Offene Enden – Finale
Verspekuliert
Richard Berger starrte auf die Pistole in seinen Fingern. »Sind … sind Sie denn völlig wahnsinnig? Sie wollen, dass ich mich umbringe?« Er hatte Mühe, die Worte über seine bebenden Lippen zu bringen.
»Wahnsinnig?!« Die Stimme des Unbekannten zitterte vor Entrüstung. »Es geht mir nur um die Wahrheit, um Schuld und um Sühne! Das, was Sie meiner kleinen Schwester angetan haben.«
»Ihrer Schwester? Aber ich kenne doch Ihre Schwester überhaupt nicht«, stammelte Berger.
»Keines dieser kranken Schweine hat sie gekannt«, keifte der Unbekannte. »Das hat sie nicht davon abgehalten, sie umzubringen! Auf einer ihrer kranken Sexpartys in diesem verfluchten Bordell!«
»Damit haben wir nichts zu tun!«, versuchte sich Berger zu rechtfertigen. »Glauben Sie mir! Ich hatte doch keine Ahnung von alledem.« Seine Finger massierten den Kunststoffgriff der Waffe, der sich an seiner transpirierenden Handfläche wie ein Stück schmierige Seife anfühlte.
Die Stimme des Unbekannten beruhigte sich: »Die Uhr tickt, Herr Berger. Sie haben die Wahl. Eine Wahl, die meine Schwester nicht hatte.«
Der Schweiß auf Bergers Stirn begann zu perlen. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich über die Schläfen, wobei ihm bewusst wurde, wie nah die durchgeladene Waffe in seiner Hand an seinem Kopf vorüberzog.
»Knallen Sie den Kerl ab!«, hörte er Pfeiffer brüllen. »Er wird uns sonst beide töten!«
Berger zögerte, versuchte nachzudenken. »Aber … aber meine Schwester!«
»Wir werden sie finden. Die Polizei wird sie ausfindig machen. Die sind Experten in solchen Dingen. Glauben Sie mir.«
»Und wenn nicht?«
»Nun machen Sie schon! Das ist unsere einzige Chance. Dieser Irre hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen!« Die letzten Erinnerungsbilder von Maria in ihrem roten Mantel auf der Straße vor dem Verlagstower tanzten vor Pfeiffers innerem Auge. Er wollte Rache. Jetzt. Und dies war die Gelegenheit.
Ohne es zu wollen und unfähig einen vernünftigen Gedanken zu fassen, richtete Berger die Pistole auf den Unbekannten. Seine Hand zitterte unter dem Gewicht der Waffe. Er konnte sehen, wie Kimme und Korn umeinander tanzten und der Lauf wirre Bahnen zog. Selbst auf die kurze Entfernung bestand keine Gewissheit, dass er sein Ziel treffen würde. Sein erster klarer Gedanke war, ob er die Waffe entsichern musste. Der zweite galt Marlene, seiner Schwester, die ihm alles bedeutete.
»Tick tack, Herr Berger«, verhöhnte ihn der Unbekannte, in dessen Gesicht sich weder Angst noch Sorge zeigte, obwohl der Pistolenlauf nun eisern auf sein Herz zielte.
»Worauf warten sie!«, schrie Pfeiffer. »Drücken sie ab!«
Bergers Zeigefinger wanderte auf den Abzug. Dann riss er die Waffe hoch und presste sich die Mündung gegen die Schläfe. Er spürte die Kälte des Stahls und wie der Schweiß sich um den Lauf sammelte.
»Was tun sie denn?«, rief Pfeiffer fassungslos.
»Ich … ich kann doch meine Schwester nicht sterben lassen!«, wimmerte Berger, dessen Fingerkuppe am Abzug nervös auf- und abrutschte. Pfeiffer erkannte sofort, dass er verzweifelt und verwirrt genug war, abzudrücken, auch, wenn dies jedem menschlichen Instinkt der Selbsterhaltung zuwiderliefe.
»Tick tack tick tack«, trällerte der Unbekannte, worauf sein Mund ein hämisches Grinsen formte.
»Nein, tun sie das nicht!«, redete Pfeiffer auf Berger ein. »Das ist es doch was dieser kranke Psychopath will.«
Als Berger den Kloß herunterschlucken wollte, der ihm die Kehle versperrte, brach der Schuss. Blut, Knochensplitter und Hirnmasse spritzten hörbar gegen die Wagonwände. Der Knall, der von den Holzbohlen zurückgeworfen wurde, war so laut, dass Pfeiffer ein Stechen in den Gehörgängen spürte. Darauf nahm er nur noch ein grelles Pfeifen wahr.
Der Körper des Unbekannten polterte zu Boden.
Auch in Bergers Ohren klingelte es glockenhell. Als er den Schuss vernommen hatte, dachte er, er hätte sich unwillentlich selbst erschossen, auch, wenn ihm schnell klar wurde, dass er dann kaum hier stehen würde. Zitternd nahm er die Waffe von seiner Schläfe und starrte perplex auf den entseelten Körper am Boden. Darauf, nur noch verwirrtes Schweigen.
In der Schiebetür des Wagons erschien ein Waffenlauf – verchromt und blitzend im grellen Schein des Baustrahlers. Es folgte eine Hand, die den Revolver hielt. Eine Frauenhand. Ein Ärmel. Eine Gestalt im grauen Wollmantel.
»Doro?!« Bergers Gesicht verschob sich zu einer verblüfften Grimasse.
Unbeholfen kletterte Dorothea Berger in den Wagon, wobei sie mit ihrer Waffe unablässig auf den Unbekannten am Boden zielte. Es schien, als wäre sie unschlüssig, ob er noch immer eine Bedrohung darstellen konnte, auch, wenn das Meiste seines Gehirns von den Holzwänden tropfte.
»Aber … was tust du denn hier?«, fragte Berger überrascht und erleichtert zugleich.
Dorothea drehte sich zu ihm und Pfeiffer um. In ihrem Gesicht, in dem beide Entsetzen und Verstörung erwartet hatten, nichts als Eiseskälte.
»Mir blieb keine Wahl. Dieser Kerl hier ist uns auf die Schliche gekommen. Und alles nur wegen dieser kleinen Schlampe! Einer Schlampe, die niemand hätte vermissen sollen.«
»Was … wovon redest du nur?«, wollte Berger wissen.
»Dieses Gör hat sich bei Marlene ausgeheult. Wollte raus aus der Szene. Uns anzeigen. Aber, das konnten wir nicht zulassen. Fast schon Ironie, dass dieser Irre hier Marlene gekidnappt hat, bevor sie doch noch zur Polizei gehen konnte.«
»Dann stecken sie mit diesen Menschenhändlern unter einer Decke?«, schlussfolgerte Pfeiffer mit großen Augen.
Das Lächeln auf Dorotheas rotgeschminkten Lippen war der Antwort genug.
»Sag mir, dass das nicht wahr ist.« Langsam schüttelte Berger seinen Kopf. Er erinnerte sich an die Busreisen nach Sofia. Und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Um all die Formalitäten hatte sich seine Frau kümmern wollen. Und das, obwohl sie sich für gewöhnlich kaum in seine Geschäfte einzumischen pflegte.
Dorothea hob die Waffe und richtete sie auf ihren Mann. »Nun, ein Gutes hat diese ganze Geschichte«, murmelte sie nachdenklich. »Eine bessere Gelegenheit für mich, aus dieser Sache herauszukommen, wird sich kaum bieten. Dieser Wahnsinnige hier wollte auf seinem Rachefeldzug jeden töten, der für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Tja. Und dabei hat er euch beide einfach umgebracht. Was blieb mir da für eine Wahl …« Überraschend leicht spannte sie den Hahn des großkalibrigen Smith & Wesson Revolvers. Ihre Hand zitterte nicht. »Jetzt setz dir diese verdammte Pistole wieder an deinen Kopf, Richard, und drück ab!«, drohte sie mit Eis in der Stimme, während sie den Lauf gewissenhaft auf Bergers Stirn ausrichtete. »Sonst mache ich es!«
Fassungslos starrte er sie an. Seine Dorothea, mit der er seit über fünfundzwanzig Jahren verheiratet war.
»Wir … wir haben das alles auf Video!«, warf Pfeiffer geistesgegenwärtig ein und wies mit seinem Finger auf die Kamera. »Wir sind online. Niemand wird Ihnen diese Geschichte abkaufen! Jeder im Internet sieht uns zu und …«
»Ein netter Versuch, Herr Pfeiffer«, unterbrach ihn Dorothea gelassen. »Ich habe Eure Unterhaltung vorhin verfolgt. Und Sie werden nicht mehr dazu kommen, dieses Video online zu stellen. Mein Wort darauf.«
Berger riss die Pistole hoch und zielte auf seine Frau – Mündung gegen Mündung. »Du … du …« Er wollte so vieles sagen, doch fand er keine Worte. Am Ende stammelte er nur: Wieso? Verdammt!«
»Weißt du, Liebling«, säuselte Dorothea mit gehobenen Brauen, »eigentlich konnte ich dich immer ganz gut leiden. Aber, du verstehst sicher, dass ich es nicht riskieren kann, wegen dir ins Gefängnis zu wandern.«
»Hat es dir je an irgendetwas gefehlt?«, wehklagte Berger, der angestrengt versuchte, seine Waffe ruhig zu halten. »Wir … wir hatten doch ein gutes Leben, wir …«
»Vielleicht hättest du nicht unser Erspartes an der Börse verzocken sollen«, grollte Dorothea finster. »Ich habe mit diesen Busreisen in zwei Monaten mehr Geld verdient, als du in den letzten zehn Jahren!«
Mit der freien Hand lockerte Berger den Knoten seiner Eurozeichen-Krawatte, welche ihm den Hals zuschnürte. Längst war seine Verwirrung Wut gewichen. Immenser Wut, wie er sie jedes Mal verspürte, wenn seine Frau ihm seine missglückten Aktiengeschäfte vorhielt. Und die späte Einsicht, dass ihr vermeintlich liebevolles Geschenk nur Ausdrucks ihres Hohnes und Spottes war, steigerte diese ins Unermessliche. Wieder massierte seine Fingerkuppe den Abzug. Würde ihr die Zeit bleiben, selbst abzudrücken, fragte er sich, wenn er ihn nur überraschend genug betätigte?
Unstet wanderten Pfeiffers Augen zwischen Berger und Dorothea hin und her. Maria war vergessen und der Reporter in ihm erwacht. Er wusste, dass hier eine der aufregendsten Storys lauerte, mit der er je konfrontiert gewesen war. Wahrscheinlich die beste, die im Frankfurter Generalanzeiger jemals erscheinen würde. Nichts mehr mit Online-Redaktion, besann er sich. Mit dieser Story in der Hinterhand würde ihn Magnus sicher in die Führungsetage berufen und mit dem Posten eines Chefreporters adeln. Und falls nicht, würde ihn jeder andere Verlag mit Kusshand einstellen. Sensationshungrig verfolgte er das Geschehen, begann zu überlegen, wie er seinen Artikel zu schreiben gedachte und welcher Schluss für die Leserschaft wohl der spannendste wäre.
Vielleicht ja ein offenes Ende?, grübelte er, Schließlich hassen Leser nichts mehr, als Unwahrscheinlichkeiten und an den Haaren herbeigezogene Wendungen. Es schien, als hätte er vorausgeahnt, was in den folgenden zweieinhalb Sekunden passieren würde. Den letzten zweieinhalb Sekunden ihres Lebens …