Offene Enden Teil 4: Schreib Teil 5 – Finale

Wie wirst du diese Geschichte beenden? Schreib, was als nächstes passiert …

Offene Enden – vierter Teil

Der Unbekannte

von @montypillepalle

Christian Pfeiffer hatte darauf bestanden, dass sie mit seinem alten Opel fuhren, weil das Video Richard Berger sichtlich mitgenommen hatte. Jetzt rauschten sie durch die Dämmerung der Stadt und Pfeiffer versuchte in seinem Gedanken, die losen Fäden zu greifen, die mit Marias Tod verbunden waren. Einer dieser Fäden war Marlene Romero, die Pastorin, eine Freundin von Maria, die Maria und ihn vor einem Jahr getraut hatte – und die, wie sich herausgestellt hatte, die Schwester von Richard Berger war.
»Marlene ist ein großartiger Mensch, gütig, selbstlos.« Berger wirkte, als wäre er den Tränen nah und Pfeiffer konnte es ihm nicht verdenken.
»Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?«
»Vor einer Woche. Sie hat mich besucht, mir Trost gespendet. Doro und ich gehen sonntags nicht mehr in die Kirche.«
Das Gespräch erstarb. Berger trommelte leise und stakkatoartig auf der Plastikverkleidung der Beifahrertür und starrte durch die Frontscheibe auf die Straße. Pfeiffer bezweifelte, dass der Reiseveranstalter seine Umgebung wahrnahm. Noch im Hause der Bergers hatten sie diskutiert, ob sie trotz der Warnung die Polizei einschalten sollten. Dorothea hatte versucht, auf ihren Mann einzuwirken, aber Richard Berger hatte sich geweigert, wollte das Leben seiner Schwester nicht gefährden. Pfeiffer hielt das für einen schweren Fehler, doch wäre es um Maria gegangen… er brach den Gedanken ab. Stattdessen wühlte er in seinen eigenen Erinnerungen danach, was ihn selbst mit Marlene Romero verband. Ihm fielen Abendessen ein, Partys, die Maria organisiert hatte, aber nichts, was einen Verrückten dazu treiben konnte, die Pastorin zu entführen.
»Er hat Sie einen Ausbeuter, einen Kapitalisten, genannt, mir hat er vorgeworfen, Journalisten kümmerten sich nicht um die Probleme der Menschen. Gibt es etwas, dass Marlene getan haben könnte, was die Aufmerksamkeit des Täters geweckt hat?«
Richard Berger schien wie aus seinen Gedanken gerissen, er kratzte sich den stoppeligen Kinnbart, dann schüttelte er den Kopf, wie einer, der nicht wusste, was er denken sollte. »Ob es etwas gibt, was man der evangelischen Kirche vorwerfen kann? Sicher. Aber hätte er dann nicht genauso gut einen katholischen Priester entführen können?«
Pfeiffer nickte unbestimmt und fand keinen Ansatz, die Fäden zu verbinden. Maria, Marlene Romero, die Bergers, er selbst. Wenn es darum ging, Symbole für einen Werteverfall, für Fehler im System auszuwählen, warum dann gerade sie? Die Ahnungslosigkeit setzte sich wie ein Geschwür in Pfeiffers Kopf fest, der Täter war ihnen voraus, sie stolperten ihm blind hinterher.
Sie überquerten die Leunabrücke, die Uhr des Opels zeigte 19:31 Uhr. Linker Hand erstreckten sich nun kahle Felder, rechter Hand das Industriegebiet. Pfeiffer folgte dem Navigationsgerät durch einen Kreisverkehr und in das Labyrinth aus Bürogebäuden, Fabrikhallen, Schornsteinen und Gasleitungen. Eine Weile fuhren sie geradeaus, der einsetzende Sprühregen und die schwachen Laternen verwandelten das Straßenbild in eine Art apokalyptisches Detroit. Sie erreichten ihr Ziel in der Nähe einer Ansammlung riesiger Gas-Tanks und langgezogener Lagerhallen, die von einem stabilen Gitterzaun abgesperrt wurden. 19:43 Uhr. Sie stiegen aus, Pfeiffer setzte seinen Fedora auf und sah sich um. Es gab in der Nähe keinen Eingang und Stacheldraht verhinderte, dass man auf das Gelände klettern konnte, doch zwanzig Meter weiter erkannte er einen Zettel, der in einem Plastikumschlag an den Zaun gebunden war. Ein Pfeil war darauf zu sehen, der die Straße hinunter deutete und außerdem die Zahlen: 20:05 .
»Ob das eine makabere Schnitzeljagd wird?«, dachte Pfeiffer. Sie folgten dem Wegweiser bis zum Ende des Geländes, wo sie auf eine alte Gleisanlage trafen, die augenscheinlich nicht mehr genutzt wurde. Ausrangierte Waggons verrosteten hier, sie stiegen über die rutschigen Gleise hinweg, bis Berger einen Güterwagen entdeckte, an dem ein weiterer Zettel befestigt war. 20:05 . Kein Richtungspfeil.
Der Reiseveranstalter deutete auf eine spaltbreit geöffnete Schiebetür. Vorsichtig gingen sie darauf zu, lauschten auf Geräusche und als außer dem fernen Verkehr nichts weiter zu hören war, zogen Sie gemeinsam an dem Türbügel. Ein metallisches Quietschen begleitete ihre Bemühungen.
»Wir hätten Taschenlampen mitnehmen sollen«, sagte Pfeiffer und suchte die Funktion seines Diensttelefons. Er fand sie, doch der Lichtkegel seiner Handykamera fiel in einen leeren Raum. Über dem Eingang war ein alter, wahrscheinlich defekter Baustrahler montiert, sonst nichts. Eine überraschte Enttäuschung machte sich in ihm breit. Er sah auf das Display, noch fünf Minuten bis 20:05 . Berger stand ratlos neben ihm, Pfeiffer leuchtete erneut die Wände ab, da bemerkte er ganz am Ende des Waggons zwei kleine Gegenstände. Nach kurzem Zögern nickten sie einander zu und kletterten ins Innere des Wagens, Pfeiffer dynamischer als der rundliche Berger. Die beiden Objekte entpuppten sich aus der Nähe als ein dicker, brauner A4-Umschlag und ein kleines Päckchen.
Christian Pfeiffer stand auf dem Umschlag. Richard Berger auf dem Paket.
»Eine Bombe?« Die Stimme des Reiseveranstalters klang zittrig.
Unwahrscheinlich, dachte Pfeiffer und wenn, dann würde sie wohl erst in vier Minuten hochgehen. Er griff nach dem Umschlag und riss ihn auf. Heraus kam ein Konvolut von Bildern und Schriftstücken, ausgedruckt auf billigem A4-Papier. Das erste Foto zeigte einen Mann mit gestutztem, grauen Bart, der ein kariertes Hemd trug und gerade ein Gebäude durch einen unscheinbaren Eingang verließ. Unter dem Bild stand ein kleiner Text.
Klaus Töpfer beim Verlassen des Venustempels.
»Das ist der Mann, der sich vor meinem Haus erschossen hat!«, rief Berger überrascht. Pfeiffer nickte, er erkannte den Mann aus dem Video ebenfalls, wenngleich er auf dem Foto wesentlich gepflegter erschien. Vor allem aber kannte er den Venustempel aus Recherchen. Ein Bordell, nach außen hin legal, doch hinter den Kulissen ein Hort illegaler Prostitution.
Auf der nächsten Seite waren zwei E-Mails abgedruckt. Derselbe Klaus Töpfer, der den Tempel verließ, forderte einen seiner Vertrauten auf, ein Reiseunternehmen zu finden, das Fahrten von Sofia nach Frankfurt organisieren konnte. Der Vertraute hatte geantwortet, dass Berger-Reisen die Busse bereitstellen würde. Zehntausend Euro pro Fahrt und es würden vom Inhaber keine Fragen gestellt.
Pfeiffer sah auf und selbst im Halbdunkel des Handytaschenlampenlichts konnte er sehen, dass Bergers Gesicht bleich geworden war.
»Das war…«, stammelte Berger. »Ich wusste doch nicht…«
Doch bevor er seinen Satz zu Ende führen konnte, flammte plötzlich Licht auf, als leuchtete jemand mit einem Scheinwerfer in den Waggon. Die beiden Männer wirbelten herum, wurden geblendet, Pfeiffer schirmte die Augen mit den Papieren ab. Der Baustrahler über dem Eingang leuchtete gleißend hell. Daneben erkannte er nun auch eine Webcam.
»Haben Sie das Foto von Marlene Romero schon entdeckt?«, rief jemand außerhalb. Pfeiffer brauchte keine Sekunde, um die Stimme zu erkennen, es war der Anrufer, der Unbekannte auf dem ersten Video. Pfeiffer spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte, wie Adrenalin sämtliche Furcht verdrängte und einen Jagdinstinkt weckte, der stärker war als je zuvor in seinem Leben. Vergessen waren die Emails, die Richard Berger belasteten, mit einem Menschenhändler zusammengearbeitet zu haben. Mit einem Mal gab es nur noch den Drang, diesem Mann, von dem er nichts als die Stimme kannte, Schmerz zuzufügen, ihn büßen zu lassen für das, was er Maria angetan hatte. Doch bevor Pfeiffer zum Eingang rennen konnte, kletterte der Unbekannte selbst leichtfüßig in den Wagen. Er war auffällig groß und schlank, trug eine Jeans und eine Jacke aus braunem Lederimitat. Sein Gesicht lag im Schatten, er hielt sich außerhalb des Lichtkegels, der wie ein Scheinwerfer auf Pfeiffer und Berger gerichtet war.
»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er und ein bösartiger Unterton lag in seiner Stimme. »Ah, ah, ah, bleiben Sie stehen, Christian Pfeiffer, ich bitte Sie, ich bin bewaffnet. Sie enttäuschen mich, wenn Sie glauben, dass ich mich Ihnen zum Fraß vorwerfen würde.« Er zog eine Pistole betont langsam aus der Jackentasche und richtete sie auf seine beiden Opfer.
»Wo ist Marlene, du Widerling?«
»Eine hervorragende Frage, Herr Berger, die wichtigste des heutigen Abends. In einem fensterlosen, luftdicht verschlossenen Kellerloch und die Antwort befindet sich nur an einem Ort. Hier.« Er tippte mit dem Lauf der Pistole gegen seine Stirn. »Also reißen Sie sich zusammen und tun Sie, was ich sage. Öffnen Sie bitte das Paket, Herr Berger.«
»Sollen wir alle gemeinsam in die Luft gesprengt werden?«, warf Pfeiffer ein, damit der Mann weiterredete, irgendetwas preisgab.
»Ich bitte Sie! Menschen in die Luft zu jagen ist nicht mein Stil.«
»Sie zu entführen und in den Selbstmord zu zwingen dagegen schon.«
»Nein, das ist nicht wahr, ich zwinge niemanden. Jeder Mensch hat eine Wahl. Klaus Töpfer hatte eine und er hat sich entschieden, den Pfad der Tugend gegen Habgier und Wollust einzutauschen. Marlene Romero konnte wählen und hat die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen. Beide wurden von ihren Entscheidungen eingeholt.«
»Und was ist mit Maria, du dreckiges Arschloch? Was hat sie getan, dass du… dass sie…« Pfeiffer konnte es nicht aussprechen. Wut, Hass und Ohnmacht brannten ihm in den Augen.
»Sie hatte die Wahl, ihren Mitmenschen oder sich selbst zu helfen. Die Gleichgültigkeit ihrer Umgebung war ihr Untergang. Ihre Gleichgültigkeit, Christian Pfeiffer, denn auch Sie hatten eine Wahl und haben sich entschieden, wegzusehen. Schauen sie sich die fünfte Seite an.«
Mit zitternden Händen blätterte Pfeiffer weiter. Was er sah, brauchte er nicht einmal zu überfliegen. Eine Nachricht von Konstantin Magnus, seinem Chef, ein halbes Jahr alt. Die strikte Anweisung, nicht mehr zu recherchieren, kein Wort in der FGZ über Menschenhandel, Prostitution. Stattdessen Versetzung zur Online-Redaktion.
»Sie hätten weitermachen und Ihren Job riskieren können«, sagte der Unbekannte. »Sie haben sich anders entschieden. Und damit kommen wir zu Herrn Berger! Denn der hatte ebenfalls eine Wahl und hat sie sogar jetzt noch! Er muss das Paket nicht öffnen, aber dann erstickt seine geliebte Schwester, die ach so selbstlose Pastorin, in einem kalten Kellerloch und niemand weiß, wo man ihre Leiche finden kann.«
»Schon gut!«, rief Berger. Langsam, wie in Zeitlupe kniete er nieder und öffnete mit zittrigen Händen das Paket. Dann erschrak er und zuckte zurück.
»Nehmen Sie sie, na los doch«, sagte der Unbekannte. »Zeigen Sie uns Ihren Fund.«
Zitternd stand Richard Berger auf und drehte sich um. In der Hand, wie in Trance darauf starrend, hielt er eine Pistole.
»Dieselbe mit der sich Klaus Töpfer vor ihrem Haus erschossen hat.« Die Stimme des Unbekannten klang betont ruhig, doch es lag Aufregung, ja sogar Freude darin, als spielte er ein Spiel, von dem er sicher war, es zu gewinnen. Aufreizend lässig steckte er seine eigene Waffe wieder in die Jackentasche. »Eine Kugel befindet sich im Magazin, Herr Berger, nur eine. Ihre Entscheidung, was sie damit tun. Sie könnten mich erschießen, aber wir wissen beide, dass sie das nicht sollten.« Er wartete ab, Richard Berger war wie erstarrt.
»Oder Sie töten sich selbst. Ich schlage Ihnen etwas vor! Sie werden in die Kamera sehen und laut und deutlich sagen:
›Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‹
Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten. Wenn Sie das getan haben, wird Christian Pfeiffer das Video auf der Seite der FGZ hochladen. Ich verrate im Gegenzug der Polizei, wo Marlene Romero gefangen gehalten wird. Sie sehen, ich zwinge niemanden. Ihre Entscheidung, Herr Berger.«
Er hob den Arm in Richtung der Webcam und drückte auf eine kleine Fernbedienung. Mit einem roten Licht zeigte die Kamera an, dass sie aufzeichnete.


Postet hier ab Sonntag, den 15.12. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte endet …

Endlich

»Action, Herr Berger! Die Augen der Öffentlichkeit sind erwartungsvoll auf sie gerichtet.«

Berger begann zu wimmern. »Machen sie das aus, ich flehe sie an! Ich … kann das nicht. So will ich nicht sterben, aber sie dürfen Marlene nichts tun. Bitte!« Tränen und Rotz liefen ihm über die Lippen und er schluchzte zum Gotterbarmen. Die rote Leuchtdiode über der Kamera erlosch. Der Wahnsinnige hatte die Aufzeichnung unterbrochen.

»Okay, your choice! Dann telefoniere ich jetzt mal kurz, damit sich jemand um ihre liebe Schwester kümmert. An ihren Händen, Berger, klebt nicht nur Blut, sie sind dann über und über damit besudelt! Manche würden ihr Verhalten mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb des Menschen entschuldigen – ich nenne es Feigheit.«

»Halt … halt!«, heulte Berger auf, als hätte man ihn getreten, »ich tu´s ja.« Ein dunkler Fleck breitete sich in seinem Schritt aus. Als wäre Angst nicht alleine schon grausam – sie raubte ihren Opfern jede Würde.

»Gute Entscheidung. Wenn nicht, wäre ich gerne behilflich. Wie bei Maria; die Ärmste schaffte es auch nicht aus eigener Kraft.« Pfeiffer biss sich vor unterdrückter Wut auf die Unterlippe, bis er Blut schmeckte. Jetzt bloß nichts Unüberlegtes tun!

Das Lämpchen über der Kameralinse glomm erneut auf. Der Journalist hatte die ganze Zeit in Panik erstarrt abgewartet, aber seine Gedanken liefen auf der Suche nach einem Ausweg Amok. Hier ging es nicht um moralische Werte – das war ein beschissener, persönlicher Rachefeldzug und sie könnten niemals gewinnen, wenn sie nach den Regeln dieses Irren spielten. Es musste hier und jetzt enden, aber nicht so!

Inzwischen hatte sich Berger etwas gefasst. Er sah in die Kamera und sagte: »Ich … bin …«, dann warf er Pfeiffer einen flehenden Blick zu, » ähm … bitte, sagen sie meiner Frau, es tut mir leid!« In einer unerwartet schnellen und fließenden Bewegung hob er die Pistole, setzte die Mündung unter sein Kinn und drückte ab.

»Himmel, nein!« Pfeiffer schloss in Erwartung eines Knalls reflexartig die Augen. Doch er hörte nur ein ›Klick‹. Pause. Jemand klatschte Applaus.

»Bravo, großes Kino!« Aus dem Schatten trat der Mann in das Licht des Scheinwerfers und grinste Berger selbstgefällig an. Den Journalisten ignorierte er.

»Aber sie sollten doch nicht gehen, ohne zu wissen, wer ich bin. Gesehen haben wir uns ja schon mal, sie erinnern sich. Ich bin Georgi Petrov. Für meine wundervolle Tochter wurde vor einem Dreivierteljahr eine ihrer Spezial-Reisen gebucht, Herr Berger. Sofia-Frankfurt, einfache Fahrt. Sie hatte in ihrem kurzen Leben kein Glück und hatte geglaubt, deshalb auch keine andere Wahl zu haben. In der Pathologie des Uniklinikums habe ich sie dann wiedergesehen, um sie zu identifizieren. Man hatte sie halbtotgeschlagen, weil sie nicht bereit war, ihre Reisekosten auf die geforderte Art und Weise im ›Venustempel‹ abzuarbeiten. Wie einen Sack Abfall hatten Klaus Töpfers Schläger sie in einer Seitengasse zum Sterben entsorgt. In der Klinik konnte man nichts mehr für sie tun. Sie starb um 20:05 Uhr. In der Zeit danach habe ich Marlene, die noch den Nachnamen ihres verstorbenen Mannes Romero trägt, kennengelernt. Sie arbeitet ehrenamtlich als Notfallseelsorgerin in der Krisenintervention, wissen sie das? Wir waren uns auf Anhieb sympathisch. Unsere Beziehung hielten wir jedoch geheim, und es war reiner Zufall, als wir erfuhren, dass ausgerechnet ihr Bruder Richard als Reiseveranstalter in diesen Menschenhandel verwickelt war. Ein unfassbarer Schock für uns! Ich war wie besessen, musste irgendetwas tun und fand Trost darin, meine Trauer und die Wut in einen Plan zu verwandeln. Marlene hat mitgespielt, obwohl sie ihn verabscheut. Also, verderben sie ihn mir nicht auch …«

Erheblich verspätet … kam der Knall jetzt doch!

Das Geräusch war von solch hässlicher Endgültigkeit, dass Pfeiffer glaubte, die Realität sei detoniert und er selbst dabei in Stücke gerissen worden. Im selben Augenblick hatte ganz Frankfurt scheinbar zu Atmen aufgehört. Georgi Petrov schaute die beiden Männer entrückt an, gleich einem Kind, dass sich wundert, wie aus einem klaren, blauem Himmel plötzlich ein Wolkenbruch niedergeht. Er blickte auf seine Brust, zog, wie in Zeitlupe, den Reißverschluss seiner Kunstlederjacke herunter und bestaunte die samtrote Pfingstrose, die auf seinem weißen Hemd erblühte. Der große Mann hielt sie sanft umschlossen und fiel wie zum Gebet erst auf seine Knie, um dann vornüber auf den Waggonboden zu kippen.

Es war vorbei! Die Zeit stand still. Es dauerte, bis der Grundton der City zurückkehrte und sich die vertrauten Obertöne einer lebendigen Metropole wieder hinzugesellten. Es roch nach nassem Rost und die Luft schmeckte sogar metallisch. Die Wirklichkeit hatte sich neu zusammengesetzt.

Vor dem Güterwaggon stand Dorothea, in beiden Händen den Smith&Wesson Revolver ›für Notfälle‹ aus dem Tresor der Bergers und starrte auf den Mann, den sie soeben kaltblütig von hinten erschossen hatte.

Pfeiffer sprang ungelenk vom Wagen und half dem untersetzten Reiseunternehmer hinunter. Der ältere Herr wirkte psychisch schwer angeschlagen, und Pfeiffer sorgte sich ernsthaft um ihn. Dennoch schwor sich der Journalist, die ganze Story ohne Rücksicht öffentlich zu machen. Zu viele Menschen waren einen sinnlosen Tod gestorben! Selbst wenn das bedeutete, Magnus den Job vor die Füße zu knallen!

Hinter Dorothea Berger, am Rand des Gleisbetts, hielt ein dunkler Mittelklasse-SUV mit laufendem Motor. Die mitteldeutsche Dezembermischung aus Regentröpfchen und Reif ließ den Lack funkeln.

»Unser Zweitwagen«, stellte Berger überrascht fest. »Doro, was machst du überhaupt hier?«

Die Temperatur lag um den Gefrierpunkt und aus dem Sprühregen wurde Griesel. Feine Eiskörnchen raschelten und knisterten auf dem Autodach. Pfeiffer wollte seinen Fedora tiefer in die Stirn ziehen, doch sein Griff ging ins Leere. Sein Hut lag neben dem Toten im Waggon, mitten im wachsenden Pfingstrosenbeet. Er war ein Geschenk Marias gewesen. »Damit du immer gut behütet bist«, hatte sie gesagt.

Dorotheas Unterlippe zitterte vor Erregung und Kälte. Sie weinte lautlos, mit Stil.

»Ich wurde angerufen, kaum dass ihr aus dem Haus wart.« Sie wehrte den Versuch einer Umarmung ihres Mannes harsch ab. Ihre Mimik bestärkte die Geste des Widerwillens. »Nein, Richard, fass mich nicht an! Sieh, wozu du mich gebracht hast! Das und all das andere Schreckliche werde ich dir niemals verzeihen. Du ekelst mich an. Such nicht nach mir, denn ich will dich nie wiedersehen!« Martinshörner näherten sich aus der Ferne. Sie zeigte vage in die Richtung. »Die habe ich angerufen. Versuche, bei ihnen Absolution zu finden.«

Achtlos ließ Dorothea Berger den Revolver fallen und kehrte dem Schauplatz den Rücken. Einer Trauerweide gleich, mit ihren hängenden Schultern, aber mit trotzig erhobenem Kinn, ging sie um das wartende Fahrzeug herum und stieg auf der Beifahrerseite ein. Die Person am Steuer wandte ihr Gesicht den Männern zu. Ihre Augen waren die eines Menschen, der einmal zu oft die Endlichkeit gesehen hatte.

Marlene lächelte traurig und gab Gas.

© Heather

»Richard, tun Sie es nicht!« Christians Herz raste. Adrenalin rauschte durch seine Adern.
Er musste etwas unternehmen. Berger durfte sich nicht auch noch das Leben nehmen und diesem Mistkerl einen weiteren Sieg bescheren. Irgendwie musste er den Täter überwältigen, ihn zwingen, Marlenes Standort preiszugeben.

Im nächsten Moment sprang er und landete auf dem Unbekannten. Der Mann fiel wie ein Sack zu Boden.
»Richten Sie die Pistole auf den Mann, Richard!«, brüllte er aufgelöst.
Berger rührte sich nicht.
»Nun, machen Sie schon!«
»Wow, Christian, das war toll, geradezu heroisch.« Richard klatschte. »Ich applaudiere Ihnen für diese Nummer. Doch der Spaß ist jetzt vorbei.«

Berger richtete seine Waffe auf ihn.
»Sind Sie verrückt? Was soll das?«
»Oh, es hat so einen Spaß gemacht.« Richard lachte verächtlich. »Olaf, steh auf. Danke für deine Hilfe. Das Geld überweise ich dir, sobald ich es habe«, sagte er zu dem Mann, der noch auf dem Boden lag.

Langsam stolzierte Berger zur Kamera und schaltete sie ab. »Wir werden das schneiden – bis zu dem Punkt, an dem Pfeiffer dich anspringt. Und vergiss nicht, dein Gesicht unkenntlich zu machen.«
Olaf nickte grinsend. »Keine Sorge, das mache ich als Erstes.«
»Was ist hier los, verdammt noch mal!« Pfeiffer war blass, seine Unterlippe zitterte, und fast konnte man denken, er würde in Tränen ausbrechen. Für einen kurzen Moment hegte Richard fast ein wenig Mitleid.
»Nun, wo fange ich an: Erinnern Sie sich an den Bericht, den Sie vor vielen Jahren über die Reisebranche verfasst haben? Wahrscheinlich nicht. Euch Pressefuzzis ist doch alles egal, Hauptsache, ihr habt eine Story.« Berger pausierte für eine Sekunde, ehe er weitersprach: »Jedenfalls haben Sie mein Reisebüro verrissen. Sie haben meinen Laden als Schundgrube bezeichnet, die nur mit billigen, unseriösen Veranstaltern zusammenarbeitet. Seitdem konnte ich kaum noch überleben und war gezwungen, wirklich krumme Geschäfte zu machen.«

Pfeiffer starrte ihn mit großen Augen an. »Glücksreisen gehörte Ihnen?«
»Richtig, mein Lieber. Wie dem auch sei. Ich dachte mir: Heutzutage machen doch alle irgendetwas, um berühmt zu werden und viel Geld über Schroutube oder Linstergram zu generieren. Was lieben die Menschen besonders? Natürlich einen tragischen Helden.«
»Sie sind vollkommen irre!« Christian versuchte, Berger abzulenken. Er musste hier raus.
»Irre oder nicht. Wir hatten 20 Millionen Views. Das lohnt sich. Olaf war so lieb die Rolle des Bösewichtes einzunehmen.«
»Und der Mann, der sich erschossen hat?«
»Der hatte Krebs im Endstadium. Hatte einen Antrag auf Sterbehilfe gestellt, der ihm verweigert wurde. Der hat sich gerne für den guten Zweck geopfert«, antwortete Olaf selbstgefällig.
»Sie haben Maria erschossen, Sie Schwein!«
»Man muss Opfer bringen, Christian, und mutig sein, wenn man etwas erreichen will«, erwiderte Richard ernst.
»Und Marlene?« Pfeiffer glaubte, durchzudrehen.
»Marlene geht es hervorragend. Komm heraus, Schwesterlein. Zeig dich.«

Marlene Romero betrat lächelnd den Raum. Sie sah gut aus – frisch, strahlend und unverletzt.
»Sie sind eine Frau Gottes. Wie können Sie sich auf so etwas einlassen?«
»Aber genau das ist es ja, Christian. Maria ist jetzt bei ihm. Ihr geht es gut in seinen liebevollen Armen. Sie können sie nicht mehr terrorisieren, betrügen oder schlagen. Sie ist jetzt glücklich und in Sicherheit.« Marlenes Blick verursachte bei Pfeiffer eine Gänsehaut, die bis zu seinen Zehenspitzen reichte. Es war der typische Blick einer Psychopathin: kalt, leer und fixierend wie eine Klapperschlange.
»Was haben Sie jetzt vor?«
»Na, was wohl? Ich erschieße Sie, danach schieße ich mir selbst in den Arm. Der Täter flieht. Und ich habe Marlene gerettet«, antwortete Berger wie selbstverständlich. »Ein Held ist geboren. Und Sie sind auch einer. Ein Toter, aber ein Held. Im Kampf gestorben für die gute Sache.«

»Sie werden Maria wiedersehen und können Ihre Sünden aufarbeiten. Also ein glückliches Ende für alle Beteiligten«, ergänzte Marlene lächelnd.
»Damit werden Sie nicht durchkommen!«, schrie Pfeiffer.
»Aber das bin ich doch schon.«
Berger schoss. Das Letzte, was Christian sah, waren Marlenes unheimliche Augen.

Selbstmordjustiz

Triggerwarnung zu den Themen: Gewalt und Suizid

Richard Berger stand im gleißend hellen Scheinwerferlicht und zitterte wie ein Schauspieler, dem die Bühne zu groß geworden war. Er starrte nicht mehr auf die Waffe in seiner Hand. Unfähig, sich zu rühren, sah er zum Unbekannten, von dem er nicht mehr als die Umrisse erkennen konnte.
»Lassen Sie sich Zeit, Herr Berger, aber vergessen Sie nicht, dass jeder Sauerstoff irgendwann aufgebraucht ist.«
Pfeiffer konnte hören, wie der Atem des Reiseveranstalters schneller ging, er begann zu keuchen. »Bitte«, flüsterte Berger. »Bitte.«
»Mein Angebot ist nicht verhandelbar. Sehen Sie in die Kamera. Sprechen Sie. Dann erschießen Sie sich.«
»Gott, bitte, nein, oh Gott«, quälten sich die Worte aus Bergers Mund. Er hob die Pistole, hielt sie sich dicht vor das Gesicht. Dann drehte er sich zu Pfeiffer, die Augen panisch geweitet. Er schluchzte, sein Mund bewegte sich kaum.
»Bitte. Bitte helfen Sie mir.« Er richtete sich nicht mehr an den Unbekannten oder den Herrgott, Christian Pfeiffer spürte, dass er die einzige verbliebene Hoffnung des Verzweifelten war. Das Zittern war zu einem Beben übergegangen, die Brust Bergers hob und senkte sich unter seiner Jacke.
»Legen Sie die Pistole weg, Herr Berger. Hören sie nicht auf diesen Verrückten, spielen Sie nicht sein perverses Spiel.« Pfeiffers Worte waren vernünftig, aber sie klangen dumpf im leeren Innenraum des Waggons, seine Stimme war blass und versagte. »Legen Sie die Waffe weg«, wiederholte er und drang nicht durch.
»Jeder Ihrer Atemzüge, Herr Berger, könnte ihrer Schwester am Ende fehlen. Spüren Sie die Luft, die durch Ihre fauligen Lungen strömt?« Der Unbekannte sprach kalt, keine Regung lag mehr in seiner Betonung. Berger fing an zu schluchzen, er fiel auf die Knie. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er hob das Gesicht zur Kamera.
»Meine Name ist Richard Berger. Ich. Ein normaler Bürger. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich war gierig. Und geizig. Ich bin ein… bin ein Schwein. Ein Ausbeuter. Ein Kapitalist.«
Seine Worte waren laut, aber unter den Tränen undeutlich gesprochen. Er öffnete den Mund, schob den Lauf der Pistole hinein. Das Keuchen wurde zum Stöhnen, nur noch unartikulierte Laute drangen aus seiner Kehle. Mit beiden Händen umklammerte er den Griff der Waffe, die Fingerknöchel traten weiß hervor, der ganze Körper bebte. Da zuckte er mit Kopf und Schultern nach vorne, nocheinmal und nocheinmal, das Stöhnen wurde verzweifelter und Christian Pfeiffer begriff, dass Berger seinem Körper befehlen konnte, sich umzubringen, nicht jedoch dem Finger, der am Abzug lag.
»Marlene stirbt«, flüsterte leise die Stimme des Unbekannten. »Nur Sie können sie retten, Herr Berger.« Mit einem Mal klang er sanft, fast fürsorglich.
Bergers Stöhnen wurde lauter, drängender, es klang wie ein gequälter Stier. Dann folgte ein Schrei und er drückte ab.
Klick. In der plötzlich eintretenden Stille schien das metallische Geräusch der leeren Pistole von den Wänden des alten Güterwagens widerzuhallen. Einen Augenblick verharrte Richard Berger in der Position, in der er sich hatte erschießen wollen. Dann begann er zu weinen, hemmungslos zu weinen und brach in sich zusammen.

Sechs Monate später

Christian Pfeiffer war kein Angestellter der FGZ mehr, nicht einmal mehr der Online-Redaktion, obwohl er die beiden erfolgreichsten Posts abgesetzt hatte, die je auf dem Social-Media-Account der ehrwürdigen Zeitung erschienen waren. Sowohl die Aufnahme, die den Selbstmord von Klaus Töpfer vor dem Haus der Bergers gezeigt hatte, als auch das Video, in dem Richard Berger versucht hatte, sich selbst das Leben zu nehmen, waren mittlerweile gelöscht. Das änderte jedoch nichts daran, dass jeder im Land von den Vorfällen gehört hatte und wusste, dass es die FGZ gewesen war, die sich den Erpressungen eines verrückten, selbst ernannten Rächers hatte beugen müssen. Immerhin, so dachte Pfeiffer, hatte sein alter Chef, Konstantin Magnus, ihn zwar entlassen, aber gleichzeitig verhindert, dass Pfeiffers Name publik geworden war. Vielleicht hatte es sich auch ausgezahlt, dass er nie Bilder von sich im Internet gepostet hatte, denn so konnte er sich jetzt unerkannt durch die Menge schieben, die mit Trillerpfeifen und Schlachtrufen vor dem Landesgericht Frankfurt für die Freilassung von Charly Fleck demonstrierte.
»Keine Klassenjustiz der Ausbeuter und Kapitalistenschweine - Freiheit für Charly Fleck«, stand auf einem Plakat. Christian Pfeiffer sah es und musste seinen aufsteigenden Zorn unterdrücken. Die Menschen hier widerten ihn an, es fiel ihm schwer, eine professionelle Distanz zu wahren. Diese Demonstranten verehrten einen Mörder, der das Leben zahlloser seiner Opfer zerstört hatte. Nicht nur derjenigen, die sich durch seine Hand das Leben genommen hatten, auch die Leben der Angehörigen. Zugleich musste Pfeiffer eingestehen, dass Charly Fleck, ein unscheinbarer, hagerer, mittelloser Informatikstudent aus dem Frankfurter Umland, das Spiel mit den Medien geradezu brillant gespielt hatte. Der fehlgeschlagene Suizid von Berger, sein jämmerliches Wimmern, seine Tränen, all das war so viel eindrücklicher, als wenn er sich tatsächlich erschossen hätte. »Gier und Kapital fressen ihre eigenen Kinder« hatte Pfeiffer auf Anweisung des Täters das Video untertitelt und Berger war ein Symbol geworden.
Er drängte sich weiter durch die Menge und erreichte die Polizeikette vor dem halbrunden Eingang des ehrwürdigen Gerichtsgebäudes. Dessen Opulenz stand im scharfen Kontrast zu den Demonstranten in ihren schwarzen Kapuzenpullovern, den anarchistischen T-Shirt-Motiven. Er wies sich als freier Journalist mit einer Akkreditierung für den Prozess aus, der in den Boulevardmedien unter dem Titel »Selbstmordjustiz« lief und wurde durchgelassen. Einige der Protestler pfiffen ihm wütend nach, bis die schwere Eichentür hinter ihm zuschlug und die Außenwelt abschirmte. Licht fiel durch die großen Frontfenster in die Eingangshalle, in der er eine kleine, graue Frau entdeckte. Sie stand einsam in der Nähe des breiten Treppenaufgangs.
»Guten Tag Frau Berger«, sagte er und schien Dorothea Berger damit aus ihren Gedanken aufzuschrecken. Sie hatte in den letzten Monaten abgenommen, das Haar wurde von grauen Strähnen dominiert, die er vor einem halben Jahr nicht gesehen hatte. Wenig verwunderlich, dachte er. Sie lebte allein, war umgezogen und besuchte ihren Mann regelmäßig im Gefängnis.
»Herr Pfeiffer, es ist schön Sie zu sehen. Sie wollen sich den letzten Prozesstag also auch nicht entgehen lassen. Ob er heute reden wird?«
»Charly Fleck? Ich fürchte nicht, auch wenn ich es hoffe. Wie geht es Ihrem Mann?«
Dorothea Berger lächelte traurig. »Richard ist nicht für das Gefängnis gemacht. Von ihm existiert ein Video, auf dem er sich eine Pistole in den Mund steckt und sich danach weinend auf dem Boden eines Güterwaggons windet. Das macht es nicht besser. Er verdient eine Strafe und die erhält er. Ich hoffe, dass die Menschen ihm eines Tages vergeben können.«
»Er war nur ein Rädchen.«
»In einem widerlichen System. Ich weiß das alles. Und werde gerade deshalb weiter zu ihm halten. Außer mir hat er niemanden mehr.«
Gemeinsam gingen sie die Stufen zur ersten Etage hoch, zur Strafgerichtskammer, in der der letzte Prozesstag im Verfahren gegen Charly Fleck anberaumt war, den Drahtzieher hinter den Selbstmorden, die im vorigen Herbst das Land in Atem gehalten hatten. Seit dieser Zeit war Fleck Held und Schurke zugleich geworden. In den seriösen Medien wurden seine Taten verurteilt, aber nicht einmal die FGZ kam an der Tatsache vorbei, dass er bei seiner Verhaftung akribisch gesammeltes Beweismaterial präsentiert hatte, mit dem schließlich ein ganzer Menschenhändlerring im Raum Frankfurt ausgehoben worden war. Und nicht nur die großen Fische hatte man erwischt, auch die Helfer und Helfershelfer aus der Mitte der Gesellschaft wie Richard Berger. Geschickt hatte Fleck dieses Material nicht nur der Polizei präsentiert, sondern auch im Internet veröffentlicht und genau dort war er ein Held geworden. In den Tiefen des Netzes wurde er als der Mann gefeiert, der der bigotten Gesellschaft die Maske heruntergerissen hatte. Es erstaunte Pfeiffer, wie wenige es zu interessieren schien, dass er zwei Menschen in den Selbstmord getrieben und mit Marlene Romero beinahe eine dritte Person umgebracht hatte. Die Pastorin war der Ohnmacht nahe gewesen, als man sie befreit hatte, erschöpft, dehydriert. Und doch konnte man T-Shirts im Internet kaufen, auf denen Charly Flecks Gesicht wie eine Che-Guevara-Silhouette abgedruckt war.
Vor der Tür zur Kammer ließ er das bekannte Prozedere über sich ergehen, er wurde nach Waffen abgesucht und seine Akkreditierung überprüft. Die Kontrollen waren nachlässiger geworden, seit das Gericht nach anfänglichen Tumulten unter Ausschluss der Öffentlichkeit tagte. Zugleich hatte Christian Pfeiffer, der selbst im Zeugenstand gewesen war, auf sämtliche Kontakte und Gefälligkeiten zurückgreifen müssen, um überhaupt eine Akkreditierung zu erhalten, und war schließlich als Vertreter eines Frankfurter Lokalblatts an eine gekommen. Nun, am letzten Verhandlungstag, betrat er gemeinsam mit Dorothea Berger den Gerichtssaal, die sich zur Bank der Nebenklage begab. Er selbst nahm seinen Platz in der zweiten Reihe neben einer rundlichen Kollegin vom Kölner Merkur ein und wie jeden Tag fragte sie ihn, ob er bereit für ein Exklusivinterview sei. Er ließ den Blick durch den Raum und über die Holzbänke und Tische schweifen. Fleck und seine Verteidiger waren noch nicht da, im Gegensatz zu den meisten Journalisten und Fotografen, den Gerichtsdienern und Polizisten. Die Staatsanwaltschaft betrat soeben den Saal, es war nichts Ungewöhnliches dabei, doch irgendetwas versetzte Pfeiffer in Unruhe. Er versuchte sich einzureden, dass heute die womöglich letzte Chance war, dass Charly Fleck, der bis dahin beharrlich geschwiegen hatte, doch noch eine Aussage machen würde. Dass er erklärte, warum er die Bergers ausgewählt hatte und vor allem, warum ausgerechnet Maria sterben musste.
Kurz darauf öffnete sich die Tür. Am Klicken der Fotoapparate, an den plötzlichen Blitzlichtern, erkannte Pfeiffer, dass der Angeklagte hereinkam. Beides, die Lichter und die Geräusche, bereiteten Pfeiffer Unbehagen, erinnerten ihn an die Geschehnisse im Güterwaggon. Charly Fleck dagegen schien die Aufmerksamkeit zu genießen. Er hielt sich keinen Sichtschutz vor das Gesicht, er ging aufrecht und stolz in den Saal. »Wie ein Märtyrer«, schoss es Pfeiffer durch den Kopf und eine bekannte Wut braute sich in seiner Magengegend zusammen.
Fleck nahm Platz, der vorsitzende Richter betrat den Gerichtssaal und eröffnete die Verhandlung. Der Ablauf glich den vielen Verhandlungstagen zuvor, doch etwas stimmte nicht. Pfeiffer beobachtete Fleck, der auf der Anklagebank saß und selbstgefällig der Eröffnung des Richters, den Plädoyers der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung lauschte. Seine Hände in Handschellen hielt er unter dem Tisch verborgen, es lag ein feines Lächeln auf seinem Gesicht, ein Spott, als spielten alle Beteiligten in diesem Raum ein Spiel. Es war der Gesichtsausdruck eines Menschen, der wusste, dass er gewinnen würde, bevor alle anderen das erkannten.
»Haben Sie noch etwas zu sagen, Herr Fleck, bevor sich das Gericht zurückzieht?«, fragte der Richter. Er war ein grauhaariger Mann kurz vor dem Pensionsalter. Seiner Stimme war anzumerken, dass er mit dem Verfahren abgeschlossen und im Kopf bereits den Urteilsspruch gefällt hatte.
»Mein Mandant wird sich nicht äußern«, sagte sein Verteidiger, doch da stand Charly Fleck plötzlich auf. Ruckartig schnellte er in die Höhe, hob die Hände, die soeben noch unter dem Tisch verborgen gewesen waren. Einige der Anwesenden zuckten zurück, manche hielten den Atem an. Mit seinen Fingern formte er eine Pistole. Nacheinander deutete er in langsamen Bewegungen auf die anwesenden Journalisten, den Staatsanwalt, den vorsitzenden Richter.
»Wertes Gericht, werte Medien, werte Frau Berger, werter Christian Pfeiffer«, rief er über das Hammerklopfen des Richters hinweg. Bei den letzten Worten blickte er dem Journalisten tief in die Augen. »Gerechtigkeit ist eine Lüge. Gerechtigkeit kostet Geld. Gerechtigkeit gibt es in diesem Haus nur für die, die jemanden haben, der ihnen Gehör verschafft. Und genau der bin ich. Genau der werde ich bleiben.«
Damit steckte er sich die Zeigefinger als Pistolenlauf zwischen die Zähne und deutete einen Schuss an. Kein Knall erschütterte die Kammer, keine rötlich-graue Wolke sprühte aus dem Hinterkopf von Charly Fleck. Er ließ sich einfach nach hinten fallen und lachte.

Der Preis der Sünde

Bergers Gedanken rasten.
Suizid ist eine Sünde.
Er wusste, dass nicht mehr alle Gläubigen das so sahen. Marlene selbst hatte ihm vor ein paar Wochen noch gesagt, er solle nicht über Menschen urteilen, die diesen Weg wählten. Aber er selbst?
„Nun machen Sie schon“, sagte jemand. Berger wusste nicht, ob es der junge Mann, Pfeiffer oder eine Stimme in seinem Verstand war.
Der Pistolengriff war glitschig geworden. Und eiskalt.
Falls er es aber nicht tat, würde Marlene …
Du sollst nicht töten.
„Ich bin Richard Berger“, begann er leise, den geforderten Text aufzusagen.
„Nicht“, flüsterte eine Stimme und wieder konnte er nicht sagen, wessen es war. Pfeiffers? Dorotheas?
Oh, seine arme Dorothea. Wie würde sie das verkraften? Wie sollte sie das jemals verkraften?
„Ich habe weggesehen.“ Sein Mund sprach nun ohne sein Zutun. Er konzentrierte sich nicht auf die Worte. Hatte vergessen, was er sagen sollte. Vergessen, wo er sich befand.
Alles war leer und dunkel. Bis auf ihn und die Waffe in seiner Hand.
„Ich habe Menschen ausgebeutet. Ich bin ein Ausbeuter.“ Berger hob die Pistole und hörte auf, zu denken. „Ein Kapitalist“, flüsterte sein Mund.
In seiner Jugend einmal war er manchmal mit seinem Vater zum Schießstand gegangen. Dachte, es könnte ihm gefallen. Hatte es nicht. Doch er wusste immer noch, wie man mit einer Waffe umging. Wie man zielte.
Kimme und Korn.
Ein Knall.
Lauter als auf dem Schießstand ohne den Gehörschutz. Lauter auch als damals Sonntag früh, denn er war dichter dran.
Auf diese Details konzentrierte sein Verstand sich, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, was er vor sich sah.
Der Unbekannte, der mit einem höhnischen Grinsen auf ihn zu schritt. „Eine Kugel im Magazin“, wiederholte dieser. „Nun, vielleicht auch nicht.“
Blitzschnell griff der junge Mann in seine Manteltasche, riss den Arm empor – und Bergers Existenz verwandelte sich weißen Schmerz.

Piep. Piep. Piep.
Etwas piepte nervig an seinem Ohr.
Berger wollte das Geräusch verscheuchen wie eine lästige Fliege, doch er konnte seinen Arm nicht bewegen.
Er blinzelte und vor ihm schwamm ein Gesicht.
Er kannte es irgendwoher.
Pfeiffer.
Der Waggon.
Der junge Mann. Marlenes Entführer.
Marlene.
Er hatte ihren Entführer angeschossen. Hatte ihm in den Bauch schießen und die Informationen aus ihm herauspressen wollen. Kein Suizid. Kein Mord. Bloß der verzweifelte Versuch, zu retten. Zu helfen.
„Was“, begann er, doch seine Lippen gehorchten ihm nicht. Gehörten ihm nicht länger.
„Nicht sprechen“, sagte Pfeiffer. „Sie wurden niedergeschossen.“
„W-w… schl…?“
Pfeiffer schien sich zu winden. „Können Sie Ihre Beine spüren?“
Nein.
Konnte er nicht. Eigentlich spürte er überhaupt nichts.
„Sie …“ Pfeiffer biss sich auf die Unterlippe. „Der Schuss hat sie ziemlich übel erwischt. Sie … sind gelähmt. Ihre Arme werden Sie aber schon bald wieder benutzen können“, beeilte Pfeiffer sich zu sagen. „Vermutlich hätte der Schuss Sie umgebracht, aber ich habe, nun ja …“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich habe ihn beiseite gedrängt und den Schuss wohl abgelenkt. Sie werden durchkommen.“
„M-ma…“
„Die Polizei hat sie gefunden. Sie hat sich erholt. Der Unbekannte konnte allerdings fliehen.“ Pfeiffer räusperte sich. Strich sich über seinen Bart. Den hatte er neulich doch noch nicht gehabt, oder? Aber …
„W-w… l-la…“
Pfeiffer sah aus, als müsste er sich zu dem Lächeln zwingen. „Wie lange Sie bewusstlos waren?“
Berger deutete ein Nicken an.
„Die Entführung, das Video, der Waggon – an all das erinnern Sie sich?“
Ein weiteres Nicken. Ärgerlich. Pfeiffer zögerte es doch hinaus! Dass er sich erinnerte, war doch wohl offensichtlich!
„Das alles geschah vor drei Jahren.“
Berger sackte in sein Kissen und schloss die Augen.

Mit zittrigen Knien stand Richard Berger auf und schwankte einen Schritt nach vorn. Die Waffe hielt er in der Hand. Er sah zu Christian Pfeiffer hinüber. Dieser schaute ihn bittend an, sagte aber kein Wort.
Wut kochte in Richard Berger hoch. Die letzten Wochen wurde ihm so vieles angedichtet, dass es ihm oft ganz schwindelig war. Manchmal dachte er, er sei schizophren oder auf einem dauernden LSD-Trip. Seine Persönlichkeit wurde von fremden Menschen in dutzende Stücke gehackt. Und keines dieser Stücke ließ ihn nett aussehen. Richard Berger fühlte sich zu Unrecht verurteilt. Keiner kannte ihn wirklich. Alles, was über ihn berichtet wurde, entsprang dem Urquell der Fantasie. Er hatte auf hunderten Bühnen getanzt, mit Personen, die er weder kannte noch deren Namen ihm irgendein Begriff waren. Jetzt hatte er kein Bedürfnis auf ein Mehr. Bis hierhin war es genug.
Bitte, keine weiteren Einfälle. Ich bringe es jetzt zu Ende. Macht, was ihr wollt, aber ohne mich. Ich bin raus, schoss es ihm durch den Kopf, wie eine Pistolenkugel.
Niemals würde er sich als Selbstankläger und Sündenbock inszenieren lassen. Niemals.
Zögerlich betrachtete Berger die Pistole. Er versuchte sich gerade hinzustellen, blickte in die Kamera und war dabei sich den Lauf in den Mund zu stecken.
„Hat die jemand gereinigt, seitdem sie Klaus Töpfer im Mund hatte?“ Richard Berger winkte mit der Waffe.
„CUT. AUS. Das glaube ich jetzt nicht. Steck endlich die Knarre in den Mund und drück ab. Das ist die letzte Szene, dann haben wir alles im Kasten. Ich kann euch auch echt nicht mehr sehen. Die letzten Wochen habe ich nur mit euch zwei Spezialisten verdaddelt.“
„Aber ich reagiere allergisch auf Klaus Töpfer“, maulte Richard Berger.
„Das ist doch Pillepalle, zum Monty nochmal. Sei froh, dass du hier mitmachen darfst. Außerdem habe ich Durst. In meiner Garderobe stehen zwei köstliche Flaschen Linna Pils“, knurrte Christian Pfeiffer und fingerte dabei an seinem Fansticker mit dem großen M auf orangenem Grund.
„Apropos mitmachen. Wieso spielen wir hier unter unserem echten Namen? Haben Filmfiguren normalerweise nicht andere Namen?“, fragte Richard Berger.
„Das musst du die Produktionsfirma Papyrus fragen. Die Namen waren Bedingung und ihr wurdet extra dafür ausgewählt. Weiß der Geier, wo die euch aufgegabelt haben. So und nun würde ich das Projekt gern würdevoll zu Ende bringen. Außerdem hast du die Markierung verlassen, also geh zurück auf deinen Punkt. UND – ACTION.“
Richard Berger ging auf die markierte Stelle am Boden zurück und versuchte ängstlich auszusehen. Angewidert blickte er in den Lauf.
„Wo sind eigentlich Maria, Doro und Marlene?“
Der Regisseur sprang vom Stuhl, wie Louis de Funès und schlug sich auf die Knie.
„Das hat man davon, wenn man mit Amateuren arbeitet. Doro hat heute Abend einen Gig in Wacken und Maria und Marlene sind auf dem Weg nach Wien. Die haben morgen ihren ersten Hochzeitstag. Nächste Woche drehen sie dann in Hollywood den neuen Bestseller von Hans Christian Andersen. Zufrieden? Können wir jetzt weitermachen?“
„Andersen? Der ist doch tot?“
„Ja, eben.“
„Und was gibt es nächstes Jahr bei uns für ein Drehbuch?“, versuchte es Richard Berger ein wenig kleinlaut.
„Das werden wir dann sehen“, sagte der Regisseur versöhnlicher.
Ein paar von Richard Bergers Fragen wurden beantwortet und er hatte viele Fragen. Große philosophische und alltäglichere. Warum war er hier? Warum spielte er nicht Christian Pfeiffer und was gab später zu essen? War Christian Pfeiffer ein wahrer Freund oder nur ein Nutznießer? Konnte er ihm trauen? Würde er für ihn durchs Feuer gehen oder brauchte er ihn nur auf dem Weg nach oben an die Spitze? Schließlich hatten sie sich hier gerade erst kennengelernt? Eines aber wusste er. Alle hatten alles gegeben. Jeder das, was er konnte. Was will man mehr? Außerdem freute er sich auf sein Feierabendbierchen mit Christian Pfeiffer, seinem neuen Freund, wie er hoffte. Er steckte sich den Lauf in den Mund und drückte ab.


Und weil es so nicht enden kann, ging ich zurück in alle Räume. Überall gab es ein heilloses Durcheinander. Zurückgelassene Charaktere, wohin man sah. Alle hatten Fragezeichen im Gesicht, suchten nach Richard Berger und Christian Pfeiffer, aber die waren nicht mehr da. Sie waren weitergezogen und hatten sie in ihren Sphären zurückgelassen. Mit all dem Chaos.
Ich sammelte alle Figuren wieder ein, die dann schlussendlich leblos wie Kasperlepuppen auf meinem Arm hingen. Zupfte ihre Kleidung zurecht und klopfte den Bühnenstaub von ihnen ab. Legte sie, liebevoll in Seidenpapier gewickelt, gemeinsam in eine große Holzkiste, wobei ich Richard Berger von Klaus Töpfer fern hielt. Sie konnten nun ruhen, bis zum nächsten Auftritt. Ich schloss den Deckel der Truhe, schrieb mit einem dicken Stift 2024 drauf und war zufrieden.
ENDE

© EffEss

Fünf

von Kiki T. Lee (@Kick)

Wo Licht ist …

Richard Berger starrte auf die Waffe in seiner Hand und brach schluchzend zusammen. Flink zog der Unhold seine hervor und zielte auf ihn. „Wusste gar nicht, dass Sie so schwache Nerven haben. Erstaunlich.“
Pfeiffer war zu baff, reagierte nicht schnell genug. Und Berger hielt ihm jetzt auch noch die Waffe entgegen und flehte: „Tun Sie es. Ich kann nicht …“

„Oh, fliegender Wechsel?“ Der Unhold überlegte kurz. „Warum eigentlich nicht? Pfeiffer los, nehmen Sie die Waffe. Und Sie, Berger, laden das Video auf Ihrer Webseite hoch und auf all Ihren Kanälen. Gute Reise, wünsche ich der Kundschaft. Lohnschreiber, den inhaltlich korrekten Abschiedsgruß für die Kamera improvisieren Sie. Ihnen wird ein passender Vierzeiler einfallen, stimmt’s?“ Er lachte dreckig.
Berger entspannte sich minimal, stand auf und drückte dem Pressemann die Waffe in die Hand. Der griff zu, kapierte noch gar nicht genau, was gerade passierte.
„Nee Pfeiffer, Sie schicken nicht ihn auf Tour. Das ist Ihr Trip!“
Christian Pfeiffers Gedanken überschlugen sich. Er musste handeln. In Zeitlupe hob er die Pistole, führte den Lauf unters Kinn und überlegte fieberhaft. Er wollte nicht sterben. Eher würde er das Todesinstrument in letzter Sekunde auf den Reiseveranstalter richten. Nur, wie käme er an dem Gangster in der billigen Lederimitation vorbei? Mist!
Richard Berger starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. Ahnte er etwas?

„Brauchen Sie ein Zeitlimit?“, fragte der Unhold höhnisch. „Kein Problem, ich zähle gerne. Allerdings nicht bis 10 000!“
Der schlaue Berger sank auf die Knie. Pfeiffer hatte nun einen längeren Weg, um auf ihn zu zielen.
„Ich starte bei zwanzig und zähle runter. Ist Ihnen das angenehm? Sie Pfeife!“
Der Angesprochene drehte sich zu ihm, verlangte: „Dreißig!“
„Auf die zehn Sekunden soll es mir nicht ankommen. Ich bin heute bestens gelaunt.“ Er genoss seinen Auftritt.
Der Journalist wischte sich mit dem Ärmel über die Stirn. Wieso stand er hier? Sein Chef, Konstantin Magnus, hatte ihm untersagt, zu recherchieren. Er hätte es liebend gerne getan.
„Dreißig, neunundzwanzig …“
Richard Berger kniete mit gesenktem Kopf vor ihm, rechnete mit seiner Hinrichtung. Wieso nur hatte er freiwillig die Waffe abgegeben?
Pfeiffer musterte ihn. Würde der sich einfach abknallen lassen? Und er, Christian, wäre ein Mörder. Wie viele Jahre bekäme er dafür?

„Fünfundzwanzig, vierundzwanzig …“
Er drehte sich zu dem Unbekannten. „Ich will nicht dumm sterben. Sagen Sie mir, was Marlene verbrochen hat und wer Sie sind. Sonst …“
„Oh Bedingungen – Sie? Hm, ich bin ja kein Unmensch.“ Er trat einen Schritt nach vorne, versperrte noch immer den Ausgang. Denkbar ungünstig für eine Flucht.
Per Fernbedienung schaltete er die Kamera aus, das rote Licht erlosch. „Ihnen kann ich es ja sagen, Sie werden es nicht weitertragen.“
Pfeiffer nickte.
Berger schnaubte unwillig. Denn das hieße, dass auch er den Waggon nicht lebend verlassen würde.

„Beginnen wir mit Ihrer Schwester Marlene, die ach so Heilige. Berger, reichen Sie Pfeiffer die Fotos. Na los!“
Berger robbte nach vorne, griff willkürlich in die Papiere hinein und streckte den Arm hoch. Pfeiffer ließ die Waffe sinken, übernahm und blätterte, bis er Marlene entdeckte. Die Kopie eines Hochglanzfotos – Sie auf einer wahrhaftig noblen Yacht, in goldenem Glitzerbikini, mit einem brennenden Joint in der einen, einem kunterbunten Cocktail in der anderen Hand, prostete sie dem Fotografen lachend zu. Pfeiffer stutzte, hielt Berger das Bild vor die Nase. Der warf einen Blick darauf und zuckte mit den Schultern. Beide hatten Marlene noch nie so gesehen. Sagte sie nicht, dass sie ihre Urlaube im Schwarzwald verbrachte? Oder in der fränkischen Schweiz? Das hier waren aber die Malediven – mindestens.
„Überrascht?“, fragte der Schuft. „Ihre Marlene hat … Nein, fangen wir mit dem da an.“ Er deutete mit der Waffe auf den Geschäftsmann.
„Ihnen waren die 10 000 € pro Fahrt nicht genug, stimmt es? Sie wollten mehr und bekamen mehr. Geben Sie es zu!“
Richard Berger starrte ihn bestürzt an. Pfeiffer wich ein Stück von ihm ab. Berger nickte endlich und flüsterte: „Es waren 15 000. Na und? Die kamen ja schnell wieder rein.“
„Dachte ich es mir doch. Jetzt zu Marlene Romero …“

Während Berger wieder zu Boden blickte, meinte Pfeiffer draußen eine Bewegung gesehen zu haben. Aber er war nicht sicher. Hoffentlich streunte da niemand herum, der mithineingezogen würde. Oder hatte der Täter Komplizen?
Würde es gar nichts bringen, an ihm vorbeizukommen? Er wollte es trotzdem versuchen. Aber erst sollte der reden. So viel und so lange wie möglich.
„Marlene Romero hat ihr Kirchenamt missbraucht. Sie hat den bulgarischen Damen und, Achtung, Mädchen, Arbeit verschafft. Als Haushälterinnen auf Minijobbasis. Berger, wo haben sie ihre Dienste dann feilgeboten, na?“
„Im Hotel“, antwortete der.
„In welchem Hotel?“, hakte der Peiniger nach.
Berger räusperte sich und nuschelte kaum hörbar: „Venustempel.“
„Ah ja – genau!“ Er klang durchaus zufrieden, wandte sich wieder an Pfeiffer. „Und Ihre Maria hat alles geahnt. Sie musste misstrauisch gewesen sein. Sie half Marlene, ehrenamtlich, wunderte sich, warum so viele Frauen immer schubweise eingestellt wurden. Und sie fragte zu keiner Zeit, wohin sie verschwunden waren. Einige sind nie wieder aufgetaucht. Das weiß ich von Klaus.“

„Klaus Töpfer?“, fragte Pfeiffer perplex. Der Mörder - für ihn war er das definitiv, deutete eine Verbeugung an. „Gestatten? Peter Töpfer! Klaus‘ Bruder. Auch er hatte eine Wahl. Genaugenommen mindestens zweimal. Er hätte preisgeben können, was er wusste. Stattdessen nutzte er die Gelegenheiten, vergnügte sich im Hotel.“
„Was noch?“, hakte Pfeiffer nach.
„Und er kannte mich mein Leben lang!“
Berger würgte, sah hoch und fragte keuchend: „Sie haben Ihren eigenen Bruder dazu gebracht, sich umzubringen?“

„Wie haben Sie das geschafft?“, wollte Pfeiffer wissen.
Der Gefragte trat wieder etwas zurück, stand mit den Absätzen auf der Schwelle nach draußen.
Einen Schritt mehr, dachte Pfeiffer, nur noch einen winzigen Schritt …
„Genug geplaudert.“ Das Monster schaltete die Kamera wieder ein, wandte sich an Pfeiffer und zählte weiter. „Dreiundzwanzig, zweiundzwanzig … Na los! Einundzwanzig …“

Richard Berger war jetzt alles egal. Er hämmerte mit beiden Fäusten auf den Boden, Staub wirbelte in Wölkchen auf. Die harten Schläge hallten von den Wänden und mündeten einer nach dem anderen in metallenem Pfeifen. In diesen Lärm hinein brüllte er: „Sie sind ja total irre! Meschugge! Sie gehören in die Klapsmühle – für immer und ewig, Sie Geisteskranker! Den eigenen Bruder!“
Pfeiffer erkannte, dass die Situation eskalierte. Er musste handeln. Jetzt!

Er ging in die Hocke, schrie Berger zu: „Hinlegen!“ Im gleichen Augenblick schnellte er hoch, stellte sich eine Sprungfeder vor, drehte sich, wie er es im Kampfsport vor langer Zeit gelernt hatte. Die Pistole behielt er fest in der Hand, die Papiere schleuderte er so, dass sie wie überdimensionierte Konfetti im ganzen Wagen niedersegelten. Seine Arme und Beine fuhr er in sämtliche Richtungen aus, landete, orientierte sich, sprang wieder ab und flog direkt auf Peter Töpfer zu.
Der starrte überrascht hoch, stolperte rückwärts und noch, bevor Pfeiffer halbwegs sicher auf den Füßen stand, hörte er draußen Handschellen klicken und laute Stimmen. Polizei!

Marsgruber, der Einsatzleiter, grinste herein „Das war knapp, oder? Was machen Sie eigentlich hier? Dachte …“
Ja ja, die Onlineredaktion. Pfeiffer blieb beim Verlassen des Wagens an einem rostigen, hervorstehenden Nagel hängen. Er bückte sich, zupfte am Hosenbein herum und erspähte einen glitzernden Gegenstand – einen rosafarbenen Schlüssel – in Herzform. Den hob er auf, betrachtete ihn, ohne auf Berger einzugehen, der wild gestikulierte und lautstark auf Marlene aufmerksam machte. „Meine Schwester wurde entführt. Wir müssen sie finden. Sie erstickt …“
Marsgruber stoppte ihn. „Ihrer Frau haben Sie es zu verdanken, dass wir hier sind. Großes Glück – Sie Held!“ Er verzog das Gesicht.
„Doro?“, fragte Richard Berger unnötigerweise.
„Und Ihrem Geschrei, dass wir uns unbemerkt nähern konnten. Gut gemacht.“
Pfeiffer hielt ihm den Schlüssel hin. „Ist das Ihrer?“
Berger stutzte, verstummte und glotzte auf den Fund in Pfeiffers Hand. Dann sagte er endlich: „Keine Ahnung. Nö.“

„Natürlich gehört er ihm!“, schrie Peter Töpfer, der jetzt von drei Polizisten festgehalten werden musste. „Das ist sein Schlüssel. Los, sag wo der passt!“ Seine Stimme überschlug sich, Speichel rann ihm übers Kinn und tropfte auf den kalten Betonboden.

„Wieso haben Sie das alles getan?“ Pfeiffer sprach ihn unmittelbar an. „Sagen Sie uns weshalb!“
Peter Töpfers Gesichtszüge entglitten ihm und glichen einer Fratze. Endlich sog er die kühle Luft in Intervallen ein und entlud sich explosionsartig. „Weil ich nie eine Wahl hatte. Darum! Ihr schon – ich nie!“
Fünf verdammt lange Sekunden hörten alle die vom Wind bewegten, trockenen Grashalme und Blätter, im Gleisbett rascheln.
Dann fragte Pfeiffer in die Stille hinein: „Und wie? Wie haben Sie es geschafft, dass …“ Er dachte an Maria, spürte, wie sein Herz sich zusammenzog, fühlte die Wut zwischen den Ohren, die Ohnmacht im Bauch.
„Das, Sie Oberpfeife, werde ich Ihnen garantiert nie verraten. Ganz sicher niemals! Da können Sie lange rätseln. Ha!“

Richard Berger flippte jetzt völlig aus. Marleeeeeneeee … Immerhin beschenkte er die Umstehenden mit der kleinen, aber wichtigen Information, zu welcher Türe sein Schlüssel passte. Der war ihm vor Wochen abhandengekommen und dieser Töpfer hatte ihn offensichtlich hier verloren.

Mit Lichtorgel und Sound brausten sie zum „Hotel Venustempel“, rauschten ins zweite Kellergeschoß. „Wusste gar nicht, dass es hier so weit runtergeht“, murmelte Marsgruber erstaunt.
Überall hingen Zettel, auf die mit rotem Filzstift geschrieben war: Einzige Regel!!! SOLANGE ES DIE NACHBARN NICHT STÖRT!!!
Die zahlungskräftigen Herren, wie die leicht-, oder gar nicht bekleideten Häsinnen und Hasis verschwanden hinter den vielen Türen. Berger lief freiwillig voran. Er hatte zu den Fahrtkosten ein eigenes Zimmer, nur für sich ergaunert. Das nutzte er schon eine Weile nicht. Wegen Doro. Ursprünglich hatte er sich den Raum eben ihretwegen angeschafft. Um alleine zu sein – oder wenigstens nicht mit ihr … Und jetzt verdankte er ihr sein Leben.

„Hey Berger, nicht träumen. Mach schon!“ Pfeifer und die ganze Horde Polizisten schauten ihm auf die zitternden Finger beim Aufschließen der Türe.
Dahinter fanden sie einen wuchtigen Sarg, öffneten ihn und darin lag Marlene. Noch nicht ganz am Ende …

Richard Berger wurde zur Vernehmung im Präsidium, im Flur, an Dorothea vorbeigeführt. Sie starrte ihn verwundert und zugleich neugierig an.
Er blieb kurz stehen, flüsterte ihr zu: „Tut mir leid!“
Sie antwortete ebenfalls flüsternd: „Mir auch!“

Peter Töpfer landete noch am gleichen Tag in der Forensischen.

Christian Pfeiffer besuchte Marias Grab jeden Vormittag, berichtete ausführlich, was geschehen war.

Nach einer Woche kam ein überraschender Anruf von Konstantin Magnus. Der fragte doch glatt: „Wie wäre es? Arbeit lenkt ab …“
Dem Journalisten zuckten die Mundwinkel. Er erwiderte cool: „In der Onlineredaktion oder was?“ Wenn er ehrlich war – besser als gar kein Job. Aber – nee.
Magnus sagte, ohne mit der Wimper zu zucken: „Klar, wo denn sonst?“
Stille
Unverhofft lachte er los und Pfeiffer verstand. Sein geliebter, alter Scheißjob hatte ihn wieder. Nach dem kurzen Gespräch setzte er seine olle Kaffeemaschine in Gang. Dabei flüsterte er zufrieden: „Hey Baby, dein größter Fan zieht doch nochmal in die Welt.“

Endlich war es so weit. Er füllte die rotweiß gepunktete Blechtasse mit dem schwarzen Trinkrand, sog das Aroma ein, tapste auf Socken zum Sofa, schlürfte sachte aus der dampfenden Tasse und machte es sich für den Rest des Tages gemütlich.

Richard Berger blickte entsetzt auf die Waffe in seiner Hand. Sein Körper reagierte, bevor sein Gehirn die Situation verarbeiten konnte. Die ausgeschütteten Stresshormone ließen seinen Blutdruck und die Herzfrequenz nach oben schießen. Die Zeit schien still zu stehen und er fühlte sich wie in einem Albtraum gefangen. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Hände zitterten wie bei einem Parkinson-Patienten.

„Das ist doch nicht Ihr Ernst!“ Seine Stimme schien mit den Händen um die Wette zu zittern.

„Sehe ich so aus, als würde ich scherzen? Nun machen Sie schon. Je länger Sie hier tatenlos rumstehen, um so weniger Zeit bleibt Ihrer Schwester.“

Berger wollte nicht, dass Marlene stirbt. Aber, verdammt nochmal, er wollte auch nicht sterben. Sein Gehirn hatte sich wieder eingeklinkt und suchte fieberhaft nach einem Ausweg aus dieser Situation. Seine rechte Hand mit der Pistole hob sich langsam. Fast wie in Trance schwenkte er die Waffe zu dem Fremden, den er nur schemenhaft vor dem dunklen Hintergrund der offen Tür erkennen konnte. Pfeiffer stand leicht versetzt daneben und starrte ihn mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an.

„Was soll das werden?“ Der Unbekannte stieß ein höhnisches Lachen aus. „Erschiessen Sie mich, und Ihre Schwester wird in zwölf Stunden qualvoll ersticken.“

„Sie sagten, es ist meine Entscheidung.“

„Das sagte ich.“ Die Stimme aus dem Dunkeln klang auf einmal nicht mehr so selbstsicher.

„Dann soll es so sein.“ Berger hatte einen Entschluss gefasst. Er breitete die Arme aus und rannte los. Endlich war sein übergewichtiger Körper mal keine Last, sondern eine kinetische Masse, gegen die der verdutzte Fremde nichts auszurichten vermochte. Er verlor den Halt und fiel rückwärts auf die Gleise. Ein Geräusch, als würde man einen trockenen Ast zerbrechen, und ein spitzer Schmerzensschrei ließen vermuten, dass der Sturz nicht ohne Verletzungen abgelaufen war.

Bergers Maske des biederen Geschäftsmannes war wie mit einem Fingerschnipsen verschwunden. Sie war ihm im Laufe der Jahre wie eine zweite Haut gewesen. Sein Körper straffte sich und schien zu wachsen, seine Augen wurden kalt wie Eis.

Pfeiffer stand immer noch starr im Waggon und beobachtete die erstaunliche Verwandlung. Er sah, wie Berger hinaussprang und leichtfüßig neben dem Fremden landete.

„Hast du dir was gebrochen, du mieses Schwein?“, hörte er ihn sagen. Dann stellte Berger einen Fuß auf den Hals des Verletzten und richtete die Pistole auf seinen Kopf. „Los, die andere Waffe her und zwar gaaanz vorsichtig.“

Der Fremde holte sie mit zwei Fingern aus seiner Jackentasche und reichte sie an sein ehemaliges Opfer weiter. Die Rollen waren jetzt vertauscht.

„Ich will wissen, wo meine Schwester ist und was der ganze Scheiß hier soll.“

„Nehmen Sie die Waffe aus meinem Gesicht und ich verrate es Ihnen.“

„Sie haben nicht verstanden, dass Sie hier keine Forderungen mehr stellen. Sie haben sich mit dem Falschen angelegt. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Anzahl der gebrochenen Knochen, wann Sie reden.“ Um seinen Worten Gewicht zu verleihen, trat er mit voller Wucht auf sein Schienbein.

„Okay, okay“, rief der Fremde unter Schmerzen. „Sie ist in Dreieich.“

Pfeiffer war inzwischen aus dem Waggon gestiegen und versuchte, zu deeskalieren. „Schalten Sie mal einen Gang zurück, Herr Berger. Sie wollen ihm wirklich Schmerzen zufügen? Ihn quasi foltern?“

„Was denn? Sie haben doch nicht etwa Mitleid mit diesem Abschaum. Haben Sie vergessen, dass er für den Tod Ihrer Maria verantwortlich ist?“

Pfeiffer zuckte beim Namen seiner Geliebten zusammen. So, wie er es immer tat seit diesem Sonntag.

„Wenn wir das Schwein nicht zum reden bringen, stirbt auch Marlene. Um das zu verhindern ist mir jedes Mittel recht. Absolut jedes, und wenn ich ihm jeden Knochen einzeln brechen muss.“ Er wandte sich wieder dem Mann unter seinen Füßen zu. „Wo in Dreieich?“

Die Androhung von roher Gewalt brach den Widerstand endgültig. Mit zittriger Stimme nannte er die genaue Adresse des Gebäudes, in das er sein Entführungsopfers gesperrt hatte.

„Geht doch.“ Bergers Stimme klang nun wieder sanfter, fast freundlich.

„Sie hätten doch nicht wirklich …?“ Pfeiffer sah Berger entsetzt an.

„Natürlich nicht. Was halten Sie denn von mir? Ein bisschen Motivation bewirkt aber oft wahre Wunder.“

Sie einigten sich darauf, dass der Journalist mit seinem Wagen zu der genannten Adresse fahren und Marlene befreien sollte. Als sie kurz darauf alleine waren, richtete sich Berger wieder an den auf dem Boden liegenden Fremden. Der war nur noch ein Häufchen Elend. „Also, warum diese ganze Scheiße? Es geht doch nicht wirklich um die zehntausend Euro.“

„Nein, es geht um Rache für meine Frau, die du auf dem Gewissen hast. Du und all die anderen. Unser Leben in Sofia war nicht leicht. Ich hatte zwar einen Job im IT-Bereich, aber das Geld reichte vorne und hinten nicht. Eines Tages kam ein Mann zu uns und bot ihr zehntausend Euro. Sie sollte dafür drei Monate als Hostess für eine Messegesellschaft in Frankfurt arbeiten. Das ist in unserer Heimat fast ein Jahreslohn. Wir vereinbarten, täglich zu telefonieren, aber nach drei Wochen hörte ich nichts mehr von ihr. Zwei Tage später erhielt ich eine SMS, in der nur ein Wort stand: ‚Venustempel‘. Also kam ich hierher, um sie zu suchen.“

„Ich verstehe, aber was hat meine Schwester damit zu tun?“

„Ich fand heraus, dass meine Frau in einem Bordell arbeiten musste und dort festgehalten wurde. Sonntags morgens durfte sie in die Kirche gehen. Dort traf sie die Pastorin und flehte sie an, ihr zu helfen, aber sie weigerte sich. Später erfuhr ich den Grund: Sie wusste von Ihren dreckigen Geschäften und wollte Sie decken.“

„Was ist mit Ihrer Frau. Geht es ihr gut?“

„Nein“, der junge Mann weinte. „Sie wurde von diesem Klaus Töpfer verprügelt und starb an inneren Verletzungen. Ihre Schwester hätte das verhindern können.“

„Das tut mir leid.“ Berger schien ernsthaft betroffen von der Geschichte. Schweigend saß er auf dem Boden. Das Klingeln seines Handys riss ihn aus seinen Gedanken.

„Ich habe sie“, rief Pfeiffer freudig erregt. „Marlene ist schwach und dehydriert, aber sie lebt. Soll ich sie in ein Krankenhaus bringen?“

„Das sind gute Nachrichten.“ Richard atmete sichtlich erleichtert auf. „Kommen Sie bitte hierher und bringen Marlene mit. Ich kümmere mich dann um sie. Danke, Herr Pfeiffer. Sie haben was gut bei mir.“

Eine knappe Stunde später erreichten der Journalist und Marlene die Gleisanlage. Berger kam ihnen schon entgegengerannt und schloss seine Schwester in die Arme.

„Haben Sie den Kerl alleine gelassen? Der haut doch ab.“

„Das wäre ein ganz große Nummer“, antwortete Richard rätselhaft.

Als sie gemeinsam beim Güterwaggon ankamen, erkannte Pfeiffer, dass der Fremde noch immer auf dem Boden lag.

„Was haben Sie mit ihm gemacht?“ Er ging näher, mit einem wachsenden mulmigen Gefühl. Als er den leblosen Körper erreichte, sah er das Blut, das sich unter dem Leichnam ausbreitete. Langsam dreht er sich um. „Sie … Sie … haben ihn … erschossen? Warum?“

„Warum nicht? Er hat aus Rache Ihre und meine Familie zerstört. Er wollte meine Schwester umbringen.“

„Aber wir hätten ihn der Polizei übergeben können.“

Berger kam näher und ging neben dem Toten in die Hocke. „Tja, da liegt das Problem. Er wusste zu viel. Ich stecke so tief drin in dieser illegalen Prostitution, da kann ich keine Zeugen brauchen."

Pfeiffer war nicht dumm. Er erkannte sofort, welche ungute Richtung das hier nahm. Er wollte sich gerade umdrehen und wegrennen, da sah er die auf ihn gerichtete Waffe.

„Sie sind nur ein feiger Reporter, aber mich wird man für viele Jahre wegsperren. Das kann ich nicht zulassen. Meine Schwester wird bezeugen, dass der Fremde zuerst auf Sie geschossen hat. Mit letzter Kraft haben Sie in Notwehr einen Schuss abgeben können, der ihn mitten in die Brust traf. Sie sind als Held gestorben, nachdem Sie Marlene gerettet haben.“

Ein peitschender Knall durchriss die Nacht und hallte zwischen den abgestellten Waggons mehrfach wider.

„Komm, Marlene. Wir räumen hier noch ein wenig auf und rufen dann die Polizei. Bis Sonnenaufgang sind wir zu Hause. Doro wartet dann bestimmt schon mit dem Frühstück auf uns.“

Showdown

Das kleine metallische Klicken war überlaut in der gespannten Stille. Pfeiffer starrte mit offenem Mund zu Berger, dieser auf die Pistole in seiner Hand.

„Sie ist gar nicht losgegangen“, wunderte er sich.

„Du Arschloch! Du wolltest mich tatsächlich abknallen!“ Pfeiffers Gesicht hatte sich in nur zwei Sekunden in eine wütende Fratze verwandelt. Er stürzte sich mit seinem gesamten Körpergewicht auf Berger und mit diesem zusammen aus dem Waggon. Wo Berger liegenblieb und sich nicht mehr rührte. Sein Hals seltsam schräg auf einem Gleis. Bevor Pfeiffer realisierte, dass er gerade den Tod eines Menschen verursacht hatte, hörte er die Stimme hinter sich.

„Gut gemacht, Herr Pfeiffer. Jetzt sind Sie der *MVP.“

Pfeiffer, über Berger gebückt dahockend, kam langsam zu Verstand. Völlig schockiert, den Blick weiter auf die Leiche gerichtet, versuchte er, die letzten Sekunden zu begreifen.

„Ja, das ist ein wenig viel auf einmal, nicht wahr. Gerade zum Mörder geworden und schon könnten Sie noch einen Mord begehen. Oder auch nicht. Ist das nicht herrlich? Sie sind Gott für eine Nacht, Herr Pfeiffer.“ Die Stimme stieß ein keckerndes Lachen aus. Offenbar amüsierte sich der Fremde köstlich.

Pfeiffer drehte sich um. Entspannt lächelnd und die Waffe locker in verschränkten Armen haltend, stand er da. Kurze blonde Haare, Jeans, Lederjackenimitat, registrierte Pfeiffer automatisch, was er sah.

„Sind Sie nun bereit, meine Frage zu beantworten, Herr Pfeiffer? Haben Sie sich das Photo von Marlene Romero schon angesehen? Nein? Dann tun sie das bitte, damit wir weiterspielen können.“ Das Lächeln wurde breiter und der Fremde wedelte mit der Waffe in Richtung Waggon.

Pfeiffer entschloss sich mitzuspielen. Vorerst. Er kletterte wieder in den Güterwagen und suchte in den verstreuten Papieren nach dem besagten Bild. Da. Zwischen einem Photo von Töpfer und einer Kopie einer Quittung lugte ein anderes Photo hervor, auf dem er den Kopf von Marlene erkennen konnte. Er zog es heraus und erstarrte. Entsetzt drehte er sich zu dem Fremden um.

„Überraschung“, flötete dieser gekünstelt und hatte offenbar Spaß an seiner gelungenen Aktion.

Das Photo zeigte Maria, seine Maria. Seitlich aufgenommen und offenbar vor der Redaktion. Der rote Mantel, in der Hand eine Waffe, den Blick nach oben gerichtet. Aber, was ihn so entsetzte, war Marlene. In einer Nische stehend, Maria gegenüber, offenbar einen Schuss auf diese abgebend, wie das Photo perfekt festgehalten hatte.

Pfeiffer hatte es die Sprache verschlagen. Vergeblich nach Worten suchend, blickte er zwischen dem Photo und dem Fremden hin und her.

„Ja, ich weiß. Das ist hart. Die liebe Marlene. Die nette Pastorin. Die Sie beide doch sogar getraut hat. Und die als seelischer Beistand der Frauen sehr genau wusste, was ihr Bruder da tat. Schwer zu glauben, hm? Aber so ist das mit den Menschen. Man weiß nie, was in ihnen steckt. Fast wie eine Schachtel Pralinen, oder?“ Der Fremde lachte, wieder mit diesem seltsamen Keckern, über seinen eigenen Scherz. "Auch sie konnte wählen. Entweder ihre Lebensgefährtin, die sie bisher vor der Öffentlichkeit versteckte, sich selbst, oder Maria. Die arme Maria, die niemals wirklich wusste, was vorging.

„Aber kommen wir zur Sache. Sie sind doch sicher schon sehr gespannt, was ihre Aufgabe sein wird. Ihre finale Quest als wahrer MVP. Nun denn. Kommen wir zu den restlichen Fakten.“

Der Fremde nahm die Arme auseinander und begann, seine Aufzählung mit den Fingern zu begleiten.

Der kleine Finger.

„Erstens. Sozusagen als Ouvertüre, Klaus Töpfer. Er wusste, er war so gut wie tot. Ich hatte mir erlaubt, im Milieu einige Informationen zu streuen. Er wollte seine Haut retten. Im wahrsten Sinne des Wortes.“ Wieder dieses keckernde Lachen. „Er wusste, sich selbst zu erschießen würde noch die schmerzloseste Art sein. Sterben würde er auf jeden Fall. Berger hat ihn nicht einmal erkannt. Dabei ist er ihm mehrmals in der Purpurnen Laterne begegnet. Aber solche Leute achten nicht aufs Personal. Es sei denn, es hat Titten.“

Der Ringfinger.

„Zweitens. Maria. Eine von zwei Unschuldigen im Spiel. Bekennen Sie Ihre Verantwortung oder schieben Sie es ihrem Chef Magnus in die Schuhe? Sie hätten sie retten können. Sie hätten einfach nur weitermachen müssen. Sie nicht allein den Kopf dafür hinhalten lassen sollen. Aber nein. Sie fanden es bequemer, zu gehorchen. Akte geschlossen. Fall erledigt. Leider nicht für die Kreise, in denen Sie damals recherchiert haben. Und Maria hat den Preis dafür gezahlt. Hat mich eine Menge gekostet, zumindest das wann und wo bestimmen zu dürfen.“

Der Mittelfinger.

"Drittens. Dorothea Berger. Diese bigotte Schlampe. Sonntags in der Kirche sitzen und zu Weihnachten kleine Waisenkinder beschenken. Und dabei ganz genau wissen, womit ihr Mann das Geld verdient. Ignoranz ist die neue Geißel der Menschheit. Aber dazu später.

Der Zeigefinger.

„Viertens. Richard Berger. Der hätte Ihnen fast den Rang abgelaufen. Aber ich bin wirklich froh, dass Sie der Letzte sind, Herr Pfeiffer. Das macht das ganze irgendwie - perfekter. Berger war ein Arschloch, der sich einen Scheiß um seine Mitmenschen scherte. Hinter seiner gutbürgerlichen Fassade verborgen war er eine große Nummer im Geschäft mit illegaler Prostitution und Menschenhandel. Unter dem Deckmantel seines biederen Reisebüros organisierte er die Schlepperei und machte die Reservierungen für die Purpurne Laterne, den exklusivsten Puff in Frankfurt. Zumindest das hätten Sie ja bei Ihrer Recherche damals herausfinden müssen. Zumal Sie sich ja meiner Schwester als Insider bedient haben. Die ich übrigens gerade so noch retten konnte. Auch das hat eine Menge gekostet.“

Der Daumen.

Mit einer dramatischen Geste ließ der Fremde seinen Daumen von aufwärts nach abwärts drehen. Wie ehemals die römischen Kaiser im Colloseum.

„Fünftens und letztens. Sie, Herr Pfeiffer. Sie haben nicht wirklich ein strafwürdiges Verbrechen begangen. Na ja“, sein Blick streifte kurz die Leiche von Berger, „zumindest bis eben.“

Den Kopf schief gelegt, die Hand in die Hosentasche geschoben und seine Worte mit Bewegungen der Waffe begleitend, sprach er weiter.

„Wissen Sie, oder, nein, ich glaube nicht, dass Sie sich dessen bewusst sind. Sie sind der schlimmste Verbrecher von allen.“ Fast dozierend ging der Fremde vor Pfeiffer auf und ab.

„Wissen Sie, es gibt Menschen, die keinerlei Moral haben. Die von Grund auf böse sind. Die kein Unrechtsbewusstsein haben und wenn sie erwischt werden, sperrt man sie weg. Damit hat es sich und sie sind aus der Gesellschaft entfernt. Sie richten keinen Schaden mehr an. Dann gibt es Menschen, die aus einer unerwarteten Situation heraus etwas tun, was ihrem Charakter nicht entspricht. Das würde ich Ihnen zugute halten, was Ihren Totschlag an Herrn Berger angeht.“ Wieder ein Seitenblick auf die Leiche.

„Aber dann“, und jetzt fixierte er Pfeiffer plötzlich mit einem Blick voller Verachtung und Wut, „gibt es solche wie Sie. Sie behaupten von sich, Gutmenschen zu sein. Sie bilden sich ein, für Werte zu kämpfen. Sie beanspruchen für sich, auf der richtigen Seite zu stehen. Sie, Herr Pfeiffer, haben nicht die geringste Ahnung, was es heißt, auf der richtigen Seite zu sein. Sie haben nicht den Hauch einer Ahnung, was es heißt, zu kämpfen.“

Der Fremde atmete tief durch. Mit ruhiger Stimme fuhr er fort. „Kommen wir nun zu Ihrer Entscheidung. Es gibt drei Lösungen, drei Leben. Dorothea Berger, Marlene Romero, Christian Pfeiffer. Eine dieser Personen müssen Sie erschießen. Heute noch. Sonst sterben alle drei.
Sie haben zwei Stunden Zeit. Dorothea Berger und Marlene Romero sind jetzt gerade in der Kirche, in der Sie getraut wurden. Eine Waffe finden Sie im Handschuhfach Ihres Opels. Die Zeit läuft. Ab jetzt.“

Der Fremde lehnte sich an den Waggon und deutete mit der Waffe in Richtung Parkplatz. Und Pfeiffer rannte los. Weg. Nur weg von hier. Als der Fremde das Auto anfahren hörte, sammelte er seelenruhig die im Waggon verstreuten Unterlagen und die Webcam auf einen Haufen und steckte sie in Brand.

Am nächsten Tag berichteten sämtliche Medien von den beiden Großeinsätzen in Frankfurt. Die Bonifatiuskirche in der Holbeinstraße und das Luxushotel Meridian waren in der gleichen Nacht bis auf die Grundmauern abgebrannt. In der Kirche hatte man drei verkohlte Leichen gefunden. Offenbar zwei Frauen und ein Mann, die Identitäten waren noch nicht bekannt gegeben worden. Unter der Hand hieß es, dass es sich um die dortige Pastorin und zwei Kirchgänger handeln solle.
Im Meridian hatte es anscheinend, Glück im Unglück, den Inhaber und vier männliche Angestellte erwischt. Seltsamerweise waren sie, verkohlt und auf Stühlen sitzend, in einem Büroraum gefunden worden. Eigentlich hätten sie dem Feuer leicht entkommen können. Gäste und weibliches Personal waren zur Zeit des Brandes nicht vor Ort. Das Hotel hatte am Tag zuvor überraschend wegen Renovierung geschlossen. Ob es sich hier um Brandstiftung oder einen Bauunfall handelte, stand noch nicht fest.

Nur zu kleinen Artikeln auf Seite 5, Lokales, hatten es zwei andere Ereignisse dieser Nacht gebracht. Der Brand eines kleinen, leerstehenden Hauses in der oberen Bergerstraße. Die Bewohner, ein älteres Ehepaar, waren vor Kurzem verstorben. Die beiden erwachsenen Kinder würden sich, so Nachbarn, schon länger im Ausland aufhalten.

Auf den Gleisen eines Grundstücks im Industriepark Höchst war eine männliche Leiche gefunden worden. Dabei solle es sich, unbestätigten Quellen zufolge, um Richard Berger handeln. Den Richard Berger, vor dessen Tür sich vor einiger Zeit ein Mann erschossen hatte. Das Video dieser Tat hatte Chancen, zum Top-Click des Jahres zu werden.

Abends, auf der Dippemess in Frankfurt-Bornheim. Martin, mittlerweile ohne die blonde Kurzhaarperücke, hatte seinen Arm um die Schulter seiner Schwester gelegt und drückte ihr einen Kuss auf den Scheitel. Sie schaute zu ihm hoch. „Weißt du, ich bin so furchtbar froh, dass du wieder da bist. Jetzt wird alles wieder gut.“

„Ja, das wird es“, sagte er, und gemeinsam blickten sie zu dem gerade beginnenden Feuerwerk empor.

*Most Valuable Player

Anachronica

5. Kapitel
Richard Berger schaute langsam zur Kamera. Kalt und schwer wog die Waffe in seiner Hand. Durch seinen Kopf rasten sinnlose Gedankenfetzen.
»Herr Berger«, sagte der Unbekannte betont ruhig, »Sie haben nicht ewig Zeit.«
Richard Berger fragte sich, wie Klaus Töpfer es fertig gebracht hatte, die Waffe gegen sich selbst zu richten. War das Ding überhaupt geladen? Musste man da nicht irgendwas entsichern? Im Fernsehen war das doch immer so.
Berger hob die Hand und beäugte die Pistole. Er hörte, wie Christian Pfeiffer neben ihm die Luft scharf einsog und schaute zum ihm.
Pfeiffer sah ihn an und schüttelte kaum merklich den Kopf.
Sollte er…?
Richard Berger traf keine bewusste Entscheidung. Seine Hand änderte die Richtung, der Finger krümmte sich, die Waffe gab den Schuss ab. Er ging in die Dunkelheit. Dorthin, wo der Unbekannten sein könnte. Sein musste.
Als Richard Berger das letzte Mal den Knall einer Pistole gehört hatte, war es laut gewesen. Aber das war kein Vergleich zu dem hier. Innerhalb des Wagons entfachte das Abfeuern der kleinen Waffe ein Inferno aus Schmerz in seinen Ohren. Er ging mit zu Boden. Die Hände hielt er fest auf die Ohren gepresst.
Schemenhaft nahm Berger wahr, wie Christian Pfeiffer zu dem Unbekannten hechtete. Mit aller Macht gegen ihn stieß und ihn mit der Wucht des Aufpralls umwarf. Der Fremde wehrte sich nicht. Richard Berger realisierte, dass er soeben einen Menschen umgebracht hatte.
Er kam auf die Füße und wankte zu Pfeiffer. Zerrte ihn weg von dem reglosen Körper.
Minuten später lagen beide keuchend auf dem Boden des Wagons.
»Wie weiter?«, durchbrach Christian Pfeiffer das Schweigen.
»Wir müssen Marlene finden.«, antwortete Berger mechanisch.
Beide sahen sich an. Wo sollten sie suchen? Der Einzige, der das Versteck gekannt hatte, lag tot neben ihnen.
Auf allen vieren kroch Pfeiffer zu dem Mann und zog ihn in den Lichtkegel. Verblüfft starrte er auf das Gesicht.
»Kennen Sie ihn?«, fragte Berger.
»Nicht wirklich.«, antwortete Christian Pfeiffer. »Ich hab ihn einmal bei Marlene gesehen, als wir sie zu einer Gartenparty abgeholt haben. Er schien verärgert.«
»Und?«
»Nichts und. Er verabschiedete sich auf ein nächstes Mal und ging.«
»Hmmm«, brummte Berger nachdenklich. »Was könnte das bedeuten?«
Christian Pfeiffer schnaubte unwillig. »Sicher nichts, das uns dabei helfen könnte, das Loch zu finden, in dem Marlene gerade erstickt.«
Berger nickte. Er schaute sich im Wagon um. Sein Blick blieb an dem Stapel Papiere hängen. Bisher hatte Pfeiffer nur die ersten fünf Seiten angeschaut. Vielleicht bargen die Unterlagen den entscheidenden Hinweis.
Richard Berger kam auf die Füße und holte das Konvolut nach vorn ins Licht. Gemeinsam blätterten sie durch Seiten voller Verrat, Korruption und Tod. Während der Journalist die Worte und Bilder verschlang, sah Berger immer wieder weg. Getraute sich nicht, die Wahrheit zu erkennen, der er durch sein Unternehmen immer wieder Nahrung gegeben hatte.
Dann eine Mail von Marlene. Sie hatte aus der Schwesternkirche in Sofia eine neue Information erhalten. Weitere 15 Frauen waren dankbar für die Möglichkeit, in Deutschland ein neues Leben beginnen zu können.
»Oh Gott«, entfuhr es Richard Berger.
»Sie hat es nicht gewusst.«, beschwichtigte Pfeiffer.
Er blätterte weiter. Eine Adresse. Im Kirchweg 3 hatte Marlene sich mit jemandem verabredet. Durch Berger ging ein Ruck.
»Das ist auf der anderen Seite vom Industriegebiet. Ich kenne das von früher. Kommen Sie, das ist unsere einzige Chance!«
Neue Energie durchströmte Richard Bergers Körper. Es konnte nicht alles umsonst gewesen sein. Durfte es nicht. Er kam auf die Beine, stürzte fast aus dem Wagon, fing sich wieder und lief Richtung Opel.
»Moment noch.«, rief Pfeiffer und verschwand. Ein kurzes Quietschen, etwas gab nach. Erneut tauchte er in der Tür des Wagons auf. Wie eine Trophäe schwenkte er die Kamera.
Der Weg um das Industriegebiet zog sich ewig. Als sie in den Kirchweg bogen, atmeten die Männer auf. Nur drei Gebäude kamen in Frage.
Zielsicher rannte Richard Berger auf den mittleren Bau zu. Wilde Freude durchströmte seinen Körper, als er die Tür angelehnt vorfand. Er rief über die Schulter:
»Kommen Sie, ich weiß, wo sie ist.«
»Woher?«, hörte er Pfeiffer hinter sich keuchen.
»Von früher. Jetzt kommen Sie!«
Beide stürzten die Treppe hinab, immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Sie führte direkt zu einer Metalltür.
Unschlüssig schaute Pfeiffer auf den Griff.
»Das fühlt sich an, wie eine Falle«, sagte er zu Berger.
»Quatsch«, entgegnete dieser. Er zerrte an einem Eisengriff. »Helfen Sie mir lieber. Das scheint nicht verriegelt zu sein.«
Gemeinsam zogen sie die Tür auf. Dahinter lag in gespenstischer Stille ein Raum. Richard Berger hielt die Luft an. Hatte er eine Bewegung wahrgenommen?
»Marlene?«, rief er in den Raum. Betrat ihn.
Christian Pfeifer tat es im gleich. Er betätigte die Taschenlampe an seinem Diensthandy.
»Was«, entfuhr es Richard Berger.
Der Raum war dunkel, kalt … und leer. Allein ein Zettel auf dem Boden zeugte davon, dass jemand hier gewesen sein musste.
Christian Pfeiffer hob ihn auf und las. Als er ungläubig aufsah, fiel die Tür ins Schloss.

					***

»Prosit«, flötete Dorothea und stieß ihr Glas klangvoll gegen das ihrer Schwägerin.
»Stößchen«, entgegnete Marlene und zwinkerte ihr zu. »Wie laufen die Geschäfte?«
»Lass ich gerade andere für mich erledigen, bis Gras über die Sache gewachsen ist.«
Beide lachten leise.
»Hast du noch einmal geschaut, ob alles still ist?«, fragte Marlene.
Dorothea nickte.
»Ist es. Dass du diesen Raum gefunden hast, war Gold wert. Dass die beiden die Papiere und die Kamera aus dem Wagon mitgenommen haben, genauso. Sehr praktisch wenn Männer hinter sich aufräumen. Sollte jemand Rolf finden, liegt er da halt im Wagon mit einer Knarre in der Hand.«
»Und der Raum?«
»War wirklich luftdicht verschlossen.«
Erneut stießen die Frauen an und nahmen einen tiefen Schluck. Dann lehnten sie sich zurück, um eine weitere Runde im Whirlpool des bergerschen Anwesens zu genießen.
Lächelnd sah Dorothea Berger zu, wie ihre letzte Mitwisserin das Bewusstsein verlor und still ins Wasser glitt.

© DasEni

Du hast immer eine Wahl

von Edda

Richard und Pfeifer waren weg. Dorothea wusste nicht, wie lange sie bereits reglos auf dem Sofa saß. Ihre Hände zitterten, ihr Herz hämmerte. Vor ihrem inneren Auge flackerte das Bild von Marlene – schmutzig, gefesselt, mit verfilzten Haaren und gehetztem Blick. Vor einer Woche saß sie noch hier, neben ihr auf dem Sofa. Auf dem Video sah sie aus, als hätte sie Tage in der Wildnis verbracht. Aber wie? Das ging nicht. Niemand verändert sich so in wenigen Tagen.

Warum hatte die Polizei nicht reagiert, als Marlene entführt wurde? Warum hatte niemand Richard informiert, ihren einzigen Verwandten seit dem Unfall der Eltern?

Dorotheas Nacken verspannte sich. Das ergab alles keinen Sinn. Ihr Blick fiel auf das Handy. Sie öffnete die Tracking-App. Ein roter Punkt blinkte auf der Karte — Richard. Ihre Finger zögerten über der Notrufnummer, tippten sie ein und löschten sie wieder. Richard würde ihr nie verzeihen, wenn die Polizei Marlene in Gefahr brachte. Sie traf eine Entscheidung, schnappte die Autoschlüssel und rannte hinaus.

Im Auto führte der blinkende Punkt sie durch die Dämmerung. Sie parkte neben Pfeiffers Wagen. Die feuchte Kälte schlug ihr entgegen, als sie ausstieg, Jeder ihrer Schritte klang zu laut. Sie drückte sich an einen rostigen Güterwagen, das kalte Metall im Rücken. Laut der App war Richard hier.

Plötzlich — eine Stimme. Unheimlich vertraut. Dorotheas Brust zog sich zusammen. Diese Stimme kannte sie. Aus dem Video. Ihre Augen suchten die Quelle und entdeckten ein faustgroßes Loch in der Wand des Güterwagens. Sie presste ein Auge dagegen.

Ein Mann ging auf und ab. Groß, breitschultrig, die Stimme gereizt und ungeduldig: „Bekenne deine Sünden und erschieß dich doch endlich!“

Und dann sah sie ihn, ihren Richard, mit einer Pistole in der Hand! Dorothea presste ihren Schal auf den Mund, um das Zittern ihrer Atmung zu dämpfen.

Richard hob die Pistole, sah zu Pfeiffer hinüber, der in der Ecke des Raumes kauerte. Seine Hände waren auf den Rücken gefesselt, der Mund mit einem Stück silbernem Klebeband zugeklebt. Seine Schultern zuckten bei jedem Atemzug, seine Augen panisch aufgerissen.

Dorothea drückte sich noch fester an den Wagon. Ihr Herzschlag war jetzt so laut, dass sie fürchtete, der Mann könnte ihn hören. Sie wandte sich ab, hielt es nicht aus.

Plötzlich: Ein Schuss. Kurz, ohrenbetäubend. Der Knall hallte von den Wänden wider, bis die Stille zurückkehrte, schwer wie Blei.

Nein. Nein, nein, nein! Panik kroch ihre Kehle hoch, ihre Knie wurden weich. Der erste Gedanke: Richard! Sie beugte sich vor, lugte panisch in die Öffnung.

Richard. Er stand da, die Waffe noch in der Hand. Sein Blick war starr. Neben ihm auf dem Boden verteilt die Splitter der Webcam. Er hat auf die Kamera geschossen.

Der Große rannte wie ein Verrückter auf ihn zu, brüllte: „Bist du irre?! Was soll das?! Das war nicht der Plan!“

Dorothee schluckte schwer. Sie spürte, wie alles in ihr schrie, wegzurennen, aber sie konnte nicht. Ihr Blick glitt weiter. Und da sah sie sie.

Marlene.

Marlene trat aus dem Dunkeln, ruhig und zielstrebig wie ein Raubtier. Ihr Blick auf Richard war kalt und hart.

„Und jetzt?“ Ihre Stimme war fast spöttisch. „Was machen wir jetzt mit dir, großer Bruder?“

„Marlene, was…?“ Richard erstarrte. „Was tust du hier?“, röchelte er.

„Du bist so ein Feigling,“ sagte sie mit einem schmalen Lächeln. Ihr Blick war kalt, hart wie Glas. „Hast nicht mal den Mumm, dich umzubringen. Aber was habe ich erwartet? Du warst immer schon ein Feigling. Hast mich verraten, nach dem Tod unserer Eltern dich abgesetzt, mich bei der Adoptivfamilie verrotten lassen!“ Hass drang aus jeder Silbe. „Du hast nichts unternommen, um mich zu retten.“

„Aber ich wusste nicht…“, stotterte Richard, Tränen liefen über sein Gesicht.

„Du wolltest nicht wissen!“, schnitt sie ihm kalt das Wort ab. „Du warst volljährig, hättest dich um mich kümmern können!“

Dann ging sie auf den jungen Mann zu und legte ihre Hand locker auf seine Schulter. „Richard, das ist dein Neffe, er heißt Kevin“, sagte sie. Richard starrte sie ungläubig an. „Ich war fünfzehn, als er geboren wurde, und sie haben ihn mir sofort wieder weggenommen.“ Ihre Stimme klang verbittert.

Sie wandte sich nun an Kevin. „Knall ihn ab“, befahl sie.

Dorothea erstarrte. Nein, das konnte nicht ernst gemeint sein.

Kevin reagierte nicht sofort. Seine Augen wanderten zwischen Marlene und Richard hin und her. Für einen Moment – nur einen flüchtigen Moment – glaubte Dorothea, einen Funken Zweifel in Kevins Blick zu erkennen.

„Kevin“, sagte Richard, er trat einen Schritt nach vorne. „Du musst das nicht tun. Hör mir zu, Junge. Du hast eine Wahl. Du hast immer eine Wahl.“ Richards Atem wurde schneller, lauter. „Kevin, schau mich an. Schau mich an, Junge. Ich habe Fehler gemacht. Ich weiß. Ich bereue alles. Aus tiefsten Herzen! Alles!“

Kevin griff in seine Jackentasche, zog die Waffe hervor und hob sie.

„Kevin, nein –“, Richards Stimme brach.

Ein Schuss. Der Knall hallte durch den Raum.

Dorothea zuckte zusammen. Der Schuss war ohrenbetäubend.

Richard stand noch. Langsam senkte sich sein Blick auf die Brust. Ein roter Fleck breitete sich aus, dunkler als alles andere im Raum. Mit zitternden Fingern tastete er über das Hemd, als ob er nicht begreifen konnte, was passiert war. Dann hob er den Kopf, sein Blick suchte Kevins Gesicht. Kein Vorwurf. Nur Schmerz.

Er fiel auf die Knie. Kein Geräusch, nur das dumpfe Aufschlagen seines Körpers auf den Beton. Er beugte sich nach vorn, bis seine Wange den Boden berührte. Seine Augen blieben offen. Leer.

Dorotheas Welt brach zusammen. Sie wollte schreien, Tränen brannten hinter ihren Augen, aber sie biss die Zähne zusammen, gab keinen Laut von sich.

Ein ersticktes Keuchen ließ Dorothea den Kopf drehen. Pfeiffer. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Körper zuckte heftig, als er versuchte, sich aufzurichten. Er zog an den Fesseln, sein Atem ging schnell und hektisch. Er wusste, er war der Nächste.

Marlene beobachtete ihn wie ein Raubtier, das mit seiner Beute spielt. Sie ließ ihn zappeln, unbeeindruckt. „Ach, Pfeiffer“, sagte sie schließlich, als wäre sie gelangweilt von seinem Anblick. „Du bist jetzt nutzlos. Keine Selbsttötung, kein Video, das du hochladen kannst. Also völlig nutzlos. Was passiert mit Nichtsnutzen?“

„Sie sterben“, antwortete Kevin tonlos. Er hob die Waffe. Pfeiffer schüttelte wild den Kopf, Tränen liefen über sein Gesicht. Erstickte Schreie, seine verzweifelten, kehligen Laute waren zu hören. Flehen.

Kevin drückte ab.

Der Knall war lauter als der erste. Pfeiffer fiel zur Seite, zuckte einmal, dann noch einmal. Dann regte sich nichts mehr.

Dorothea spürte Übelkeit, die in ihrem Magen aufstieg. Sie musste hier weg. Aber ihre Beine rührten sich nicht, ihre Nägel gruben sich in ihre Handflächen. Nicht bewegen. Nicht atmen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Was sollte sie tun? Polizei anrufen? Dies wäre zu laut. Sie hätte es schon früher tun sollen, zu Hause, als sie noch die Wahl hatte! Wut über ihre eigene Dummheit stieg in ihr auf.

Marlene trat zu Kevin. Sie betrachtete ihn wie ein Meisterwerk, das sie erschaffen hatte – ihr Meisterstück.

„Und was ist mit Dorothea?“, fragte Kevin leise. Doch in der Stille klang seine Stimme wie ein Hammerschlag.

Dorotheas Herz raste. Hatten sie sie gesehen? Hatten sie sie gehört?

Marlene legte den Kopf schief, als hätte Kevin sie mit einer unerwarteten Frage überrascht. Sie schien nachzudenken.

„Keine Sorge“, sagte sie schließlich, ihre Stimme so süß, dass Dorothea ein Schauer über den Rücken lief. „Wir werden sie trösten. Sie wird keine Gefahr sein. Der liebe Neffe…“ Sie legte ihre Hand wieder auf Kevins Schulter, ihr Lächeln kalt und schneidend. „…er wird sich gut um sie kümmern, ihr bei der Führung des Busunternehmens helfen, vielleicht es später übernehmen – da es keine weiteren Erben gibt. Nicht wahr, Kevin?“

Kevin sagte nichts. Seine Augen glitten plötzlich zu der Öffnung im Güterwaggon, trafen Dorotheas Blick und hielten ihn einen Moment lang. Dann sprang er auf und rannte los.

Einige Zeit später erschien folgender Artikel:

Mutiger Journalist deckt Mordserie auf – und bezahlt mit seinem Leben

Eine Welle der Erleichterung, aber auch tiefer Trauer erfasst Frankfurt.

Der Journalist Christian Pfeiffer hat mit seinem Mut die mysteriösen Mordfälle der vergangenen Wochen aufgedeckt – und dabei sein eigenes Leben verloren.

„Er hat nicht weggesehen, als es darauf ankam“, sagte der Chefredakteur der Zeitung, Magnus Resch, für die Pfeiffer tätig war. „Er war ein Vorbild für uns alle. Sein Name steht nun für unerschütterlichen Einsatz für die Wahrheit.“

Wie jetzt bekannt wurde, trug Pfeiffer eine winzige versteckte Kamera im Kragen seines Hemdes, mit der er entscheidendes Beweismaterial filmte. Laut Polizeisprecherin Claudia Meier liefern die Aufnahmen von Pfeiffer erschütternde Einblicke. „Der Journalist hat Dinge festgehalten, die uns ohne seine Hilfe verborgen geblieben wären“, erklärte Meier in einer Pressekonferenz. Die Pastorin, die bisher als geachtete Gemeindeleiterin galt, wurde noch am selben Abend in Gewahrsam genommen. Ihr wird vorgeworfen, an mehreren Mordfällen beteiligt gewesen zu sein.

Während die Festnahme der Pastorin und die Flucht ihres Sohnes die öffentliche Aufmerksamkeit fesseln, bleibt eine weitere Frage offen: Wo ist Dorothea Berger, die Gattin des ermordeten Inhabers des örtlichen Reiseunternehmens? Sie gilt als vermisst. Ob es eine Verbindung zu den Taten gibt, wollte die Polizei auf Nachfrage nicht bestätigen.

Abgrundtiefe Abgründe
»Ihr seid ja alle völlig wahnsinnig«, rief Doro. Sie springteufelte hinter einer abgestellten Palette mitten hinein in die Szene. »C’mon gimme a break! Marlene ist die Schwester von Dir, Richard? Und die Freundin von Maria, die wiederum das verschiedene Liebchen von Mr. Kaffeemaschine hier ist?« Sie überlegte kurz, ob sie sich aus symbolischen Gründen ein Büschel Haare ausreißen sollte. »Und der Kerl, der sich für läppische zehn Mille von seiner Medulla oblongata verabschiedet hat ist Klaus Töpfer, so wie: Klaus Töpfer, ehemaliges Bundestagsmitglied, ehemaliger Umweltminister? Jungs, die CDU wird Euch die Scheiße aus dem Leib verklagen! Und woher weiß ich überhaupt, was eine Medulla oblongata ist?«

»Doro«, rief der Unbekannte. »Reißen Sie sich zusammen! Was machen Sie überhaupt hier. Sie sollten zu Hause bei den Kindern sein.«
»Ooooooh! Wir haben doch gar keine Kinder, Du Depp!« Sie schüttelte die lange lockige Löwenmähne, die zuvor noch nie jemand bemerkt oder gar beschrieben hatte. »Du hast in Deiner eigenen verf***** (@michel So geht das nicht. Wir streichen das. Dein Papy-Team), gr*******, dra****** Geschichte grottig recherchiert.«

Richard Bergers Hand zitterte, als er die Pistole in seiner Hand betrachtete. Ein schlechtes Klischee, dachte er. Außerdem das Wort Hand zweimal in einem Satz.
»Dorothea, Schatz, was ist hier los?«
Doro rümpfte die Nase und ihr Glitzerpiercing glänzte im Kunstlicht, wie Edward bei Sonnenlicht. »Deine ‘Schwester’ Richard, was macht sie doch gleich beruflich?«
»Sie, sie ist Pastorin.« Richard Bergers Stimme zitterte. Wieder ein Klischee. Diesmal aber ohne Wortdopplung.
»Whhhhoo-AAAA!« Doro riss die Hände zum Himmel. »PASTORIN! Warum nicht Bürokauffrau? Warum nicht Verwaltungsfachangestellte? Arzthelferin? Noch mehr Theatralik ging wohl nicht? Jungs, Ihr steckt mächtig im Anus des Bären, der Euch hier aufgebunden wird.« Sie deutete mit einer Drehung aus dem Handgelenk auf die Webcam. »Und macht das da aus. Ich nehme normaler Weise Geld dafür vor so einem Ding zu sitzen. Minutenpreis. Da kommt ihr nicht mit zehn Riesen aus, Mädels.«

Der Unbekannte trat aus den Schatten, die sein Gesicht bislang verbargen. Es war jemand, den man kennen konnte, aber nicht musste. Er hielt in jeder Hand plötzlich eine Kettensäge, nein, eine Axt, denn das ist spannender im Nahkampf, der noch folgt. »Richard Berger! Sie wissen, was Sie zu tun haben«, sagte er.
Stille durchbrach die Spannung, wie ein Toastbrot, das einfach nicht aus dem Toaster springen will. Irgendwo im Hintergrund zischte eine Reichsflugscheibe über den nächtlichen Horizont.

Berger öffnete weit den Mund, hob die Pistole und setzte sie an seine Schläfe.

»Mooooo-ment.« Christian Pfeiffer hatte in der Zwischenzeit Kaugummiblasen gemacht, konnte aber die Situation nicht länger ertragen. »Bevor ich online Redakteur bei ‘Mein schöner Gemüsegarten’ und ‘Strickmuster für lespische Yogalehrerinnen’ wurde habe ich etwas völlig überraschendes, unerwartetes, ungeheuerliches in meiner Vorgeschichte erlebt, das niemand von Euch kennen kann.«
»Christian, WAS?« Doro nahm die Hände wieder runter. »Und lesbisch schreibt man mit ‘b’.«
»Es war 1955. In Hamburg oder Köln. Ich jobbte als Kneipenwrestler, als… «
»Christian, 1955 warst du noch haploid.« Doro runzelte kurz die Stirn, sodass selbst die Falten faltig wurden. »Wir haben zwar nie über Dein Alter gesprochen, aber das kommt echt nicht hin.«

Pochpoch-POCH! Pochpoch-POCH! Pochpoch-POCH!
Es klopfte, nein pochte, an die Wände des Waggons. Ein wenig war es ein ‘Another one bites the dust’ Poching (es ist ein englischer Song), aber das mag täuschen.

Ein Mann steckte den Kopf durch die geöffnete Schiebetür und kletterte so mühelos wie ein Siebenschläfer hinein. Der Fremde trug einen dunkelblauen Anzug, der ohnehin bei den Lichtverhältnissen schwarz aussah. Der Anzug, nicht der Mann.
»Matthäus 7,7. ‘Klopfet an, dann wird Euch aufgetan’, Herr Berger.« Der Mann lächelte ein bartloses kaltes Lächeln, denn er hatte keinen Bart und es war, nun ja, kalt. »Darf ich Sie alle nun zur Laterne begleiten, wo Marlene auf uns wartet? Es wird sonst zu spät.«

»Es REICHT! Am Ende sollt Ihr erfahren, wer das wahre Mastermind hnter diesem teuflischen Plan ist!« Der unbekannte Mann ™ trat vor und mit einer schwungvollen Geste riss er sich die Maske vom Gesicht.
»Oh, nein«, keuchte Pfeiffer. »Es ist…«

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+++diese Episode wurde Ihnen präsentiert von Froid&Leid. Ihr Fachinstitut für mentale Gesundheit. We care. +++

			**Was bisher geschah:**

Der unbekannte Mann ™ trat vor und mit einer schwungvollen Geste riss er sich ohne viele Worte die Maske vom Gesicht.

**Intro / Vorspann / irgendetwas von Shirley Bassey gesungen**

»Oh, nein«, keuchte Pfeiffer. »Es ist…«
Reste von billigem Theaterlatex zogen sich in langen Fäden von den Wangen, wie eine zu dick gewordene Bechamelsauce, die mir nie so richtig gelingen mag.
Zum Vorschein kam – dasselbe Gesicht des unbekannten Mannes ™.
»MUAHAHAHAHA!« Er grinste beetzlebüberisch. »Ich bin es! Der lang verschollen geglaubte eineiige Zwilling meines Bruders!«
»Hören Sie auf mit dieser furchtbaren Lache«, rief Doro. »Vielleicht muss das irgendwann mal jemand bei Audible vorlesen. David Nathan können wir jetzt vergessen!«
»Ich kapier’s nicht.« Christian Pfeiffer nahm von irgendwoher einen Schluck Kaffee. Altmodischen. Kein Schicki-micki-Kram, aber auch keine Instant-Brühe. »Wie hatte uns das alles entgehen können? Hätte es nicht irgendwelche … Zeichen geben müssen?«

Der unbekannte Mann ™ rumpelstilzelte einmal im Kreis. »MU…« Er hielt inne. »Hihi. Es war die ganze Zeit vor Euren Augen. Während Ihr Euch dem naheliegenden zugewandt habt, habe ich die ganze Zeit im Untergrund die wahre Hauptstory vorangetrieben.«
»Oh nein, rief Doro.« Dann korrigierte sie sich. »Oh nein«, rief Doro. »Es ging nie um die vordergründige Geschichte auf Platz 1. Hinter der ersten Fassade lauert die ganze Zeit das Böse – übrigens grandiose Analogie mit der Maske. Für alle, die den Hinweis brauchen.«
»Danke.« Der unbekannte Mann ™ nestelte aus Verlegenheit ein wenig an einem Axtstiel. »Vril, die teuflisch geheime Geheimorganisation hat den Gedankenmanipulator von Fritz Lang realisiert und so die armen Nebencharaktere in den Tod geschickt.«
»Und Marlene?« Richard Berger grübelte so laut, dass es über ihm kleine Fragezeichen knisterten.
»Offensichtlich.« Christian Pfeiffer bedachte ihn mit einem abschätzigen Blick.
»OFFENSICHTLICH!« riefen alle anderen gleichzeitig.
Richard Berger schämte sich ein wenig. Er hatte dem zweiten Platz zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt, um noch mitzukommen.

»Marlene hat das alles durchschaut.« Doro bereitete sich auf einen langen Schlussmonolog vor. »Sie wollte es publik machen und hatte Pfeiffer kontaktiert. Dieser sammelte Beweise, bis er strafversetzt wurde. So hatten Berger mit den Nummern der Reisepässe der Mitglieder von Vril und Pfeiffer mit seinen Recherchenotizen genug in der Hand, um die ganze Organisation auffliegen zu lassen.«
»Ja, dann bleibt ja nur noch…« Christian Pfeiffer zog sich das Hemd aus.
»Der finale … Endkampf.« Der unbekannte Mann ™ stieß die Klingen der Äxte gegeneinander, was unrealistischer Weise Funken stoben ließ.

Es folgt ein unglaublich spannender Zweikampf mit freiem Oberkörper von Christian Pfeiffer. Viel hin und her, ein paar Mal fast von der Axt getroffen. Am Ende rettet eine Flasche Babyöl den Helden, der so einem tödlichen Würgegriff des Gegners entkommen kann und diesen vor einen vorbeirasenden Wanderzirkus stößt.
Wie am Ende üblich, half niemand der Umstehenden bei diesem Kampf.

Marlene stand die ganze Zeit einsam an einer Laterne und wartete auf Rettung. Zwischenzeitlich war ein Pizzaservice gekommen, denn das ganze Drama hatte ja länger gedauert. Bis auf die nächtlich eingespielten Zikaden war es still in der Großstadt.

ABSPANN: ENDE

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(c) Michel #michelschaemtsich

Info: Es wurden keine Tiere bei der Erstellung dieses Teils verletzt oder kamen zu Schaden. Ähnlichkeiten zu lebenden Personen sind zufällig. Außer Klaus Töpfer. Aber das ist Montys Problem.

Geschwisterliebe

„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier.“ Bergers Stimme überschlug sich. Schweißtropfen perlten auf seiner Stirn und sein Atem ging schwer.
Pfeiffers Eingeweide schienen sich zusammenzuziehen, als der Reisekaufmann die Pistole hob und sich die Mündung an die Schläfe drückte.
„Ich bin ein Schwein, ein … ein Ausbeuter …“
„Nein, warten Sie!“, rief Pfeiffer und wusste selbst nicht worauf. Er wusste nur, dass er die rötlich-graue Wolke nicht live erleben wollte. Dass ihm schlecht war, wie nie zuvor.
„Ein K … Ka … Kapitalist!“ Berger schrie das letzte Wort heraus. Jeder Muskel in seinem Körper schien sich anzuspannen in Erwartung des Endes.
Pfeiffer kniff die Augen zu. Ohrenbetäubend laut hallte der Schuss durch den Waggon und kurz hörte Pfeiffer gar nichts mehr. Dann Bergers abgehackte Atemstöße.
Pfeiffer blinzelte. Sah sich um. Berger stand noch. Der selbst ernannte Rächer des Unrechts jedoch, lag rücklings in einer Blutlache. Er war nicht tot, sondern tastete nach der Pistole, die er zu spät wieder aus der Jackentasche hervorgezogen haben musste und die ihm nun entglitten war. Seine Augen waren weit aufgerissen. Wie bei Marlene. Marlene!
Pfeiffer stürzte zu dem Verletzten hin, ließ sich neben ihm auf die Knie fallen und schob die Waffe außer Reichweite. Dann zog er den Mantel aus, knüllte ihn zusammen und presste ihn dem Mann auf die Brust. Genau auf die Schusswunde, die bedenklich nah am Herzen lag. Was für ein Hohn. Hier saß er und versuchte verzweifelt, einem Verbrecher das Leben zu retten, den er am liebsten in Stücke reißen würde.
„Wo ist Marlene?“, fragte er mit aller Gefasstheit, die er aufbringen konnte. „Sagen Sie es mir, ich flehe Sie an. Berger, rufen Sie die Polizei und einen Notarzt.“
Der Mann am Boden lachte. Ein schauderhaftes, nasses Röcheln. Pfeiffer musste an sich halten, um ihn nicht zu ohrfeigen.
„Wo ist sie? Sagen Sie es. Was haben Sie denn von ihrem Tod? Sie verdient es nicht, so elend zu sterben. Das wissen Sie.“
„Wir verdienen es alle“, flüsterte der Mann kaum hörbar, lächelte Pfeiffer mit blutverschmierten Zähnen an und verlor das Bewusstsein.
„Mist! So ein Mist! Berger, der Notarzt! Worauf warten Sie denn? Berger!“
Pfeiffer drehte sich um und erstarrte. Statt seines Handys hielt Berger die Pistole des Täters in der Hand und blickte unschlüssig darauf herab. Pfeiffer wurde eiskalt, als ihm aufging, worüber dieser kleine Drecksack gerade so angestrengt nachdachte.
„Tun Sie es nicht, Berger. Wenn Sie mich erschießen, machen Sie sich zum Mörder. Diesmal wirklich. Das da in der Ecke ist eine Webcam. Die überträgt die ganze Aufnahme sofort ins Internet.“
„Nein. Nein, das glaube ich nicht. Warum hätte er sonst gewollt, dass Sie das Video auf der Seite Ihrer Zeitung hochladen?“
Wahrscheinlich hatte Berger völlig recht und das Video wurde erst einmal irgendwo lokal gespeichert. Mist, Mist, Mist.
„Na, wegen der Reichweite, natürlich. Damit es auch diesmal wieder viral geht. Legen Sie die Waffe weg, Berger. Der Mann atmet noch. Vielleicht ist er noch zu retten, wenn wir jetzt sofort Hilfe holen. Dann kann er uns sagen, wo Ihre Schwester ist. Denken Sie an Marlene!“
Berger rann eine Träne über die Wange und sein Kinn zitterte. Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, ruckartig die Pistole zu heben, als Pfeiffer aufstand.
„Marlene? Marlene würde sowieso nie wieder mit mir reden, wenn rauskommt, was ich mit den Frauen im Venustempel zu tun habe. Und Dorothea auch nicht. Es tut mir leid, Pfeiffer. Aber ich will mein Leben zurück. Ich will einfach nur mein Leben zurück. Ich habe doch auch nur ein einziges.“
Pfeiffers Gedanken rasten. Berger war kein Idiot. Er musste von Anfang an geahnt haben, dass der Tote vor seiner Haustür etwas mit den Busreisen zu tun hatte. Wegen der zehntausend Euro. Es war auch nicht wirklich sein Gewissen gewesen, das ihn seitdem so gequält hatte. Eher Selbstmitleid und die Furcht, seine unlauteren Geschäfte könnten ans Licht kommen. Und bestimmt hatte er sich heute nicht nur aus Sorge um seine Schwester so vehement dagegen gewehrt, die Polizei einzuschalten. Dennoch … ein abgebrühter Verbrecher war er nicht. Pfeiffer hob beschwichtigend die Hände.
„Warten Sie, Berger. Hören Sie mir zuerst zu.“
Wenn er geschickt log, könnte er Berger vielleicht davon überzeugen, dass er ihm helfen würde, die Beweise zu vernichten. Dass er der Polizei nichts erzählen würde, da er sich ja selbst auch nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, was die Sache mit dem Venustempel betraf. Auch er hatte weggesehen. So wie halb Frankfurt wegsah. Im Grunde ahnten doch alle, dass es in Etablissements wie dem Venustempel nicht immer mit rechten Dingen zuging. Vielleicht wusste es auch Marlene. War sie nicht Teil eines ehrenamtlichen Seelsorgeteams für Frauen aus dem Rotlichtmilieu? Maria hatte ihm mal so etwas erzählt. Hatte auch Marlene weggesehen?
Ja, er wusste genau, was er Berger alles sagen sollte. Doch nichts davon brachte er über die Lippen. Er warf einen schnellen Blick auf den Verletzten. Nein … den Toten. Ach, Marlene. Pfeiffer wurde das Herz schwer. So schwer, dass es ihn fast zu Boden riss. Zu spät, zu spät. Vorbei.
„Sie feiges, egoistisches, opportunistisches Wiesel“, brach es aus ihm heraus. „Stehen da und bemitleiden sich. Während Ihre eigene Schwester gerade in einem Kellerloch verreckt. Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Ka … “
Wieder hallte ein Schuss. Sengender Schmerz. Wir verdienen es alle. Oh, Maria …

„Wie geht es ihm?“
Egon Paffrath, langjähriger Familienfreund der Bergers und Diakon ihrer Kirchengemeinde, blickte an Dorothea vorbei ins Wohnzimmer, wo Richard mit hängenden Schultern auf dem Sofa saß. Den Kopf gesenkt, die Hände gefaltet.
Dorotheas Brust zog sich zusammen vor Mitgefühl, wie so oft, in letzter Zeit.
„Nicht gut, Egon. Gar nicht gut. Komm, ich mache uns erst einmal einen schönen Cappuccino.“
„Gerne, Doro. Danke.“ Der Diakon folgte Dorothea in die Küche. „Er braucht Zeit, weißt du? Zuerst der Wahnsinn vor eurer Haustür und das Video. Dann musste er mit ansehen, wie Marlenes Entführer und dieser zwielichtige Journalist sich gegenseitig erschossen haben. Und dazu noch die Angst um seine Schwester. Kein normaler Mensch würde das einfach so wegstecken. Richard ist traumatisiert.“
„Ja, da hast du sicher recht.“
„Warum ausgerechnet Richard? Ich verstehe es einfach nicht. Der Täter wurde doch mittlerweile identifiziert, nicht wahr?“
„Niemand versteht es, Egon. Der Täter war Bulgare. Er hielt sich wohl schon einige Jahre in Deutschland auf, aber laut der Polizei ist er aufgewachsen in einem Waisenhaus in Sofia. Was ihn zu seinen Gräueltaten gebracht hat, werden wir wohl nie erfahren. Richard will es auch gar nicht wissen. Er sagt, der Mann sei einfach ein Verrückter gewesen.“
„Und ihr habt immer noch nichts von Marlene gehört?“
„Nein. Nichts.“ Dorothea riss ein Blatt von der Küchenpapierrolle neben dem Kaffeevollautomaten und tupfte sich die Tränen von den Wangen.
Kein Mensch wusste, wo ihre liebe Schwägerin war. Nur das Kellerloch, in dem sie gefangen gehalten worden war, hatte die Polizei gefunden. Ein Stück Panzertape hatte dort gelegen. Durchtrennte Fesseln und die scharfkantige Fliesenscherbe, mit der Marlene sich befreit hatte. Und … ein kleiner Bildschirm. Es war der Polizei bis jetzt nicht gelungen, irgendeine Aufnahme sicherzustellen. Doch hatte es den Anschein, als sei alles, was in diesem unglückseligen Waggon passiert war, live zu Marlene übertragen worden.
Diese Nachricht hatte Richard völlig aus der Bahn geworfen. Das Wissen, dass seine arme Schwester das Blutbad miterlebt hatte. Gesehen und gehört hatte, wie er um ihr Leben flehte und dem Täter sogar angeboten hatte, sich für sie zu opfern. Es musste ihr das Herz gebrochen haben.
Von Marlene fehlte jede Spur. Sie könnte erneut einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein. Die Polizei hielt es jedoch genauso für möglich, dass sie verstört und verwirrt irgendwo untergetaucht war. Sich aus irgendeinem Grund außerstande fühlte, nach Hause zu kommen.
Die Ungewissheit war zermürbend. So furchtbar zermürbend, dass Richard beinahe hoffnungsvoll gewirkt hatte, als man letzten Mittwoch eine Frauenleiche am Mainufer gefunden hatte. Nur um den Rest des Tages vor Erleichterung zu weinen, als sich herausstellte, dass es doch nicht Marlene war.
„Wir beten für euch, Doro. Bei den wöchentlichen Gebetstreffen und auch gestern nach dem Hauskreis bei den Schlüters. Für euch und vor allem für ein Lebenszeichen von Marlene.“
Dorothea nickte. Der Kaffee war fertig. Sie reichte Egon eine der dampfenden Tassen und gemeinsam gingen sie zum Wohnzimmer, wo Richard immer noch in gleicher Pose verharrte. Diese tiefe Geschwisterliebe rührte Dorotheas Herz. Dass alle für Marlenes sichere Heimkehr beteten, war gut und schön.
Doch niemand … wirklich niemand, betete so verbissen wie Richard.

Dorotheas Entschluss

Berger sah auf die Pistole, die er in den Händen hielt, ließ die Waffe sinken, suchte Kontakt zum Gesicht des Unbekannten, scheiterte, drehte seinen Kopf zu Pfeiffer, richtete seinen Blick auf den Boden und brachte schließlich hervor: «Ich, es tut mir leid Dorothea, bin ein Sünder.»
Pfeiffer riss die Augen auf.
Berger sah endlich in die Kamera. «Und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern.» Dann setzte er an.
Pfeiffer wartete auf den Knall. Es blieb still.
«Ich kann nicht, ich kann es nicht. Dorothea, vergib’ mir!» Er brach in Tränen aus und ließ die Pistole fallen.
Schallendes Gelächter ertönte. «Was für eine Show!» Das Lachen wich wütendem Geschrei. «Sag endlich den Satz, du armseliger Wurm! Ich bin Richard Berger … Los doch! Sag es!»
«Es reicht», schrie Pfeiffer. «Aufhören! Ich kann nicht mehr. Ich lade nichts mehr hoch, nie wieder!» Er hob die Waffe auf. Ein Schuss fiel. Berger zuckte zusammen und auch der Unbekannte verlor kurzfristig die Fassung. Pfeiffer sank zu Boden. Für einen Moment konnten die Männer nichts mehr hören. In ihren Ohren piepste es.

Er wäre spazieren gewesen. Ja. Er wüsste, dass das Gelände nicht betreten werden darf, aber sein Rottweiler vertrüge sich nun mal nicht mit anderen Hunden. Deswegen könnte er ihn nirgendwo frei laufen lassen. Normalerweise triebe sich da sowieso nie jemand rum. Ja. Benito wäre bissig. Aber keinesfalls unruhig. Oder selten zumindest. Doch vorhin … Er hätte absolut nicht hören wollen, kläffte sogar, was Benito normalerweise kaum täte. Knurren? Ja. Aber bellen? Nein. Außerdem wollte er sein Geschäft nicht machen, obwohl es dringend gewesen wäre. «Isch gäb’s zu. Heut war isch spät dra. Normalerweis vernachlässisch isch den Hund net. Heut kam’s anders aus. Sie wisse ja, wie des manchmal is», sagte er dem Polizisten, «jedefalls, dann de Schuss. Da musset isch doch de Polizei hole. War des falsch? Isch möscht kei Ärger. Sie wisse scho, wegge Leinepflischt un Gelände beträte, also unbefucht. Wird des teuer?»
Nebenan wurde Berger befragt. Er winselte wie ein kleines Kind, sagte leise immer wieder Dorotheas Namen und wie leid ihm alles täte. So viele Tote. Durch seine Schuld. Durch seine große Schuld. Eine heiße Tasse Kaffee beruhigte ihn etwas. Die Polizistin verstand ihren Job. Sie ließ Berger Zeit, sprach mit ruhiger Stimme zu ihm. Endlich begann er zu erzählen.
Der junge Mann, einen Verhörraum weiter, gab nur widerspenstig Auskunft. «Herrgott nochmal! Das haben Sie da doch schon stehen. Magnus.»
«Ich habe Sie nach ihrem Vornamen gefragt.»
«Was soll das? Name, haben Sie gesagt, Name. Leiden Sie an Demenz? Sören. Sören. Sören. Kapiert?»
Die Polizistin zeigte Nervenstärke. «Sie heißen also Sören Magnus und sind der Sohn von Konstantin Magnus. Ist das richtig?»
Sören gab keinen Laut von sich.
«Sagen Sie uns bitte, in welcher Beziehung Sie zu Klaus Töpfer stehen.»
«Beziehung? Es gibt keine Beziehung. Sie sind nicht ganz bei Trost.»
«Gut. Es geht auch anders. Wir sehen uns in drei Stunden wieder. Abführen.»

In der Zwischenzeit nahm sich die Beamtin das von Berger unterschriebene Protokoll seiner Aussage vor:
«Es fing alles ganz harmlos an. Zuerst hatte ich Glück mit den Aktien. Die Ernüchterung ließ nicht lange auf sich warten. Ich brauchte Geld, um das Reisebüro nicht zu verlieren. Dorothea wusste von alldem nichts. Die Fahrten von Sofia nach Frankfurt stellten überhaupt kein Problem dar, zumal Marlene den unauffälligsten Beruf von uns allen hatte. Die würde niemals verdächtigt werden, dachten wir. Sie war das Bindeglied zu Christian Pfeiffers Frau Maria, die ich nie kennengelernt habe. Sie organisierte gewisse Partys, das wusste ich, feudale Essen auch, natürlich mit den richtigen Leuten. Marlene hat mir von ihr Adressen besorgt, ich habe Buchungen veranlasst. Mehr habe ich nicht getan. Kassiert habe ich. Sonst nichts. Zehntausend für jeden Transfer – Menschentransfer, das stimmt. Aber getan habe ich denen doch nichts. Ich konnte doch unser Geschäft nicht aufs Spiel setzen. Nächsten Monat wäre ich ausgestiegen. Die Verluste durch die Börsengeschäfte waren gerade wieder ausgeglichen, als dieser Typ bei uns geklingelt hat. Wir wollten doch zur Kirche. Dorothea wegen der Messe, ich selbst zum Beichten.»

«Sie sagen uns jetzt umgehend, wo Sie Marlene Romero gefangen halten.»
Sören Magnus blieb stur, bis die entscheidende Nachricht einging.
«Danke, Herr Magnus. Wir brauchen Sie dann nicht mehr. Sie bekommen eine schöne Zelle.»
«Wie bitte? Sie brauchen mich nicht mehr? Wollen Sie mich verarschen?»
«Da Sie nicht mit uns kooperieren wollten, haben wir Ihren Vater kontaktiert. Er ist deutlich umgänglicher als Sie. Als er von Christians Tod erfahren hat, sah er keinen Sinn mehr, weiter zu schweigen. Er wollte nicht noch mehr Menschen auf dem Gewissen haben.»
«Aha.» Sörens Coolness kam zurück. «Das ist alles?»
Die Beamtin legte ihr Smartphone so auf den Tisch, dass er die Nachricht deutlich lesen konnte: KM ist geständig. MR wurde gefunden.

Dorothea Berger lag mit Kopfschmerzen im Bett. Ihr Mann, ein Schlepper, ohne den es das Drama nie gegeben hätte, seine Schwester eine abtrünnige Pastorin und Christian Pfeiffer, ein Reporter, der nur sterben musste, weil sein Chef nebenher ein Bordell namens Venustempel betrieben hat, das neben dem Geschäft mit Sex noch andere Dienstleistungen anbot. Die Schlagzeilen des heutigen Tages vermischten Tatsachen mit Vermutungen, Spekulationen und Hassreden in sämtlichen Medien. Die Ereignisse schwirrten durch ihren Kopf, gekrönt durch einen Anruf von Konstantin Magnus, der einen Funken Anstand vermuten ließ. «Rufen Sie Hilfe in Ihr Haus. Sofort! Stellen Sie keine Fragen. Beeilen Sie sich!»
Die Polizei räumte die Flaschen beiseite und öffnete die geheime Tür hinter dem Weinregal. Diesen Anblick wird Dorothea ihr Leben lang nicht mehr vergessen. Sie musste sich wegdrehen und dennoch … Einen Notarzt brauchte Marlene Romero jedenfalls nicht mehr. Gleich morgen würde Dorothea eine Kerze für sie anzünden und danach einen Scheidungsanwalt aufsuchen.

Susanne Kowalsky

Die Verschränkung der Universen

Die Wiener Gruppeninspektorin Tina Bummel (Keine Witze über ihren Namen!) sah den Polizeischüler streng an. „Inspektor gibt’s keinen“, ätzte sie, „nur eine Inspektorin! Oder brauchst ein Seminar in Gendern, du Sacklpicker?“
„Sorry“, stotterte der junge Mann, „aber da ist so ein Typ, der kommt direkt aus Amerika. Sagt, es sei wichtig.“
„Na dann soll er reinkommen“, seufzte Tina. War nicht gestern erst diese kleine Japanerin aufgetaucht, ein Schwert im Rucksack und auf der Suche nach einem gewissen Pfeiffer? Was war los in diesem Land, alle auf Speed hier, oder was?
Der Mann war kein Amerikaner, sondern seinem Akzent nach Deutscher, trug aber einen irischen Namen, einen zerknitterten Trenchcoat und einen Fedora-Hut. „O’Law“, stellte er sich vor, „Nick O’Law!“
Keine Witze über Namen, dachte Tina und verbiss sich ein Lachen. „Was wollen Sie?“
Nick setzte sich und begann zu erzählen. Tina sah die ganze Zeit dabei aus dem Fenster und beobachtete die Touristen, die über den Stephansplatz flanierten und sich von als Mozart verkleidete Studenten sündteure Karten für drittklassige Konzerte andrehen ließen. Als O’Law seinen Bericht beendet hatte, drehte sie sich um.
„G.R.I.N.C.H. heißt diese Organisation?
Nick nickte. Was sollte er auch sonst tun mit diesem Vornamen.
„Und der Verdächtige Kürbisovic?“
Wieder bestätigte er Tinas Aussage.
„Heute, am Psychotherapeutenkongress, soll das stattfinden?“
„Genauso ist es.“
„Na als dann, geh‘n wir‘s an!“

Anna und Supergirl hatten sich in den Fond des 2CV begeben, Marlene saß vorn, neben Ronald, der seinen Studentenboliden zielsicher durch den Abendverkehr Frankfurts steuerte. Auf der Leunabrücke überholten sie einen klapprigen Opel. Aus den Augenwinkeln nahm Marlene das Gesicht des Fahrers wahr und beim zweiten Hinsehen auch das des Beifahrers.
„Mann, das gibt’s doch nicht!“, rief sie aus, „Pfeiffer und Berger!“
„Wie, was?“, rief Anna aus und auch Supergirl zeigte sich erstaunt. „Ich hab‘ Pfeiffer und seine Familie doch nach Sommerhausen gebracht, was macht der Spinner jetzt hier?“
„Ja, keine Ahnung“, antworte Marlene, „aber die beiden waren es zu 100%!“ Und zu Ronald: „Lass mich an der nächsten Ecke aussteigen, ich geh der Sache nach. Ihr seht zu, dass ihr nach Würzburg kommt und Jacobsen findet!“
Das fanden alle für die beste Idee und genauso machten sie es auch. Während Marlene ein Taxi requirierte, vibrierte ihr Handy. Sie puhlte es mit einer Spur von Bedauern aus der Hosentasche und warf einen Blick darauf. Wien, dachte sie, was wollen die Ösis von mir?
Ronald lenkte den Wagen über die Elisabethenstraße auf die A3, ließ Offenbach links liegen, überquerte bei Stockstadt den Main und fand sich dreißig Kilometer weiter in einem riesigen Stau wieder. Zu spät machte er das Autoradio an, um den Verkehrsfunk zu hören: „Im Raum Aschaffenburg kommt es wegen einer Demonstration zu umfangreichen Verkehrsbehinderungen. Es wird empfohlen, großräumig über Leipzig oder Luxemburg auszuweichen.“
„Welche Demonstration?“, wollte Anna wissen.
„Ja wer schon, diese verdammten Klimakleber!“, fluchte Donald, „die WWFF!“
WWFF? Was soll denn das sein?“, fragte nun auch Supergirl. Selbst sie konnte nicht alles wissen, was sich derzeit an Selbstdarstellern in diesem Land herumtrieb.
Whole Week for Future, so nennen sich diese Chaoten jetzt“, erklärte Ronald.
„Also über die Chaostheorie können wir ein anderes Mal diskutieren“, meinte Anna, „die wichtigere Frage ist, wie kommen wir jetzt nach Würzburg?“
„Ronald bringt den Wagen zurück und wir fliegen!“, schlug Supergirl vor, „Schon vergessen, dass ich das kann, Anna?“
„Natürlich nicht, aber meine Akrophobie!“
„Quatsch nicht rum, Frau Doktor, halt dich fest an mir und los gehts.“

So also sehen Engel aus, dachte Alfred Zweistein, als sich in seinem Labor ein weiblich anmutendes Wesen materialisierte. Knallenge Bluejeans, weißes Rippshirt, schwarze Lederjacke und ein Lächeln, das die Antarktis zum Schmelzen bringen konnte. Wären seine Haare nicht ohnehin dauernd zu Berge gestanden, würden sie es jetzt tun. Zweistein schluckte mit offenem Mund – wie vieles andere auch eine Fähigkeit, die nur Astrophysikern zu eigen ist.
„Ich scheiß mich an“, entfleuchte es dem Mund des Gelehrten.
„Echt jetzt?“, sagte das Wesen, „Ich dachte bei euch begrüßt man sich mit Servas Oida? Aber auch egal, Keck, mein Name, oder wenn sie wollen, auch Andrea von und zu Eschbach. Und Sie sind Herr Zweistein, nehme ich an?“
Der Professor nickte kurz und fasste sich wieder. „Sie sind die Kopfgeldjägerin aus Parallax 42?“
„Stimmt. Aber diesmal nicht auf der Jagd nach einem Kopf, sondern im Auftrag der unsichtbaren Universität, kurz: Ridcully schickt mich.“
„Die Wabenwand ist also weiter undicht“, schloss der alte Physiker. „Was war’s? Rincewind wieder?“
„Oh nein, diesmal ist er unschuldig“, erwiderte Fräulein Keck, „Der Fehler liegt bei euch in der Rundwelt. Der ursprüngliche Riss, der bei der Landung der siebzig Eternium-Kapseln aus Proforma Demokratia entstand, konnte schnell verschlossen werden, aber nun öffnen sich die anderen Wände. Grund dafür ist das Update der Daktylus-Software und seine gleichzeitige Kombination mit dem Schreibwettbewerb. Hunderte Autoren schreiben hier ihre Geschichten und das hat nun zu multiplen Rupturen des Raum-Zeit-Kontinuums geführt. Aus allen Paralleluniversen dringen idente Individuen mit identen Geschichten in andere Universen. Das Licht der Phantasie ist quasi zu einer multiversuellen Stroboskop geworden und wenn dieser Wettbewerb nicht bald zu Ende ist, haben wir das absolute Chaos!“
Wieder schluckte Zweistein mit offenem Mund. „Und was tun wir jetzt? Ich bin ein bisserl im Stress, weil die Kollegen Froid und Broccoli gerade die Rundwelt retten.“
„Da machen sie sich mal keine Sorgen“, beruhigte Fräulein Keck. „Die oberste Geschäftsführerin von A.L.L.E.M., Mary Nazarena, hat für das Problem ihren besten Mann geschickt. Nick O’Law. Der wird sich darum kümmern.“
„Und die Sache in Deutschland, an der Anna Froid beteiligt ist?“
„Da ist Supergirl dran, das wird sich ebenfalls geben. Wir aber müssen jetzt und hier in ihrem Labor den totalen Breakdown aller vorstellbaren Welten verhindern!“
„Und wie?“, wollte Zweistein wissen.
Fräulein Keck verriet es ihm.
„Nein, das können Sie nicht tun, um Himmels willen!“, rief Zweistein aus.
„Und ob ich das kann!“, grinste die hübsche Frau sadistisch.

Tina Bummel (Keine Witze über ihren Namen!) und Nick O’Law (ebenfalls keine Witze, bitte!) hatten den schnellsten Weg zum Messegelände am Prater genommen und wollten nun in den Vortragssaal vordringen, doch der Portier weigerte ihnen den Zutritt. „Wenn S‘ keine Karte haben, geht nix.“, sagte er trocken.
Tina zuckte die Dienstmarke. „Hurch amoi du Spinotwochta!“, fuhr sie den Portier an, „Waunst di net sufurt iwa de Heisa haust, gib i da an Brachoida, dass d‘ drei Poor Schuach im Zruckgeh verhatschst!“
Augenblicklich trat der Portier mit einer tiefen Verbeugung zur Seite und flüsterte noch ein untertäniges „Gschamster Diener, gnädige Frau“.
„Können Sie mir das übersetzen, was Sie gerade zu ihm gesagt haben?“, fragte Nick, als sie sich durch die Masse der Konferenzbesucher wühlten.
„Nein“, antwortete die Polizistin, „Wien ist die freundlichste Stadt der Welt und das soll auch so bleiben.“
An der Leitstelle fragten sie nach Froid und Broccoli.
„Essen nur nach Voranmeldung!“, erklärte die Blondine hinter dem Tresen.
Wieder wollte Tina zu einer entsprechenden Antwort ansetzen, doch Nick kam ihr zuvor. „Sieh‘ mir in die Augen, Kleines“, flüsterte er der jungen Dame zu. Und die tat es tatsächlich. „Die Professoren Froid und Broccoli“, raunte Nick verführerisch, „Es ist wichtig! Wenn wir sie gefunden haben, komme ich zurück und wir beide machen uns ein schönes Wochenende in Casablanca, einverstanden?“
Die Blondine strahlte ihn an und Nick dachte: Nur gut, dass sie Ohren hat, sonst würde sie noch im Kreis grinsen. Aber sie sagte ihnen, wo die Wissenschaftler sich auf ihre Vorträge vorbereiten würden.
Nick und Tina hasteten die Treppen hoch.

Dick (auch hier keine Witze über Namen bitte!), Rick und Zack, Donalds Neffen, saßen vor der Playstation und zockten sich durch Fortnite, als Supergirl und Anna in ihr Zimmer in Sommerhausen traten.
„Wo sind die Pfeiffers, Jungs?“, rief Supergirl.
Die drei wandten sich synchron um zuckten genauso synchron mit den Achseln.
„Keine Ahnung“, sagte Zack, „Vielleicht bei Opa Frickel in Ochsenfurt!“
„Wer ist Opa Frickel?“
„Das M im BMW“, kam die rotzfreche Antwort Ricks.
„Versteh ich nicht“, gab Anna zu.
„Alle fränkischen Dörfer bestehen aus BMW“, erklärte nun Dick, „Bäcker – Metzger – Wirt. Und Opa Fränkel ist weder Bäcker noch Wirt!“
„Und was machen die bei einem Metzger?“
„Blaue Zipfel!“, lachte nun alle drei und fanden das offensichtlich überaus komisch. Anna sah konsterniert zu Supergirl.
„Komm wir gehen,“ sagte die, „ich glaub, ich weiß, was die drei Scherzkekse meinen.“
„Was sind blaue Zipfel?“, fragte Anna, als sie bereits auf der Straße nach Ochsenfurt waren.
„Ach vergiss es“, antwortete Supergirl, „Manche Dinge bleiben besser regionale Spezialitäten.“

Im selben Moment, indem Moritz Ballaballa begann, die Szene aufzunehmen zog Lila Luzi, vom japanischen Geheimdienst Stählerne Kirschblüte ihr Katana aus der Scheide. Die Klinge schickte einen hellen Ton durch die Industrieruine, in der sie Pfeiffer und Berger gefolgt war und hier auf den Yakuza-Boss der Kantenwelt traf.
Uragirimono ni koufuku suru!“, rief sie!
Ballaballa fuhr herum. „Niemals! Ich gehe nicht mehr zurück nach Wakusei 37!“
Sorenara koko de shinu yoi“, bekam er von der zierlichen Japanerin zurück. Aber die zarte Figur war wie alles an ihr, vom Schottenröckchen bis zu den Pigtails, reine Täuschung. Blitzschnell griff Ballaballa in die Innentasche seiner Jacke und zog eine Tokareva hervor. Eine Kugel war immer schneller als das schärfste Schwert. Doch dann schob sich ein Schatten in sein Schussfeld und er ließ die Waffe sinken.
„Marlene? Oder Marie Luise? Oder Lena-Marie? Oder wer, verdammt?“
„Ihr hört sofort auf, mit dem Scheiß hier!“, rief Marlene (aka Marie Luise, aka Lene-Marie aka usw.). „Das ist alles nur ein Riesenirrtum, nichts als eine Fantasie, die sich ein paar Hobbyautoren ausgedacht haben und die sich mit unserer Realität vermischt hat.“
„Was soll das heißen?“, kam es nun von Berger und Pfeiffer fast gleichzeitig.
„Das heißt, dass alles nicht real ist. Ihr seid einfach nur Figuren in irgendeiner Kurzgeschichte. Besser gesagt in Dutzenden Kurzgeschichten aus Dutzenden Welten gleichzeitig. Aber wenn einer von euch hier in dieser Welt, in dieser Geschichte getötet wird, dann verändert das alle Geschichten in allen Welten. Die Zeit wird zerstört! Und wisst ihr was passiert, wenn die Zeit zerstört wird?“
Alle vier, Berger, Pfeiffer, Ballaballa und Lila Luzi, blickten zu Marlene (oder wie immer sie heute heissen mochte) hin und schüttelten ihre Köpfe.
„Wenn es keine Zeit mehr gibt, kann nichts mehr existieren! Denn alle Existenz ist in jeder Welt stets an Zeit gebunden. Also hört endlich auf, euch umzubringen!“
Luzi senkte langsam ihre Waffe. Und Ballaballa tat es ihr nach.

Andrea von Eschbach hatte sich in den Zentralserver der Universität eingeloggt und sowohl das gesamte WWW als auch alle Radio- und Fernsehstationen gehackt.
„Tun sie es!“, herrschte sie Professor Zweistein an. Der hielt noch immer die silberne Scheibe, die sie ihm vorher gegeben hatte, in der Hand und starrte erst auf den CD-Player, dann auf sie. „Sind Sie wirklich sicher, Fräulein Kick?“
„Ja natürlich bin ich sicher! Ich sagte doch schon, dass wir das bereits einmal so gemacht haben, vor dreißig Jahren, als diese Idioten vom Mars die Erde attackierten. Tim Burton hat sogar einen Film darüber gemacht, aber keiner wollte ihm glauben!“
„Ich erinnere mich“, gab Zweistein zu, „Sie retteten damals die Welt mit einem amerikanischen Jodelsong, aber das hier? Das ist doch alles absolut verrückt!“
„Es ist so verrückt wie die Menschen selbst“, erwiderte Andrea. „Und es ist die einzige Möglichkeit die Wabenwände zu verschließen, denn keine andere Welt im gesamten Multiversum würde sich sowas freiwillig anhören wollen!“
Stimmt, dachte Professor Zweistein. Auch wenn er davon keine Ahnung hatte, so wusste er doch, dass Musik an sich Ton gewordene Mathematik war. Aber das hier … das war einfach nicht logisch! Doch vielleicht war es gerade die Unlogik, die das Multiversum noch retten konnte.
Er schob die CD in den Player und drückte auf die Starttaste. Noch bevor der erste Ton erklang, hatte er seinen Gehörschutz aufgesetzt. Heiliger Isaac Newton, wie er dieses Lied hasste. Last Christmas, von Wham!

Froid und Broccoli waren nicht mehr in den Vorbereitungsräumen. „Die sind schon am Podium!“, hatte Robert Daniel Specht, der Begründer der Unsinns-Theorie, Tina und Nick zugerufen. Also wieder die Treppen runter in den großen Vortragssaal.
Als sie die breite Türe aufstießen, sahen sie, wie Professor Froid, der eben sein Eingangsstatement beendet hatte, das Wort an Professor Kürbisovic übergab und hinter den Vorhang trat. Kürbisovic trat zum Rednerpult, ein siegesgewisses Lächeln aufgesetzt und klopfte mit dem Finger auf das Mikro. Dann stellte er ein seltsames achteckiges Kästchen auf das Pult. Den von ihm modifizierten Orgonakkumulator.
Nick griff nach seiner 44er Magnum, Tina nach ihrer Glock. Ein Wahnsinn, hier in diesem vollbesetzten Vortragsaal zwischen 1400 Gelehrten aus aller Welt eine Waffe abzufeuern, dachte Tina noch, aber wenn das, was O’Law berichtet hatte, stimmte, und sie zweifelte keinen Moment daran, dann mussten sie jetzt schießen!
Doch dann passierte etwas, womit keiner gerechnet hatte.

Pfeiffer (der von unserem Universum) stand in Opa Frickels Schlachtraum und stopfte die Überreste von Jacobsen in den Fleischwolf. Eine eklige Arbeit, ja, aber man würde sich daran gewöhnen müssen, wenn man Neila nicht der Willkür der militärischen Geheimdienste ausliefern wollte. Egal, er hätte alles getan, um seine Nichte zu beschützen. Von Eschenbach hatte er überredet, inzwischen mit einem Hochdruckstrahlgerät das Blut von den verfliesten Wänden zu spülen, was ihm, wie es aussah, durchaus Spaß machte.
Pfeiffers Schwester Maria saß mit Supergirl und Anna in der kleinen Teeküche der Metzgerei. Neila war in ihrem Arm eingeschlafen und lächelte nun im Traum, wobei sie ihre kleinen rasiermesserscharfen Reißzähne zeigte. Die beiden Damen hatten eine ordentliche Portion Fleischkäse dankend abgelehnt, aber Anna die beiden Bocksbeutel für ihren Vater angenommen. Sie hatten nun alles geklärt, für Maria und Neila war der Wahnsinn vorbei. Supergirl hatte versprochen, sich gemeinsam mit Clark Kent um Neilas Exkarnation aus dem kleinen Körper zu kümmern, dann würde Maria ihr Kind wieder vollständig und gesund zurückhaben.
Was mit Neila selbst passieren würde, war noch offen, aber Anna spielte mit dem Gedanken, ob sie nicht ihren Körper zu Verfügung stellen sollte. Gewiss waren ihr die Fähigkeiten Neilas eine große Hilfe in der Arbeit mit ihrem Vater.
Alle anderen Individuen aus den parallelen Universen würden mit Schließung der Wabenwände wieder an ihren Ort zurückkehren, so hatte es ihr Professor Zweistein am Telefon versprochen. Spätestens wenn der Schreibwettbewerb von Daktylus beendet sein würde, wäre dieser Spuk vorbei. Annas einzige Sorge galt nun ihrem Vater. Würde er es schaffen, mit Broccolis Hilfe Kürbisovic zu überwältigen?

Kaum hatte Kürbisovic den Orgonakkumulator auf das Pult gestellt, rief Michel Broccoli aus der ersten Reihe lauthals: „Bugiardo! Improglione! Stupido stronzo!“
„Halten Sie den Mund, Broccoli, Sie welkes Gemüse!“, antwortete Kürbisovic, „Sie werden der erste hier sein, dem ich die wirren Ideen von diesem Dilettanten Froid aus dem Hirn lösche!“
Idiota!“, rief Broccoli wieder, „Sei incapace di pulirti il ​​culo!“
Kürbisovic richtet die Mündung des Orgonakkumulators auf Broccoli. Doch dann brach er plötzlich ab, erstarrte, als wäre er festgefroren. In seinem Nacken bohrte sich ein spitzer Gegenstand, hielt aber kurz inne, ehe er noch die Haut durchdrang.
„Herr Kollege, ich muss doch sehr bitten!“, hörte er die Stimme Froids hinter sich. „Lassen S‘ das Klumpert da einfach fallen, sonst sehe ich mich gezwungen, Ihnen eine auf den Pelz zu brennen!“
Kürbisovic stellte den Orgonakkumulator auf das Pult zurück und hob langsam die Hände.
„Also ehrlich Kürbisovic!“, sprach Froid weiter, „Ich hab‘ Ihnen ja wirklich viel zugetraut, aber dass Sie ihre Profilierungsneurose so wenig im Griff haben, das ist schon traurig! Fehlt ja nur noch, dass Sie in die Politik gehen damit!“
Kürbisovic hatte sich umgedreht und sah nun erstaunt Professor Froid an. Dann fiel sein Blick auf Froids Waffe. „Sie verdammter Narr!“, rief er aus und wollte sich mit bloßen Händen auf ihn stürzen. Im letzten Moment wurde er aber von Nick O’Law (Keine Witze!) daran gehindert, der ihm die Arme auf den Rücken drehte. Tina Bummel (Keine Witze hab ich gesagt!) legte ihm die Handschellen an.
„So, Herr Oberg‘scheit, jetzt geht’s einmal ins Komissariat.“, erklärte sie zufrieden „Dort können S‘ dann vorm Untersuchungsrichter klugscheißen, soviel sie wollen.“ Diesen Nick O’Law würde sie sich jedenfalls merken. Wenn frau ihn erst mal wusch und ordentlich rasierte, konnte er durchaus noch anderweitig Verwendung finden!
Nick führte Kürbisovic vom Podium, sein Auftrag hier war fürs erste erledigt und G.R.I.N.C.H, hatte einen gewaltigen Rückschlag erlitten.
Tina wandte sich an Froid: „Tut mir leid, Herr Professor, aber ihre Waffe bitte.“
Der Professor hielt sie ihr hin.
„Das ist aber nicht ihr Ernst“, rief Tina aus und sah ihn entgeistert an. „Ich habe mir gedacht, Sie hätten wenigstens eine Uzi dabei, aber das hier? Eine Cohiba?“
Froid zuckte verlegen mit den Schultern.
„Ja, manchmal ist eine Zigarre eben nur eine Zigarre.“

Gschichtldrucker / Christian Luksch

(In freundschaftlicher Verbundenheit allen Foristen und Forensikern der papyrus-community gewidmet)

„Meine Entscheidung?“, stammelte Berger und sah in Richtung Kamera. „Meine Entscheidung?! Sie … sie machen es sich leicht! Sie haben ja gut reden! Sie wissen gar nicht, was wir hier durchgemacht haben!“
Der Unbekannte betrachtete ihn stumm und nickte zur Kamera.
„Was soll ich denn machen?“, schrie er und wedelte mit der Waffe herum.
„Es wird Zeit für ihre letzte Minute. Wann immer sie bereit sind. Sagen sie der Welt die Wahrheit über sich, und ihre Schwester kann - sobald sie sich erholt hat – wieder predigen.“
Berger zitterte am ganzen Körper. Sein Gesicht, sein Gesicht war wie zu einer Fratze verzerrt. „Nein!“
„Nein?“, echote der Unbekannte höhnisch. „Lassen sie ihre Schwester wirklich zurück? Können sie sich das leisten? Was soll ihre Frau von ihnen denken? Ihre Familie? Kommen Sie! Legen sich den kühlen Lauf an die Schläfe! Benennen sie sich endlich schuldig, sie kläglicher Verräter und entlasten sie die Rentenkasse! Ohne sie ist die Welt besser dran, jeder weiß das!“
Christian ging einen Schritt von Berger fort, der die Waffe nun auf den Unbekannten richtete.
„Sie würden also lieber den Feuerwehrmann und ihre Schwester im brennenden Haus zurücklassen? Nur um sich zu retten? Soviel kalten Schneid hätte ich ihn gar nicht zugetraut.“
„Ich kann noch viel mehr tun!“, spie Berger aus. Christian sah sich kurz prüfend um. Der Stress holte das Schlechteste aus den Menschen hervor. Er hatte es schon gesehen, wenn jemand den Verstand verlor. Es sah etwa so aus wie Berger gerade, der mit ausgestreckter Waffe auf den Unbekannten zuging und „Ich … ich…!“, stammelte. Ein Speichelfaden rann ihm vom Kinn.
„Ja?“, fragte der Unbekannte höhnisch. „Was werden sie tun, kleiner Mann?“
„Ich … töte dich, oh ja, dass werde ich!“
„Werden sie das? Vor laufender Kamera? Wollen sie davor noch eine Erklärung abgeben Warum? Warum so viele Menschen wegen ihnen, ihre Würde, ihre Freude, ihren Lebenswillen verloren haben? Erklären sie es den Zuschauern, was mit den Mädchen passiert ist und dann können sie mich gerne erschießen.“
Berger erschrak, sein Blick wandte sich hektisch zur Kamera.
„Alles Notwehr!“, rief er als wollte eine unbekannte Menge überreden. „Er zwingt mich dazu! Er hält meine Schwester gefangen!“
Der Unbekannte strecke sie Hände nach vorn, wie ein Unschuldiger.
Natürlich hatte Christian nicht vergessen, dass er eine Waffe besaß. In der Nähe lagen einige Eisenrohre rum. Vielleicht – wenn er schnell genug war, und Berger etwas Dummes tat. Sie brauchten einfach nur Zeit. Aber er sah, wie diese immer knapper wurde.
Da fiel ihm ein Detail auf. Als Reporter war er wie illegaler Ermittler. Details waren Geschichten. Kleine Fetzen, Hinweise und Dialoge waren Beweise. Er sah für den Bruchteil eines Momentes, dass Bergers Pistole vorne zugeschweißt war.
„Berger!“, rief er da aus. „Schießen sie nicht!“
Berger sah ihn an, als hätte er ihn gerade als Verräter von der Klippe gestoßen. „Ich werde mich nicht töten?! Nein, nein! Ich werde die Weichteile dieses Typen zur Hölle jagen!“ Er drehte sich wieder zum Unbekannten „Dann wirst du schon reden!“ Berger schien von seiner eigenen Idee hellauf begeistert und senkte die Waffe in Richtung Schritt des Unbekannten.
„Wie ungezogen“, meine der Unbekannte. „An den eigenen Kopf damit! Retten sie wenigtens ihre Seele!“
Christian rief ein „Stopp!“, doch Berger drückte ab. Die Waffe explodierter in Bergers Hand.
Es gab eine unschöne Fontäne, und einen gellenden Schrei. Der Unbekannte war von Berger befleckt, während dieser zusammenbrach und sich am Boden wand. Christian starrte Berger einfach nur entsetzt an. Er verblutete. Der Unbekannte wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht und stellte die Kamera mit einer Fernbedienung ab.
„Was für ein hässliches Ende“, dann zog seine eigene Pistole – wies in Richtung Christian. „Du holst es schön die SD Karte und lädst das Zeug hoch.“
„Nein.“
„Nein?“, jetzt wirkte der Unbekannte ungehalten. „Ein Video für Marlenes Leben? Das ist nun wirklich nicht zuviel verlangt!“
„Es geht um das Prinzip!“
„Journalisten wie du haben doch gar keine Prinzipien!“
„Oh doch, die haben wir! Niemals nachgeben. Sich niemals Macht und Einflussnahme beugen. Und das Allerwichtigste … “
Der Unbekannte lachte kurz auf. Er wirkte ehrlich amüsiert, ehe er innehielt und bösartig leise meinte. „Ja?“
„Beim Betreten einer gefährlichen Lage, den Chefredakteur anrufen und das Handy auf stumm schalten.“
„Was?!“, der Unbekannte schrie auf und hob die Waffe in seine Richtung.
„Moment, Moment! Ich habe die Adresse, die wir anfahren ziemlich häufig erwähnt … wie ein seniler alter Mann.“
Noch bevor der erste Schuss fiel, brach die Tür nach innen auf.
„Zu Boden! Polizei“, brüllte jemand.
Christian warf sich zu Boden. Seine letzte Erinnerung waren hart hämmernde Schusswechselgeräusche.

Die Sünder

Richard zitterte am ganzen Körper und starrte fassungslos den Mann an, der seelenruhig die Kamera in seine Richtung drehte.
Der Unbekannte sah konzentriert aus. Blick seiner kalten Augen war ruhig. Er wirkte absolut normal. Er war schlank, doch nicht mager. Die Geschmeidigkeit seiner Bewegungen sprach für eine beträchtliche Vitalität. Die Kleidung gepflegt, neutral. Als würde er ihr wenig Bedeutung schenken. Sein Haar war etwas zu lang, dennoch sauber und gekämmt. Die Haarsträhnen wiesen unterschiedliche Länge auf, sodass man vermuten könnte, er schnitt sich die Haare selbst.
Er trug kein Schmuck, war nicht tätowiert, wenigstens nicht in den sichtbaren Stellen. Das Gesicht war rasiert, trotzdem nicht zu glatt. Die Haut blass, aber nicht kränklich.

Wer bist du? Dachten Richard und Christian zugleich. Sie stellten sich dieselbe Frage und deren Augen trafen sich für einen Moment, denn die nächste Frage war, was wird jetzt passieren?

„Er wird mich umbringen.“ Glaubte Pfeiffer und sein Herz machte einen Satz erfüllt vor Erkenntnis, dass es das Ende war. „Ich kann ihn nicht umbringen.“ Dachte wiederum Richard. „Ich werde mich selbst töten müssen, ich gebe auf.“ Die Entscheidung nahm ihm den Mut. Vollkommen egal, was er tat. Seine Tat würde ihn für immer zerstören.

„Bitte,“ flehte er deren Peiniger an. „Ich kann es nicht machen.“
„Sicher können Sie es. Sie können, und sie werden.“ Die Härte, mit der die Worte ausgesprochen wurden, nahm Richard Berger letzte Hoffnung. Ihm wurde klar, dass er hier sterben wird. Das er diesen Ort niemals verlassen, niemals nach Hause kehren wird. „Sie haben kein Recht über uns zu richten! Alleine Gott hat Recht dazu. Sie…“

„Gooot!“ Schrie der Unbekannte wütend und sein eben noch blasses Gesicht bedeckten rote Flecken. „Wagen Sie es nicht, seinen Namen in den Mund zu nehmen!“ Richard starrte entgeistert den Mann an und stotterte dann leise. „Gott alleine verfügt über das Leben…“

Richard sah den Schlag nicht kommen. Es passierte so schnell, dass auch Pfeiffer wie eingewurzelt stehen blieb. Er stand da und sah zu, wie der Unbekannte den Berger mit Fußtritten bearbeitete. Einmal, zwei Mal, drei Mal. Dann schritt er schwer atmend von ihm weg und drehte sich zu dem Journalisten. „Und du? Siehst immer nur zu, nicht wahr? Du siehst nur zu und tust nichts!“ Pfeiffer schwieg verstört.

„Hilf ihm, siehst du nicht, er kann nicht aufstehen.“ Befahl der Unbekannte und Pfeiffer sprang zu Berger. „Er ist ein Psychopath, vielleicht sogar ein religiöser Fanatiker.“ Flüsterte er Berger ins Ohr, während Richard versuchte sich stöhnen und keuchend aufzurichten. „Wenn er wieder ausrastet, sollten wir versuchen ihn zu überwältigen! Versuchen Sie ihn noch Mal aus der Reserve zu locken!“ Bergers große Augen sahen Pfeiffer gequält an. Pfeiffer warf vorsichtig einen Blick Richtung des Unbekannten und erschrak. Von der Raserei war keine Spur mehr, er sah wieder konzentriert und aufmerksam aus. „Eindeutig ein Psychopath.“ Stellte Pfeiffer verzweifelt fest. Als Berger endlich schwankend, halbwegs aufrecht stand, machte Pfeiffer ein paar Schritte zur Seite und hob beschwichtigend die Hände.
Er warf Berger einen Blick zu und sah, dass mit seinem Gesicht etwas nicht stimmte. Allem Anschein nach trafen die Schläge und Tritte von dem Mann nur eine Stelle bei ihm, seinen Mund. Die Lippen waren aufgeplatzt und blutig, die Wangen blau angelaufen und deformiert. „Er hat ihm den Kiefer gebrochen!“ Stellte Pfeiffer fest.

„Wie Sie sehen, kann Herr Berger bedauerlicherweise nicht mehr viel für eine gepflegte Diskussion beisteuern. Wöllen Sie es vorführen?“ Ein Grinsen verwandelte das Gesicht des Unbekannten in eine Grimasse.

Pfeiffer schwieg und die Gedanken in seinem Kopf rasten. Der Unbekannte drehte sich zu Berger. „Du machst dir Sorge um deine unsterbliche Seele?“ Sagte er verächtlich. „Du, wirst niemals in den Himmel kommen! Du verdienst die ewige Strafe und Verdammnis! Also mach es! Bringe dich um! Oder töte!“
Berger hielt die Waffe mit beiden Händen und versuchte das Zittern, das mittlerweile zum Beben wurde, zu kontrollieren. Tränen rannten über seine Wangen, ein Wimmern ertönte sich aus seinem geschundenen Mund. „Du hast gesündigt!“ Schrie der Unbekannte auf einmal wieder wütend. „Deine Habgier, ist dein Untergang! Du, hast es gewusst, und nun ernte, was du gesät hast“ Seine Stimme vibrierte und klang heiser.

„Und Klaus?“ Fragte unvorhergesehen für sich selbst Pfeiffer. „Wollust!“ Brüllte der Unbekannte laut und drehte sich zaghaft zu Pfeiffer. „Maria?“ Stellte Pfeiffer nächste Frage. „Neid!“ Spuckte der Unbekannte. „Sie war zerfressen vor Neid. Ihre reine Haut verbarg Verderbtheit und Verkommenheit. Sie hat es verdient.“ Pfeiffer schluckte schwer, doch setzte er seine Fragen fort.

„Marlene?“ „Trägheit.“ Dann sah der Unbekannte ihn, Pfeiffer an und fragte. „Und du, was ist deine Sünde, Christian Pfeiffer? Soll ich es dir sagen, oder willst du es selbst tun?“ Pfeiffer starrte ihn an und verstand.
Maria – Neid, Klaus – Wollust, Berger – Habgier, Marlene – Trägheit. Es bleiben nur Völlerei, Zorn und Hochmut. Zorn und Hochmut. Der Zorn stand leibhaftig vor ihm. Dann Hochmut. Sein Hochmut, sein Stolz, seine Überheblichkeit.

„Wir werden alle sterben“, flüsterte Pfeiffer. Es war keine Frage mehr. Es war eine Feststellung. „Ja.“ Sagte der Unbekannte friedlich. „Weil wir es verdienen.“

Ein Geräusch lenkte sie alle ab, es klang, als ob etwas Großes sich gewaltsam in das Gebäude Eintritt verschaffte. Schwere Schritte und Schnaufen, waren zu hören. „Da ist er ja, beinahe zu spät.“ Verkündete der Unbekannte und grinste boshaft.

Eine gewaltige, dunkle Gestalt näherte sich der Gruppe und Pfeiffer erkannte die Person, die dazu kam. „Magnus?“ Magnus, der Chef von Pfeiffer, machte für seinen massigen Körper den Weg frei und blieb erst stehen, nachdem er die Waffe in Bergers Hand sah. Kleine Augen von Magnus huschten von Berger zu Pfeiffer, dann zu dem Unbekannten. „Den hat er wohl auch mit einer Sensation geködert.“ Durchfuhr es Pfeiffer. „Was für ein Walross.“ Dachte Berger. „Völlerei.“ Bestätigte innerlich der Unbekannte.

„Sind Sie, Gabriel?“ Stelle Magnus die Frage an den Unbekannten. „Gabriel?“ Entfuhr es Pfeiffer. „So hat er sich genannt!“ Sagte Magnus geschäftlich. „Und du, gehörst du auch zu dem Team, oder bist du ein Opfer?“ Pfeiffer antwortete nicht. „Ein Opfer also.“ Konstatierte Magnus und Pfeiffer knirschte mit den Zähnen. Dann holte Magnus sein iPad heraus.

In Gedanken durchsuchte Pfeiffer seine Erinnerung nach den Informationen, die er mit dem Namen Gabriel in Verbindung stellen könnte.
Gabriel, Gabriel, der Name kam ihm so bekannt vor! Gab es da nicht einen Engel mit diesen Namen. Blödsinn! Er warf Gabriel einen Blick zu, der in dem fahlen Licht mit einem erhobenen Haupt stand und mit seiner Haltung so viel Erhabenheit ausstrahlte, dass Pfeiffer erschauderte.

„Der Verkünder.“ Las Magnus vor . „Sie nennen sich der Verkünder. Der Bote.“ Nuschelte er und wischte mit dem Finger auf der spiegelnden Oberfläche.
Pfeifer merkte, dass er die Nerven verlor und entschied sich für eine verzweifelte Handlung. „Doch auch du, bist ein Sünder!“ Zischte er und machte einen Satz nach vorne, als ein Schuss ertönte. Eine Sekunde herrschte Stille, dann fiel Magnus das iPad aus der Hand.

Auf dem weißen Hemd, das seine strahlende Sauberkeit längst durch die massive Schneeflecken eingebüßt hat, breitete sich eine rote Blut-Rose. Ein Röcheln kam aus seinem Mund und der große Mann fiel mit einer Wucht nach vorne, wie ein geschlagener Baum.

Pfeiffer starrte entgeistert zu Berger, dem die Waffe aus der Hand fiel. Berger zeigte mit dem Finger auf Magnus und mühte sich ab, etwas zu sagen. „ghhrr.“ Ertönte aus seinem Mund. „Grhhh!“ Ein irrsinnig lautes Lachen zerriss die Stille endgültig in Stücke.
Gabriel lachte und schüttelte sich wie in einem Anfall.
„Freiwillig!“ Lachte er. „Wissend!“ Und er krümmte sich wie im Krampf. „Freiwillig und wissen, hast du deine Tat ausgeübt! Bravo!“ Dann richtete er sich auf und holte mit einem Schwung eine Flasche heraus. Beißend riechende Flüssigkeit benetzte die alle und setzte sich in Myriaden glitzernden Bläschen auf deren Kleidung, der Haut, den Haaren und sogar den Wimpern fest. Gabriel warf eine Streichholzschachtel auf den Boden, direkt in die Mitte.
Er lächelte friedlich, während Pfeiffers Hand sich zu der Schachtel streckte …

Pfeiffers letzte Recherche

Für einen kurzen Moment war es so still, dass selbst das Surren des Baustrahlers ohrenbetäubend schien. Richard Bergers Gesichtsfarbe war in einen fahlen Grauton übergegangen. „Ich… ich… ich bin… “, begann Berger zu stottern während er die Pistole langsam in Richtung seines Kopfes bewegte. „Ich…oh mein Gott, ich habe das doch alles nicht gewusst… bitte… ich kann doch nichts dafür… das müssen sie mir glauben… ich hätte doch niemals… niemals… ich bin doch ein guter Mensch … ich flehe sie an…“, bevor seine Stimme in einem jämmerlichen Schluchzen unterging. Der Unbekannte lachte kurz auf und schaute ihn kalt an. „Glauben Sie wirklich, ich will mir ihr Gejammer anhören? Denken Sie wirklich, gerade Sie könnten Mitleid von mir erwarten? Sie haben kein Mitleid verdient. Ich gebe ihnen hier eine Chance ihre geliebte Schwester zu retten. Sie wissen nicht wie großzügig das von mir ist. Nun legen Sie schon los, das Video läuft.“

Pfeiffer hatte sich während dessen nicht von der Stelle bewegt. Seine Gedanken rasten. Die Sache mit dem Venustempel war eine der Geschichten, die selbst einem alten Hasen wie ihm schlaflose Nächte bereiteten. Offiziell waren die Mädchen mindestens 18 und kamen freiwillig aus Rumänien, Bulgarien und der Slowakei. Sie sahen alle blutjung aus, sprachen zum Teil gar nicht und wenn dann nur gebrochen deutsch. Jedem war bewusst, dass das Ganze ein riesiger Skandal war, der wie man munkelte, bis in die hohen Riegen der Lokalpolitik reichte und selbst die Kollegen der TAZ hatten schon versucht die Sache auffliegen zu lassen. Doch die Papiere waren korrekt und die Mädchen schwiegen und lächelten freundlich. Es war einfach nicht ranzukommen. Bis eines Tages (bei diesem Gedanken seufzte Christian innerlich auf) ein junges Mädchen bei Maria in der Beratungsstelle auftauchte. Weinend hatte Maria ihm Abends davon erzählt. „Christian, sie sieht gerade mal so aus als wäre sie fünfzehn. Sie und ihre Freundin sind aus der Nähe von Sofia, man hat ihnen gesagt, es gäbe ein Filmprojekt in Deutschland. Sie sind freiwillig in den Bus gestiegen. Sie und zwölf andere Mädchen. Sie haben gesungen bei der Hinfahrt und sich gefreut… Kannst Du Dir das vorstellen? Sie wurden unter Drogen gesetzt. Sie sagt es gibt im Venustempel einen Keller in dem die Mädchen für spezielle Kunden gefesselt werden… Christian, sie hat mir ihre Schrammen gezeigt. Christian, wir müssen da was tun.“ Nur was? Das Mädchen hatte ihr nicht ihren Namen genannt, sich gegen Behörden gesträubt, und ohne Zeugen oder Beweise die Polizei zu rufen war unsinnig. Er selbst hatte das Mädchen nur einmal getroffen. Sie war noch fast ein Kind. Er erinnerte sich genau an ihre schmale Statur, ihre strohblonden Haare, die großen eingefallenen braunen Augen, den flehenden Blick „Maria sagt, sie holen uns da raus. Sie holen Kalina und mich da raus?“ Obwohl er damals wusste, dass es falsch war so etwas zu versprechen, nickte er. Zum verabredeten nächsten Treffen kam sie nicht. Beim Versuch eins der anderen Mädchen zum reden zu bringen begegnete ihm eine Wand des Schweigens. Keiner wollte Kalina oder die Namenslose kennen. Einen Monat später wurde im Keller einer Rohbaracke die Leiche einer nicht identifizierten jungen Frau gefunden. Er spürte, dass sie es war, doch wie hätte er das beweisen sollen? Er kämpfte wie verbissen und vernachlässigte darunter den Rest seiner Arbeit bis ihn sein Chef vor einem halben Jahr zurückpfiff und in diese unsägliche Onlineredaktion versetzte. Maria hatte ihn damals aufgefangen. „Es reicht Christian, Du hast alles versucht. Wir haben verloren. Auch wir müssen weiterleben.“ Ihm war klar, dass auch sie enttäuscht war, doch irgendwie schaffte sie es diese Enttäuschung in ihre Arbeit umzulenken. Er hingegen wurde zunehmend zynischer - was sollte er in der Onlineredaktion schon groß bewegen. Damals wie heute hatte er versprochen die Sache aufzuklären. Damals hatte er versagt, diesmal würde er nicht scheitern. Er war immer noch Journalist und für ihn gab es nun nichts mehr zu verlieren.

Mit diesem Gedanke räusperte Pfeiffer sich. „Darf ich einmal zusammenfassen?“ Berger schaute erschrocken zu ihm rüber. Der Unbekannte kam drohend ein paar Schritte auf ihn zu, die Hand in der Tasche, in der Waffe steckte. Pfeiffer zögerte einen Moment, fuhr dann jedoch mit fester Stimme fort „So wie ich das verstehe, wurde Krüger zum Freitod verurteilt, weil er, dessen sind wir uns alle einig, ein Kapitalverbrechen begannen hat. Berger hier“, er nicke kurz zu Richard rüber, lies sich jedoch nicht davon beirren, dass dieser ihn anschaute als wäre er verrückt geworden „Berger hat sich schuldig gemacht, da er sich dem Mammon verschrieben hat und - wenn gleich angeblich unwissend - durch die Annahme schmutzige Gelder den Menschenhandel unterstützt hat. Auch seinen Urteil lautet Tod durch Suizid. Ich selbst habe sowohl journalistisch als auch menschlich versagt, ich habe die Frauen im Stich gelassen. Mein Urteil ist somit ein sozialer Suizid. Liege ich damit in etwa richtig?“ „Worauf wollen Sie hinaus?“ zischte der Unbekannt. „Bis zu diesem Punkt ist alles im Sinne der höheren Gerechtigkeit, ja der Moral, zu verteidigen. Mir ist jedoch weiterhin nicht klar, warum Marias Urteil dem von Krüger entspricht.“ Christian wartete einen Moment und fuhr, nachdem der Unbekannte nicht antwortete, fort „Sie hat die Beratungsstelle in einem Frauenhaus geleitet, sie hat vielen Frauen geholfen.“ „Geholfen? Geholfen? Sie ist tot, verstehst Du! Tot!“ Christian schaute den Mann an, der mittlerweile ohne es zu merken ein Stück ins Licht getreten war. Er war etwa 20 Jahre alt, schlank, strohblond. „Sie war Deine Schwester,“ erkannte er. „Du hast es ihr versprochen. Du hast ihr versprochen, dass Du sie da rausholst, Du Arschloch. Sie hat mir geschrieben. Wir sind in Frankfurt, tief in der Scheiße aber Herr Pfeiffer holt uns da raus. Du hast es ihr versprochen!“ „Wir haben alles versucht. Sie war doch bereits…“ „Gefesselt?! Vergewaltigt? In einem Keller erwürgt?! Sie war doch nur ein Kind. Und - was ist mit Kalina, meiner Kalina, haben Maria und Du sie danach einfach vergessen?!“ Pfeiffer wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. „Du solltest spüren, was es heißt, Deine Liebe nicht retten zu können! Du solltest spüren, was es heißt Sekunden zu langsam zu sein.“ Mit letzter Kraft fragte Pfeiffer „Und Marlene?“ Bewusst langsam und ohne dabei Richard Berger und Christian Pfeiffer aus den Augen zu lassen ging der junge Mann an ihnen vorbei zu dem Stapel an Schriftstücken, aus dem er das Bild von Marlene raus zog, welches er dann vor Christian Pfeiffer ablegte. Auf dem Bild stand Marlene mit einer jungen Frau vor der Haustür ihres Bruders. Die Frau sah erschöpft aus aber sie lächelte erleichtert. Für einen kurzen Augenblick war Christian nicht klar, was das Bild zu bedeuten hatte. Dann sah er aus dem Augenwinkel wie Richard Berger sich die Pistole in den Mund steckte, den Abzug drückte und mit einem lauten Knall sein Leben beendete. Marlene Romero wurde eine Woche später tot im Keller einer Rohbaracke gefunden. Seltsamerweise berührte Christian Berger weder das eine noch das andere.

Pfeiffer hatte das Gefühl, zu stürzen. Er starrte den Erpresser an, während ein bleicher Berger scheinbar das Atmen eingestellt hatte. Es war ihm nicht zu verdenken…

“Sie bluffen”, presste Pfeiffer hervor. Ohnmacht und Hass legten sich wie ein enges Stahlband um seinen Hals. Ein hilfloser Versuch, den makabren Witz zu enttarnen, der all das hier war. Sein musste.

Der Blick, den der Unbekannte aus dem Schatten zu ihnen warf, war nahezu spürbar. Schweigen. Pfeiffer begann zu glauben - zu hoffen - dass der Unbekannte sich plötzlich in Luft aufgelöst hatte, aber Sekunden später folgte die ernüchternde Antwort. “Nein.” Und in diesem einen Wort lag so viel Entschiedenheit, dass Pfeiffer keine weitere Sekunde mehr an der Absicht dieses Widerlings zweifelte.

“Ich bin kein Mörder”, winselte Berger und Pfeiffer nahm dessen Existenz wieder wahr. Er sah ihn an. Bergers Stimme war kurz vor dem Brechen. In Pfeiffer brodelte der Instinkt eines Jägers, Auge in Auge mit einer tollwütigen Wildsau, die gerade auf ihn zustürmt.

Der Mann im Schatten machte ein schnalzendes Geräusch mit der Zunge. Tadel. “Die Zeit läuft, meine Herren.”

Pfeiffer ballte die Fäuste. Er machte einen Schritt auf den Erpresser zu, hielt aber sofort inne, als jener mit einem “Ah, ah, ah.” die Hand in die Tasche gleiten ließ, in die er zuvor die Pistole geschoben hatte. “Ihr Auftritt, Herr Pfeiffer, kommt noch.”

“Warum? Warum tun Sie das?”

Ein leises, abschätziges Schnauben. “Um für all jene zu sprechen, die es nicht mehr können. Um der Welt zu zeigen, dass Geld, Geiz und Gier die Mutter zwischenmenschlicher Abscheulichkeiten sind.” Die Stimme wurde schärfer, boshafter. “Und dass alles eine Konsequenz nach sich zieht.”

“Ich bin… Ich bin Richard Berger”, ertönte es hinter Pfeiffer und er fuhr herum. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. “Hören Sie auf!”, befahl er entsetzt. Berger starrte auf seine Hände herab, die zitternd die Pistole hielten. Seine Augen waren rot, Tränen quollen heran.

Das rote Licht der Kamera leuchtete.

Pfeiffers Kopf ruckte wieder herum. Er stierte in die Richtung, wo er das Gesicht des Unbekannten vermutete. Er spürte, wie es ihm heiß und kalt zugleich wurde. Ich bin im falschen Film, schoss es ihm durch den Kopf. “Sie lügen! Schauen hier zu wie ein kranker Sadist und am Ende erfährt niemand, wo Marlene ist!”

“Ich bin ein ganz normaler Bürger wie ihr…”

“Berger, nein! Hören Sie auf damit!”

Die Stimme des Unbekannten antwortete: “Ich bin ein ehrlicher Mann, der zu seinem Wort steht. Und im Gegensatz zu Ihnen verstehe ich, worauf es ankommt. Nur weiter, Herr Berger.”

Der Angesprochene schluchzte, zog die Nase hoch. “Ich habe weggesehen und dafür zehntausend Euro erhalten.” Abgrundtiefe Angst und Trauer erschütterten Bergers Stimme, ließen ihn die Worte stellenweise von Neuem ansetzen. Pfeiffer hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Aber er gab nicht auf. Der Jäger in ihm zog die Flinte hoch, zielte auf die heran rasende Wildsau. “Sie werden gar nichts damit erreichen, Sie irrer Scheißkerl!” In heißem Zorn stach er drohend mit dem Zeigefinger in Richtung des Erpressers.

“Meinetwegen sind Menschen gestorben.” Berger weinte.

“Sie enttäuschen mich, Herr Pfeiffer”, mahnte die Stimme aus dem Schatten. “Noch immer halten Sie an der Ignoranz fest, die Sie letzten Endes hierher gebracht hat. Leugnen das Offensichtliche und zeigen mit dem Finger auf andere. Sie wollen es wohl nicht begreifen.”

“Meine Gier und mein Geiz haben sie umgebracht…”

”Berger, tun Sie das nicht!”

Berger schluchzte, schniefte, nahm die Pistole in die rechte Hand. Sie zitterte wie Espenlaub und in Pfeiffer machte sich blankes Entsetzen bei diesem Anblick breit. Der Unbekannte lachte kurz und leise. Ein düsteres, boshaftes Lachen ohne jeglichen Humor. “Er scheint es begriffen zu haben. Sie hingegen verweigern sich noch immer der Wahrheit. Sehen Sie hin, Herr Pfeiffer! Sehen Sie endlich hin!

“Ich bin ein Schwein”, schluchzte Berger.

“Hören Sie auf! Er blufft!”

“Ein Ausbeuter.”

Pfeiffers Augen hingen an der Pistole, deren Lauf Berger sich selbst an die Schläfe drückte. Er war unfähig, zu handeln. Unfähig, sich wie der Held im Film auf das Opfer zu stürzen und im buchstäblich letzten Augenblick das Drama abzuwenden, während der Schuss in die Decke gehen würde. Unfähig,den hinterlisitigen Plan zu durchschauen und mit heldenhaften Schlussfolgerungen den Bösewicht zu bekehren, der nichts anderes tat als seine Rolle des tragischen Antihelden zu spielen. Machtlos wie ein Reh im Licht des Scheinwerfers sah er einfach nur zu.

Berger schloss die Augen. Schnodder und Tränen rannen sein Gesicht herab. “Ein Kapitalist.” Und Bergers letzte Worte waren: “Sagen Sie meiner Frau, dass es mir leid tut.”

Dann betätigte er den Abzug.

Das rote Licht der Kamera leuchtete.

Die Welt war plötzlich dumpf, wie in Watte gepackt. Ein schrilles, penetrantes Pfeifen fraß sich in seine Ohren, während sich der Waggon um ihn zu drehen begann. Seine Knie gaben nach, und er sackte zu Boden.

“Herr Pfeiffer, stehen Sie auf.”

Pfeiffer blickte desorientiert umher. Er wurde erneut aufgefordert, aufzustehen, und nun realisierte er, dass er auf dem Boden halb hockte, halb lag. ‚Die Begleiterscheinung eines Knalltraumas‘, würde ihm später die HNO-Ärztin erklären. ‘Schwindel, Desorientierung, … Ihr Trommelfell ist glücklicherweise unversehrt.’

“Sie haben noch eine Aufgabe zu erfüllen, Herr Pfeiffer. Ich möchte Sie daran erinnern, dass jede Sekunde über Leben und Tod entscheiden kann.”

Mühsam schluckte Pfeiffer die Übelkeit herunter, die sein Inneres erfüllte. Er arbeitete sich auf die Beine. Als er Berger sah, der dort am Boden lag, dessen Hirn und Blut an der Innenwand des Waggons klebte, musste er würgen.

“Sie wissen, was zu tun ist.”

“Erbärmlicher Schweinehund”, sagte Pfeiffer kraftlos. Die Fernbedienung flog auf ihn zu und er fing sie instinktiv auf. Als er wieder aufsah, war der Unbekannte durch die Tür in die Dunkelheit entschwunden.

Ein Monat später
Das Video von Richard Berger ging viral. Es wurde unzählig oft geteilt und millionenfach angesehen. Ein Mann, der mit Tränen in den Augen seine Verfehlungen eingestand – und der das ultimative Opfer brachte. Für viele war er ein Held. Für andere ein Idiot. Für Pfeiffer war er beides.

Die Polizei hatte Marlene gefunden. Lebend und schwer traumatisiert. Ihre Entführung und Gefangenschaft war offenbar gut durchdacht gewesen, denn das, was Marlene berichten konnte, führte zu keinem brauchbaren Ermittlungsergebnis. Der Täter war und blieb spurlos verschwunden.

Eines Abends, als er die Tür zu seiner Wohnung aufschloss, fiel ihm ein Briefumschlag auf dem Boden auf. Kein Absender. Jemand hatte ihn unter dem Türschlitz durchgeschoben. Nur ein einziges Blatt Papier darin, mit einer einzigen Zeile:

‚Die Wahrheit sieht nur, wer hinsieht.‘

Fünf Monate später

Pfeiffer stand auf der Brücke, die zum Europagarten führte. Unter ihm rauschte der Main, Lichter der Stadt flimmerten in der Dunkelheit.

Sein Artikel über den verheimlichten Menschenhandel hat ihn seinen Job bei der FGZ gekostet. Aber nach kurzer Zeit hat ihn eine andere Online-Redaktion angestellt. Pfeiffer ließ sich auf keine Mauscheleien mehr ein. Was er aufdeckte, machte er publik.

Das Video hatte die Welt bewegt, aber nichts verändert. Menschen hatten darüber gesprochen, geschrieben, gestritten. Doch die Namen der Opfer waren längst verblasst, und die Suche nach dem Täter war eingestellt worden.

Pfeiffer zog einen Zettel aus der Tasche. Die Schrift darauf war verwischt, aber er kannte den Text auswendig: ‚Die Wahrheit sieht nur, wer hinsieht.‘
Die Worte brannten in seinem Kopf. Sie waren nicht nur eine Erinnerung, sondern ein Fluch.

Er zerknüllte das Papier und warf es ins Wasser. Doch als er zusah, wie es davontrieb, wusste er, dass er es nicht loslassen konnte. Der Täter war noch da draußen. Er wusste von Pfeiffer. Beobachtete ihn. Und vielleicht wartete er darauf, dass Pfeiffer einen Fehler machte.

Pfeiffer drehte sich um und verschwand im Dunkel der Straßen. Sein Weg war klar. Die Wahrheit war eine Last, die er tragen würde.
Bis zum Ende.

Seitenwind 2024

Offene Enden – fünfter Teil

Die Cleaning Art Agency

In der Steuerzentrale der Cleaning Art Agency ging es geschäftig zu. OW saß am Regiepult und starrte entsetzt auf die Monitorwand. Berger und Pfeiffer standen im grellen Scheinwerferlicht und blinzelten abwehrend in die Kamera. »Leute, was ist denn das für ein furchtbares Licht. Verdammt! Bully! So kann ich nicht arbeiten! Unternimm etwas!«

Der Kameramann schüttelte missmutig den Kopf, während er zwischen den Kabeln hinter seinem Schreibtisch verschwand. Nur sein widerwilliges Grummeln war zu hören. »Der eine will mehr Licht, der andere weniger. Könnt Ihr euch mal einigen? Stellt endlich einen Beleuchter ein, ich bin Kameramann.«

In diesem Moment flackerte der Baustrahler im Eisenbahnwaggon und gab schließlich den Geist auf. Pfeiffer und Berger verschwanden für einen kurzen Augenblick im Dunkeln, dann flammte das Notlicht auf. OWs wutfaltige Stirn entspannte sich wieder. Sein Blick hellte sich sogar ein wenig auf. »Verdammt! Das Bild ist echt gut, trotz der miesen Lichtverhältnisse dort.« Er wandte sich wieder an den Kameramann. »Gute Arbeit! Wie hast du das hingekriegt?«

»Neue Hardware mit Nachtlichtlinsen und verbesserter Software«, erklärte Bully stolz.

»Das ist echt super«, murmelte OW. »Düster und krisselig wie in Der dritte Mann. Der kleine Dicke könnte glatt Orson Welles sein.«

»Aber Orson Welles war von großer Statur«, wandte Carson ein. »Außerdem dachte ich, dass du in diesem Projekt Orson Welles bist. OW, der große Regisseur!« Sie kicherte stumm und verdrehte die Augen.

»Von großer Statur?« Der Regisseur schnaubte verächtlich. »Nur weil du dieses Mal am Drehbuch mitgeschrieben hast, musst du nicht gleich so geschwollen daherreden. Bleib auf dem Teppich. Wir benutzen doch alle ein Pseudonym. Ich hab mir halt Orson Welles ausgesucht, so wie du Carson McCullers. Was dich übrigens nicht automatisch zu einer genialen Autorin macht. Ende der Debatte. Wichtig ist nur, dass wir unsere Rolle spielen und alles sauber über die Bühne bringen.«

»Auf die Bühne«, korrigierte Carson ihn grinsend. »Na ja, auf die digitale Bühne«, fügte sie hinzu.

OW ignorierte sie und wandte sich wieder den Monitoren zu. Er betrachtete fasziniert Richard Berger, der zitternd im körnigen Halbdunkel stand und verwirrt auf die Waffe in seiner Hand starrte. »Was für ein Bild! Was für eine Atmosphäre! Unsere Klienten werden begeistert sein! Leute, schaltet die Leitungen frei. Der Showdown kann beginnen.«

Weitere Monitore flackerten auf. Zuschauer aus aller Welt loggten sich mit einem teuer bezahlten Zugangscode ein. Außerdem schalteten sich die Auftraggeber der Show dazu: Die örtliche Vertretung einer osteuropäischen Mafia-Organisation, die in dieser Gegend die Prostitution und den dazugehörigen Menschenhandel kontrollierten, sowie einige ihrer geheimen Geschäftspartner und Unterstützer. Darunter angesehene Bürger der Stadt, wie der Herausgeber des Frankfurter Generalanzeigers, Konstantin Magnus – ein sehr besonderer Kunde des Venustempels mit sehr besonderen Bedürfnissen.

Er war es schließlich gewesen, der den Kontakt zur Cleaning Art Agency geknüpft hatte, als es brenzlich wurde und sie eine Lösung brauchten. Genauer gesagt, hatte er den Kontakt zu Muller hergestellt, dem Begründer der Agentur und ehemaligen Schulfreund. Er war der kreative Kopf des Unternehmens. Wenn es um die Bereinigung von unerwünschten Situationen ging, war er ein wahres Genie in Dramaturgie und Storytelling. Magnus bewunderte ihn dafür. Er hätte ihn gern als Autor in seiner Redaktion gehabt. Muller hatte auch die Idee zur Online-Performance. Ausgewählte Gäste konnten sich live zuschalten und sogar auf den Verlauf der Ereignisse wetten. Muller ließ die vorbestimmten Opfer gegeneinander antreten oder spielte sie gegeneinander aus, was an Zynismus kaum zu überbieten war. Es war so etwas wie ein zeitgenössisches Kunst-Projekt für Psychopaten. Ein Auftragsmord als inszenierte Performance oder die ausgefallene Dramaturgie einer Entführung mit Todesfolge – was auch immer verlangt wurde, in der Umsetzung war der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Auftraggeber oder zahlende Teilnehmer konnten sich dabei um eine Rolle bewerben, entweder als Autor, Regisseur oder Protagonist. Eine sehr beliebte Rolle war die des Rächers, auf dessen Konto gingen die meisten Morde. Aber auch Möchtegern-Regisseure fühlten sich berufen, das Drehbuch zu ihrem Meisterwerk ganz in Quentin Tarantino Manier zu schreiben. Eine ausgewählte Elite von internationalen Verbrechern und wohlhabenden Voyeuren sah dabei online zu und machte sich vor Aufregung ins seidene Höschen. Magnus lächelte bei dem Gedanken daran. Er suchte den kleinen Bildschirm nach Muller ab, aber er sah nur einen pixeligen Pfeiffer mit grimmigem Blick unter einer albernen Hutkrempe, und Berger, dessen Gesichtsausdruck zwischen Verwirrung und purer Angst wechselte – von Muller keine Spur.

Doch Muller war genau da, wo er sein sollte. Als der Baustrahler plötzlich erlosch, hatte er instinktiv einen Ausfallschritt Richtung Waggontür gemacht. Die gesamte Muskulatur seines Körpers war angespannt, er war auf alles gefasst gewesen. In dieser Geschichte rechnete er zwar kaum mit Widerstand, doch man konnte nie voraussehen, was geschah. Nun, im schwachen Schein der Notlichtlampe entspannte er sich wieder und ging zurück auf seine Position unterhalb der Kamera, darauf bedacht, nicht von ihr erfasst zu werden. Mullers Blick streifte Pfeiffers Fedora. Für ihn war dieser Hut im Gegensatz zu Magnus‘ Auffassung ganz und gar nicht albern. Bei seinem Anblick kamen ihm spontan Film-Szenen mit Humphrey Bogart als Sam Spade oder Philip Marlowe in den Sinn – Rollen, die er liebend gern einmal spielen würde. Doch jetzt hatte er eine andere Rolle zu spielen, nämlich die des Rächers. Ein Mann, der den moralischen Wertvorstellungen des christlichen Abendlandes huldigt und jene, die dem zuwiderhandeln, auf eigene Faust der gerechten Strafe zuführt. Das dies nur einer ausgefeilten Dramaturgie folgte und eigentlich reiner Bullshit war, machte es nicht besser. Er hatte diese Rolle zwar erdacht, aber er hatte sie nie spielen wollen. Doch Magnus hatte darauf bestanden: Du schuldest mir was. Ich will, dass du die Sache ein für alle Mal erledigst! Und damit meine ich jeden, der uns gefährlich werden könnte. Die Pastorin, ihren Bruder, den Reiseunternehmer, die Vertraute der Pastorin, die übrigens ausgerechnet die Ehefrau des nervigen Pfeiffers ist, einem Journalisten in meinem Haus. Den kannst du bei der Gelegenheit gleich mit entsorgen.

Muller sah zu Pfeiffer rüber. Sein Blick bedeutete Ärger. Typen wie er, machten immer Ärger. Er verstand Magnus’ Standpunkt. Diese Leute waren alle miteinander verbunden. Wenn man einen von ihnen loswerden wollte, musste man alle loswerden. Er kannte die Vorgeschichte. Nachdem Magnus den Journalisten Pfeiffer von der Story abgezogen hatte, weil der ihm zu dicht auf den Fersen gewesen war, wurde es in der Öffentlichkeit still um den Venustempel – zumindest eine Zeit lang. Doch schon bald tauchte eine neue Bedrohung auf, die Pastorin. Sie fühlte sich berufen, den verlorenen Seelen im Venustempel beizustehen. Nach ihrem Hausverbot sprach sie draußen mit den Mädchen. Mit der Zeit gewann sie ihr Vertrauen und schließlich die zärtliche Zuneigung einer jungen Frau aus Bulgarien, Vera. Die Pastorin versuchte, zu widerstehen, doch es gelang ihr nicht. Liebe macht blind, so sagt man. Man sagt auch, sie lässt die Menschen sanft und nachsichtig werden. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Marlene Romero sah ihre Liebe im Tempel der Wollust und der Gewalt gefangen und das machte sie hart, verbittert und unnachgiebig. Ihre Bemühungen, die neugewonnene Liebe zu befreien, mündeten schließlich in einem plumpen Fluchtversuch, bei dem Vera starb und sie selbst verletzt in einem dunklen Kellerloch landete. Magnus’ Opfer waren allesamt moralisch integre Leute. Für Muller war es nur logisch, für diesen Auftrag die Rolle des moralischen Rächers ins Spiel zu bringen. Sie war glaubhaft, und nur darum ging es ihm beim Storytelling. Die äußere Rahmenhandlung war nicht wichtig, sie konnte so absurd sein, wie sie wollte. Die Geschichte musste nur in sich schlüssig sein, dann würden die meisten Leute glauben, dass sie wahr sei.

Eine plötzliche Bewegung in den Augenwinkeln riss ihn aus seinen Gedanken. Berger hob die Waffe und richtete sie zitternd auf ihn. »Was ist, wenn ich es nicht tue? Wenn ich nicht mich, sondern Sie erschieße?« Seine Stimme war brüchig, doch in ihrem Beben lag trotziger Aufruhr.

Muller sah ihn aufmerksam an. Trotz der kühlen Abendluft schwitzte Berger. Sein Atem ging schwer und in seinem Blick lag der Ausdruck tiefer Verzweiflung. Er könnte es tun, dachte Muller für einen Augenblick. Doch dann schüttelte er gedanklich den Kopf. Nein! Aber diese, wenn auch nur vage Idee könnte das Geschäft ankurbeln. »Das hatten wir doch schon! Dann stirbt Ihre Schwester«, antwortete Muller ruhig. »Außerdem sind sie gar nicht in der Lage, einen Menschen zu verletzen, geschweige denn zu töten«, fügte er beinahe mitleidig hinzu. Er machte eine kleine Kunstpause und sah ihn herausfordernd an. »Oder doch?«

Das war das Stichwort für den Regieraum. »Meine Damen und Herren! Wie entwickelt sich die Geschichte nun weiter? Wird Berger sich selbst richten, um seine Schwester zu retten? Oder wird er sich gegen sein unvermeidliches Schicksal auflehnen. Die Wetten können platziert werden«, verkündete OW.

»Was soll das?«, rief Magnus unsicher. »Glaubst du wirklich, dieser Typ könnte sich wehren?«

»Du solltest wissen, wie unser Geschäftsmodell funktioniert«, erwiderte OW flüsternd. »Wir ziehen diese Szene nur etwas in die Länge, um die Wetteinsätze zu ermöglichen. Am Ende werden sie dennoch alle sterben. So wie geplant, du wirst sehen. Muller weiß, was er tut. Er hat alles unter Kontrolle!«

Das hatte Muller tatsächlich. Er hatte wie immer alles gründlich vorbereitet, die Protagonisten überprüft und ein psychologisches Profil von ihnen erstellt. Deshalb hatte er auch Berger die Waffe überlassen und nicht Pfeiffer, der anfällig für unkontrollierbare emotionale Ausbrüche war. Zur Sicherheit war die Waffe so präpariert, dass sie nur in sehr kurzer Entfernung tödlich war. Und um ganz sicherzugehen, trug er darüber hinaus eine Schutzweste. Daher blickte er einigermaßen gelassen in die Mündung der Pistole, die Berger mit zittriger Hand auf ihn richtete.

»Ich könnte Sie verletzen, Ihnen wehtun, bis Sie mir verraten, wo Sie meine Schwester gefangen halten«, drohte Berger mit unsicherer Stimme.

»Nun, das könnten Sie, nicht wahr? Wenn Sie so wären wie ich! Aber sind Sie das? Wir alle müssen uns irgendwann die Frage stellen, wer wir sind und wozu wir fähig sind, angesichts einer Bedrohung oder einer scheinbar ausweglosen Situation.« Er sah Berger geradewegs in die Augen und wusste, dass er ihn richtig eingeschätzt hatte. Er würde nicht abdrücken. Im Gegensatz zu Pfeiffer, dessen verzweifelte Wut in seinen verzerrten Gesichtszügen erkennbar war. Hätte er in diesem Moment die Waffe in der Hand, würde er wohl schießen, dachte Muller grimmig. OWs Stimme erklang plötzlich in seinem rechten Ohr: »Die Wetten sind platziert! Gut gemacht!« Gleichzeitig nahm er ein Zucken in Pfeiffers Gesichtsmuskeln wahr. Er machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts.

Der Journalist hatte in diesem Moment tatsächlich daran gedacht, einen Sprung nach vorn zu wagen und Muller niederzuringen. Doch er zögerte, wartete ab, was Berger tun würde. Sollte er tatsächlich schießen, wollte Pfeiffer nicht in die Schussbahn zwischen die beiden geraten.

Und so beobachteten die drei sich gegenseitig, angespannt und abwartend, während sie ihrerseits durch die Linse einer hochauflösenden digitalen Webcam betrachtet wurden. Jeder hatte dabei seine eigenen Interessen im Blick und niemand dachte in diesem Augenblick an etwas anderes, schon gar nicht an Dorothea Berger. Weder Ihr Mann, noch Pfeiffer, noch Muller, der ansonsten immer alles im Blick hatte. Für ihn war sie eine unscheinbare Randfigur in der Betrachtung der Geschichte – jedoch eine, die unbemerkt einen Stein ins Rollen gebracht hatte, nachdem ihr Mann und Pfeiffer das Haus verlassen hatten. Eigentlich war es sogar mehr als nur ein Stein, es war eine Lawine, die in ihrer Größe und Wucht das ganze Theater zu zerschmettern drohte. Sie hatte nämlich wider ihren Versprechungen und trotz ihrer Zweifel die Polizei alarmiert.

Kommissar Brandt kam dieser Anruf sehr gelegen, denn er hatte die Betreiber des Venustempels schon länger im Visier. Er hatte sogar eine neue Task Force eingerichtet, die jeder möglichen Spur gefolgt war. Die Kollegen hatten auch mit der Pastorin, Marlene Romero, in Verbindung gestanden und mit ihr Informationen ausgetauscht. Nach ihrem Verschwinden vor zwei Tagen hatten sie ihre Untersuchungen verstärkt und sich voll und ganz auf diesen Fall konzentriert. Schließlich konnten sie die Verbindung zwischen Venustempel, Konstantin Magnus und der Cleaning Agency nachvollziehen. Mit dem Anruf, den Dorothea Berger an diesem Abend mit aufgewühlter Stimme und schlechtem Gewissen tätigte, hatte Brandt endlich einen handfesten Grund mit seiner Task Force auszurücken. Sie teilten sich auf und fuhren Richtung Venustempel sowie zum Hauptsitz der Cleaning Art Agency und dem Industriegelände am Rande der Stadt.

Inzwischen wurde Pfeiffer langsam ungeduldig. »Was ist nun?«, fragte er und sah Berger erwartungsvoll an.

Doch Berger reagierte nicht, war in sich gekehrt. Er haderte mit dieser vermaledeiten Frage, wer er war, und wer er in dieser Situation sein wollte. Ganz so, als könnte er sie beantworten, sich erheben und tun, was getan werden musste. Doch die Wahrheit war, dass er mit dieser Situation vollkommen überfordert war. Er war kein Intellektueller, hatte kein ausgeprägtes selbstreflektierendes Bewusstsein über sich selbst. Doch soviel wusste er, er war ein einfacher Mann – freundlich genug, um nachsichtig gegenüber seiner liebevollen Frau zu sein und ihre furchtbare Scherzkrawatte zu tragen, ohne sich zu beschweren, doch auch naiv und verantwortungslos genug, um dunkle Geschäfte mit Mafiosi zu machen, deren Details er bewusst ignorierte, während er wegsah. Er starrte auf die Waffe, sie lag schwer in seiner Hand. Nicht nur die Schwerkraft zerrte an ihr, auch sein Gewissen, seine Schuldgefühle und seine verfluchte Angst drückten sie unerbittlich nach unten. Schließlich ließ er sie erschöpft sinken. Er wischte sich über das schweißnasse Gesicht und seufzte: »Ich kann das nicht!«

Muller hörte durch seinen Ohrstöpsel den Jubel jener, die richtig gewettet hatten und die ärgerlichen Kommentare derer, die daneben lagen. Er lächelte still in sich hinein, denn bei solchen Transaktionen konnte er als Veranstalter nur gewinnen. Er wandte sich an Berger, der wie ein Häufchen Elend in sich zusammengesunken war und jetzt auf den hölzernen Planken des Waggons saß. »Nun gut! Dann halten Sie jetzt ihre Ansprache. Stehen Sie auf und schauen Sie direkt in die Webcam. Wiederholen Sie die Worte, die ich vorgegeben habe. Danach richten Sie sich selbst, am besten durch einen Kopfschuss.«

Doch Berger reagierte wieder nicht. Er saß nur da und schluchzte vor sich hin. Pfeiffer dagegen vibrierte am ganzen Körper. Sein Siedepunkt war erreicht und Berger hatte den Weg für ihn freigemacht. Mit einem gewaltigen Satz sprang er auf Muller zu. Dieser hatte zwar die Anspannung Pfeiffers vor dem Sprung aus den Augenwinkeln wahrgenommen, konnte aber nicht schnell genug reagieren. Er griff nach seiner Pistole, doch der Lauf hing am Futter seiner Jackentasche fest, und der Schuss, der sich im darauffolgenden Gerangel löste, ging geradewegs durch seinen rechten Fußrücken. Die Kugel zerschmetterte den gewölbten Spann und jagte einen gewaltigen Schmerz durch Mullers Nervensystem. Sein Geschrei übertönte die Geräusche in seinem rechten Ohr: die aufgeregten Rufe und die Schusswechsel in der Steuerzentrale der Agentur, als Brandts Task Force dort eintraf. Im nächsten Moment tauchte Brandt selbst mit einigen seiner Kollegen am Eisenbahnwaggon auf und stürmte hinein. Er hatte einige Mühe, Pfeiffer von Muller zu trennen, der wie von Sinnen all seine Wut in Muller hinein prügelte, ganz so, als könnte er sich auf diese Art von ihr befreien. Als Brandt ihn schließlich von ihm getrennt hatte, war Muller einen Moment lang unbeobachtet. Er Griff in die Jackentasche und zog seine Pistole heraus. Halb betäubt durch den Schmerz schoss er auf gut Glück um sich. Eine Kugel traf Berger mitten ins Herz. Für den Bruchteil einer Sekunde sah Richard Berger erstaunt auf, dann entspannte sich sein Gesicht beinahe zu einem Lächeln. Er sank ein letztes Mal in sich zusammen. Muller starb Sekunden später im Kugelhagel der Task Force.

Bergers Tod holte Pfeiffer schlagartig aus seinem tranceartigen Zustand aus Wut, Hass und Verzweiflung. Der ganze emotionale Moder tropfte von ihm ab und er sackte in sich zusammen, wie Berger in sich zusammengefallen war – nur nicht so endgültig. Er fühlte sich leer und irgendwie hohl – ein einzelner Gedanken schien in ihm haltlos umherzuirren. Maria! Maria? Maria…

Brandt half ihm auf die Beine. »Hey, ist alles okay? Sind Sie verletzt?«

Pfeiffer schüttelte den Kopf. Langsam füllte sich die Leere wieder mit Erinnerungen, Gefühlen und Gedanken. Es war schmerzhaft, aber bald konnte er sich wieder in der Wirklichkeit orientieren. »Was ist mit der Pastorin?«, fragte er schließlich. »Habt Ihr sie gefunden?«

»Sie meinen Marlene Romero? Ja, es kam gerade über Funk durch. Sie ist im Keller des Venustempels gefunden worden. Sie ist verletzt, aber sie wird es wohl überstehen. Die Mitarbeiter des Bordells und der sogenannten Cleaning Art Agency sind verhaftet. Ebenso ihr Chef, Konstantin Magnus.«

Pfeiffer schaute für einen Moment verdutzt drein, dann schüttelte er grinsend den Kopf. »Gut«, erwiderte er. »Dann ist die Sache also endlich vorbei?«

»Vorbei?« Brandt lachte bitter. »Jetzt geht es erst richtig los. Spurensicherung, Verhöre, Zeugenbefragungen, Berichte und unzählige Formulare. Und Sie haben sicherlich auch einiges zu tun, nicht wahr?«

Pfeiffer sah ihn fragend an.

Brandt legte eine Hand auf seine Schulter und schob ihn vorwärts. »Nun ja, die Öffentlichkeit muss schließlich informiert werden. Ich will einen ausführlichen Artikel im Frankfurter Generalanzeiger lesen. Ein wohlwollender Kommentar bezüglich meiner Task Force ist übrigens durchaus willkommen«, fügte er lächelnd hinzu.

Hätte OW diese Schlussszene jetzt sehen können, wäre er wohl begeistert gewesen. In diesem körnigen Licht entfernten sich zwei Männer aus dem Waggon. Der eine trug einen Fedora, der andere eine Uniform. Sie schritten gemeinsam in die Nacht, einer Zukunft entgegen, die für alles offen war, sogar für den Beginn einer wunderbaren Geschichte.