es ist frisch hier, der Winter hat seine Minusgrade heute Nacht über das Land und durch unsere kleine Stadt getrieben. Deine schwarzen Schuhe mit den grünen Schnürsenkeln stehen ordentlich nebeneinander aufgestellt in der rechten Ecke deiner Lebensnische. Wo bist du? Ohne deine Schuhe! Ich weiß, für die Nacht ziehst du sie aus. Mit Straßenschuhen geht man nicht in sein Schlafzimmer, Ordnung muss sein, das hast du mal zu mir gesagt. Schlafsackschlafzimmer habe ich damals gedacht. King-Curry-Wurst lese ich auf der Packung, die unter dem Einkaufswagen liegt, dein gestriges Abendmahl. Der Kaffeeduft steigt in meine Nase. Langsam knie ich mich hin, stelle deinen Becher ab. Mir kommt der Leichenwagen in den Sinn.

Der Haken

»Und dieses Juwel ist wirklich noch zu haben?« Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Wir standen am Vordereingang einer kleinen Villa, die sich wie die Illustration eines Märchenbuches in einen verwilderten Garten schmiegte. Insekten summten, es duftete nach Sommer, nach Natur und auch ein wenig nach Moder.
»So ist es, allerdings gibt es bereits etliche weitere Interessenten«, erklärte der Makler und trat aus dem Sonnenlicht hinaus in den Schatten der gewaltigen Eiche, die beinahe die gesamte Vorderfront in kühles Zwielicht tauchte.
»Wollen wir dann hineingehen?« Er drehte den Schlüssel und ließ beide Flügel der Eingangstür aufschwingen. Absolut lautlos, wie ich verwundert feststellte. »Nach Ihnen, bitte.«

Als erstes bemerkte ich den wundervollen Mosaikboden, mit dem die Eingangshalle gefliest war. Die Motive schienen aus einer mir unbekannten Mythologie zu stammen und wirkten ein wenig martialisch, doch die Farben waren einfach nur traumhaft. Rechts ging es in die Küche, zwar schön geräumig, aber auch hoffnungslos altmodisch. Hier würde man komplett erneuern müssen.
»Strom und fließendes Wasser sind vorhanden, oder?«
»Selbstverständlich!« Der Makler zog pikiert die Nase in die Höhe. »Dem Vorbesitzer ist Komfort und ein gewisser Status sehr wichtig gewesen.«
Das glaubte ich unbesehen, denn es fanden sich überall kleine Kostbarkeiten aus seinem Besitz. Hier eine kunstvoll geschliffene Sherrykaraffe mit Gläsern, dort eine exquisite Miniatur. Und alles war im Kaufpreis inbegriffen.

Linkerhand betrat man den Salon mit Fenstern, die vom Boden bis zur Decke reichten und von schweren Samtportieren in tiefdunklem Rot eingerahmt wurden. Staubkörnchen tanzten im Licht, dennoch wirkte alles sauber und gepflegt. Ein offener Kamin und Ledermöbel, die eine ehrwürdige Gediegenheit förmlich auszuatmen schienen, begeisterten mich genauso, wie die angrenzende Bibliothek. Es würde ein herrliches Abenteuer werden, den Inhalt all dieser in uraltes Leder gebundenen Folianten zu erkunden.
Das Obergeschoss, das wir über die kleine Freitreppe erreichten, beherbergte eine Handvoll verwinkelter Zimmer und ein prachtvolles Bad. Auch hier waren die Armaturen rettungslos veraltet, aber die Badewanne auf klauenbewehrten Füßen machte das locker wieder wett.
Das gesamte Anwesen strotzte vor Charakter, hatte den Charme eines historischen Landsitzes und auch einen leichten Gruselfaktor. Eine unwiderstehliche Mischung, ich wollte dieses Haus unbedingt haben.

»Sagen Sie, wie kommt es, dass solch ein Objekt so preiswert angeboten wird?« Der Kaufpreis klang nämlich zu schön, um wahr zu sein, und ich witterte bereits einen gewaltigen Haken.
»Oh, das hat mit den Ansprüchen der Nachbarschaft zu tun«, wurde mir erklärt. »Wir legen hier allergrößten Wert auf ein adäquates Umfeld und wollen, wenn Sie mir den Ausdruck verzeihen, keinesfalls mit irgendwelchem Gesocks Tür an Tür leben.«
»Das kommt mir sehr entgegen«, meinte ich. »Könnten wir dann die weiteren Formalitäten besprechen? Ich habe mich entschieden, das Anwesen erwerben.«
»Ich bin überaus erfreut, aber klären wir zunächst Ihre genaue Befindlichkeit. Frisch verstorben, tot, halbtot, scheintot oder untot?«
»Wie bitte?« Auch wenn es perfekt in dieses Ambiente passte, so lustig fand ich die Frage nicht.
Der Makler sah allerdings nicht aus, als hätte er einen Witz gemacht. »Welcher der genannten Zustände trifft auf Sie zu?«
Na gut, würde ich eben mitspielen, Hauptsache der Kauf ging über die Bühne. »Im Augenblick noch keiner«, entgegnete ich. »Doch in schätzungsweise 70 Jahren dürfte ich mit einiger Wahrscheinlichkeit Punkt eins erfüllen.«
»Das ist bedauerlich, denn so lange können wir nicht warten«, sagte der Makler. »Sind Sie vielleicht ein Werwolf oder, wie der Vorbesitzer, ein Vampir? Das wäre natürlich auch akzeptabel.«
»Leider nichts von alledem.«
»Dann muss ich zu meinem größten Bedauern ablehnen, die Villa Blutbuche steht für normal Sterbliche nicht zum Verkauf. Stand das nicht in der Anzeige? Mein Fehler, ich bitte dieses Versehen zu entschuldigen.«

Oma

Mein Vater schließt die Tür zur Wohnung auf. Es riecht muffig und auch ein bisschen nach Urin und ungewaschenem Menschen. Früher schwebten in meiner Kindheit hier nur gute Gerüche rum, nach Bratkartoffeln zum Beispiel, meinem Lieblingsgericht von dir, weil keiner sie so golden und knusprig hinbekam wie du. Es schnürt mir bei der Erinnerung die Kehle zu und ich muss schlucken. Wir reißen die Fenster auf. „Wo sollen wir denn anfangen?“, frage ich meinen Vater, der sich aber auch nur schulterzuckend in der kleinen Eineinhalbzimmerwohnung umsieht. Da das Schlafzimmer jedoch nur ein winziger Raum ist, der gerade mal Platz für ein schmales Einzelbett und einen Nachttisch bietet, in dem nur deine Bibel liegt, beginne ich im Wohnzimmer, wo die Hauptarbeit wartet. Das Sofa, das bestimmt schon seit mindestens 20 Jahren in deinem Besitz ist, sieht abgenutzt aus. Um es zu schützen und es noch weitere Jahre nutzen zu können, hast du eine Decke mit Katzengesicht darauf gelegt. So altmodisch wie sie aussieht, könnte sie sogar noch älter als das Sofa sein. Von der Decke geht ein starker, strenger Geruch aus, da hilft nur noch entsorgen, der erste Sack von wenigen wird befüllt damit. Darunter kommt eine sichtbare Kuhle an der Stelle zum Vorschein, an der du immer gesessen hast. Das kann nicht mehr bequem gewesen sein. Hast du es nicht gemerkt oder wolltest du es nicht merken, weil du mit deiner viel zu geringen Rente, die nicht mal für die Grundversorgung ausreichte, keine neue hättest leisten können? Jetzt darf immerhin das Sofa seine letzte Ruhe finden. Da mein Vater sich dem riesigen Kleiderschrank mit den Schiebetüren auf der linken Seite des Wohnzimmers gewidmet hat und gerade Wäsche in einen Koffer packt, gehe ich zum Wohnzimmerschrank auf der rechten Seite hinüber und öffne die Türe zu dem Fach, in dem deine Fotoalben stehen. Es sind 13 Stück, alle unterschiedlich groß und dick. Ich weiß, dass sie dort stehen, habe sie aber noch nie angesehen. Hatte ich kein Interesse? Oder wolltest du etwas verbergen? Ich weiß, dass dein Leben alles andere als leicht oder schön war. Du hast viel durchmachen müssen. Neugierig klappe ich das erste Album auf, beiße mir dann aber auf die Lippe. Darf ich das? Ist das überhaupt in Ordnung? Mein Vater sieht zu mir rüber, bemerkt meinen inneren Konflikt und sagt, dass es in Ordnung sei, du hättest deine Bilder gerne gezeigt. Es sind teils sehr alte Bilder, noch in schwarz-weiß, viele Personen erkenne ich nicht. Und dann ein kleines Mädchen, das mit einer Zahnlücke freudestrahlend in den Armen ihrer Mutter in die Kamera grinst. Das ist meine Mutter und du hältst sie im Arm. Egal, was du durchgemacht hast, es hat auch Freude in deinem Leben gegeben und das macht mich glücklich. Jetzt kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Das hier ist ein erster Abschied von dir. Da können die Leute sagen, was sie wollen. Dein Körper mag noch hier sein, aber deine Erinnerungen schwinden und von dem wenigen, was du besessen hast, kannst du nicht mehr als zwei Koffer mit Kleidung, deine Fotoalben, ein paar CDs und DvDs mitnehmen. Die alten, dunklen und schweren Möbel landen allesamt auf dem Sperrmüll genauso wie der Gasherd und die zusammengewürfelten Schränke aus der Küche. Und mehr ist es auch nicht. In vier Stunden sind wir mit allem fertig, in vier Stunden haben wir ein Leben ausgeräumt.
Ein Leben, das nun im Pflegeheim weitergeht, so lange, bis dein Körper deinem Geist folgen wird.

Eine hungrige Wohnung

Es war eine Schnapsidee gewesen, hier einzusteigen. Worauf hatte sich Rita da nur wieder eingelassen?
„Komm schon, Leika!“, zischte sie. „Lass uns wieder abhauen, ja? Das ist voll gruselig!“
„Sei nicht so eine Heulsuse!“, sagte Leika und lachte dazu. „Du hast doch das Absperrband gesehen, hier wohnt keiner mehr. Und ist dieser Ort nicht voll abgefahren? Ich meine, guck mal, die Bücher sind nach Größe sortiert!“ Sie lief an dem Schrank an der linken Wand entlang und knickte dabei die Teppichhaare, die bis eben penibel alle in dieselbe Richtung geschaut hatten. Rita wagte es nicht, den gewienerten Dielenboden zu verlassen und eine der Teppichinseln zu betreten. Zum Beispiel die, auf der drüben am Fenster das Sofa mit seinen genau auf der Hälfte eingedrückten Kissen stand. Auf dem niedrigen Glastisch davor waren ein paar Zeitschriften daponiert. So aus der Ferne konnte Rita nicht sagen, welche, dafür aber, dass sie Kante an Kante und Ecke auf Ecke lagen. Es sah aus wie in einer Musterwohnung.
„Wirklich toll, Leika, aber wir sollten hier echt nicht sein“, sagte Rita und wusste selbst, wie nah sie am Jammern war. „Das ist doch nicht normal.“
Leika lachte wieder. „Du machst dir zu viele Gedanken, Rita. Los, lass uns die anderen Räume anschauen!“
Rita folgte Leika nicht, als die in den kurzen Flur auf der gegenüberliegenden Seite entschwand. Dafür hätte sie Teppich überqueren müssen und alles in ihr sträubte sich dagegen, ihre Straßenschuhe auf diesen penibel gerichteten Untergrund zu setzen und ihn durcheinanderzubringen. Stattdessen schob sie sich nur ein paar Schritte zur Seite, um in die Küche blicken zu können.
„Das Bad ist krass!“, rief Leika aus dem Flur. „Ich glaub, ich hab noch nie ein dermaßen sauberes Bad gesehen!“
Dasselbe fand Rita für die Küche. Kein Geschirr stand herum, keine Spritzer zierten die Wand, keine Krümel waren auf der Arbeitsfläche übrig geblieben. Die Messer an dem Magnetband darüber waren perfekt senkrecht ausgerichtet und glänzten. Bestimmt waren sie auch gründlich geschärft.
„Und das Schlafzimmer! Rita, kannst du das glauben? Die Sachen hier im Schrank sind alle richtig ordentlich gestapelt! Wie mit Lineal abgemessen oder so.“
„Aha“, sagte Rita. Etwas anderes hatte ihre Aufmerksamkeit gefesselt.
Auf dem Küchentisch stand eine Tasse. Darin eine bräunliche Flüssigkeit, Kaffee oder Tee, und ein Löffel. Als hätte jemand das Getränk gerade erst zubereitet. Oder zubereitet und es trinken wollen, war aber nie dazu gekommen.
Sie schluckte, hatte jedoch mit einem Mal keinen Speichel mehr.
„Leika?“, fragte sie und ihre Stimme zitterte dabei. Sie konnte ihre Augen nicht von der Tasse abwenden, die dort so richtig aussah und doch so falsch wirkte. „Leika, ich glaube, wir sollten hier ganz schnell weg! Bitte! Das ist eine von diesen Wohnungen aus den Nachrichten! So eine, die Leute frisst!“
Denn nur so war zu erklären, warum in diesem sonst so perfekt aufgeräumten Zuhause eine Tasse einfach so in der Gegend herumstand. Ihr Eigentümer war nicht gegangen, sondern verschwunden, von einem Moment auf den anderen. Verschlungen von der Wohnung selbst.
Rita war schon an der Tür, ehe sie merkte, dass Leika nicht geantwortet hatte.

Mietsache

Alles alte Klamotten, ein moderiger Geruch, die Garderobe ebenso verschlissen wie der Anorak am Haken. Selbst der Regenschirm in der Ecke hatte schon bessere Tage gesehen. Licht im Abstellraum? Fehlanzeige. Vielleicht war es gut so, denn die Tür ließ sich nur halb öffnen.

«Wegen der roten Flecken an der Wand müssen Sie sich keine Sorgen machen. Das ist nur Soße. Und wegen tapezieren: Sie können das Flürchen ja auch einfach überstreichen.»
«Wie hoch soll die Miete denn sein?»
«Wegen der Miete, na ja. Wenn man die Umstände bedenkt. Wir könnten auch später darüber reden. Wegen der ganzen Umstände, meine ich.»

Ein gepflegtes Badezimmer. Immerhin. Doch selbst hier roch es muffig. Ohne erkennbaren Grund. Die Tür zum Schlafzimmer stand offen. Eine Hälfte des Ehebettes war benutzt, die andere sah aus wie ein Ausstellungsstück im Möbelhaus. Ein Pantoffel lag vor dem Kleiderschrank, der andere fehlte.
«Er hat ihn verloren.»
«Wie bitte?»
«Bei den ganzen Umständen hat er den Pantoffel einfach verloren.»

Auf dem Wohnzimmertisch stapelten sich Briefe, daneben alte Zeitungen, ein Bleistift, zahlreiche Zettel und Unmengen von kleinen, grauen Würmchen, offensichtlich die Reste einer ausgiebigen Radieraktion.

«Darf ich Sie was fragen?»
«Ich hab doch gesagt, wegen der Umstände, dass wir da später drüber reden. Sehen Sie sich doch erst noch die Küche an. Die ist neu, die hat der nicht einmal benutzt. Die wäre auch dabei.»
«Was ist passiert? Es geht doch keiner weg als wäre er zum Einkaufen und kommt dann nie mehr wieder.»
«Sie sagen das so. Zum Arzt ist der gegangen, nicht zum Einkaufen.»
«Und was ist mit seinen Sachen?»
«Die konnte er schlecht mit ins Grab nehmen.»

Haben die Schreie der Nachbarn sie geweckt? Haben sie mich gerochen? Wie ärgerlich, das beste bleibt mir verwehrt. Ein umgeworfenes Höckerchen auf ihrem Fluchtweg. Oh, sie rannten um ihre armseligen kleinen Leben. An der Tür stehen Schuhe, 4 Paar, fein säuberlich aufgereiht. Wollten sie den flauschigen beigen Teppich nicht dreckig machen. Mehr Vergnügen für mich. Was sie wohl mitgenommen hätten, hätte ich ihnen nur mehr Zeit gelassen. Die Familienfotos, schwarzweiß, teuer gerahmt an der Wand zum Treppenaufgang. Die werden ihnen fehlen. Die Handys und Papiere, ja daran denken die meisten Leute, doch leider im Notfall nie griffbereit. Jämmerlich. Oh, was ist das. Ein kleines rosa Nilpferd auf der Treppe. Wie niedlich. So viele geflickte Stellen. Da kann ein kleines Kind lange nicht einschlafen. So nah am Ziel runtergefallen? Was für ein Pech. Unersetzbare, emotionale Werte. Die verschlinge ich am liebsten. Bis sie nur noch ein Aschehaufen sind, nicht zu unterscheiden von der Gitarre. Ein Dekostück? Oder hat jemand gespielt? Hat da etwa heute jemand Fenster geputzt? Da steht noch ein Eimer. Welch Zeitverschwendung. Ich lasse eins nach dem anderen zerbersten. Tschüss Büchersammlung, adieu 65 Zoll Fernseher, auf nimmer Wiedersehen kleine rote Spielzeugküche. Da ist er, der Ordner mit den wichtigen Dokumenten. Futschikato. Uih, ein abgeschlossener Schrank unter der Spüle, da wird doch nicht… Wow, Spiritus! Ein Energiekick! Wer wohnt wohl nebenan?

Fast geräuschlos lässt sich das Törchen von der Straße auf den Hof aufdrücken. Dahinter: ein privater Dschungel. Gras, Disteln und Blumen mehr als hüfthoch, vom Dachfirst aus schimpft tuckernd ein Hausrotschwänzchen, an der Seite vom Grundstück ein Zaun, umwunden von Kletterpflanzen und durchwachsen von Gestrüpp. An der Hauswand Holundersträucher, hochgewachsen bis zur Traufe, traulich vereint mit rankendem Wein an einem Spalier aus schlanken Holzlatten. Ich habe ein Dornröschenschloss gefunden – allein ähnelt dieses kleine Bauernhaus keinem Schloss, es liegt nur still, verlassen und zugewuchert da und scheint ebenso wie im Märchen darauf zu warten, liebgewonnen und zu neuerlichem Leben erweckt zu werden.
Zögernd bahne ich mir den Weg durch das raschelnde Gras hin zur Treppe, die rauf auf die Veranda führt. Ihrer konnte die Vegetation nicht habhaft werden. Die hölzernen, ausgetretenen Stufen knarren unter meinem Gewicht, als beklagten sie sich darüber, dass ich ihren jahrzehntelangen Frieden störe.
Im Schatten der Veranda eine Bank aus groben Brettern, darunter ein Paar Schuhe, schwarzledern und für winzige Frauenfüße gemacht. Daneben die Tür. Den riesigen, alten Schlüssel dafür halte ich in der Hand.
Ich stehe davor und fühle mich genau mittelmutig. Mutig genug, um diese Tür zu öffnen und ängstlich genug, sie nicht zuzulassen. Schlucke alle Erwartung, Hoffnung, Befürchtung, Ahnung und Ahnungslosigkeit herunter. Schließe die Tür auf, mache einen kleinen Schritt auf die Schwelle, stehe da und schaue. Dann wage ich mich in das erste Zimmer. Ganz offensichtlich die Küche.
Kühle umfängt mich, dämmeriges Licht und die Sammlung alter Gerüche eines längst vergangenen Lebens. Zwei Türen gehen vom Raum ab, nacheinander öffne ich sie, neugierig und verzagt zugleich. Links ein schmales Zimmer mit blauen Wänden, rechts ein großes Zimmer mit grüngeblümten Wänden. Und was auch immer ich mir in den letzten Wochen vorgestellt haben mag – und vorgestellt habe ich mir vieles –: So hat es nicht ausgesehen.
Zwei Zimmer, eine Küche. Doch nicht nur Mauern mit einem Dach drauf, sondern ein Haus, dessen Besitzer nur mal eben weggegangen zu sein scheint.
So wenig ich bisher von dir weiß, ja so wenig ich bis vor einigen Wochen von deiner schieren Existenz wusste, so viel offenbart mir dein Haus, das du vor mehr als 30 Jahren verlassen hast. Eine alte, gebeugte Frau aus der Querstraße, die an allen Gliedmaßen krumm zu sein scheint, hatte bis vor ein paar Jahren noch den Garten bestellt. Vor ein paar Minuten hat sie mir den Schlüssel ausgehändigt, als ich mit dem Dokument des schwäbischen Notars bei ihr vorstellig wurde. Doch keine Seele hat im Haus gewohnt, niemand hat den Ofen geheizt. Auf dem Tisch steht ein Teller, liegt ein Messer. So, als wollest du dich gleich zu Tisch setzen und speisen. Die hässliche Wachstuchtischdecke ist abgerieben und in den Jahrzehnten hart geworden, die Farbe blättert ab. Auf dem Teller, als sehr frugales Mahl, ein Brocken Kalk, der vom geweißelten Deckenbalken abgefallen ist.
Die schweren Vorhänge und die Gardinen knistern und knacken, als ich sie bewege, so sehr sind sie von Spinnweben durchsetzt. Ich nehme sie ab und freue mich über das schwache Tageslicht, das durch die Kastenfenster fällt – gedämpft durch unsäglichen Schmutz und Schmier, der sich im Laufe der Jahre dort abgesetzt hat oder den die zahlreichen toten Fliegen verursacht haben, die auf den Fensterbänken und zwischen den Fensterflügeln liegen. Behutsam und mit spitzen Fingern hantiere ich an den Fensterriegeln. Das sind sie nicht gewöhnt, die Bänder quieken, knirschen und ruckeln, doch die klapperigen Fensterflügel lassen sich öffnen und ich bitte als erste Gäste Licht und Luft herein – auch wenn mich unmittelbar ein seichter Anflug von Melancholie überkommt, da ich damit ein Stück deiner Vergangenheit verwehen lasse. Licht und Wärme der Mittagssonne strömen in die Zimmer und lassen auch den Anflug melancholischer Gedanken verwehen. Im großen Zimmer über der Tür zur Küche ein leerer Nagel. Hast du deinen Jesus mitgenommen, als du gingst?
Das Drehen am Lichtschalter bringt nicht den erhofften Effekt. Natürlich nicht – welch blödsinniger Illusion bin ich denn da nur aufgesessen.
Der Abreißkalender an der Küchenwand endet am 2. Oktober 1986. Ein Freitag. Und dann? Dann hast du deine Tasche gepackt, hast die Tür abgeschlossen und bist abgereist, nach Nordwesten? Oder – und das ist ein wirklich beunruhigender Gedanke – haben sie dich abgeholt? Aber warum hätten sie das tun sollen?