Der Tod ist hinterhältig. Er lauert im Vergessen.
Ein Mann hatte vergessen, sich anzuschnallen als er ins Auto stieg. Ein Kind hatte vor dem Überqueren der Straße vergessen, auf den Verkehr zu achten. Eine Frau hatte die Anweisung des Arztes vergessen, die Tabletten keinesfalls zusammen mit Alkohol einzunehmen. Die Regierungen hatten das Elend der Kriege vergessen, als sie sich erneut ihre Panzer auf den Hals hetzten. Das Vergessen ist ein lohnendes Geschäft für den Tod. Aber er kann auch anders, subtiler, aber genauso hinterhältig.
„Magst du noch Kaffee?“, fragte ich zu laut. Sie zuckte zusammen und schaute mich erschrocken an, wie ein Schulkind, das vom Lehrer beim Träumen erwischt wurde. Sie war zwar schwerhörig, aber ich hatte vergessen, dass laute und verärgerte Stimmen ähnlich klingen. Lächelnd schenkte ich eine Tasse nach. Die dünnen Lippen des neunundsiebzigjährigen Kindes lächelten zurück, doch ihre Augen ruhten abwesend unter schweren Lidern in trauergeränderten Höhlen. Ihr Blick suchte erneut die Ferne hinter dem Fenster, vor dem wir beide saßen. Der Kaffee in unseren Tassen wurde kalt, der Kuchen warm.
Solange ich denken konnte, war sie regelmäßig zum Friseur gegangen, um mit flotten wassergewellten Locken und zwei prall gefüllten Einkaufstaschen zurückzukehren. Sowohl die Farbe als auch die Dichte ihres Haares hatte sich über die Jahre verändert. Anfangs war es unbezähmbar und glänzend wie frisch gesammelte Kastanien, dann webten sich erste staubgraue Fäden hinein, die sich ausbreiteten und später zu dünnem Silbergrau wurden. Jetzt hatte es die Farbe flüssigen Platins angenommen, das der reisende Friseur im Pflegeheim zum praktischen Bob geschnitten hatte.
Wie erster Winterfrost in Fallobst war das Alter tiefer in ihren Körper gekrochen und kristallisierte in jeder Zelle scharfkantig und spitz. Jeden Tag fror und bebte sie unter der Last. Es waren schmerzhafte Erschütterungen, die tief aus dem Inneren nach außen drängten. Dass sie ihre Arme oft wärmend, vielleicht auch haltend um ihren Oberkörper schlang, half dagegen genauso wenig wie der dicke Pullover. Sie hatte sich schick gemacht für ihren – ich ahnte es nicht – letzten Besuch bei mir. Dezent, aber immer gepflegt. Harmonisch abgestimmter Rock, Bluse, Schuhe, alles in pudrigem Grau. Doch dann dieser hässliche Pullover. Himmel, dieses marineblaue Monster aus grobem Patentstrick mit den gestopften Ellenbogen und dem V-Ausschnitt! V wie Verfall, V wie Vergessen. V wie verloren. V wie Verlust. V wie Vater – mein Vater, ihr Mann. Es war sein Lieblingspullover gewesen. Er hatte den Pullover nicht einfach getragen, nein, sie waren eine symbiotische Beziehung eingegangen und er war nur zum Waschen oder wenn er öffentlich unterwegs war, aus dieser Unmöglichkeit herauszureden. Deshalb trug meine Mutter ihn jetzt, als wäre er der Brustpanzer einer Rüstung. Legte sie ihn ab, wäre sie auf der Stelle verloren gewesen und ihr Weg am Ende.
Sie nippte an der Kaffeetasse und sagte: „Weißt du, ich mache gerade Urlaub mit dem Hausfrauenverein in einem tollen Hotel. Aber …“, sie stutzte und in die gewittergrauen, matten Augen trat Tränenglanz, „ich glaube, ich kann das schöne Zimmer gar nicht bezahlen. Ich habe doch überhaupt kein Geld mehr!“ Tränen ergossen sich plötzlich wie Sturzbäche über ihre plissierten Wangen. Jedes Fältchen ein Schmiss aus dem Kampf des Lebens. Woher bezog ihr Körper nur so viel Flüssigkeit? Ich nahm sie behutsam in den Arm, versuchte zu trösten, redete zu, schwieg und strich sanft über ihren Rücken, unter dem jeder Wirbel fühlbar war, und erwartete dabei das Geräusch von knisterndem Papier.
Sie aß und trank so wenig wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen, mit Vogel-V, und sogar daran musste sie ständig erinnert werden. Bis zu jenem letzten Tag kurz nach diesem Besuch, an dem ihr Körper zu leben vergaß und man ihr den Pullover ausziehen musste.