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Offene Enden – vierter Teil
Der Unbekannte
von @montypillepalle
Christian Pfeiffer hatte darauf bestanden, dass sie mit seinem alten Opel fuhren, weil das Video Richard Berger sichtlich mitgenommen hatte. Jetzt rauschten sie durch die Dämmerung der Stadt und Pfeiffer versuchte in seinem Gedanken, die losen Fäden zu greifen, die mit Marias Tod verbunden waren. Einer dieser Fäden war Marlene Romero, die Pastorin, eine Freundin von Maria, die Maria und ihn vor einem Jahr getraut hatte – und die, wie sich herausgestellt hatte, die Schwester von Richard Berger war.
»Marlene ist ein großartiger Mensch, gütig, selbstlos.« Berger wirkte, als wäre er den Tränen nah und Pfeiffer konnte es ihm nicht verdenken.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor einer Woche. Sie hat mich besucht, mir Trost gespendet. Doro und ich gehen sonntags nicht mehr in die Kirche.«
Das Gespräch erstarb. Berger trommelte leise und stakkatoartig auf der Plastikverkleidung der Beifahrertür und starrte durch die Frontscheibe auf die Straße. Pfeiffer bezweifelte, dass der Reiseveranstalter seine Umgebung wahrnahm. Noch im Hause der Bergers hatten sie diskutiert, ob sie trotz der Warnung die Polizei einschalten sollten. Dorothea hatte versucht, auf ihren Mann einzuwirken, aber Richard Berger hatte sich geweigert, wollte das Leben seiner Schwester nicht gefährden. Pfeiffer hielt das für einen schweren Fehler, doch wäre es um Maria gegangen… er brach den Gedanken ab. Stattdessen wühlte er in seinen eigenen Erinnerungen danach, was ihn selbst mit Marlene Romero verband. Ihm fielen Abendessen ein, Partys, die Maria organisiert hatte, aber nichts, was einen Verrückten dazu treiben konnte, die Pastorin zu entführen.
»Er hat Sie einen Ausbeuter, einen Kapitalisten, genannt, mir hat er vorgeworfen, Journalisten kümmerten sich nicht um die Probleme der Menschen. Gibt es etwas, dass Marlene getan haben könnte, was die Aufmerksamkeit des Täters geweckt hat?«
Richard Berger schien wie aus seinen Gedanken gerissen, er kratzte sich den stoppeligen Kinnbart, dann schüttelte er den Kopf, wie einer, der nicht wusste, was er denken sollte. »Ob es etwas gibt, was man der evangelischen Kirche vorwerfen kann? Sicher. Aber hätte er dann nicht genauso gut einen katholischen Priester entführen können?«
Pfeiffer nickte unbestimmt und fand keinen Ansatz, die Fäden zu verbinden. Maria, Marlene Romero, die Bergers, er selbst. Wenn es darum ging, Symbole für einen Werteverfall, für Fehler im System auszuwählen, warum dann gerade sie? Die Ahnungslosigkeit setzte sich wie ein Geschwür in Pfeiffers Kopf fest, der Täter war ihnen voraus, sie stolperten ihm blind hinterher.
Sie überquerten die Leunabrücke, die Uhr des Opels zeigte 19:31 Uhr. Linker Hand erstreckten sich nun kahle Felder, rechter Hand das Industriegebiet. Pfeiffer folgte dem Navigationsgerät durch einen Kreisverkehr und in das Labyrinth aus Bürogebäuden, Fabrikhallen, Schornsteinen und Gasleitungen. Eine Weile fuhren sie geradeaus, der einsetzende Sprühregen und die schwachen Laternen verwandelten das Straßenbild in eine Art apokalyptisches Detroit. Sie erreichten ihr Ziel in der Nähe einer Ansammlung riesiger Gas-Tanks und langgezogener Lagerhallen, die von einem stabilen Gitterzaun abgesperrt wurden. 19:43 Uhr. Sie stiegen aus, Pfeiffer setzte seinen Fedora auf und sah sich um. Es gab in der Nähe keinen Eingang und Stacheldraht verhinderte, dass man auf das Gelände klettern konnte, doch zwanzig Meter weiter erkannte er einen Zettel, der in einem Plastikumschlag an den Zaun gebunden war. Ein Pfeil war darauf zu sehen, der die Straße hinunter deutete und außerdem die Zahlen: 20:05 .
»Ob das eine makabere Schnitzeljagd wird?«, dachte Pfeiffer. Sie folgten dem Wegweiser bis zum Ende des Geländes, wo sie auf eine alte Gleisanlage trafen, die augenscheinlich nicht mehr genutzt wurde. Ausrangierte Waggons verrosteten hier, sie stiegen über die rutschigen Gleise hinweg, bis Berger einen Güterwagen entdeckte, an dem ein weiterer Zettel befestigt war. 20:05 . Kein Richtungspfeil.
Der Reiseveranstalter deutete auf eine spaltbreit geöffnete Schiebetür. Vorsichtig gingen sie darauf zu, lauschten auf Geräusche und als außer dem fernen Verkehr nichts weiter zu hören war, zogen Sie gemeinsam an dem Türbügel. Ein metallisches Quietschen begleitete ihre Bemühungen.
»Wir hätten Taschenlampen mitnehmen sollen«, sagte Pfeiffer und suchte die Funktion seines Diensttelefons. Er fand sie, doch der Lichtkegel seiner Handykamera fiel in einen leeren Raum. Über dem Eingang war ein alter, wahrscheinlich defekter Baustrahler montiert, sonst nichts. Eine überraschte Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er sah auf das Display, noch fünf Minuten bis 20:05 . Berger stand ratlos neben ihm, Pfeiffer leuchtete erneut die Wände ab, da bemerkte er ganz am Ende des Waggons zwei kleine Gegenstände. Nach kurzem Zögern nickten sie einander zu und kletterten ins Innere des Wagens, Pfeiffer dynamischer als der rundliche Berger. Die beiden Objekte entpuppten sich aus der Nähe als ein dicker, brauner A4-Umschlag und ein kleines Päckchen.
Christian Pfeiffer stand auf dem Umschlag. Richard Berger auf dem Paket.
»Eine Bombe?« Die Stimme des Reiseveranstalters klang zittrig.
Unwahrscheinlich, dachte Pfeiffer und wenn, dann würde sie wohl erst in vier Minuten hochgehen. Er griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Heraus kam ein Konvolut von Bildern und Schriftstücken, ausgedruckt auf billigem A4-Papier. Das erste Foto zeigte einen Mann mit gestutztem, grauen Bart, der ein kariertes Hemd trug und gerade ein Gebäude durch einen unscheinbaren Eingang verließ. Unter dem Bild stand ein kleiner Text.
Klaus Töpfer beim Verlassen des Venustempels.
»Das ist der Mann, der sich vor meinem Haus erschossen hat!«, rief Berger überrascht. Pfeiffer nickte, er erkannte den Mann aus dem Video ebenfalls, wenngleich er auf dem Foto wesentlich gepflegter erschien. Vor allem aber kannte er den Venustempel aus Recherchen. Ein Bordell, nach außen hin legal, doch hinter den Kulissen ein Hort illegaler Prostitution.
Auf der nächsten Seite waren zwei E-Mails abgedruckt. Derselbe Klaus Töpfer, der den Tempel verließ, forderte einen seiner Vertrauten auf, ein Reiseunternehmen zu finden, das Fahrten von Sofia nach Frankfurt organisieren konnte. Der Vertraute hatte geantwortet, dass Berger-Reisen die Busse bereitstellen würde. Zehntausend Euro pro Fahrt und es würden vom Inhaber keine Fragen gestellt.
Pfeiffer sah auf und selbst im Halbdunkel des Handytaschenlampenlichts konnte er sehen, dass Bergers Gesicht bleich geworden war.
»Das war…«, stammelte Berger. »Ich wusste doch nicht…«
Doch bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, flammte plötzlich Licht auf, als leuchtete jemand mit einem Scheinwerfer in den Waggon. Die beiden Männer wirbelten herum, wurden geblendet, Pfeiffer schirmte die Augen mit den Papieren ab. Der Baustrahler über dem Eingang leuchtete gleißend hell. Daneben erkannte er nun auch eine Webcam.
»Haben Sie das Foto von Marlene Romero schon entdeckt?«, rief jemand außerhalb. Pfeiffer brauchte keine Sekunde, um die Stimme zu erkennen, es war der Anrufer, der Unbekannte auf dem ersten Video. Pfeiffer spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, wie Adrenalin sämtliche Furcht verdrängte und einen Jagdinstinkt weckte, der stärker war als je zuvor in seinem Leben. Vergessen waren die Emails, die Richard Berger belasteten, mit einem Menschenhändler zusammengearbeitet zu haben. Mit einem Mal gab es nur noch den Drang, diesem Mann, von dem er nichts als die Stimme kannte, Schmerz zuzufügen, ihn büßen zu lassen für das, was er Maria angetan hatte. Doch bevor Pfeiffer zum Eingang rennen konnte, kletterte der Unbekannte selbst leichtfüßig in den Wagen. Er war auffällig groß und schlank, trug eine Jeans und eine Jacke aus braunem Lederimitat. Sein Gesicht lag im Schatten, er hielt sich außerhalb des Lichtkegels, der wie ein Scheinwerfer auf Pfeiffer und Berger gerichtet war.
»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er und ein bösartiger Unterton lag in seiner Stimme. »Ah, ah, ah, bleiben Sie stehen, Christian Pfeiffer, ich bitte Sie, ich bin bewaffnet. Sie enttäuschen mich, wenn Sie glauben, dass ich mich Ihnen zum Fraß vorwerfen würde.« Er zog eine Pistole betont langsam aus der Jackentasche und richtete sie auf seine beiden Opfer.
»Wo ist Marlene, du Widerling?«
»Eine hervorragende Frage, Herr Berger, die wichtigste des heutigen Abends. In einem fensterlosen, luftdicht verschlossenen Kellerloch und die Antwort befindet sich nur an einem Ort. Hier.« Er tippte mit dem Lauf der Pistole gegen seine Stirn. »Also reißen Sie sich zusammen und tun Sie, was ich sage. Öffnen Sie bitte das Paket, Herr Berger.«
»Sollen wir alle gemeinsam in die Luft gesprengt werden?«, warf Pfeiffer ein, damit der Mann weiterredete, irgendetwas preisgab.
»Ich bitte Sie! Menschen in die Luft zu jagen ist nicht mein Stil.«
»Sie zu entführen und in den Selbstmord zu zwingen dagegen schon.«
»Nein, das ist nicht wahr, ich zwinge niemanden. Jeder Mensch hat eine Wahl. Klaus Töpfer hatte eine und er hat sich entschieden, den Pfad der Tugend gegen Habgier und Wollust einzutauschen. Marlene Romero konnte wählen und hat die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen. Beide wurden von ihren Entscheidungen eingeholt.«
»Und was ist mit Maria, du dreckiges Arschloch? Was hat sie getan, dass du… dass sie…« Pfeiffer konnte es nicht aussprechen. Wut, Hass und Ohnmacht brannten ihm in den Augen.
»Sie hatte die Wahl, ihren Mitmenschen oder sich selbst zu helfen. Die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung war ihr Untergang. Ihre Gleichgültigkeit, Christian Pfeiffer, denn auch Sie hatten eine Wahl und haben sich entschieden, wegzusehen. Schauen sie sich die fünfte Seite an.«
Mit zitternden Händen blätterte Pfeiffer weiter. Was er sah, brauchte er nicht einmal zu überfliegen. Eine Nachricht von Konstantin Magnus, seinem Chef, ein halbes Jahr alt. Die strikte Anweisung, nicht mehr zu recherchieren, kein Wort in der FGZ über Menschenhandel, Prostitution. Stattdessen Versetzung zur Online-Redaktion.
»Sie hätten weitermachen und Ihren Job riskieren können«, sagte der Unbekannte. »Sie haben sich anders entschieden. Und damit kommen wir zu Herrn Berger! Denn der hatte ebenfalls eine Wahl und hat sie sogar jetzt noch! Er muss das Paket nicht öffnen, aber dann erstickt seine geliebte Schwester, die ach so selbstlose Pastorin, in einem kalten Kellerloch und niemand weiß, wo man ihre Leiche finden kann.«
»Schon gut!«, rief Berger. Langsam, wie in Zeitlupe kniete er nieder und öffnete mit zittrigen Händen das Paket. Dann erschrak er und zuckte zurück.
»Nehmen Sie sie, na los doch«, sagte der Unbekannte. »Zeigen Sie uns Ihren Fund.«
Zitternd stand Richard Berger auf und drehte sich um. In der Hand, wie in Trance darauf starrend, hielt er eine Pistole.
»Dieselbe mit der sich Klaus Töpfer vor ihrem Haus erschossen hat.« Die Stimme des Unbekannten klang betont ruhig, doch es lag Aufregung, ja sogar Freude darin, als spielte er ein Spiel, von dem er sicher war, es zu gewinnen. Aufreizend lässig steckte er seine eigene Waffe wieder in die Jackentasche. »Eine Kugel befindet sich im Magazin, Herr Berger, nur eine. Ihre Entscheidung, was sie damit tun. Sie könnten mich erschießen, aber wir wissen beide, dass sie das nicht sollten.« Er wartete ab, Richard Berger war wie erstarrt.
»Oder Sie töten sich selbst. Ich schlage Ihnen etwas vor! Sie werden in die Kamera sehen und laut und deutlich sagen:
›Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‹
Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten. Wenn Sie das getan haben, wird Christian Pfeiffer das Video auf der Seite der FGZ hochladen. Ich verrate im Gegenzug der Polizei, wo Marlene Romero gefangen gehalten wird. Sie sehen, ich zwinge niemanden. Ihre Entscheidung, Herr Berger.«
Er hob den Arm in Richtung der Webcam und drückte auf eine kleine Fernbedienung. Mit einem roten Licht zeigte die Kamera an, dass sie aufzeichnete.
Postet hier ab Sonntag, den 15.12. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte endet …