Offene Enden Teil 4: Schreib Teil 5 – Finale

Sedieren hat sich bewährt

Juri Datschew wusste, dass er gewonnen hatte. Zumindest dieses Spiel. Er konnte all die Pfade sehen, die diese Begegnung nehmen könnte, und jede hatte er abgesichert.
Richard Berger würde sich selbst richten, wie er verlangte, weil er seine Schwester nicht in Gefahr bringen wollte. Das war der wahrscheinlichste Ausgang. Und dann würde Christian Pfeiffer sich verpflichtet fühlen, das Opfer nicht umsonst gewesen sein zu lassen und das Video einmal mehr einem breiten Publikum zur Verfügung stellen. Das würde auch Konstantin Magnus nicht länger ignorieren können und er würde sich endlich zeigen, dieser windige Fuchs, und Juri würde den nächsten Namen auf seiner Liste in Angriff nehmen können …
Natürlich konnte Berger stattdessen auch auf Juri schießen. Das war unwahrscheinlich, aber für diesen Fall trug er eine kugelsichere Weste und stand außerdem noch so im Licht, dass Berger nicht gut zielen konnte.
Außerdem könnte Berger auf die Webcam schießen. Das würde Juri gar nicht gefallen, weil alles aufgezeichnet werden musste, aber er hatte einen Ersatz dabei.
Zuletzt könnte sich Pfeiffer noch einmischen, aber dafür hatte er immer noch seine Pistole und würde ihn damit zurück auf Linie bringen. Und wenn sein Recherchestopp gegen diesen verfickten Venustempel eins gezeigt hatte, dann, dass er leicht auf Linie zu bringen war.
Nein, der Plan war perfekt und Berger würde die Pistole heben …
„Und bumm!“, sagte Juri und schubste die Legofigur vor seiner Nase um. Er kicherte in sich hinein und lachte dann lauthals los. Alles so perfekt geplant, dass er es vor seinem inneren Auge wie einen Film ablaufen lassen konnte, mit Perspektivwechseln und inneren Monologen und allem Drum und Dran! Es war herrlich. Jetzt musste er nur noch irgendwie hier raus und seine Vision Wirklichkeit werden lassen.
Hier raus hier raus hier raus! Ja! Er musste hier raus!
Er lachte nicht mehr, sondern kreischte jetzt und schlug mit den Fäusten gegen die weiß gepolsterten Wände.

„Juri hat mal wieder einen Anfall“, sagte Sven Lurks mit einem Seufzer und winkte seinem Azubi Olli zu, auch durch das Türfenster zu schauen. Olli musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen.
„Hat er die häufiger?“, fragte Olli.
„Hm“, machte Sven unbestimmt. „Hin und wieder. Er plant eine große Racheaktion oder so was gegen die Leute, die seine Freundin in den Selbstmord getrieben haben. Und jedes Mal, wenn er mitkriegt, dass er in der Geschlossenen einsitzt, geht das hier wieder los.“
Olli verzog das Gesicht. „Ist das mit seiner Freundin wirklich passiert?“
Sven zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Die Leute, die er ermorden will, die gibt’s zumindest alle wirklich, so weit ich weiß.“
„Unheimlich.“
„Aber Juri ist auch fest davon überzeugt, dass Gott zu ihm gekommen ist, ihn gekreuzigt hat und ihm dann den Auftrag gegeben hat, in Seinem Namen alle Sünder zu richten. Er hat eine lebhafte Fantasie.“ Sven gab im Allgemeinen nicht so viel auf das Gerede eines Irren.
„Voll krass“, sagte Olli beeindruckt und schaute wieder in den Raum. „Und was machen wir jetzt mit ihm?“ Juris Schreien war mehr und mehr zu einem animalischen Brüllen geworden.
„Tja“, sagte Sven und öffnete den schmalen Schrank neben der Tür. Eine Batterie Spritzen glänzte darin. „Sedieren hat sich bewährt.“

Manchmal ist Überleben die grausamste Strafe von allen

Richard Berger stand reglos da, die Pistole in der Hand. Jede Sekunde, die verstrich, brachte Marlene dem Tod näher. Seine Finger zitterten, während die Worte des Unbekannten im Waggon verhallten.
Pfeiffer warf einen Blick auf die blinkende Kamera, dann auf Berger. Alles in ihm schrie, die Waffe aus der Hand des Reiseveranstalters zu reißen und diesen Psychopathen niederzuschlagen. Ihn leiden zu lassen – für Maria!
Zugegeben die Pistole, des Mannes in der Lederjacke war eine stille Drohung, sich nicht einzumischen. Von wegen!
«Woher wissen wir, dass Sie Ihr Wort halten?» Pfeiffers Stimme zitterte leicht, doch sie war fest genug, um die Aufmerksamkeit des Unbekannten zu bekommen. «Wie können wir sicher sein, dass Marlene freikommt, wenn wir tun, was Sie verlangen?» Er traute dem Mann nicht, aber er versuchte Zeit zu gewinnen – Zeit, um einen Ausweg zu finden.
Dieser Psychopath lächelte nur kalt. «Vertrauen? Herr Pfeiffer, das spielt hier keine Rolle. Sie haben die Wahl. Wenn Sie kooperieren, hat Marlene eine Chance. Wenn nicht… nun ja, ihre Luft reicht nicht ewig.»
Berger, der bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf, seine Augen rot und glasig. «Was stimmt nicht mit Ihnen?», krächzte er mit brüchiger Stimme. «Was treibt einen Menschen zu so etwas? Zu diesem… kranken Spiel?»
Der Unbekannte lachte leise auf. «Sie wollen mich nicht verstehen Herr Berger. Sie suchen nach einem Sinn, wo es keinen gibt.» Er trat einen Schritt vor, blieb weiterhin im Schatten verborgen. «Die Welt ist voller Schuld. Menschen wie Sie, wie Pfeiffer, wie Maria, Klaus oder Ihre Schwester – sie alle sind voller Schuld. Ich bin nur derjenige, der den Preis einfordert.»
«Richard, hör nicht auf ihn!» Beschwor Pfeiffer den Reiseveranstalter. «Es geht ihm nicht um Marlene, es geht um dich. Sie ist ihm völlig egal! Er will das du leidest.»
Berger starrte auf die Pistole in seinen zitternden Händen. «Aber was soll ich denn machen? Wenn ich nichts tue, stirbt sie. Und wenn ich…» Er schluckte schwer. «Ich habe … doch jetzt… Marlene…»
Pfeiffer trat einen Schritt auf ihn zu und streckte die Hand aus. «Gib mir einfach die Waffe. Wir finden einen anderen Weg.» Berger sah Pfeiffer an, ein schwaches Flackern von Hoffnung in den Augen.
Mit einer fließenden Bewegung zog der Mann seine eigene Waffe aus der Tasche und richtete sie auf Pfeiffer. «Keine weiteren Schritte, Herr Journalist. Mischen Sie sich nicht ein.»
Pfeiffer erstarrte mitten in der Bewegung.
Berger wandte den Blick zur Kamera. Seine Lippen bebten.
«Na los, Herr Berger,» sagte der Unbekannte, seine Stimme triefte vor Häme.
Der Reiseveranstalter war leichenblass, Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton hervor.
«Wissen Sie, warum Sie so zögern, Herr Berger? Weil Sie wissen, dass ich recht habe. Jeder von Ihnen ist schuldig, doch ganz besonders Sie!»
Tränen liefen ungehindert über Bergers Wangen. «Ich wollte das nicht… Ich wusste nicht, wofür die Fahrten wirklich gedacht waren! Es sollte doch nie jemand zu Schaden kommen.», wimmerte er.
«Natürlich wussten Sie es.» Erwiderte der Mann kalt. «Sie haben sich einfach entschieden, wegzusehen. Und jetzt? Jetzt haben Sie die Wahl, Berger. Helfen Sie Ihre Schwester… oder nicht.»
Berger atmete tief ein. Die Kamera blinkte rot. Er drehte sich in ihre Richtung und sprach mit kratziger Stimme:

«Ich bin… Richard Berger. Ein normaler Bürger, wie… wie ihr alle. Zehntausend Euro, dafür habe ich weggesehen. Wegen mir… wegen mir sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht – mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich… Ich bin ein Schwein. Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!»

Der Unbekannte trat zurück und lehnte sich lässig gegen die Wand des Waggons, als sei er hier um sich eine unterhaltsame Show anzusehen und keinen Selbstmord. Die Pistole entspannt in einer Hand. Pfeiffer konnte spüren, wie die Zeit unter seinen Fingern verrannen. Er musste handeln. Ein Gedanke jagte den nächsten, keiner erschien sinnvoll. Sein Blick wanderte hinüber zum Fremden, zur Waffe, zu Berger.
Dieser hob die Pistole, richtete sie langsam auf seine eigene Schläfe, seine Schultern bebten unter den unterdrückten Schluchzern. «Ich bin ein Monster,» flüsterte er kaum hörbar. «Ich habe Menschen sterben lassen. Und jetzt… sie darf nicht auch noch wegen mir sterben.» Er schloss die Augen.
«Nein!» Ohne wirklich zu wissen, was er tat stürzte Pfeiffer nach vorne, und packte Berger am Arm. Ein Schuss löste sich, peitschte durch den Raum, so laut, dass Pfeiffer ein klingeln in den Ohren hörte. Der Klang zerriss die angespannte Stille. Bergers Blick war starr auf einen Punkt hinter ihm gerichtet, seine Augen weit vor Entsetzen. Im nächsten Augenblick brach er zusammen, seine Knie gaben unter ihm nach. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Klirren auf den Boden.
Langsam drehte Pfeiffer sich um. Der Fremde schwankte, die Hand an die Seite gepresst. Ein gequältes Stöhnen entwich ihm, als er rückwärts taumelte und an der Wand zu Boden rutschte. Blut quoll zwischen seinen Fingern hervor und verteilte sich auf dem rostigen Untergrund. Die Pistole glitt klappernd aus seiner Hand.
Die Zeit schien stillzustehen.
Es dauerte einen Moment bis Pfeiffer reagierte und auf den Mann zustürzte. Mit einem Kick beförderte er die Waffe ins Freie.
Der Fremde starrte ihn an. «Sie Idiot…», keuchte er, die Worte kaum mehr als ein Flüstern. «Sie haben versagt. Aber nicht nur Sie.» Sein flackernder Blick glitt in Bergers Richtung. «Marlene – sie ist jetzt nichts weiter als ein weiteres Opfer Ihrer Unfähigkeit. Ihr werdet sie nie finden…».
Pfeiffer riss den Mann an seinem Shirt hoch, genoss es beinah, als der Mann gequält aufschrie. «Wo ist sie? Sag es mir! WO IST SIE?»
Der Unbekannte reagierte nicht. Er hatte das Bewusstsein verloren. Hastig presste Pfeiffer eine Hand auf die Wunde, während er mit der anderen zitternd den Notruf wählte. Das Arschloch durfte noch nicht sterben, wenn Marlene leben sollte.

Kurz darauf stürmte die Polizei den Waggon. Der Unbekannte wurde bewusstlos abtransportiert, während Berger in einen Krankenwagen bugsiert wurde. Er hatte einen schweren Schock erlitten und zitterte unkontrolliert. Pfeiffer, der die Szene mit leerem Blick beobachtete, wurde von einem Ermittler zur Seite genommen und befragt, bevor man ihn ebenfalls ins Krankenhaus brachte. «Er hat Marlene,» wiederholte er immer und immer wieder drängend. «Sie hat nur noch wenig Zeit. Sie müssen Marlene finden, bevor es zu spät ist.»

Im Keller eines verlassenen Gebäudes fanden die Beamten einige Stunden später Marlene Romero. Sie lag zusammengekauert in einer Ecke des winzigen Raums, ihre Hände blutig, als hätte sie verzweifelt an der Tür gekratzt, um sich zu befreien. Zu spät. Marlene war qualvoll erstickt. Die Nachricht erreichte Pfeiffer und Berger im Krankenhaus. Berger erlitt einen erneuten Zusammenbruch, schluchzte haltlos in den Armen seiner Frau. Pfeiffer saß einfach stumm da, unfähig, etwas zu fühlen außer einer lähmenden Leere. Die Schuld lastete schwerer auf ihm, als je zuvor. Er hatte den Fremden überwältigen und falls erforderlich mit Gewalt aus ihm heraus quetschen wollen, wo er Marlene gefangen hielt. Doch dieser war seit dem Unfall ohne Bewusstsein, hatte ihnen nichts preisgeben können.
Ein Team der Cyber-Abteilung hatte daher die Überwachungskamera des Industriegebiets überprüft, und so den letzten Standort des Mannes vor ihrem Treffen herausgefunden. Der Unbekannte war wenige Stunden zuvor aus einem Wagen am Rand des Industriegebiets gestiegen und dann aus dem Sichtfeld der Kameras verschwunden. Ein Suchteam machte sich sofort auf den Weg. Die Gegend dort war voll von Fabrikhallen und Gebäuden mit weitläufigen Kellerräumen. Die Polizei durchkämmte das Gelände mit Wärmebildkameras und Suchhunden, doch die Minuten verstrichen erbarmungslos. Währenddessen saß Pfeiffer regungslos in einem spärlich eingerichteten Krankenhauszimmer, die Hände verschränkt, die Augen starr auf den Boden gerichtet. Jede Sekunde zog sich schier unendlich in die Länge, das Warten zermürbte ihn Stück für Stück. Die Worte des Unbekannten hallten in seinem Kopf wider: «Ihr werdet sie nie finden… Sie haben versagt…»

Einige Wochen später saß Pfeiffer allein in seiner Wohnung, einen großen Pott schwarzen Kaffee in der Hand, und starrte auf den Bildschirm seines Laptops. Der Artikel war veröffentlicht, die Reaktionen gewaltig. Die Enthüllung des Menschenhändlerrings hatte die Stadt erschüttert. Berger Reisen war geschlossen, und Richard Berger selbst befand sich in psychiatrischer Behandlung, vorläufig wegen Beihilfe angeklagt. Doch Pfeiffer verspürte keine Genugtuung.
Heute wäre ihr Jahrestag gewesen. Vor genau einem Jahr hatte Marlene ihn und Maria getraut. Nun liefen die Fotos ihres besonderen Tages in Endlosschleife über seinen Bildschirm. Marias Lächeln – dieses warme, strahlende Lächeln – schien ihm jedes Mal einen Dolch ins Herz zu stoßen, wenn er es sah.
Während er die Bilder betrachtete, stieg in ihm das unaufhaltsame Gefühl auf, dass nichts wirklich vorbei war. Nicht für ihn, nicht für die Bergers. Marlene war tot, Maria war tot – und er, er lebte weiter.
Er stellte sich vor, wie Marlene ihre letzten Stunden in diesem kalten, fensterlosen Kellerloch verbracht hatte. Allein, mit nichts als der verzweifelten Hoffnung, dass jemand, irgendjemand, sie finden würde. Und dann dachte er an den Unbekannten, der im Krankenhaus gestorben war.

«Ihr werdet sie nie finden.»

Er hatte recht behalten. Und diese Wahrheit würde Pfeiffer für den Rest seines Lebens verfolgen. Manche Entscheidungen ließen einen nie los.
Er senkte den Blick, die Bilder von Maria verschwammen hinter seinen Tränen. Alles, was ihm geblieben war, waren Erinnerungen – und eine Schuld, die er niemals würde begleichen können.

Offene Enden – Finale

Verspekuliert

Richard Berger starrte auf die Pistole in seinen Fingern. »Sind … sind Sie denn völlig wahnsinnig? Sie wollen, dass ich mich umbringe?« Er hatte Mühe, die Worte über seine bebenden Lippen zu bringen.

»Wahnsinnig?!« Die Stimme des Unbekannten zitterte vor Entrüstung. »Es geht mir nur um die Wahrheit, um Schuld und um Sühne! Das, was Sie meiner kleinen Schwester angetan haben.«

»Ihrer Schwester? Aber ich kenne doch Ihre Schwester überhaupt nicht«, stammelte Berger.

»Keines dieser kranken Schweine hat sie gekannt«, keifte der Unbekannte. »Das hat sie nicht davon abgehalten, sie umzubringen! Auf einer ihrer kranken Sexpartys in diesem verfluchten Bordell!«

»Damit haben wir nichts zu tun!«, versuchte sich Berger zu rechtfertigen. »Glauben Sie mir! Ich hatte doch keine Ahnung von alledem.« Seine Finger massierten den Kunststoffgriff der Waffe, der sich an seiner transpirierenden Handfläche wie ein Stück schmierige Seife anfühlte.

Die Stimme des Unbekannten beruhigte sich: »Die Uhr tickt, Herr Berger. Sie haben die Wahl. Eine Wahl, die meine Schwester nicht hatte.«

Der Schweiß auf Bergers Stirn begann zu perlen. Mit dem Hemdsärmel wischte er sich über die Schläfen, wobei ihm bewusst wurde, wie nah die durchgeladene Waffe in seiner Hand an seinem Kopf vorüberzog.

»Knallen Sie den Kerl ab!«, hörte er Pfeiffer brüllen. »Er wird uns sonst beide töten!«

Berger zögerte, versuchte nachzudenken. »Aber … aber meine Schwester!«

»Wir werden sie finden. Die Polizei wird sie ausfindig machen. Die sind Experten in solchen Dingen. Glauben Sie mir.«

»Und wenn nicht?«

»Nun machen Sie schon! Das ist unsere einzige Chance. Dieser Irre hat zwei Menschenleben auf dem Gewissen!« Die letzten Erinnerungsbilder von Maria in ihrem roten Mantel auf der Straße vor dem Verlagstower tanzten vor Pfeiffers innerem Auge. Er wollte Rache. Jetzt. Und dies war die Gelegenheit.

Ohne es zu wollen und unfähig einen vernünftigen Gedanken zu fassen, richtete Berger die Pistole auf den Unbekannten. Seine Hand zitterte unter dem Gewicht der Waffe. Er konnte sehen, wie Kimme und Korn umeinander tanzten und der Lauf wirre Bahnen zog. Selbst auf die kurze Entfernung bestand keine Gewissheit, dass er sein Ziel treffen würde. Sein erster klarer Gedanke war, ob er die Waffe entsichern musste. Der zweite galt Marlene, seiner Schwester, die ihm alles bedeutete.

»Tick tack, Herr Berger«, verhöhnte ihn der Unbekannte, in dessen Gesicht sich weder Angst noch Sorge zeigte, obwohl der Pistolenlauf nun eisern auf sein Herz zielte.

»Worauf warten sie!«, schrie Pfeiffer. »Drücken sie ab!«

Bergers Zeigefinger wanderte auf den Abzug. Dann riss er die Waffe hoch und presste sich die Mündung gegen die Schläfe. Er spürte die Kälte des Stahls und wie der Schweiß sich um den Lauf sammelte.

»Was tun sie denn?«, rief Pfeiffer fassungslos.

»Ich … ich kann doch meine Schwester nicht sterben lassen!«, wimmerte Berger, dessen Fingerkuppe am Abzug nervös auf- und abrutschte. Pfeiffer erkannte sofort, dass er verzweifelt und verwirrt genug war, abzudrücken, auch, wenn dies jedem menschlichen Instinkt der Selbsterhaltung zuwiderliefe.

»Tick tack tick tack«, trällerte der Unbekannte, worauf sein Mund ein hämisches Grinsen formte.

»Nein, tun sie das nicht!«, redete Pfeiffer auf Berger ein. »Das ist es doch was dieser kranke Psychopath will.«

Als Berger den Kloß herunterschlucken wollte, der ihm die Kehle versperrte, brach der Schuss. Blut, Knochensplitter und Hirnmasse spritzten hörbar gegen die Wagonwände. Der Knall, der von den Holzbohlen zurückgeworfen wurde, war so laut, dass Pfeiffer ein Stechen in den Gehörgängen spürte. Darauf nahm er nur noch ein grelles Pfeifen wahr.

Der Körper des Unbekannten polterte zu Boden.

Auch in Bergers Ohren klingelte es glockenhell. Als er den Schuss vernommen hatte, dachte er, er hätte sich unwillentlich selbst erschossen, auch, wenn ihm schnell klar wurde, dass er dann kaum hier stehen würde. Zitternd nahm er die Waffe von seiner Schläfe und starrte perplex auf den entseelten Körper am Boden. Darauf, nur noch verwirrtes Schweigen.

In der Schiebetür des Wagons erschien ein Waffenlauf – verchromt und blitzend im grellen Schein des Baustrahlers. Es folgte eine Hand, die den Revolver hielt. Eine Frauenhand. Ein Ärmel. Eine Gestalt im grauen Wollmantel.

»Doro?!« Bergers Gesicht verschob sich zu einer verblüfften Grimasse.

Unbeholfen kletterte Dorothea Berger in den Wagon, wobei sie mit ihrer Waffe unablässig auf den Unbekannten am Boden zielte. Es schien, als wäre sie unschlüssig, ob er noch immer eine Bedrohung darstellen konnte, auch, wenn das Meiste seines Gehirns von den Holzwänden tropfte.

»Aber … was tust du denn hier?«, fragte Berger überrascht und erleichtert zugleich.

Dorothea drehte sich zu ihm und Pfeiffer um. In ihrem Gesicht, in dem beide Entsetzen und Verstörung erwartet hatten, nichts als Eiseskälte.

»Mir blieb keine Wahl. Dieser Kerl hier ist uns auf die Schliche gekommen. Und alles nur wegen dieser kleinen Schlampe! Einer Schlampe, die niemand hätte vermissen sollen.«

»Was … wovon redest du nur?«, wollte Berger wissen.

»Dieses Gör hat sich bei Marlene ausgeheult. Wollte raus aus der Szene. Uns anzeigen. Aber, das konnten wir nicht zulassen. Fast schon Ironie, dass dieser Irre hier Marlene gekidnappt hat, bevor sie doch noch zur Polizei gehen konnte.«

»Dann stecken sie mit diesen Menschenhändlern unter einer Decke?«, schlussfolgerte Pfeiffer mit großen Augen.

Das Lächeln auf Dorotheas rotgeschminkten Lippen war der Antwort genug.

»Sag mir, dass das nicht wahr ist.« Langsam schüttelte Berger seinen Kopf. Er erinnerte sich an die Busreisen nach Sofia. Und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen: Um all die Formalitäten hatte sich seine Frau kümmern wollen. Und das, obwohl sie sich für gewöhnlich kaum in seine Geschäfte einzumischen pflegte.

Dorothea hob die Waffe und richtete sie auf ihren Mann. »Nun, ein Gutes hat diese ganze Geschichte«, murmelte sie nachdenklich. »Eine bessere Gelegenheit für mich, aus dieser Sache herauszukommen, wird sich kaum bieten. Dieser Wahnsinnige hier wollte auf seinem Rachefeldzug jeden töten, der für den Tod seiner Schwester verantwortlich war. Tja. Und dabei hat er euch beide einfach umgebracht. Was blieb mir da für eine Wahl …« Überraschend leicht spannte sie den Hahn des großkalibrigen Smith & Wesson Revolvers. Ihre Hand zitterte nicht. »Jetzt setz dir diese verdammte Pistole wieder an deinen Kopf, Richard, und drück ab!«, drohte sie mit Eis in der Stimme, während sie den Lauf gewissenhaft auf Bergers Stirn ausrichtete. »Sonst mache ich es!«

Fassungslos starrte er sie an. Seine Dorothea, mit der er seit über fünfundzwanzig Jahren verheiratet war.

»Wir … wir haben das alles auf Video!«, warf Pfeiffer geistesgegenwärtig ein und wies mit seinem Finger auf die Kamera. »Wir sind online. Niemand wird Ihnen diese Geschichte abkaufen! Jeder im Internet sieht uns zu und …«

»Ein netter Versuch, Herr Pfeiffer«, unterbrach ihn Dorothea gelassen. »Ich habe Eure Unterhaltung vorhin verfolgt. Und Sie werden nicht mehr dazu kommen, dieses Video online zu stellen. Mein Wort darauf.«

Berger riss die Pistole hoch und zielte auf seine Frau – Mündung gegen Mündung. »Du … du …« Er wollte so vieles sagen, doch fand er keine Worte. Am Ende stammelte er nur: Wieso? Verdammt!«

»Weißt du, Liebling«, säuselte Dorothea mit gehobenen Brauen, »eigentlich konnte ich dich immer ganz gut leiden. Aber, du verstehst sicher, dass ich es nicht riskieren kann, wegen dir ins Gefängnis zu wandern.«

»Hat es dir je an irgendetwas gefehlt?«, wehklagte Berger, der angestrengt versuchte, seine Waffe ruhig zu halten. »Wir … wir hatten doch ein gutes Leben, wir …«

»Vielleicht hättest du nicht unser Erspartes an der Börse verzocken sollen«, grollte Dorothea finster. »Ich habe mit diesen Busreisen in zwei Monaten mehr Geld verdient, als du in den letzten zehn Jahren!«

Mit der freien Hand lockerte Berger den Knoten seiner Eurozeichen-Krawatte, welche ihm den Hals zuschnürte. Längst war seine Verwirrung Wut gewichen. Immenser Wut, wie er sie jedes Mal verspürte, wenn seine Frau ihm seine missglückten Aktiengeschäfte vorhielt. Und die späte Einsicht, dass ihr vermeintlich liebevolles Geschenk nur Ausdrucks ihres Hohnes und Spottes war, steigerte diese ins Unermessliche. Wieder massierte seine Fingerkuppe den Abzug. Würde ihr die Zeit bleiben, selbst abzudrücken, fragte er sich, wenn er ihn nur überraschend genug betätigte?

Unstet wanderten Pfeiffers Augen zwischen Berger und Dorothea hin und her. Maria war vergessen und der Reporter in ihm erwacht. Er wusste, dass hier eine der aufregendsten Storys lauerte, mit der er je konfrontiert gewesen war. Wahrscheinlich die beste, die im Frankfurter Generalanzeiger jemals erscheinen würde. Nichts mehr mit Online-Redaktion, besann er sich. Mit dieser Story in der Hinterhand würde ihn Magnus sicher in die Führungsetage berufen und mit dem Posten eines Chefreporters adeln. Und falls nicht, würde ihn jeder andere Verlag mit Kusshand einstellen. Sensationshungrig verfolgte er das Geschehen, begann zu überlegen, wie er seinen Artikel zu schreiben gedachte und welcher Schluss für die Leserschaft wohl der spannendste wäre.

Vielleicht ja ein offenes Ende?, grübelte er, Schließlich hassen Leser nichts mehr, als Unwahrscheinlichkeiten und an den Haaren herbeigezogene Wendungen. Es schien, als hätte er vorausgeahnt, was in den folgenden zweieinhalb Sekunden passieren würde. Den letzten zweieinhalb Sekunden ihres Lebens …

Smarte Rettung

Ist es der Dritte oder Vierte? Egal. Dorothea nippt den cremigen Likör, wohlige Wärme kitzelt ihren Bauch. Bäh, trinkst du deine Elefantenpisse?, würde jetzt Richard sagen. Sie kichert. Ihr Richard! Immer noch. Sie hat eine Entscheidung getroffen. Sie fischt mit dem kleinen Finger Reste aus dem Glas und tippt mit dem anderem die eins, eins, Null.

Richard sieht die Pistole an, als wäre sie ein ekliges Insekt. Er soll sich erschießen? Die Worte sind in seinem Gehirn noch nicht angekommen. Er muss plötzlich ganz dringend. „Bitte, lassen Sie mich raus, ich muss mal!“ Sein Kopf ist puterrot. „Jetzt schon die Hosen voll?, grinst der Mann. Ok, ganz kurz, hier vor der Tür. Und keine dummen Gedanken, sonst bist du gleich tot“. Er nimmt ihm die Pistole ab und wedelt in Richtung Ausgang. Richard hockt sich vor die Tür, Angst schießt aus ihm heraus.

„Hier muss es sein!“, Kommissar Donner stellt den Dienstwagen ab. Die Bergers und der Journalist Pfeiffer waren ihm natürlich in Erinnerung. Die Selbstmorde, denen das Motiv fehlte. Dorothea Berger war ein Nervenbündel, roch verdächtig nach Alkohol. „Scheiße! Wie sollen wir hier jemanden finden?“ Donners Laune ist endgültig im Keller. Die junge Polizistin nickt, sagt lieber nichts. Sie sehen die endlose Anzahl von rostenden Waggons. Es fängt leise an zu schneien. Donner verteilt seine Leute auf dem Gelände. Sie sind noch nicht weit gekommen, da fällt ein Schuss.

„Polizei! Kommen Sie mit erhobenen Händern heraus!“ Richard Berger ist kalkweiß, er kommt die Stufen herunter. „Sind sie in Ordnung, Berger? Ist noch jemand im Waggon?“. „Ja. Pfeiffer und der Erpresser, aber der ist tot. Bitte. Sie müssen meine Schwester befreien. Ich weiß, wo sie ist.“ Christian sitzt auf der Erde, in der Hand noch die Waffe. „Gott sei Dank, sie sind da“.

Auf der Wache erzählen sie, was geschehen war. Wie Richard sich selbst anprangerte, wie er sich die Pistole an die Schläfe hielt. „Was ist dann passiert?“ „Mein Handy hat geklingelt, Marlenes Nummer“! „Und der Schuss?“ „Das war ich“, ruft Christian. „Der Mann wollte schießen, ich habe ihm irgendwie die Waffe aus der Hand schlagen können. Sie sehen ja, der Schuss ging wohl ins Schwarze.“ Donner schüttelt den Kopf. „Wissen Sie, dass sie unverschämtes Glück hatten?“

„Fahren wir jetzt zu Marlene Berger?“ „Gleich, Mia“, meint Donner zu seiner Kollegin und grübelt. Irgendetwas gefällt ihm nicht an der Aussage von Berger. „Was sagen Sie zu der Sache, Mia?“

Show down

Wie Baphomet sprach! Was er alles wusste. „Ihr Evangelen seid doch frei in der Glaubenswahl, nicht wahr“? So tauchte er damals in ihrem Gottesdienst auf und er hatte Recht. Mit allem! Der Selbstmord dieses Sünders vor Richards Haus war unvermeidlich, ebenso der von Maria, obwohl sie da kurz gezweifelt hatte. Doch Baphomet hat sie immer überzeugt. Er war der Erlöser, daran gab es keine Zweifel. Sein perfekter Plan, um die Polizei hierher zu locken! Heute ist der 12. Dezember, ein heiliger Tag. Doro zu holen, war ein Klacks, die sitzt jetzt gefesselt im Keller. Das Haus steht bereit. Sie ist bereit. Marlene hat keine Angst. Baphomet sagt, dass es nicht weh tun wird. In ihrem Wohnzimmer warten mit ihr zehn Auserwählte. Mit Baphomet und den anderen die Erleuchtung erleben. Sie denkt kurz an Richard, er müsste jetzt schon im Paradies auf sie warten.

Dorothea stöhnt. Sie kann kaum glauben, was ihr Marlene erzählte. War die komplett verrückt geworden? Und Richard? War er schon tot? Warum stehen hier so viele Gasflaschen? Doro zittert. Nein! Dann riecht sie Benzin. Sie ruft laut und voller Angst: „Hey Siri…“

Donner telefoniert, während die Polizistin Mia Gas gibt. „Sofort! In den Heideweg 7! Gefahr in Verzug“, brüllt Donner in das Handy. Er ist wie elektrisiert. „Schneller Mia! Wir müssen Dorothea retten!“ „Dorothea?? Nicht Marlene?“, fragt Mia erstaunt, während sie mit Vollgas über die Straße brettert. Donner hält sich fest. „Ja. Dorothea. Haben sie schon mal was von den schwarzen Templern gehört“?

Als sie eintreffen, schlagen bereits Flammen aus dem Dachstuhl. Sie kommen zeitgleich mit Feuerwehr und Polizei an. „Ihr müsst in den Keller! Da ist Dorothea, ruft Kommissar Donner den Feuerwehrmännern zu. Er selbst rennt mit zwei Polizisten zur Rückseite des Hauses. Sie kommen mit einem hageren Mann wieder, dem sie Handschellen angelegt haben. Der Mann zwinkert Mia zu. Sie bekommt Gänsehaut, sie spürt die unheimliche Präsenz, die von ihm ausgeht. Sie ist froh, als er im Polizeiwagen sitzt. Ein Feuerwehrmann trägt Dorothea aus dem Haus. Sie hustet stark, aber sie lebt. „Das wird wieder, Dorothea“, sagt Donner sanft zu ihr, bevor der Krankenwagen sie mitnimmt.

Als alles vorbei ist, stehen Donner und Mia vor dem ausgebrannten Haus. „Was ist mit Marlene und den anderen?“ Donner macht eine Faust, seine Stimme zittert. „Leider zu spät, Mia. In dem Wohnzimmer liegen über zehn Leichen. Wie ich befürchtet habe. Ein Massenselbstmord. Diesen Baphomet, den sogenannten Erlöser hast du ja gesehen. Es wurde Zeit, dass dieser Verbrecher gestoppt wurde.“ „Eine Frage habe ich noch, Chef. Wie hat Doro sie informiert? Sie war doch gefesselt?“ Donner feixt. „Ich gehe mit der Zeit, Mia…schauen sie mal, das neueste Modell“, sagt er und hält ihr seine Smartwatch hin. „Wow. So eine hätte ich auch gern.“

Die Macht der Namen

Sie sind eine Pfeife, Pfeiffer.
Ein Witz, der ihn seit der Schulzeit begleitete. Der ihn durchs Berufsleben bis in die Online-Redaktion verfolgt hatte. Sodass selbst seine blutjungen Co-Worker den Scherz übernommen hatten. ‚Kein Ding, Pfeife, ich mach‘ das schnell‘ sagten sie, weil er vergeblich zu verstehen versuchte, wie er die Online-Beiträge formatieren sollte oder irgendeine Verlinkung nicht klappte.
Kein Ding, Pfeife, Sie haben andere Stärken.
Berger stand da, zitterte mitleiderregend am ganzen Leibe, starrte mit aufgerissenen Augen in die Webcam. „Ich …“, stammelte er. „Ich bin …“
Der Unbekannte wippte auf den Fußballen, ganz auf Berger konzentriert vollführte er eine ungeduldige Handbewegung. „An Ihren Namen werden Sie sich doch noch erinnern, oder?“
Namen sind Macht. Jemandem einen falschen Namen aufzudrücken kann ebenso machtvoll sein wie einen richtigen Namen zu gebrauchen.
Pfeife. Lusche.
„Ich bin Richard Berger“, unternahm er einen neuen Versuch und seine Stimme brach weg wie ein ins Meer stürzender Eisberg von einem kalbenden Gletscher.
Das würde nicht gut ausgehen, dachte Pfeiffer. Das konnte nicht gut ausgehen. Es sei denn, er ließ sich etwas einfallen.
„… ein normaler …“
Seine Recherchen. Der Menschenhändlerring. Da regte sich eine vage Erinnerung in seinem Verstand. Der Schemen einer Erinnerung.
„Ein normaler Bürger wie ihr alle.“
Namen. Es kam doch immer nur auf den richtigen Namen an.
„… um wegzusehen“, stammelte Berger.
„An Ihrer Stelle würde ich eine dritte Alternative anbieten“, sagte Pfeiffer mit klarer, ruhiger Stimme. „Atanas.“
Der Unbekannte fror in der Bewegung ein. Dann wandte er sich langsam Pfeiffer zu. Ganz am Rande nahm Pfeiffer wahr, dass das Licht der Webcam erlosch.
Volltreffer.
Was haben Sie gesagt?“
„Die dritte Alternative lautet“, fuhr Pfeiffer ungerührt fort, „Sie sagen uns, wo Marlene ist. Sie stellen sich der Polizei. Sie gestehen öffentlich, was Sie getan haben.“ Pfeiffer machte einen Schritt auf Atanas zu. „Und im Gegenzug verrate ich Ihnen, wo Ihre Schwester ist.“
Atans wich an die Wand des Waggons zurück, starrte Pfeiffer an, hatte Berger völlig vergessen. „Siyana ist tot.“ Seine Stimme hatte sich verändert. Fort war die genüssliche Freude. Die siegessichere Überheblichkeit. Da war nur noch Schmerz.
„Nein, ist sie nicht“, widersprach Pfeiffer. „Sie sagten, ich hätte weiter recherchieren sollen?“ Noch einen Schritt auf Atanas zu. Er schien es nicht zu registrieren. „Nun, das habe ich. Und hätten Sie Maria nicht …“ Seine Gedanken verloren sich, schwebten davon, zurück zum feuchtkalten Sonntagmorgen damals. Nein. Nicht der richtige Zeitpunkt. „ … Ich hätte die Story noch gebracht, sobald ich Gewissheit gehabt hätte.“
„Wo ist sie?“, fragte Atanas, fasste sich wieder und zog erneut seine Pistole hervor. „Sagen Sie mir, wo sie ist!“
„Erst geben Sie uns die Adresse, wo Marlene ist.“ Pfeiffer zwang sich zu einem fiesen Lächeln. Zu dem Lächeln, das er sich sonst für Leute aufhob, die gegen Laternen liefen, weil sie auf ihr Handy starrten. „Aufenthaltsort gegen Aufenthaltsort.“
Und in dem Moment wusste er, dass er gewonnen hatte.
„Hildinger Gasse 5. Unter dem Gartenhäuschen. Der Schlüssel hängt neben dem Fenster.“
Pfeiffer nickte. „Haben Sie das gehört, Dorothea?“, sprach er in seine Uhr. So eine grässliche Smartwatch, die ihm seine Kollegen zum Geburtstag geschenkt hatten. Wohl als Witz. Der Anruf lief, seit sie das Gelände betreten hatten. „Geben Sie es der Polizei weiter. Sie können reinkommen.“
Ob Dorothea ihn verstand, war ihm unklar, doch draußen näherten sich Schritte. Jemand schimpfte leise vor sich hin, als er wohl auf den nassen Gleisen ausrutschte.
„Sie hinterlistiger …“, murmelte Atanas. Der erste Beamte kletterte herein, legte Atans Handschellen an. Willenlos ließ dieser es geschehen, den Blick auf Pfeiffer gerichtet. „Wo ist meine Schwester?“
„Ich habe nicht die geringste Ahnung“, sagte Pfeiffer mit aller Verachtung, die er aufbringen konnte und ging an Atanas vorbei.

Zwei Wochen später.
Pfeiffer drehte sich auf seinem Bürostuhl in der Online-Redaktion. Geübt lektorierte er einen Artikel eines jüngeren Kollegen, der ihn darum gebeten hatte.
Polizei schnappt Menschenhändler.
Berger hatte der Polizei alles gestanden. Atanas saß im Gefängnis und schwieg beharrlich. Er selbst hatte sich mit seinem neuen Job angefreundet. Und Marlene?
Er würde sie schon noch finden. Die Adresse, die Atanas ihnen genannt hatte. Nun, das Gartenhäuschen hatte es gegeben, aber keinen Keller.
„Ich werde dich finden“, murmelte Pfeiffer und drehte seinen Kugelschreiber wie eine Zigarre zwischen den Fingern. „Ich werde euch beide finden.“ Siyana und Marlene.
Immerhin war er Journalist.

»Wie kommst Du jetzt auf Marlene?«

Die Nase des ersten Zwergs blinkte, als wolle sie Rudolph dem Rentier Konkurrenz machen.

»Komm’ mir jetzt bitte nicht schon wieder mit deinen Minderwertigkeits-Komplexen!«, sagt er. Mit einem Hauch - aber wirklich nur einem Hauch - von Ungeduld sah er seinem Kollegen in die Augen:

»Ich erkläre es Dir gerne nochmal: Für Turbulenzen ist die Fortbildung XIV/2b Voraussetzung. Und damit Ende der Debatte!«

Während sein Kollege mit der blauen Nase etwas grummelte, aber mehr aus Gewohnheit, richtete der erste Zwerg sich auf: »Ich glaube, es gibt jetzt Dringenderes«, sagte er. Schau mal, wie sie uns in der letzten Runde in die Parade gefahren sind …«

Er schnippte mit den Fingern. Inmitten einer grünlichen Wolke erschien etwas, das einer Statistik verdächtig ähnlich sah:

In der Überschriftenzeile konnte der Blaunasige die Begriffe
Charakter, Motivation, aktiv/passiv entziffern. Ohne zu Ende zu lesen, sah er auf und grunzte: »Findest du das wirklich hilfreich - oder gar unterhaltsam - jetzt mit Statistiken zu jonglieren?«

Der erste Zwerg öffnete den Mund zum Widerspruch.

In diesem Augenblick schnitt ein grelles »fFIIEEEEP« über den Hang, und die gesamte Murmeltierkolonie verschwand wie der Blitz in ihren Erdlöchern.

Beide Zwerge blickten sich erstaunt um … und erschraken.

Direkt über dem Hügel, der die Murmeltierkolonie von dem dahinter liegenden Bergpanorama absetzte, etwa zwei Handbreit über dem Boden, manifestierte sich ein kleines, zunächst unscheinbares Wölkchen in Blaugrau. Es wurde jedoch schnell größer und schimmerte bald in einem bergkristallverdächtigen Violett.

Über seiner blauen Nase blickte der zweite Zwerg den ersten entsetzt an: »Was hast du gemacht?«

Der erste blickte starr und überlegte fieberhaft.
»Ich muss …
irgendwie …
mein Kommunikator …
er muss mir aus der Tasche …«

»Mannn!!!« schrie der zweite Zwerg. Seine Nase wetterleuchtete in einem Blau, das die Dachlichter jeder Polizeistreife hätte verblassen lassen.

»Wie oft hast Du mich gezwungen, NX01/34 zu kucken? Hä? Kommunikator verloren, ich … « Er schüttelte den Kopf.
»Wer predigt mir seit Jahren, dass Kommunikatoren an die Schlüsselkette gehören - und die doppelt gesichert an den Gürtel. Mann!!! Lose in der Tasche? Und ohne 14stelliges Passwort? Ich glaub’ es nicht!!!«

Ziemlich planlos nach Luft schnappend wedelte der erste Zwerg mit seiner linken Hand durch die Luft, während die Nase des zweiten beängstigend ins Grüne zu schimmern begann.

Derweil hatte sich die dunkelviolette Wolke geöffnet, einer gelartig aussehenden Leere Platz gemacht, aus der jetzt immer mehr Gestalten stolperten. Die meisten mit aufnahmebereitem smartphone, einige mit Waffen, eine sogar mit verwuscheltem Haar und Tape vor dem Mund, aber alle mit ziemlich verwirrten Mienen. Eine immer größere Menschentraube bildete sich zwischen den Erdlöchern der Murmeltierkolonie und der einsamen Föhre am Westhang, die irgendein Spaßvogel von der Quantenputzkolonne mit Christbaumkugeln behängt hatte. Leise klang es im Wind, wenn zwei aneinander dotzten. Wenn man genau hinhörte, konnte man auch das Lametta an den Zweigen klingeln hören - als würde es den Zerfall dieser Welt einläuten, dieser letzten Alternative, überrannt von allem, was eine Realwelt wie das Frankfurter Westend so hergab.

In diesem Augenblick riss der erste Zwerg sich zusammen. In einem kleinen Teil seines Gehirns formulierte er ein inbrünstiges »Danke!!!« an seine Ausbilder, die ihn ohne Ende durch Katastrophenszenarien gehetzt hatten. ‚KKIV‘ hatten sie es genannt, ‚Konstruktiv-Kreatives-Interventions-Vermögen‘.

Er drehte sich zu seinem Kollegen um und murmelte, für alle anderen unhörbar, aber sehr akzentuiert: »Realität Drei-elf-Strich-19«

Der mit der blauen Nase schaltete diesmal schnell. Er zückte nun seinen Kommunikator, tippte in Windeseile das Notpasswort (5 Buchstaben, keine Klammergriffe) ein, und sehr unauffällig, in einem dezenten, blassgrünen Wölkchen, das sich vom Almgras kaum abhob, verschwanden die beiden …

… um, gemessen an Quantenrealzeit, siebeneinhalb Minuten früher in hellem, angenehm warmem Sand zu landen, inmitten einiger Kokosnüsse.

»Gib mir deinen Kommunikator!«

»Was?«

»Keine Zeit für Erklärungen. Gib mir deinen Kommunikator!«

Der zweite Zwerg gehorchte.
Während der erste - der mit der roten Nase - hinter der nächsten Kokospalme verschwand, seufzte der mit der blauen Nase tief auf und begann, den ersten seiner klobigen Bergstiefel auszuziehen. Irgendwie waren sie doch etwas unpraktisch in diesem neuen Ambiente.
Beim Ausziehen des zweiten war er wieder soweit entspannt, dass er in Richtung der Kokospalmen rief: »Aber du erklärst mir alles, hinterher, ja?«

Keine Antwort.

»Keine Bewegung!!«

Berger quollen die Augen aus dem Kopf.

»Aber … aber. …«

Während vier Uniformierte, achtsam im Auge behalten von acht weiteren, schwer bewaffneten Gestalten in Ganzkörperschwarz, geschäftig ihre Handschellen zückten, gab sich ein glattrasierter Mann in Zivil an seinem schlabbrigen Trench unschwer als Fan solider u.s.-amerikanischer Krimikost der 1970er Jahre zu erkennen. Er zuckte mit dem rechten Mundwinkel, bevor er dann seine Zähne mit einer gewissen Lethargie auseinanderbekam, die wohl bedächtige Sorgfalt ausstrahlen sollte:

»Sie dachten natürlich wieder, den Drohungen dieser smartphone-Terroristen Folge zu leisten sei sicherer, als uns zu fragen.«

Er rümpfte die Nase:

»Was glauben Sie denn?«

»Dass wir die Seitenwind-Postings NICHT lesen? Für social media hat das LKA inzwischen eine Abteilung, die ist besser besetzt als all unsere Streifenhörnchengeschwader zusammen genommen. Und Schriftsteller wie diesen Eschbach, die sichere Science-Fiction verlassen um sich zeitgenössischer reality-crime-Stoffen zuzuwenden, die haben wir sowieso unter Dauerbeobachtung.«

Zu Pfeiffer gewandt, bemerkte er süffisant:

»Die Polizei ist vielleicht bürokratisch, politisch und manchmal sogar etwas maffiös gehandicapt, aber nicht dumm. Ich …«

Ein einzelner Schuss peitschte, und während einer der SEK-Beamten seine Waffe wieder senkte, polterte die des großen Mannes im Halbdunkel auf den Waggonboden.

Der Glattrasierte in Zivil schüttelte den Kopf: »Aber aber! Nicht doch!«

»Und jetzt keine Fisimatenten mehr, bitte: Arme hoch, hopp, hopp.«

Er drehte sich zu Berger und zückte seinen Ausweis:

»Kohlbeiler, Insprektor Kohlbeiler, LKA Wiesbaden.
Sie können jetzt aufhören zu zittern, Herr Berger. Ihre Schwester haben wir auch.«

Kohlbeiler räusperte sich: »Da war ein ganz merkwürdiger Videoclip von einer ziemlich skurrilen Gestalt mit norwegischer Zwergenütze aus Hawaii. Die muss Quellen haben, an die wir tatsächlich nicht selbst rangekommen sind. Aber, wenn ich bitten darf, da drüben gibt’ s Kaffee und Butterbrezeln auf den Schreck, den Rest besprechen wir dann in aller Ruhe …«

„Unterbreche ich hier gerade was?“ Die Stimme des Professors war ebenso herablassend, wie der Blick mit dem er Dr. Magnus Morten betrachtete und Schwester Wendy, die auf seinem Schoß saß. Magnus wurde rot, wie eine Tomate, während Wendy aufsprang und hastig ihren Kasack zurechtzupfte.
„Wer ist sie?“ fragte der Professor.
„Das ist, äh…“, begann Morten.
„Wendy Schmidt“, sagte Wendy. „Fachkrankenschwester für Anästhsie- und Intensivpflege. Von der Zeitarbeit. Ich bin heute den ersten Tag hier.“
„Sehen Sie zu, dass sie nichts kaputt machen“, sagte der Professor. „Diese Intensivstation ist moderner und spezieller, als sie es wahrscheinlich kennen. Dr. Morten, den Status des Patienten, bitte.“
Magnus, immer noch rot im Gesicht, suchte rasch ein paar Blätter zusammen und sagte dann: „Der bekannte Patient Berger, Richard – seit fünf Tagen in Narkose nach frontaler Kopfschussverletzung. Status idem, was den Allgemeinzustand betrifft. Vitalzeichen wunderbar, Narkose und Beatmung werden gut vertragen.
„Ja, ja“, sagte der Professor mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Somniographie?“
Magnus reichte ihm ein Blatt. „Hier, der letzte Ausdruck.“ Der Professor überflog das Blatt mit zusammengekniffenen Augenbrauen. „‘Ich bin Richard Berger, …. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!‘ – Das klingt autoaggressiv. Er scheint mir mit sich selbst ganz und gar nicht im Reinen zu sein.“
„Er verarbeitet immer noch sehr intensiv. Wir haben in der letzten Woche insgesamt neunzig Somniogramme aufgezeichnet. Hier.“
Der Professor überflog die Blätter hastig und mit skeptischen Blick. „Noch nicht suffizient kohärent“, sagte er. „Ein paar Mal scheint er auf dem richtigen Weg. Die Lösung mit den untergeschobenen Kindern klang vielversprechend. Aber das hier …“ Er nahm sich noch einmal den Ausdruck vor, den er zuerst studiert hatte. „Nach diesem Monolog werden sie sich selber richten“ las er laut vor. „Das klingt ja schon suizidal. Daraus lese ich, dass er nicht mehr will.“
„Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen“, sagte Morten. „Ich habe das Gefühl, er ist auf einem guten Weg.“
„Gefühl, hm“, sagte der Professor. „Mein Gefühl sagt mir, dass wir hier nur Grundlagenforschung betreiben, aber keine Therapie. Aber geben sie ihm von mir aus noch eine Dosis. Wir versuchen es noch eine Woche.“ Der Professor wandte sich zum Gehen. „Und sorgen sie dafür, dass die Somiographie-Aufzeichnungen vollständig in der Akte sind!“ rief er über die Schulter. „Ich möchte über diesen Fall publizieren!“
„Puh“, sagte Wendy, als er weg war. „Das war ein bisschen peinlich.“
„Ach was“, sagte Morten. „Der Chef war bestimmt selbst ein Hallodri, als er jung war.“
„Ich habe kein Wort verstanden“, sagte Wendy. „Und ich weiß immer noch nicht, was ihr hier eigentlich genau macht. Ich meine außer dem Standardkram mit Beatmung und so.“
„Du brauchst noch mehr Einarbeitung“, sagte Magnus und fasste sie an der Hüfte.
„Nein, im Ernst“, sagte Wendy. „Was genau ist rekonstruktive Neurologie? Das habe ich noch nie zuvor gehört.“
„Wir sind auch die einzigen, die das in Deutschland machen. Alles noch hoch experimentel. Aber vielversprechend.“
„Und was genau macht ihr? Mit dem da zum Beispiel?“
„Eigentlich machen wir nur eine große Phase II Studie. Wir testen dieses neue Medikament am Patienten. Synaptil – das fördert die Neubildung von Gehirnzellen, wenn diese zerstört wurden. Durch einen Unfall zum Beispiel oder wie im Falle von unserem Herrn Berger durch einen Kopfschuss.“
„Ui, Kopfschuss, hat er versucht, sich umzubringen?“
„Nein. Schießerei zwischen zwei aggressiven Autofahrern. Berger war völlig unbeteiligt. Hat nur zum falschen Zeitpunkt den Kopf aus der Haustür gesteckt. Das war Pech. Glück war, dass er weit genug weg von der Ballerei war, dass das Geschoss ihm nur noch mit geringer Kraft die Stirn durchschlagen und keine größeren Gefäße oder lebenswichtigen Zentren getroffen hat. Wiederum Pech war, dass es ihm das Frontalhirn zerdeppert hat, den Teil, wo seine Persönlichkeit sitzt. Das versuchen wir jetzt wieder herzustellen.“
„Und das funktioniert wirklich? Der Patient bekommt sein verlorenes Gehirn zurück?“
„Nicht direkt seins“, sagte Magnus. „Und wir können auch nur rekonstruieren, wenn die Verletzung nicht zu groß ist. Dann spritzen wir Synaptil direkt in das Gehirn und es werden dort massiv neue Neuronen produziert, die das zerstörte Gewebe ersetzen.“
„Was meinst du mit ‚nicht direkt seins‘“, fragte Wendy.
„Nun“ sagte Magnus. „er kriegt das Medikament gespritzt und dann beginnen neue Nervenzellen zu sprießen. Soma, Axon, Terminal und die ganze Dendritenschar. Aber wie sie sich verknüpfen, darauf haben wir keinen Einfluss. Und das Ergebnis kann ein ganz anderes sein als der Vorzustand. Und da bei Bergerchen hier die Gehirnteile betroffen sind, die die Persönlichkeit ausmachen, kann es natürlich sein, dass hinterher eine ganz andere Persönlichkeit herauskommt.“
„Oh je“, sagte Wendy, „ob er das gewollt hätte?“
„Eben“, sagte Magnus. „Deswegen lassen wir ihn nicht aufwachen, bis er sich gewissermaßen selbst neu erfunden hat, und zwar in einer Weise, in der er selbst mit sich leben kann.“
„Das messt ihr über diese komischen Geschichten, die da ständig ausgedruckt werden? Wo kommen die her, produziert er die?“
„Ja“, sagte Magnus. „Erinnerst du dich an die Meldung in den Nachrichten vor einiger Zeit, dass künstliche Intelligenz Schweinegrunzen in menschliche Sprache übersetzt hat? Nun, als nächstes haben sie das gleiche Programm auf EEGs angesetzt und voilà, nun können wir menschliche Träume auslesen.“
„Das wirklich abgefahrener Shit.“
„Wir nutzen es, um zu messen, ob der Patient ein ausreichend kohärentes Selbst- und Weltbild aufbaut, um mit der Realität zurechtzukommen.“
„Ich habe keine Ahnung, was das bedeutet.“
„Wir alle erfinden uns permanent selbst“, sagte Magnus. „Besser gesagt, unser Gehirn tut das für uns. Als Schutzmechanismus gegen eine Realität, die keinerlei inneren Sinn hat und in der wir völlig unbedeutend sind. Wir bilden uns ein, dass wir etwas Eigenständiges sind und dass unser Leben nach Regeln abläuft, die nachvollziehbar und beherrschbar sind. Aber das ist eine Illusion, eine natürliche Droge, die uns davon abhält, uns sofort aus Verzweiflung umzubringen. Aber eine schöne Droge. Stell dir vor, du müsstest durch die Welt gehen, ohne dass du sie als geordnet oder sinnhaft wahrnimmst.“
Wendy runzelte die Stirn, aber sie sagte nichts.
„Das wäre der reine Horror. Das kann man niemandem zumuten. Darum hat die Ethikkomission, die diese Studie übersieht, entschieden, dass unser Patient nicht wieder aus dem künstlichen Koma erweckt werden darf, wenn er es nicht schafft, das Erlebte in eine ausreichend kohärente Geschichte zu verwandeln.“
„Wie soll er das denn tun, wenn er in Narkose ist?“
„Sein Unbewusstes ist nicht völlig ausgeschaltet. Und die neuen Neuronen verbinden sich mit den alten, mit dem was er erinnert, was von seiner Persönlichkeit übriggeblieben ist. Und was da in ihm arbeitet, das drückt sich in den Träumen aus, die wir aufzeichnen.“
„Wie lange macht er das schon?“
„Wir haben ihm am 22. November die erste Dosis gegeben. Nur eine kleine, um zu sehen, ob er es überhaupt verträgt. Danach haben wir dieses Somniogram aufgezeichnet.“
Magnus durchsuchte einen dicken Stapel von Papieren und reichte Wendy ein Blatt.
„Das hat er geträumt? Verrückte Geschichte. Was soll denn das mit den zehntausend Euro?“
„Er spaltet das Geschehene ab, weil es zu schrecklich ist. Projiziert es auf eine imaginierte Person, um den Kopfschuss nicht noch mal zu erleben. Und er verhandelt mit dem Schicksal. Sucht nach einer Möglichkeit, sich davon freizukaufen, mit Geld.“
„Aber das wirkt doch, als wenn er in der Lage ist das zu verarbeiten.“
„Ja, aber es gelingt ihm in der Folge nicht, diese initiale Spaltung zu überwinden. Er setzt sie fort und spaltet seine Persönlichkeit in immer neue Traumfiguren auf, aber es gelingt ihm kaum, das Ganze zu einem sinnvollen Ganzen zu verknüpfen. Als wir ihm die zweite etwas höhere Dosis gegeben haben, ist der Somniograph fast explodiert. Zweihundertdreißig Träume haben wir aufgezeichnet. Sein Gehirn hat so gearbeitet, dass wir das Propofol hochstellen mussten.“ Er reichte Wendy diesmal einen ganzen Stapel, den sie schweigend durchsah.
„Das sind alles faszinierende Träume.“
„Am Ende hat er sich auf diese neue Figur, diesen Journalisten fixiert“, sagte Magnus. „Ein Journalist steht symbolisch für Wahrheit und Öffentlichkeit. Wir deuten das als Wunsch zu verstehen, was passiert ist. Und von allen verstanden zu werden. Aber in diesem Traum scheitert der Journalist. Das hat eine eindeutig resignative Komponente.“
Magnus griff nach einem weiteren Stapel. „Dosis Nummer drei war nochmal etwas höher. Aber nur neunzig Somniogramme. Das zeigt, dass er langsam resigniert. Der intensivste Traum war der, aus dem der Professor vorhin vorgelesen hat. Er zeigt, dass Berger das Gefühl hat, in eine Falle geraten zu sein, aus der es keinen Ausweg gibt. Er hat einen Todeswunsch, aber der wird auf diesen ominösen Unbekannten projiziert und als Fremdaggression wahrgenommen.“
„Und was macht ihr jetzt damit?“
„Jetzt“, sagte Magnus, „Jetzt kriegt er noch mal fünfzehn Milligramm Synaptil intrathekal. Das letzte Mal, denn man kann das Zeug nicht beliebig oft geben. Und dann sehen wir, ob er es schafft, die ganze Geschichte so abzurunden, dass wir ihn aufwachen lassen können. Wir möchten Lebenswillen sehen und mindestens einen logischen Abschluss der bisher gesponnenen Traumsequenzen.“
„Und wenn ihr das nicht seht?“
„Wenn er diese Traumbilder nicht befriedigend zu einem geordneten Ganzen verknüpfen kann, wird er keine befriedigende Lebensqualität haben, wenn wir ihn aufwachen lassen. Dann bleibt er in Narkose, bis er stirbt.“
„Oh je“, sagte Wendy. Dann ging sie, um das Synaptil aufzuziehen.
Magnus Steckte die Spritze in einen Konnektor an einem Schlauch, der unter einem Verband auf Bergers Stirn verschwand. Als die gesamte Dosis verabreicht hatte, leuchtete ein Licht am Drucker auf dem Schreibtisch auf und dessen Lüfter begann zu surren. Kurz darauf wurde das erste Blatt ausgedruckt.
„‘Manchmal ist überleben die grausamste Strafe von allen …‘“, las Wendy vor. „Das klingt aber nicht gut.“
Sie ging hinüber zu dem Mann in dem Intensivbett und betrachtete ihn. Für eine Weile hörte man nur das regelmäßige leise Zischen des Beatmungsgeräts. „Streng dich an, Bergerchen“, sagte Wendy schließlich. „Träum was Schönes! Zeig, dass du leben willst!“ Sie küsste ihren Zeigefinger und drückte ihn Berger auf den Kopfverband.
Dann wandte sie sich zu Magnus um. „Im Raum nebenan steht ein leeres Bett“, sagte sie zu Magnus.
„Das stimmt“, sagte der. „Und ich habe einen leeren Platz in meinem Herzen.“
Als sie miteinander den Raum verließen, begann das Licht am Drucker bereits wieder zu leuchten.

Sein Leben für ihres opfern? Hätte man ihn je gefragt, er hätte nicht lange überlegen müssen. JA! Selbstverständlich.
Und jetzt? Jetzt stellte sich heraus, was für ein elender Feigling er in Wirklichkeit war. Er hing an seinem Leben und ja, auch an Dorothea.

»Wir haben nicht ewig Zeit, Berger!« Die Stimme des Dreckskerls trug immer noch diese verdammte Gelassenheit. Sein kaltes Lachen schien direkt vom Teufel entliehen. Richard legte eine so unerwartete wie blitzschnelle 90-Grad-Drehung hin und richtete die Waffe nun auf den Kopf seines Peinigers. Pfeiffer wunderte sich über die plötzliche Wendigkeit seines rundlichen Leidensgenossen, der sich eben noch so mühevoll in den Waggon gehievt hatte.

Bei den Bergers daheim unterdrückte Dorothea ihren anfänglichen Impuls, die beiden Männer mit dem Auto zu verfolgen und eilte zurück ins Haus.
Keine Polizei. Wie unvernünftig konnte man sein? Auch Herr Pfeiffer hielt das für falsch. Doch der alte Sturkopf hatte mal wieder seinen Willen durchgesetzt. Jetzt musste sie selbst aktiv werden.

Das Handy! Wo hatte sie es nur in der Aufregung hingeworfen? Ah, da auf dem Boden neben dem Sessel. Zeigefinger auf den biometrischen Sensor, zwei, dreimal über das Display gewischt und die Tracking-App war geöffnet.
Jetzt stellte sich heraus, wie nützlich dieses kleine, heimlich auf Richards Mobiltelefon installierte Programm tatsächlich war. Ursprünglich war es nicht dazu gedacht, ihren Mann in einer derartigen Situation zu unterstützen, sondern … na ja, egal. Ihre Augen verfolgten gebannt den kleinen leuchtenden Punkt auf dem Bildschirm, der sich immer noch stadtauswärts bewegte.

Doro dachte an Marlene, die erschütternden Bilder aus dem Video. Sie hatte ihre Schwägerin nie so richtig gemocht. Die übertriebene Geschwisterliebe zwischen den beiden. Meistens fühlte sie sich wie das dritte Rad am Wagen, wenn ihr Mann und seine Schwester in alten Erinnerungen schwelgten und dann kicherten wie alberne Teenager. Aber sie jetzt in diesem elenden Zustand zu sehen …
Plötzlich bewegte sich das kleine Symbol der Tracking-App langsamer, ungleichmäßiger, bis es schließlich stoppte. Sie mussten am Ziel angelangt sein.

Dorothea konnte vor Anspannung kaum noch atmen. Ihre Finger zitterten, das Handy entglitt ihr und fiel herunter. Oh Gott, lass bitte nicht die GPS-Daten vom Bildschirm verschwunden sein, betete sie und griff rasch danach. Erleichtert stellte sie fest, dass die App noch an selber Stelle geöffnet war. Irgendetwas musste passieren. Jetzt!

Bevor sie der Polizei den komplexen Sachverhalt erklärt hatte, konnte es für die Männer zu spät sein. Wie also bekam sie die notwendige Hilfe schnellstmöglich an den Ort des Geschehens?
Ein wenig erschrak Doro vor sich selbst, als ihr diese abenteuerliche Idee in den Sinn kam. Doch es könnte funktionieren. Kurzerhand tippte sie 110 auf der Tastatur ihres Telefondisplays:

»Hallo, Polizei? Dies ist eine Bombendrohung. In genau zehn Minuten geht das Ding hoch. Es befinden sich Menschen auf dem Gelände. Hier die Adresse plus GPS-Daten.«
Bevor man ihr Fragen stellen konnte, hatte sie aufgelegt. Ihr Kopf war vor Aufregung genauso rot wie die Taste mit dem Hörersymbol auf dem Handy.

Im Güterwaggon waren sich sowohl Christian als auch Richard bewusst, dass sie Zeit gewinnen mussten. Den Mann irgendwie ablenken. Mein Gott, sie waren zu zweit. Das musste doch zu bewerkstelligen sein. Es war ihre einzige Chance.
Während Berger weiterhin mit bebendem Arm die Waffe auf den Kerl gerichtet hielt und versuchte, die Augen des Mannes fixiert zu halten, pirschte Pfeiffer sich Millimeter für Millimeter näher an den Täter heran. Das Päckchen mit den Unterlagen fest an sich gepresst.
Einem Impuls folgend begann Berger plötzlich von seiner geliebten Mutter zu reden, die schon vor vielen Jahren das Zeitliche gesegnet hatte. Was faselte der denn da jetzt? Pfeiffer traute seinen Ohren kaum. Plätzchenrezepte? Schlaflieder?

Dann glaubte Christian, ein verdächtiges Glitzern in den Augen des so kaltschnäuzigen Typs zu entdecken. Und ja, er schien zu zittern am ganzen langen Körper. Innerlich zog er vor Berger seinen Fedora. Hatte der doch im richtigen Moment das richtige Gespür gehabt.
Geistesgegenwärtig nutzte Pfeiffer die Gunst des Moments und warf Marlenes Kidnapper die Unterlagen entgegen. Fast gleichzeitig machte er einen Satz nach vorn, warf sich auf den Kerl und brüllte: »Ich brech dir alle Knochen, du Banause!«

»Noch nicht, noch nicht«, schrie Berger panisch, der am Boden neben Pfeiffer und dem mit bloßer Muskelkraft fixierten Delinquenten kniete.
»Wir müssen erst wissen, wo er Marlene festhält!« Dabei griff er beherzt in die Jackentasche des zu Fall gebrachten Mannes, zog die Waffe heraus und schleuderte sie voller Abscheu nach draußen.

In der Ferne ertönten Martinshörner, die rasch lauter wurden. Kurz darauf trafen Streifenwagen, Rettungswagen und ein Bombenräumkommando an der alten Gleisanlage ein.

»Achtung, Achtung! Hier spricht die Polizei«, informierte eine Lautsprecherdurchsage. »Bitte verlassen Sie sofort das Gelände. Explosionsgefahr.«

Richard und Christian schauten sich ungläubig an. Wo kamen die denn jetzt her?
Mehrere Polizisten stürmten den Güterwagen und verschafften sich einen Überblick.
Die beiden Männer am Boden wurden voneinander getrennt. Der Mann, der sich als Christian Pfeiffer ausgewiesen hatte, konnte sich gar nicht mehr beruhigen.

»Er hat Maria auf dem Gewissen.« Mit dem Zeigefinger wies er auf den vermeintlichen Täter.

Wie es aussah, würde es für die Polizisten eine aufreibende Nacht werden. Angeblich wurde im Zusammenhang mit diesem Verbrechen eine Frau an einem unbekannten Ort gefangen gehalten. Sie sollte sich in Lebensgefahr befinden.

Richard wurde im Rettungswagen behandelt. Sein Blutdruck hatte gefährliche Höhen erreicht.

Einige Zeit später bugsierte man alle drei Männer mit Handschellen in Streifenwagen und beförderte sie auf die Dienststelle nach Frankfurt. Dort befand sich bereits eine völlig überdrehte Dorothea in Gewahrsam, die sich für eine falsche Bombendrohung zu verantworten hatte. Nicht einmal ihre Rufnummer hatte sie für den Anruf unterdrückt. Mit ihrem unkonventionellen Handeln stieß sie bei den Beamten auf unerwartetes Verständnis und der ein oder andere schaffte es nicht, seine Belustigung zu verbergen.

Pfeiffer und Berger wurden getrennt voneinander befragt. Die Aussagen der beiden waren schlüssig und stimmten überein, so dass schnell geklärt war, wer hier Täter beziehungsweise Opfer war. Die Aufzeichnung der Webcam gab zusätzlich Aufschluss. Außerdem war den Ermittlern die Vorgeschichte Pfeiffers und Bergers bekannt.

Dank geschickter Polizeiarbeit hatte man den Verdächtigen schnell zum Reden gebracht und Marlene konnte noch in derselben Nacht aus ihrer Gefangenschaft befreit werden. Sie war erschöpft, schwebte aber nicht in Lebensgefahr. Richard und Doro besuchten sie im Krankenhaus, sobald sie ihre Aussagen gemacht hatten.

Kurze Zeit später wurden Pfeiffer, Bergers sowie Marlene Romero von der Staatsanwaltschaft über Details des Verbrechens informiert.

Der Täter war ein gewisser Ben Breuer, Neffe von Klaus Töpfer, der sich selbst unter dubiosen Umständen vor dem Haus der Bergers erschossen hatte.
Kurz nach Bekanntwerden der Machenschaften des Klaus Töpfers in Sachen Mädchenhandel und illegale Prostitution hatte sich dessen Schwester erhängt, die seit Jahren unter Depressionen litt.
Deren einziges Kind Ben hatte sich jedoch darein gesteigert, dass seine Mutter nur aus Scham und Kummer über die Verbrechen Töpfers aus dem Leben geschieden war. Ben wollte den Tod der Mutter um jeden Preis rächen und hatte Dinge herausgefunden, die besser nicht hätten ans Tageslicht kommen sollen.

Christian Pfeiffer stand an Marias Grab. Er hatte Wort gehalten. Der Fall war lückenlos aufgeklärt. Neben ihm stand Marlene, die seine Hand in ihre nahm.

Später waren sie bei den Bergers eingeladen. Richard öffnete die Tür. Zur Begrüßung lagen sich die Männer in den Armen wie alte Freunde. Christian fragte mit unverhohlenem Grinsen:

»Neue Krawatte, Richard?«
»Ein Geschenk von Doro«, nickte der und grinste ebenfalls.

Grundfarbe lila, bedruckt mit dem Motiv eines überproportional großen „Supermans“.

Berger starrte zwischen dem roten Licht und der Pistole in seiner Hand hin und her. Er wollte um Gnade flehen, wusste aber, dass der Unbekannte gnadenlos war. Jemand, der einen derart bösartigen Plan ausarbeitete, um damit andere Menschen zu erpressen, würde in dieser Situation - gewissermaßen dem „großen Finale“ - niemals Gnade walten lassen. Berger wollte nicht sterben. Doch was konnte er tun? Den Unbekannten erschießen und dadurch den Tod seiner Schwester in Kauf nehmen? Auf gar keinen Fall! Niemals könnte er es sich verzeihen, wenn neben Klaus Töpfer und Maria Pfeiffer auch noch seine liebe Schwester Marlene Romero sterben müsste - und all das nur weil er, Richard Berger, eine falsche Entscheidung getroffen hätte.
„Auf geht’s, Richard Berger, das Publikum soll doch etwas geboten bekommen!“
Der Unbekannte lachte hämisch. Berger zitterte. Seine Gedanken rasten nach wie vor auf der verzweifelten Suche nach einer Fluchtmöglichkeit, doch ihm fiel keine ein. Ein Seitenblick auf Christian Pfeiffer zeigte ihm, dass dieser ebenfalls völlig ratlos und verzweifelt war. Pfeiffer starrte gerade aus, während ihm Tränen über das Gesicht liefen. Es war deutlich sichtbar, wie sehr auch er zitterte. Es musste ihn sämtliche Kraft kosten, stehen zu bleiben, anstatt zusammenzubrechen.
„Los Berger! Wenn ich nachhelfen muss, überlebt ihr das alle nicht! Noch fünf…!“
Richard Berger sah den Unbekannten an. Dieser brachte unter seinem Mantel eine Pistole zum Vorschein.
„Noch vier…!“
Berger hatte gewusst, dass sein Gegenüber bewaffnet war - zumal der Mann das selbst angekündigt hatte - doch der erneute Anblick einer Waffe ließ ihn wiederholt erstarren. Er hörte auf, zu zittern, doch nun war es, als würde sein Herz unter einem tonnenschweren Gewicht begraben und zerquetscht werden.
„Drei…!“
Die Pistole wurde auf Bergers Gesicht gerichtet und hörbar entsichert. Ganz kurz überlegte Berger noch, ob er seinen Gegner mit einem Schuss in eine Hand oder vielleicht ein Bein fürs erste unschädlich machen könnte, doch er fürchtete, zu langsam zu sein und damit neben sich selbst, auch Pfeiffer und Marlene dem Tod auszuliefern.
„Zwei…!“
Richard Berger war nun überzeugt, dass es das beste wäre, den Anweisungen des unbekannten zu folgen und damit das Leben von Christian Pfeiffer und Bergers Schwester zu retten. Vielleicht würde Pfeiffer sogar öffentlich machen können, dass er, sowie auch sämtliche Opfer, erpresst worden waren und wer dafür verantwortlich war. Immerhin würde Richard Berger dann nicht umsonst gestorben sein.
„Stop! Ich tu’s!“, rief er nun also, wobei seine Stimme sofort brach und er zu weinen begann. Christian Pfeiffer sah Berger entsetzt an, doch dieser war nun entschlossen, durch seinen Tod die anderen zu retten.
„Ich tu’s!“, wiederholte er daher und drückte die Pistole in seiner Hand gegen seine Schläfe. Der Unbekannte nickte ernst.
„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um…um weg…wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gesto… Sie sind…“ Richard Berger konnte sich kaum auf den Beinen halten, er wurde vor Angst, Schmerz über diese Worte und Verzweiflung fast zerrissen. Und dennoch musste er weiter machen, hatte keine Wahl. Er keuchte. „Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie um…um…umge…bracht…mit meinem Geiz und meiner Gier und ich -“
„NEIN!“
Eine Frauenstimme unterbrach Richard Bergers Monolog. Nur Sekundenbruchteile später brach der Unbekannte plötzlich zusammen. Er viel schreiend und fluchend zuerst auf die Knie und kippte dann zur Seite. Die Pistole, die er eben noch in der Hand gehalten hatte, schlitterte über den Boden und blieb zwischen den drei Männern liegen. Der Lauf war nach wie vor auf Richard Berger gerichtet. Es war eine makabere Version des Flaschendrehens - als hätte der Zufall entscheiden, dass nun Richard Berger dran war zu handeln, dabei wusste dieser nun erst Recht nicht mehr, was zu tun war. Stattdessen handelte Christian Pfeiffer, indem er die Pistole schnappte und in die Richtung des Unbekannten zielte, nur etwas höher. Erst jetzt erkannte auch Richard Berger, das dort, hinter dem Unbekannten, eine Frau stand. Sie musste auch diejenige gewesen sein, die Bergers Monolog unterbrochen hatte.
„Nicht schießen!“, schrie Berger an Pfeiffer gewandt, als ihm endlich klar wurde, welche Frau da vor ihm stand.
„Dorothea! Du hast uns gerettet!“
Beide Männer ließen ihre Waffen fallen. Berger wäre am liebsten sofort in die Arme seiner Frau gefallen, nur der Unbekannte, der noch immer mit schmerzverzerrtem Gesicht zu ihren Füßen lag, hielt ihn davon ab. Er jetzt erkannte Berger außerdem, dass ein Küchenmesser in der rechten Schulter des Unbekannten steckte. Dorothea musste es geworfen haben, denn sie war zuvor nicht hinter dem Mann zu sehen gewesen.
„Dorothea, du bist großartig!“, verkündete Richard Berger, der nun vor Erleichterung weinte.
Auch Pfeiffer kämpfte erneut mit den Tränen. Er wollte gerade die Polizei rufen „um diesen Alptraum zu beenden“, als Dorothea ihm das Smartphone abnahm und hinter sich gegen die Wand schleuderte. Berger und Pfeiffer sahen sie verständnislos an. Niemals im Leben hätten sie mit dem, was Dorothea dann sagte gerechnet:
„Die Polizei ist unterwegs und ich werde nicht mehr lange hier sein. Ich wollte, das Tobias dir eine Lektion erteilt. Ich habe ihn auf der Arbeit getroffen. Wir haben uns geliebt. Er war für mich da, als du es nicht warst. Du hast so viel gearbeitet. Als du von dem großen Auftrag und den Fahrten nach Sofia erzählt hast, wurde mir endgültig klar, dass sich etwas ändern muss. Tobias sagte, er kenne deinen Auftraggeber - diesen Klaus Töpfer - und was das für ein furchtbarer Typ sei. Mag sein, dass du davon nichts wusstest. Ich war einfach furchtbar wütend auf dich und diesen Typen und die Arbeit und all das. Und ich dachte nicht, das Tobi vielleicht selbst hinterhältig sein könnte. Ich wusste nicht, wo das hinführt. Er hat mir seine Hilfe angeboten, um dich zur Vernunft zu bringen, das ist alles.“
Dorothea sagte dass so emotionslos, als lese sie gerade den Wetterbericht vor. Berger und Pfeiffer standen reglos da und verstanden rein gar nichts. Der Mann, der offenbar Tobias hieß und die Affäre von Bergers Frau war, schrie: „Ich habe Wort gehalten! Solche Schweine wie du verdienen den Tod!“ Worauf Dorothea ihn zum Schweigen brachte, indem sie ihn in den Bauch trat. Dann hob sie die Pistole auf, die neben ihrem Mann auf dem Boden lag - und erschoss sich selbst.

Dorotheas Entschluss „dass sich etwas ändern muss“ hatte schlussendlich drei Leben zerstört und vier weitere für immer verändert.
Selbstredend wurden die Täter verurteilt, aber für Christian Pfeiffer, Richard Berger und Marlene Romero war das nicht genug. Berger gab das Reisebüro auf und zog mit seiner Schwester in ein winziges Dorf an die Ostsee. Wenige Menschen und ein Umfeld, dass ihre Geschichte nicht kannte - Beides erschien ihnen hilfreich für einen Neuanfang.
Christian Pfeiffer kündigte seinen Job ebenfalls, zog jedoch nicht aus Frankfurt weg. Zu wichtig war es ihm, das Grab seiner Frau jeden Tag besuchen zu können. Er wusste, dass er sich irgendwann von ihr lösen musste - aber „irgendwann“ war noch nicht jetzt.
Pfeiffer und Berger blieben nicht in Kontakt. Nach Bergers Wegzug aus Frankfurt hörten sie nie mehr voneinander. Beide waren überzeugt, dass sie sich unter anderen Umständen durchaus sympathisch gewesen wären, doch der Grund für den Kontaktabbruch war ausgerechnet ihre größte Gemeinsamkeit: Sie wollten vergessen, was war.

Finale

Der Unbekannte richtete die Pistole weiterhin auf Pfeiffer und Berger, seine Augen funkelten vor Bosheit. „Nun, Herr Berger, wie werden Sie sich entscheiden?“
Pfeiffer sah die Verzweiflung in Bergers Augen und wusste, dass er schnell handeln musste. „Richard, hör zu. Das sind alles nur Lügen. Nichts ist so, wie es scheint.“
Der Unbekannte lachte. „Glauben Sie das wirklich, Herr Berger? Glauben Sie wirklich, dass ich bluffe? Sie entscheiden über das Leben Ihrer Schwester!“
Plötzlich erklang ein lautes Rauschen über ihnen. Pfeiffer blickte nach oben und sah, dass eine Drohne neben dem Waggon schwebte. An der Drohne war eine Kamera befestigt, und sie übertrug live.
„Was zum…“, begann der Unbekannte, doch seine Aufmerksamkeit war abgelenkt.
Pfeiffer nutzte den Moment und sprang vor, schlug die Pistole des Unbekannten aus dessen Hand und stieß ihn zu Boden. Berger, immer noch zitternd, hielt die andere Pistole in der Hand und wusste nicht, was er tun sollte.
„Richard, gib mir die Waffe!“, rief Pfeiffer, während er den Unbekannten festhielt.
Berger atmete tief durch. „Nein, Christian. Nicht auch noch meine Schwester“, und drückte ab.
Nichts geschah.
Der Unbekannte schnaubte und versuchte, sich zu wehren, aber Pfeiffer hielt ihn fest im Griff.
„Es ist vorbei“, sagte Pfeiffer angestrengt. „Alles hat endlich ein Ende.“
Berger ließ die Pistole zu Boden fallen und sackte in sich zusammen.
In diesem Moment stürmte die Polizei in den Waggon, die in der Nähe der Lagerhalle gewartet hatte. Die Beamten ergriffen den Unbekannten und legten ihm Handschellen an.

„Starke Nerven, Herr Pfeiffer“, sagte Hauptkommissar Schmidkte anerkennend. „Wir haben das Signal der Drohne empfangen und konnten alles mitverfolgen.“
Pfeiffer nickte erschöpft und fühlte sich schwindelig. Vorsichtig setzte er sich auf den Waggonboden.
Berger sank neben ihm zu Boden, seine Augen voller Tränen. Er schaute Hauptkommissar Schmidkte verständnislos an. „Marlene…“, schluchzte Richard Berger. „Was ist mit Marlene?“
„Wir haben Sie mittels Wärmebildkamera geortet“, beruhigte der Hauptkommissar ihn. „Sie war in der Nähe in einem Lagerhauskeller gefangen. Es geht ihr gut, aber sie ist sehr geschwächt. Zur Vorsicht haben wir sie umgehend in das Monty-Krankenhaus gebracht. Sie können Ihre Schwester später noch sehen.“

„Ich verstehe nicht…“, stammelte Berger. Er konnte keine klaren Worte fassen, keinen Gedanken halten. Er schien im Augenblick gefangen zu sein, während alles um ihn herum vorbeirauschte.
Pfeiffer stand vom Waggonboden auf und legte seine Hand auf Bergers Schulter. „Und wir werden dafür sorgen, dass die Wahrheit ans Licht kommt.“

Pfeiffer und Berger standen vor dem Aufzug im Monty-Krankenhaus und sahen sich an. „Haben wir es wirklich geschafft? Ist es endlich vorbei?“ Berger sprach leise und aus seinen Worten war eine gewisse Erleichterung zu hören.
„Ja“, knickte Pfeiffer bestätigend. „Der Unbekannte war Klaus Töpfer. Der Mann, der sich vor Deiner Haustür erschossen hatte. Nur hatte er sich nicht erschossen. Alles war gestellt gewesen.“
„So richtig will ich es immer noch nicht verstehen.“ Bergers Stimme klang unsicher und verriet seine Zweifel.
„Klaus Töpfer hatte den Selbstmord inszeniert. Der junge Mann mit dem Smartphone, die Polizei, nichts davon war echt. Das waren nur Schauspieler, die er für eine Realityshow engagiert hatte. Die Show war natürlich auch frei erfunden. Wie auch die Story mit dem Venustempel und der illegalen Prostitution.“
„Aber was ist mit der Pistole aus dem Karton? Warum hat sie nicht funktioniert?“ Berger schüttelte den Kopf, als ob er so die grausame Erinnerung an die qualvollen Momente loswerden könnte.
„Die war nur eine Attrappe. Dieselbe mit der er sich angeblich vor Deiner Haustür erschossen hatte.“ Christian Pfeiffer räusperte sich verlegen. „Es gab ein gewisses Risiko. So ganz sicher war ich mir nicht, Richard. Es tut mir leid, dass ich Dich nicht einweihen konnte und Du diesem Alptraum ausgesetzt warst. Aber es musste alles echt wirken.“

Berger starrte Pfeiffer plötzlich mit ausdruckslosem Gesicht an.
„Hauptkommissar Schmidkte kannte ich persönlich von einer investigativen Recherche über die Frankfurter Bahnhofsmafia“, erklärte Pfeiffer genauer, „für die ich mit der Mordkommission vor ein paar Jahren zusammenarbeitete. Als er mich vor ein paar Tagen zu Marias Tod befragte, konnte ich ihn in meine Vermutungen einweihen, ohne dass meine Aussagen in die offizielle Untersuchung eingingen. Es war nicht auszuschließen, dass Klaus Töpfer auch Polizeibeamte erpresste.“

„Vermutungen?“ Bergers Stimme krächzte trocken.
Christian Pfeiffer fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. „Der junge Mann mit dem Smartphone kam mir irgendwie bekannt vor. Ich konnte ihn aber zunächst nicht zuordnen. Die gesamte Szene vor Deiner Haustür ergab einfach keinen Sinn. Zehntausend Euro zu fordern und sich nach nur einem Nein von Dir sofort zu erschießen. Wie hätten jemandem so verzweifelten zehntausend Euro geholfen?

Genauso wie der Anruf bei mir in der Redaktion. Warum gab Klaus Töpfer mir zwei Minuten Zeit, um ein Video hochzuladen? Ein Upload dauert wenige Sekunden, und wie wollte er sicher sein, dass ich nicht einfach auflege? Drohanrufe sind in einer Redaktion alltäglich.“
Pfeiffer schwieg plötzlich. Berger spürte, dass es Pfeiffer schwerfiel weiterzureden.
„Maria musste sterben. So oder so.“
Pfeiffer schluckte hörbar. „Einfach nur aus Grausamkeit. Als Mittel zum Zweck. Der Anruf in der Redaktion war aufgezeichnet. Perfide ausgearbeitet, das Runterzählen mit Sprechpausen, die mir Zeit gaben zu antworten und verzweifelter zu werden. Ganz gleich, wie schnell ich das Video hochgeladen hätte. Es wäre immer zu spät gewesen. Sie musste sterben, damit Klaus Töpfer mich mit meiner eigenen moralischen Schuld erpressen konnte.

Alle Widersprüche lösten sich erst auf, als ich den jungen Mann mit dem Smartphone wiedererkannte. Auf einem verblichenen Plakat, einer Werbung für ein Frankfurter Improvisationstheater. Das Laientheater war zwar bereits geschlossen, aber im Netz ließen sich Fotos der Schauspielgruppe finden. Hauptkommissar Schmidkte half mir bei meinen Nachforschungen. Seine Nichte war in die Aktivitäten der Impro-Gruppe verwickelt gewesen. Gegen die Theatergruppe wurde wegen wiederholter, illegaler Auftritte in der linksextremen Szene ermittelt, ohne dass es zu Festnahmen kam.
Was ich nicht weiß, ist, wie Töpfer es anstellte, dass Maria im Europapark vorm Verlagsgebäude wartete. Vielleicht mit einer fingierten Bombendrohung in der Redaktion? Sicherlich wird Hauptkommissar Schmidkte die offenen Fragen in den Verhören klären. Auch wie Klaus Töpfer Deine Schwester entführt hat.“

„Warum war die Pistole nicht echt, Christian? Warum lebe ich noch?“, hielt Berger dagegen.
„Im Profiling werden Täter wie Klaus Töpfer als Psychopathen klassifiziert, die unter einer psychotischen Störung leiden und während eines Wahnschubs in dissoziative Identitäten fliehen.“ Christian Pfeiffer bemerkte selbst, dass die Fachsprache für Berger nur schwer zu verstehen war, und versuchte, das Geschehene nachvollziehbarer zu erläutern. „Sicher war ich mir erst, als er uns anhand der fingierten Beweise im Waggon glauben machen wollte, Du vermietest Busse. Was nicht stimmt, und selbst wenn Du Busse vermieten würdest, haftest Du nicht für Straftaten, die mit den Bussen begannen werden. Wieder so ein Widerspruch.
Auch gibt es in meiner Redaktion keinen Konstantin Magnus. Konstantin Magnus war ein römischer Kaiser oder ist heute eine Mineralwassermarke. Aber kein Chefredakteur. Und schon gar nicht würde mich ein Chefredakteur schriftlich anweisen, Recherchen zur lokalen Unterwelt einzustellen. Das wäre ein schriftliches Indiz für einen Generalverdacht gegen ihn. Chefredakteure lehnen Artikel, die ihnen nicht passen, einfach mit fadenscheiniger Begründung ab.
Widerspruch stapelte sich auf Widerspruch, wie es aber für die Paranoia psychisch kranker Straftäter typisch ist. Und er wollte nicht Deinen oder meinen Tod, nicht hier oder jetzt. Für ihn durfte sein krankes Spiel nicht enden. Im Tod wäre unsere Qual vorbei, das Spiel zu Ende und damit würde sich seine Wahnfantasie auflösen. Zwangsläufig müsste er wieder in die für ihn so graue und langweilige Realität zurückkehren, in der es keine Möglichkeit gibt, vor seinem kranken Leiden zu entkommen.
Ich wusste nicht, ob er Dir oder mir eine Schreckpistole gibt oder wie die Falle aussieht, zu der er uns eingeladen hatte. Wir mussten mitspielen, damit er von der Polizei gestellt werden konnte. Und wir mussten echt sein, damit er nicht flieht und Marlene zu spät gefunden wird. Er tötet nur, um die Qualen für andere aufrechtzuerhalten und deshalb war Marlenes Leben in Gefahr, aber nicht Deins oder meines.“

Es läutete leise und die Aufzugtüren öffneten sich. Beide stiegen gemeinsam ein. Pfeiffer drückte den Knopf für den dritten Stock, auf dem sich Marlenes Krankenzimmer befand. Die Türen schlossen sich sanft und der Fahrstuhl setzte sich behutsam in Bewegung.
„Was aber“, begann Berger und sah Pfeiffer nachdenklich an. „Was aber, wenn Klaus Töpfer nicht alleine gehandelt hat?“
Plötzlich gab es einen lauten Knall, das Licht fiel aus und die Kabine kam ruckartig zum Halten.
„Verdammt“, grummelte Pfeiffer.

(C) Felyx

Jan

Sorgsam klappte Jan Alb den Deckel seines Laptops zu und stellte das Gerät vor sich auf eine große Holzkiste.
»Genug für heute, es wird Zeit.«
Eigentlich war er ja so gut wie fertig, es fehlte nicht mehr viel und bald würde er groß rauskommen.
Da war er sich ganz sicher.
Nur noch ein, zwei Stündchen und sein Lebenswerk wäre vollbracht.
Doch es blieb ihm keine Wahl. Er konnte es sich nicht leisten, zu spät zu kommen. Unpünktlichkeit wurde mit Repressalien bestraft und er hasste es, bestraft zu werden.

Das Quietschen der verrosteten Schiebetür schreckte ein paar Enten auf, die in der anbrechenden Dunkelheit auf dem nahen Eschbach dösten.

Jan liebte diesen Ort. Diese Gegensätze. Auf der einen Seite die marode, längst stillgelegte und verfallene Gleisanlage in Nieder-Eschbach, einem Stadtteil seiner Heimatstadt Frankfurt am Main und auf der anderen Seite die Idylle des Eschbaches, der dem Stadtteil seinen Namen gab.

Hierhin konnte er sich zurückziehen, wann immer er wollte und es ihm gestattet war.
Nur hier vermochte er so glaubwürdig zu schreiben und tief in seine Geschichte abzutauchen.
Kaum jemand verirrte sich in diese Gegend. Hier durfte er sein, wie er ist. Ohne Belehrungen mit erhobenem Zeigefinger, ohne Repressionen und vor allen Dingen ohne seine Mutter!

Ständig meckerte sie an ihm herum, gab ihm das Gefühl, wertlos zu sein. Überforderte ihn mit ihren Erwartungen und Wünschen. Ganz gleich ob diese ausgesprochen waren.
Er spürte einfach, was er zu tun hätte und trotzdem war es immer falsch.

Doch damit war es nun vorbei.
Jetzt lag sie sabbernd und desorientiert mit Demenz im Endstadium im Pflegeheim.
Sie erkannte ihn nicht mehr. Es störte ihn nicht. Sie bekam, was sie verdient hatte.
Nur schade, dass sie den Moment seines größten Erfolges nicht mitbekommen würde.

In der gemeinsamen Wohnung konnte er alleine nicht bleiben.
Wieder bestimmten Andere über sein Wohl. Das sollte sich ändern. Das musste sich ändern!

Jan duckte sich, um nicht mit dem Kopf an die obere Kante des Türrahmens zu stoßen und kroch mehr, als dass er aus dem Waggon kletterte.

Es lagen knapp 20 min. Fahrzeit vor ihm. Vorausgesetzt, der Verkehr und die Karre ließ dies zu.
Der alte Opel pfiff nämlich aus dem letzten Loch. Jan musste schmunzeln. »Irgendwie passend…«

Verkehr und Opel erfüllten ihre Aufgabe. Jan erreichte rechtzeitig sein Ziel und fand einen Parkplatz direkt vor dem Gebäude.

Im Radio begannen gerade die lokalen Abendnachrichten.
Dominierendes Thema war noch immer das ungeklärte Verschwinden der beliebten Pastorin Romero.
Jan schaltete das Gerät ab und stieg aus.

»20:05 Uhr, da bin ich, wie versprochen«, sagte er, hob die Hand zum Gruß in Richtung des Anmeldeschalters, durchquerte den Eingangsbereich des Agaplesion Markus Krankenhauses, nahm den Aufzug in die 2. Etage und betrat das Zimmer 4 in der psychiatrischen Abteilung.

Erst jetzt fiel ihm auf, dass es hier viel angenehmer roch, als im ausrangierten Güterwagen mit den zwei verwesenden Leichen in der Kiste.

»Ich hätte auf Marlene hören sollen«, sinnierte Jan, zog seine Jeans aus und hängte sie zusammen mit der Jacke aus braunem Lederimitat an den Haken seiner Zimmertür.

Der Gestank ging von einem Kadaver aus, in dem fensterlosen Raum verpestete er die wenige Luft zum Atmen. Es roch nach Schwefel. Wahrscheinlich eine Katze, die den Ausgang nicht mehr gefunden hat. So muss es in der Hölle sein, dachte sich Marlene und bekreuzigte sich mehrmals.
Sie lag auf einer zerschlissenen, schmutzigen Matratze, und versuchte angestrengt einen Laut oder eine Stimme wahrzunehmen.
Nichts, es war beängstigend still und sie fror in dem feuchten, winzigen Raum. Seit fünf Tagen befand sie sich in Rufus Gefangenschaft und ihre Nerven lagen blank, auch weil sie immer noch nicht wusste was dieser rothaarige Typ wollte.
Gefesselt an Händen und Füßen harrte sie in diesem Loch aus und dachte an den Sommer vor zwei Jahren, als sie ihm das erste Mal begegnete.
Rufus kam zu ihr in den Gottesdienst, erst sporadisch, dann jeden Sonntag und an einem verregneten, blassen Tag im Mai suchte er das Gespräch mit ihr. Als Seelsorgerin kannte sie sich mit Menschen aus, die in eine schwere Lebenskrise geraten waren. Rufus seine Geschichte ging ihr zu Herzen, sie mochte den jungen Mann, der die Hoffnung hatte, sie könne ihm helfen.
Als Rufus ihr eines Tages seine Freundin vorstellte, die er heiraten wollte, rang sie um Fassung.
Das Mädchen, erst 17 Jahre alt, war gesundheitlich sehr angeschlagen. Sie sprach gebrochen deutsch und hatte einen Akzent, der darauf schließen ließ, dass sie aus Bulgarien oder Rumänien stammte. Auf eine Anzeige hin, als au pair Mädchen bei vermögenden Leuten in Frankfurt zu arbeiten, kam Emilia nach Deutschland. Ein Reisebus fuhr sie direkt in das Paradies, dachte Emilia und erwachte, als sie in einem Bordell mit dem Namen Venus Tempel ankam und es für sie kein Zurück mehr gab.
Rufus suchte Rat bei Marlene und bat sie um Hilfe. Emilia erlebte das Ende des Sommers nicht, sie starb an einem Dienstag und am nächsten Tag kam es zu einem tödlichen Zwischenfall bei einem Reiseveranstalter im Frankfurter Nobelviertel.

Endlich, der Schlüssel drehte sich im Schloss, mit langsamen Schritten kam Rufus auf Marlene zugelaufen. Er hielt ihr einen Becher Kaffee und eine Taschenlampe vor die Nase. Marlene hob die Schultern und zeigte mit den Kopf auf ihre Fesseln. Rufus war angeschlagen und müde, seine Camouflage Jacke tropfte, vom Regen durchnässt, auf den Boden.
„Du siehst blass aus.“, versuchte Marlene das Gespräch zu beginnen, als Rufus ihr die Fessel abnahm. „Was geht es dich an, kümmere dich um die wichtigen Dinge im Leben, das ist deine Mission. Aber nein ich vergaß, nur Auserwählte bekommen Hilfe von dir und deinem Boss da oben. Du gibst lieber einem Schmierfinken den Segen, welcher feige wegsieht, wenn sich ihm die Chance bietet, die Wahrheit zu erzählen.
Ihr habt es verdient, bestraft zu werden für eure Ignoranz. Euer mieses Leben wird euch in wenigen Minuten um die Ohren fliegen“ Rufus schlürfte lautstark den letzten Schluck aus seinem Kaffeebecher und warf ihn in die Ecke. „Was hast du vor?“, Marlene starrte mit weit aufgerissenen Augen Rufus an. „Halt die Klappe, du wirst es merken.“, Rufus fiel ihr ins Wort. „Es wird dir bald nicht mehr kalt sein, das kann ich versprechen.“ Damit legte er sich auf den Boden, starrte an die Decke und sagte kein Wort mehr.
Marlene nahm ihren Mut zusammen knipste die Taschenlampe aus und rollte sich von der Matratze. Sie kniete sich auf Rufus seinen Brustkorb und drückte ihm die Luft ab.
„Rufus komm zu dir, das bist doch nicht du. Wer steckt hinter den Gräueltaten, die du vorbereitet hast? Antworte!“ schrie Marlene ihn an, drückte die Kehle ihres Peinigers weiter zu. Sie spürte, dass Rufus keinen Widerstand leistete. Er hob die Hand. „Ist sowieso gleich vorbei, dann fliegen uns die ollen Gas-Tanks hier um die Ohren. Ich habe die Zeit der Zünder auf 20.15 Uhr eingestellt, dann ist doch bei euch Spießern Krimi Zeit, oder irre ich mich etwa?”
Marlene wusste, dass es zu spät war für diese Frage, aber sie musste wissen wer hinter dem ganzen Wahnsinn steckte. „Wer ist dein Auftraggeber?“, ihre Hände legten sich enger um Rufus seinen Hals. Er lachte zynisch. „Erinnerst du dich an den Soziologen Professor Dr. Steiner, von dem ich dir erzählt habe? Er hat mich und weitere Studenten gebeten, ihm bei einem Experiment zur Seite zu stehen. Innerhalb von einer Woche sollten wir sieben Menschen in Frankfurt finden, die eine Todsünde begangen haben. Keine schwierige Aufgabe, wie wir fanden. Wir mussten als Beweis ein Video aufnehmen, welches der Professor später in seinen Seminaren nutzen wollte. Dafür gab es reichlich Kohle. Ok, das erste Mal fiel es mir schwer, aber dieser fette dreiste Kerl, der schon fast im Venushügel wohnte, hat es mir dann leicht gemacht. Er sah seine Schuld selber ein.

Ein ohrenbetäubender Lärm, ausgelöst durch die Explosion des ersten Gastanks auf dem Industriegeländeände, beendete das Geständnis. Rufus sah Marlene triumphierend an. Die Pastorin betete und hoffte es möge schnell vorbei sein.
Der Knall und die Wucht des explodierenden Gastanks drang durch die Stadt bis zum Haus der Bergers. Dorothea sah zu dem schlanken, hochgewachsenen Mann, der ihr gegenüber stand, er war damit beschäftigt eine Flasche Sekt zu öffnen. Sie nickte ihm erleichtert zu. Dann nahm sie seine braune Jacke aus Lederimitat und hängte sie an die Garderobe in ihrem Flur.
Der Starkregen an diesem verhängnisvollen Abend verhinderte die Explosion weiterer drei Gas-Tanks, so war es am nächsten Tag in der FGZ zu lesen.

Dead End

Pfeiffer senkte sein Haupt.
Berger schloss seine Augen und legte seinen Kopf in den Nacken. Er rollte mit seinen Schultern und streckte seine Brust nach vorne. Knackende Geräusche waren zu hören. Langsam wandte er sich vom Lederimitatträger ab und reichte die Pistole an Pfeiffer weiter.
Pfeiffer bückte sich gemächlich und platzierte die Waffe am Boden, neben seinem rechten Fuß.
Der Fremde zog seine Augenbrauen hoch. »Nun gut, Herr Berger. Sie haben sich entschieden?« Bergers Gesicht blieb ihm verborgen. Der Journalist rückte indessen sein Hosenbein zurecht. »Keine letzten Worte für Ihre Schwester?« Seine Stimme wurde lauter. »Ein Egoist, wie er im Buche steht! Sie feiges …« Der Unbekannte hielt einen Moment inne und atmete hörbar ein. Er musterte die Zwei abwechselnd und stieg von einem Bein auf das andere. Ein Kribbeln kroch seinem Nacken empor. »Sie enttäuschen mich. Offensichtlich klebt noch nicht genug Blut an Ihren Händen.«
Pfeiffer richtete sich auf. Mit angehobenem Kopf sah er völlig ausdruckslos in die Augen des Fremden. Eine Faust geballt. Mit der rechten Hand hielt er einen runden, etwa münzgroßen, schwarzen Gegenstand, der vom Daumen verdeckt wurde.
Berger wandte sich dem Redner zu. Sein Gesicht genauso leer, wie das des Journalisten.
Der Namenlose gab ein »Was zum …« von sich. »Warum …« Er wischte sich mit dem Handrücken über seine Stirn. Seine Stimme klang unnatürlich hoch. »Sehen Sie mich nicht so an.« Jetzt schrie er. »Erschießen Sie sich endlich.«

Ein Klatschen ertönte von draußen, aus der Finsternis und schwoll zu einem Applaus an. Der Namenlose wirbelte so schwungvoll herum, dass er ins Schwanken geriet. An der Kante des Wagens kippte er über und stürzte zu Boden. Steinchen bohrten sich schmerzhaft in Handflächen und Knie. Dabei purzelte die Pistole aus seiner Jackentasche. »Wo ist denn Ihre Contenance geblieben? Ludowig.«
Diese Stimme. Er kannte sie. Weiblich. Sie klang leicht rauchig und verbraucht. »Nein.« Flüsterte er. Ein metallisches Kratzen war zu hören. Darauf folgte ein schweres Klacken. Ein großzügiger Lichtkegel schien auf den am Boden Liegenden und präsentierte ihn im Zentrum. Seine Stimme klang kraftlos. »Dorothea?« Schützend hielt er eine Hand vor seine Augen, an der ein Stein klebte.
»Margarete von Grieger, bitte. Soviel Zeit muss sein.« Sie schritt zur Pistole und nahm sie an sich.
»Wer …« Ludowig stockte.
»Pfeiffer? Sie und ihr Kollege sind dran.«
Beide sprangen leichtfüßig aus dem Wagen und landeten neben dem Häufchen Elend, das genauso dalag, wie es hingefallen war. Pfeiffer führte seine rechte Hand, mit dem runden Gegenstand, an seinen Hals. Er nahm ein Piksen wahr und kurz darauf verspürte er ein Kribbeln, das sich im Körper ausbreitete. Seine Glieder wurden schwer. Er gab ein »Was habe ich übersehen« von sich, bevor ihn eine Dunkelheit umhüllte, auf die er nicht vorbereitet war.

Etwas Beißendes kroch in seine Nase und ließ ihn schlagartig hochfahren. Seine Handgelenke schmerzten. Ludowig sah sich um. Ein kahler Raum. Graue Wände, schwarzer Teppichboden. Kein Fenster. Und er? Er saß auf einem harten Stuhl. Seine Arme auf den Rücken gebunden, hinter der Rückenlehne, ohne Bewegungsspielraum. Ein rotes Licht flammte auf. Oberhalb der Tür, die sich ihm gegenüber befand. Sie flog quietschend auf und brachte einen kühlen Wind in den duselig beleuchteten Raum. Herein kamen drei Personen, die er sofort erkannte. Dorothea, Pfeiffer und Berger. Doch irgendetwas passte nicht zusammen. Ihre Gesichter waren ausdruckslos, wie eine unbemalte Porzellanmaske. Ihre Bewegungen wirkten geschmeidig und kraftvoll. Berger, der wesentlich schlanker aussah, lehnte sich mit verschränkten Armen an die rechte Wand und Pfeiffer tat es ihm gleich an der gegenüberliegenden Seite. Dorothea hingegen steuerte direkt auf ihn zu. Gekleidet in schwarzem Shirt mit Stehkragen und anliegendem schwarzen Rock, der bis zu den Knöcheln reichte. In einer Hand hielt sie einen etwa drei Zentimeter dicken Akt und in der anderen einen grauen Pappbecher mit Deckel. Zwei weitere Männer erschienen, die einen Tisch hereintrugen und vor ihm platzierten.
»Vorsichtsmaßnahme.« Dorothea lächelte. Sie wirkte jünger als in seiner Erinnerung. »Nachdem sich ein Gefangener selbst den Schädel einschlug. Gehen wir kein Risiko mehr ein.« Sie deutete auf die Beule im Metall.
Ein weiterer Mann stellte einen gepolsterten Stuhl ab und schloss die Tür von außen. Sie trugen weder Uniform, noch normale Straßenkleidung. Was stimmte hier nicht. Er erinnerte sich wieder, dass sie sich als Margarete vorstellte. Tausend Fragen schossen ihm durch den Kopf. Er biss sich auf die Lippen und schwieg.
Sie setzte sich und legte die Gegenstände vor sich ab. »Das was 2005 mit Ihrer Frau geschah, tut mir aufrichtig leid. Das hätte nicht passieren dürfen. Sie hätten zu uns kommen können. Zu mir. Warum haben Sie sich nicht von mir helfen lassen. Warum mussten so viele unschuldige leiden?«
»Niemand war unschuldig.« Er musterte Berger und kniff die Augenbrauen zusammen.
»Was denken Sie, warum Sie hier sind?« Sie nippte am Pappbecher.
»Klären Sie mich auf.« Sein Blick klebte nach wie vor an dem nicht mehr rundlichen Mann.
»Das ist nicht der Berger, den Sie glauben zu kennen. Unglücklicherweise verstarb das Original an einem Herzinfarkt. In einem Fatsuit sieht er ihm zum Verwechseln ähnlich, nicht wahr?«
Ludowig richtete sich auf und zog ruckartig seine Augenbrauen hoch. »Was wollen Sie mir damit sagen?«
»Sie sind ein schlauer Mann, was denken Sie?«
»Waren die letzten 10 Jahre inszeniert?« Platzte es aus ihm heraus.
»Fast. Die Vorbereitungen waren die Hölle, aber Einiges konnten wir adaptieren. Bergers Vorgeschichte. Marlene. Pfeiffer. Alle Geschichten wurden sorgfältig ausgearbeitet. Wir mussten Ihnen natürlich Gelegenheit geben Beweise zu sammeln. Das hat uns Jahre und viele Nerven gekostet. Aber es hat sich gelohnt. Nachdem Sie uns ständig einen Schritt voraus waren, mussten wir uns einen Weg überlegen den Spieß umzudrehen.«
Ludowig hob seinen Kopf und sah sie von oben herab an. Er gab ein »Pah« von sich. »Glücklicherweise gehören Sie nicht zu der Sorte, die Ihre Opfer besuchen oder nah bei sich haben wollen. Sonst hätte der Plan nicht funktioniert. Somit war es genug Sie im Glauben zu lassen, dass alle Tot sind. Das war unser Vorteil. Sie wollten nie zusehen, wie es passiert, richtig? Genau das war Ihr Fehler.«
»Das kann nicht sein.« Ludowig rutschte am Stuhl hin und her. Er drückte sich gegen die Lehne. »Waren die letzten 10 Jahre umsonst?«
»Nicht für uns. Wollen Sie wissen ab wann es für Sie vorbei war?« Margarete lehnte sich mit gefalteten Händen auf den Tisch. »Als Sie mir vor 10 Jahren meinen ungeborenen Enkel genommen haben.«

Verdammt, Pfeiffer, konzentriere dich. Atme, sammle deine Gedanken und finde den Fehler. Es ist ein Fehler in alledem. Die ganze Geschichte ist so irrsinnig und an vielen Punkten mit Mühe zusammengeflickt, dass ständig Fragezeichen auftauchen. Finde den Fehler!!!

Pfeiffers Kopf ratterte wie verrückt. Äußerlich völlig regungslos verharrend in dieser unwirklichen Situation, arbeitete sein Inneres auf Hochtouren. Seine Gedanken rasten und redeten mit ihm.

Überleg doch mal: Maria. Warum hat sie sich erschossen? Die Erklärung des Unbekannten ist sinnfrei.
Töpfer? Ein Widerling sondersgleichen. Dass er nicht mehr lebt, tut der Welt einen Gefallen. Aber wie nur kann ein solch ruchloser Menschenhändler dazu gebracht werden, sich umzubringen? Die würden doch sogar ihre eigene Familie über die Klinge springen lassen, um sich selbst zu retten.

Er musste Zeit gewinnen, seine Gedanken zu ordnen. Bisher hatte ihm sein Instinkt immer geholfen und dieser sprach eine deutliche Sprache.
„Der Deal ist schlecht!“ Seine Worte hallten in dem leeren Waggon und füllten die Stille, in der sie standen.
„Berger soll einen perfekt manipulativ formulierten Satz sagen, um sich dann zu erschießen? Macht eine Leiche plus viel Publicity. Tut er es nicht, stirbt nur ein Mensch. Unerkannt von der Öffentlichkeit. Vielleicht finden wir Marlene ja sogar noch.“
Stille.
Hatte er überzogen? Es war eine Gratwanderung. Er durfte nicht zu überheblich werden und den Fremden in seiner Übermacht stürzen wollen, hatte dieser schließlich eine Waffe mit vermutlich gut gefülltem Magazin, die Waffe in Bergers Händen nur eine einzige Kugel.
Der wiederum regte sich nicht mehr. Er war überfordert von allem. In einer solchen Phase sehr leicht zu manipulieren. Damit hatte Pfeiffer gerechnet.
Aber auch ihr Gegenüber war sprachlos. Die Stille zog sich über Sekunden hin, die sich wie Stunden zogen. Für Pfeiffer sehr willkommen, denn sein Gehirn suchte in nun völlig klarem Geist nach Zusammenhängen und einem Ausweg.

Von vorne. Das erste Video vor Bergers Tür – es wurde nur mir zugespielt, ging dann nichtmal viral. Einige wenige haben sich auf ein Shitstörmchen eingelassen, haben Eier und Farbbeutel auf Bergers Haus geworfen. Ansonsten verebbte alles schnell wieder. Maria wurde bei ihrem Selbstmord gar nicht gefilmt. Das passt nicht. War der Grund hinter dem ersten Film gar nicht die große Öffentlichkeit?
Denke weiter, Pfeiffer, was ist hier los? Konzentriere dich!

„Herr Berger, denken sie an ihre Schwester. Der Sauerstoff in ihrem Raum wird weniger. Sie wird schwächer, ihr Atem wird langsamer, aber das wird nicht reichen, ihren Körper weiter mit Sauerstoff zu versorgen. Es wird sich über Stunden hinweg hinauszögern. Ihre Haut wird blau, sie wird bewusstlos und fängt an zu krampfen, dann nässt sie sich ein, bevor…“
„Hören sie auf!“ Bergers Stimme schnappte über. Er riss die Pistole nach oben und steckte sie in seinen Mund, zitternd am ganzen Leib.
„HALT!“ Fast schon hektisch schrie der Unbekannte los. „Zuvor müssen sie den Satz sagen. Ansonsten wird alles nicht so kommen, wie es kommen soll.“
Pfeiffer, der die Szenerie wie von weit weg und seltsamerweise beachtlich analytisch beobachtet hatte, bemerkte eine Anspannung in der Stimme des Gegenübers. Konnte es sein, dass er Angst hatte?
Berger ließ die Pistole sinken.
Das war Pfeiffers nächste Chance. Sein Fokus hatte sich mehr und mehr auf die Webcam gerichtet. In Richtung des roten Punktes sagte er nun: „Wäre alles nicht sogar noch spannender, wenn Berger den Satz sagt und ich ihn erschieße? Der Journalismus, der Menschen tötet? Das wäre weitaus symbolträchtiger als der Kapitalismus, der sich selbst abschafft.“
Mit seinen Worten stiftete er offenbar im Plan seines Gegners ein weiteres Mal Verwirrung, denn auch jetzt war dieser einige Sekunden ruhig, seine Silhouette stand wie versteinert unter dem Bauscheinwerfer.

Das ist es! Er spricht gar nicht von sich aus, er hat einen Stöpsel in seinem Ohr und muss auf neue Anweisungen warten!
Pfeiffer fühlte ein wärmendes Gefühl in sich aufsteigen. Er war auf der richtigen Spur. Ein paar Gedankengänge mehr und er würde die Situation im Griff haben. Der Plan in seinem Kopf hatte Form angenommen.
Sein Ziel war nun, die Waffe in die Hand zu bekommen. Während der Zeit, in der er im Rotlichtmilieu recherchiert hatte, hatte er mit einem befreundeten Polizisten einen Deal geschlossen: Informationen gegen Zeit auf dem Schießstand. Sein Bekannter ließ ihn mit seiner Dienstwaffe und gefälschter Unterschrift üben. Damals stellte er sich direkt ab dem ersten Schuss als geborener Schütze heraus und konnte mit einiger Übung besser treffen als viele erfahrene Polizisten.
Das war aber einige Jahre her.
Der Unbekannte zog bedächtig seine Waffe aus der Jackentasche. Er hatte offensichtlich Anweisungen erhalten.
„Die Idee ist gut. Sehr gut sogar. Berger, geben sie die Pistole an ihren Partner.“
Berger hatte abgeschlossen mit seinem Leben. Wie ein Häufchen Elend stand er da, hängende Schultern, hängender Kopf, die Arme baumelten an seiner Seite, in der rechten Hand hielt er die Waffe. Er blickte müde auf, sah Pfeiffer direkt an und reichte sie ihm.
„Zielen sie gut, bitte“, hauchte er mit tonloser Stimme.
„Das werde ich.“
„Sagen sie meiner Frau…“
„Zeit zu gehen!“ Die dunkle Stimme des Erpressers unterbrach die beiden. „Genug geredet. Ihr Satz, Herr Berger. Wenn sie sich bitte hierher stellen würden.“
Berger trat nach vorne, direkt in die Mitte des Aufnahmefeldes der Webcam. Pfeiffer blieb hinter ihm stehen, die Waffe geradeaus auf seinen Kopf gerichtet. Er zitterte. Er hatte einen einzigen Schuss und musste auf den Zentimeter genau treffen, sonst würde ein Unglück geschehen.
„Sehr gut, ich freue mich, dass sie beide kooperieren. Marlene wird es ihnen danken. Herr Berger, vergessen sie nie, dass sie mit einer guten Tat gestorben sind.“
Der Zynismus war ekelerregend. Pfeiffer fühlte eine blinde Wut in sich. Hoffentlich würde diese ihm nicht seinen Plan zerstören. Er musste wachen Geistes bleiben jetzt.

Berger stammelte apathisch vor sich hin.
„Ich bin Richard Berger, ein Bürger wie ihr alle. Ein normaler Bürger.“ Während er erstaunlich ähnlich zum vorgegebenen Satz seine Worte abspulte, holte Pfeiffer tief Luft und versuchte, seinen Atem zu beruhigen. „Menschen sind gestorben und ich bin schuld daran.“ Es waren nur noch wenige Sekunden. Pfeiffers Herz schlug bis zum Hals. Er überlegte, wie stark er drücken müsste, bis der Schuss sich löste. Nur keinen Fehler machen und zu früh durchbiegen. Sein Finger entspannte sich. „Ich bin ein Kapitalist und Ausbeuter.“
Stille.
Verdammt, jetzt war es soweit. Er musste schießen. Alles oder nichts.
Die Spannung kam zurück, er hob die Waffe, zog sie weiter nach oben und rechts und drückte ab.

Der Schuss hallte ohrenbetäubend im Waggon, sekundenlang hörte man nichts, die Ohren waren überlastet und begannen, in einem nervtötenden hohen Ton zu piepsen.
Berger sackte vornüber, der Mann mit der Kunstlederjacke stand stocksteif unter dem Licht.
Pfeiffer war der Einzige, der zuvor schon wusste, was passieren würde und vorbereitet war. Er hechtete nach vorne, drei, vier große, schnelle Schritte weiter, stieß den vom Geschehen überrumpelten Mann um und schlug ihm wie wild den Pistolengriff ins Gesicht. Tatsächlich fiel dabei ein Knopf aus dem Ohr. Pfeiffer packte das Kabel und riss daran, bis ein kleines Gerät auf den Boden plumpste. Auch auf dieses schlug Pfeiffer ein, so dass es in Einzelteile zersprang. Dann hieb er weiter auf seinen Gegner ein.
Dieser riss seine Arme nach oben, um sich zu schützen und wehrte die folgenden Schläge ab. Er war erstaunlich hart im Nehmen und trotz dünner Statur schien er nur aus Muskeln zu bestehen.
Er packte Pfeiffer bei den Armen, schlug die Hand mit der Pistole auf den Boden und diese rutschte davon.
Pfeiffer schaute hektisch um sich. Seine Ohren nahmen langsam wieder andere Geräusche wahr. Eines davon war das Gewimmere von Berger. Das war beruhigend.
„Berger, hören sie mich? Ich brauche ihre Hilfe!“
Aber die Hilfe kam nicht. „Berger! Hilfe!“ Noch einmal schrie er. Würde nun nichts passieren, er könnte seinem Gegner nicht länger Paroli bieten.
Dieser packte ihn in diesem Moment, machte eine geschickte Bewegung und ehe Pfeiffer einen weiteren Gedanken fassen konnte, lag er auf dem Rücken, der Fremde über ihm. Eine Pistole war an seiner Schläfe zu spüren.
„Ganz ruhig jetzt“, hörte er ihn sagen. „Es ist vorbei. Hören sie auf, sich zu wehren. Ich habe keine Lust mehr auf alles, ich morde, ohne mit der Wimper zu zucken. Aber ich mag nicht mehr.“
Pfeiffers Gedanken schwirrten. Dann wurde alles zu viel. Die Anspannung fiel ab und er verlor sein Bewusstsein.


„Pfeiffer, Pfeiffer. Das war eine große Leistung.“
Anerkennend schlug ihm der Polizeipräsident auf die Schulter. Christian Pfeiffer blickte sich um, Frankfurts Oberbürgermeister prostete ihm zu.
„Ach, ich hatte keine andere Chance. Der Typ hätte auch mich umgebracht, nachdem Berger sich ermordet hatte.“
„Aber warum die Webcam?“
„Es hat plötzlich alles gestimmt. Der Killer war nur ein kleiner Angestellter, im Grunde der Spielleiter. Er tauchte überall da auf, wo es gefährlich wurde und machte die ‚Reportage vor Ort‘. Er war der, der die Erpressungen und Einschüchterungen vornahm, er war der, der die Drogen verabreichte, ebenso wie er der war, der den Pathologen bestach. In Wirklichkeit wurde aber auch er gesteuert. Der Knopf im Ohr. Das war seine Verbindung zu seinen Auftraggebern.“
„Sie haben diesen Knopf aber nur vermutet.“
„Ja, das habe ich. Aber seine Reaktionen verrieten es. Und deswegen kam ich auch auf den Schuss auf die Webcam. Mit ihm zerstörte ich die Sicht auf die Situation genauso wie die akustische Verbindung aus dem Waggon heraus. Spätestens als ich das Funkgerät zerstört hatte, waren wir alleine.“
„Es hat ihnen beiden das Leben gerettet.“
„Zusätzlich die Tatsache, dass der Killer selbst von allem überfordert war und schon lange hatte aussteigen wollen. Schade, dass sie ihn nicht erwischt haben.“
„Interpol ist ihm auf den Fersen. Es wird schnell gehen, ich habe positive Rückmeldungen und verfolge den Fall permanent.“
„Wenn sie ihn fassen, bringen sie ihn bitte weit, weit weg von mir. Er hat mir das Leben gerettet, indem er nicht geschossen hat, obwohl er es hätte können. Aber er hat mir mein Leben genommen, weil er Maria umgebracht hat.“
„Seine Tipps aus den nicht nachverfolgbaren Mails haben uns geholfen, Marlene zu finden und ebenso die Strippenzieher, die alle in Haft sitzen. Er wird als Kronzeuge vielleicht sogar in ein Zeugenschutzprogramm kommen, da er selbst genauso manipuliert wurde wie alle anderen.“
„Ich mag ihn nicht hängen sehen, ebensowenig im Gefängnis. Es ist mir egal wo, Hauptsache weit weg von mir. Die eigentlichen Mörder sind die verfluchten Verbrecher, die sich mit diesen ganzen Morden und dem dazugehörigen Material ‚einfach nur vor unseren Konkurrenten ein wenig Respekt verschaffen‘ wollten, wie sie es sagen. Chaos stiften, das Internet fluten und Angst verbreiten. Das einzige Ziel. Dafür mussten zwei Menschen sterben.“
„Menschen sind unergründlich in ihren Taten. Das bemerken wir hier jeden einzelnen Tag.“
Pfeiffer konnte nur mit den Schultern zucken.
Die Ehrung war sowieso schon vorüber, so dass er nicht weiter hier bleiben musste.
Er drehte sich um und verließ den Raum, nicht ohne noch eines der Blumensträußchen auf den Stehtischen mitzunehmen, das er nur wenige Minuten später auf dem Grab von Maria ablegte.

Der Schnitt

Richard Berger zitterte am ganzen Körper. Mit geweiteten Augen starrte er auf die Pistole in seinen Händen. Dann sah er in die Richtung des unbekannten Mannes und hob langsam seinen Arm.

„Du musst das nicht tun, Richard“, sagte Christian Pfeiffer.

„Doch, ich muss“, wisperte Berger. Der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er den zitternden Lauf der Pistole langsam an seine eigene Schläfe hob. „Nur dann wird er meiner Schwester nichts tun.“

„So ist es gut, Berger“, spottete der Unbekannte aus den Schatten. Dann rutschte etwas über den Fußboden bis vor die Füße des rundlichen Reiseveranstalters. Der zuckte dermaßen zusammen, dass er fast abgedrückt hätte.

„Nicht so schnell“, lachte die Stimme. „Du musst doch erst deinen Text verlesen.“

Während Berger sich zittrig nach dem Papier bückte, ballte Christian Pfeiffer wütend die Fäuste. Es konnte doch nicht sein, dass das hier so enden würde.

„Wer bist du?“, brüllte er in die Richtung des Unbekannten. „Bist du ein selbsternannter Rächer, der sich über das Gesetz stellt und solange Menschen tötet, bis er an sein so lauteres Ziel kommt?“

„Kein Rächer“, antwortete der Unbekannte. Seine Stimme klang hart und unnachgiebig. „Nur ein Opfer, das weitere Opfer verhindern will.“

„Das ließe sich auch anders regeln“, warf Pfeiffer scharf ein und wedelte mit den Fotos in seinen Händen. „Die Polizei-“

„Nein“, unterbrach ihn der Unbekannte. Betont ruhig klopfte er auf die Tasche, in der er die Pistole verwahrte. Ein klarer Hinweis. „Und jetzt sein still.“

Fassungslos wandte wandte sich Pfeiffer an Berger, der den Zettel mit der einen und die Pistole mit der anderen umklammerte.

„Berger, nein. Wir kriegen das hin!“ Doch selbst er merkte, dass die Verzweiflung in seiner Stimme allgegenwärtig war.

Bergers wässrige Augen blinzelten ihn einmal an. Dann sah er in die Kamera und begann, den Text auf dem Zettel vorzutragen: „Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben.“

Er schluckte schwer. „Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein. Ein Ausbeuter. E-ein Kapitalist.“

Erneut hob er den Lauf der Waffe. Seine Augen starrten angsterfüllt in die Kamera. Er schloss die Augen und holte tief Luft. „Bitte tun Sie meiner Schwester nichts.“, flüsterte er leise.

Dann drückten seine Finger den Abzug.

Doch der Knall blieb aus. Stattdessen war aus der anderen Ecke des Raumes ein Stöhnen zu hören.

„Jetzt haben Sie das Ende des Videos versaut“, beschwerte sich der Unbekannte und beendete die Aufzeichnung der Kamera.

Mit käseweisem Gesicht sackte Berger zu Boden. Die Pistole glitt ihm aus der Hand.

„Wieso?“, wisperte Berger und warf sich die Hände vors Gesicht. Er zitterte wie Espenlaub.

„Das habe ich bereits erklärt.“ Die Stimme des Fremden klang genervt.

Da richtete sich Berger auf. Sein Gesicht war rot, ob vor Wut oder Scham konnte Pfeiffer nicht beurteilen. Er selbst war immer noch wie erstarrt.

„Ich kenne Ihr Gesicht“, sagte Berger dann leise und richtete seinen Finger auf den Unbekannten. „Sie haben das Video vor meiner Haustür gefilmt. Wenn Sie mir nicht sagen, wo meine Schwester ist, sage ich der Polizei, wer Sie sind, wie sie aussehen …“

„Ich weiß“, erwiderte der Unbekannte. Noch immer lag sein Gesicht im Schatten. Pfeiffer wüsste zu gerne, wie es aussah, damit er ihm eine reinhauen könnte für diese grausam absurde Situation, in die der Unbekannte sie gebracht hatte. „Ich danke Ihnen herzlich, Herr Berger von Berger-Reisen, dass Sie meinen Anweisungen gefolgt sind. Deshalb versichere ich Ihnen, dass Ihrer Schwester nichts passieren wird. Aber Sie haben recht. Sie kennen mein Gesicht.“ Langsam zog er die Pistole aus seiner braunen Lederjacke hervor. „Das Ende des Videos werde ich rausschneiden müssen, aber das wird reichen.“ Dann schoss er.

Tödlich getroffen fiel Richard Berger zu Boden. Eine Schusswunde prangte an seiner Schläfe, an genau der Stelle, auf die sich vor wenigen Minuten noch seine eigene Waffe gerichtet hatte.

Da verstand Pfeiffer. Der Unbekannte würde es so aussehen lassen, als hätte Richard Berger sich selbst umgebracht. Kalt lief es Christian den Rücken hinunter. Und er würde das Video hochladen müssen.

Da landete ein USB-Stick vor seinen Füßen. „Ist schon geschnitten. Ein Hoch auf die Technik“, rief ihm der Unbekannte aus den Schatten zu. „Da Marlene sonst die Luft ausgeht, verrate ich dir lieber jetzt, wo du sie findest. Sie ist in der Legienstraße 14b, nicht weit von hier. Solltest du das Video aber nicht hochladen, bist du der nächste, das weißt du.“

Dann verschwand der Unbekannte. Christians Füße waren wie festgefroren, wollten sich nicht bewegen. Wieso nur konnte er nicht irgendetwas tun?

Der Strahler, der das Innere des Waggons erhellt hatte, erlosch und es wurde dunkel.

Als Nächstes passierte mehrere Dinge gleichzeitig. Es ertönte ein Poltern, Geächzte und Männerstimmen, die sich anschrien. Dann hörte er Sirenen und er glaubte, von irgendwoher die Stimme von Dorothea Berger zu hören. Seine schweißnassen Finger umklammerten den Stick, als er sich langsam an der kühlen Stahlwand hinuntergleiten ließ und auf die Geräusche draußen lauschte, die immer schriller zu werden schienen. Ein grelles Piepen mischte sich darunter, dann verlor er endgültig das Bewusstsein.


Als Christian Pfeiffer erwachte, schwebte ein unbekanntes Gesicht über ihm.

Verwirrt sah er den Officer an, der von dem weißen Krankenhausbett zurücktrat und ihn ernst musterte.

„Was ist passiert?“, murmelte Christian Pfeiffer verwirrt.

Der Officer schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Pfeiffer. Ihnen fehlt es an nichts. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Richard Berger tot aufgefunden wurde. Wir sind im rechten Moment angekommen, sonst hätte es Ihnen wahrscheinlich ähnlich ergehen können.“

„Wie?“, murmelte Pfeiffer verwirrt.

„Da Frau Berger Angst hatte, das etwas passieren könnte, ist sie Ihnen in ihrem eigenen Wagen gefolgt, als Sie sich mit Herrn Berger auf den Weg gemacht hatten. Sobald Sie an ihrem Zielort angekommen waren, hat sie sofort die Polizei alarmiert und uns zu ihnen geführt.“

„Das bringt Richard nun auch nichts mehr“, murmelte Pfeiffer erschöpft.

„Das ist richtig. Aber wir haben seinen Mörder in Gewahrsam. Mit dem Fotomaterial aus dem Waggon, der Aussage des Täters und ihrer Aussage, Herr Pfeiffer, werden wir ihm seiner gerechten Strafe zukommen lassen. Aber für den Moment - ruhen Sie sich aus.“

Wie aufs Stichwort sank Christian Pfeiffers Kopf zurück in das Kissen.

Ein langes schnelles Ende:

Einige Stunden zuvor hatte die Ermittlungsgruppe „BG33Lila“ der Soko in Frankfurt neue Erkenntnisse erhalten. Dies war dem Kriminalkommissar Werner Eckert zu verdanken, der in Sofia mit seiner Kollegin Frida Radev auf Ermittlungsreise war. Sie waren auf dem Rückflug von Sofia nach Frankfurt und Frida Radev war neben ihm eingeschlafen. Die zwei Tage Recherchen in Sofia waren für sie sehr anstrengend gewesen, da Frida in ihrem Bekanntenkreis, den sie sich als Jugendliche in Sofia aufgebaut hatte, vorsichtig Informationen erfragen musste. Werner Eckert dagegen wirkte sehr aufgekratzt und nervös. Gab es doch für ihn eine unglaubwürdige Erkenntnis, zu der er sich immer wieder die Gedanken wegwischen wollte, dass sein Freund Richard an einem Verbrechen beteiligt war. Immer wieder sagte er sich, dass dies nicht wahr sein konnte und er ihn umgehend, wenn sie wieder in Frankfurt waren, zur Rede stellen musste.

Sie flogen gerade über Österreich als Frida erwachte und etwas verschlafen ihren Kollegen ansah. „Sorry, dass ich eingeschlafen bin, aber mich hat die ganze Sache in Sofia total aufgewühlt“, brummelte sie ihn an, „wollen wir jetzt nochmal alles zusammenfassen?“

Werner Eckert tat sich schwer, ihr zuzustimmen aber Arbeit ist Arbeit und zu dem würde er den Fall dann wohl auch abgeben müssen. Dennoch war es ihre gemeinsame Aufgabe die Liste an Informationen durchzuarbeiten.

Beide waren sich einig, dass es hier um Menschenhandel ging, bei dem junge Frauen in Bulgarien angeheuert wurden, in Deutschland einen Job als Kellnerin zu erhalten und damit auch gut verdienen konnten, um ihre Familien zu unterstützen. Also das Übliche, was diesen Handel betrifft, auch, dass es diese Arbeit letztendlich in einem Bordell gab, von dem die Frauen noch nichts wussten. Eckert und seine Kollegin hatten dazu von der Nationalen Polizei in Sofia Adressen von möglichen Schleusern bekommen, die sie nur soweit nutzen konnten, um eine Verbindung nach Frankfurt herzustellen. Bei der gemeinsamen Besprechung mit dem stellvertretenden Direktor der Dienststelle für Ermittlungen in Sofia wurde um äußerste Vorsicht gebeten, da es hier ein Netzwerk auszuheben gab. Lediglich die Verbindung zu einem Reisebüro in Frankfurt war der Hinweis, dem Eckert und Redov mit ihrem Krisenstab in Frankfurt nachgehen durften, zumindest wollte das so die Polizei in Sofia.

Werner Eckert überlegte immer wieder aufs Neue, ob er seiner Kollegin jetzt schon offenbaren sollte, dass er den Inhaber des Reisebüros kannte, dies würde sowieso ans Licht kommen. Doch letztendlich kam er zu dem Schluss, dass er direkt nach der Ankunft, am besten noch am Flughafen, seinen Freund anrufen wollte, in der Hoffnung eine glaubwürdige Antwort zu erhalten. Auf der anderen Seite, gab es nun den Hinweis zu dem Reisebüro im Bericht, den sie kurz vor dem Abflug in Sofia erhalten hatten.

„Wie passt das nun alles zusammen mit den beiden Opfern in Frankfurt“, ließ Eckert seine Gedanken laut werden mit unverständlichen Gesten seiner Hände vor seinem Kopf, „wie denkst du darüber, Frida?“ Diese hatte ihm immer wieder eine einfache Variante mitgeteilt und wiederholte diese ein weiteres Mal: „Die Schleuser in Bulgarien hatten Kontakt zu dem Reisebüro in Frankfurt, das die Frauen in Serbien oder Kroatien abholten und nach Frankfurt schleusten, wobei ich gestehen muss, dass diese sicherlich nicht direkt zum Bordell gefahren wurden. Irgendwo muss es eine Auffangstation oder so etwas Ähnliches geben. Vielleicht das Reisebüro selbst? Wurde nicht auch vor deren Privatwohnhaus ein Mann erschossen, der den Kollegen in Sofia bekannt war?“

„Und was ist mit der erschossenen Frau vor dem Bürohaus der Redaktion?“ konterte Eckert als Gegenfrage. „Das passt doch alles nicht zusammen!“ Er war es leid, diese Überlegungen immer wieder zu wiederholen. „Lass es uns in Frankfurt neu beleuchten, wir landen ja in weniger als einer Stunde,“ brachte er die Analyse zu Ende. Frida Redov nickte und war froh noch etwas Ruhe vor ihrer Arbeit in Frankfurt zu haben.

Werner Eckert konnte seinen Freund Richard telefonisch nicht erreichen. Mit der Ausrede, dass er schnell mal seine Frau anrufen müsse, ließ er seine Kollegin am Transportband des Flughafens allein zurück. Schließlich hatten sie ja kein schweres Gepäck und dieser Anruf brannte ihm förmlich unter den Nägeln. Enttäuscht nahm er ihr das Gepäck ab und sah dabei ihren finsteren Blick. Ihm war das jetzt egal, er wollte einfach nur ganz schnell alles aufgeklärt wissen.

Als sie in ihrer Dienststelle in Frankfurt angekommen waren, herrschte dort ein kontrollierter Betrieb. Diese hatte vor einer Stunde den Bericht aus Sofia erhalten und bereits Kontakt mit dem LKA in Wiesbaden aufgenommen. Die Entscheidung, dass Gefahr in Verzug sei, führte dazu, dass Richard Bergers Handy geortet wurde, nachdem in seinem Haus niemand geöffnet hatte. Die Soko machte sich gerade zum Einsatz bereit, als Werner Eckert seine Verbindung zu Richard Berger und Frau dem Einsatzleiter bekannt gab. „Es wäre gut, wenn ich mitfahren könnte, ich kenne ihn gut, egal, was wir vorfinden, er ist nicht der Typ eines Verbrechers eher ein sensibler Dummkopf“, erklärte er seinem Chef, dem Kriminaloberrat, Anton Westerfeld, der nur kurz nickte und dazu meinte: „Wir reden später darüber und keine Alleingänge, du bleibst im Hintergrund!“

Das Drama in dem Waggon des Industriegebietes schritt voran, nachdem Richard Berger versuchte den Satz des Unbekannten stotternd zusammenzubringen. Immer wieder erstarb seine Stimme und der Unbekannte wurde zunehmend nervöser und schrie: „Sagen sie doch endlich, dass sie ein Ausbeuter, ein Schwein sind und den Tod von zwei Menschen und bald auch von drei Menschen auf dem Gewissen haben!“

Christian Pfeiffer, inzwischen etwas ruhiger geworden, versuchte den Unbekannten in ein Gespräch zu verwickeln, in dem er fragte: „Was haben sie mit dem Menschenhandel zu tun, gibt es jemanden, den sie gut kennen, der hiervon betroffen war?“ Der Unbekannte atmete schwer: „Ja, den gibt es und jetzt lenken sie nicht ab, los Berger ich will ihren Satz hören!“

Es war genau das Richtige, was Pfeiffer endlich mit seinen Fragen und Einwänden tat und somit den Unbekannten ablenkte. Denn dieser merkte nicht, als sich durch den schmalen Spalt der Schiebetür eine kleine Gestalt schob und ihm etwas Hartes auf seinen Rücken drückte. „Sofort Waffe runter, wenn sie schießen, schieße ich auch und alles war umsonst für sie“, sagte eine Stimme, die Richard Berger nur zu gut kannte. Er zitterte, fiel auf die Knie und bat um Gnade als in diesem Moment der Unbekannte sich mit einem Schwung und leichter Drehung zur Seite sprang und mit seinen Armen die Person hinter seinem Rücken zum Straucheln brachte. Ein Gewehrschuss löste sich und prallte erst gegen die Decke des Waggons und traf dann als Querschläger Richard Berger, der aufschrie.

Dieses Chaos und die unkontrollierten Lichtkegel nutzte Pfeifer und riss den Unbekannten zu Boden. Wieder fiel ein Schuss, doch diesmal ging er ins Leere. Die Wurftechnik seines Ju-Jutsu-Trainings, das Pfeiffer jede Woche absolvierte, brachte den Unbekannten zu Fall und ein weiterer Schlag der Atemi-Technik, den er mal bei seinem Freund, einem Karate-Lehrer, beobachtet hatte, knockte den Unbekannten aus.

Die Schüsse waren von der Soko, die sich in der Nähe des alten Opels Position bezogen hatte, zu hören. Hier war das Signal von Richard Bergers Handy geortet worden, das ihm im Auto aus der Hosentasche gerutscht war. Langsam pirschten sie in Richtung Gastanks und zu dem Waggon, in dem ein Lichtkegel herumschwirrte. Als sich die Schiebetür quietschend weiter öffnete verharrten sie in ihrer Stellung. Durch ihre Nachtsichtgeräte erkannten sie einen Mann, der einen mit einem Schal an den Händen gefesselten Körper an den Rand der Tür setzte. Drinnen hörte man das Wimmern von Richard Berger und Stimme seiner Frau, die versuchte, beruhigend zu wirken.

Die Helmlampen auf den Köpfen der Beamten der Soko erhellte einen Raum bis zum Waggon und die erste Reihe der Soko stürmte zur Waggontür und rief seine obligatorischen Kommandos in das Innere. Pfeiffer war der Einzige, der in Kürze erklären konnte, was hier passiert war und drängte darauf, den inzwischen wieder zu sich gekommenen Unbekannten nach dem Ort seiner Geisel auszuquetschen.

„Ich habe nichts mehr zu verlieren“, schrie dieser, „meine Tochter ist für ihr Leben gezeichnet und nur noch ein Wrack, weil diese Männer den Menschhandel mit Frauen für die Prostitution unterstützt haben!“ Es hörte sich fast so an, als wenn Pfeiffer die Aufgabe der Befragung durch die Soko übernahm, in dem er nun mitfühlend auf den von Leid gezeichneten Vater einsprach: „Wenn sie uns sagen, wo sie Marlene Romero festhalten, tun sie damit auch ihrer Tochter etwas Gutes und sie hat dann einen Vater, der letztendlich eingesehen hat, nicht auch noch eine unbeteiligte Pastorin auf dem Gewissen zu haben.“

Der Unbekannte atmete schwer und Pfeiffer wiederholte fast gleichlautend seinen Satz und immer wieder, fast wie eine Bitte, doch das Leben einer Unbeteiligten zu retten. Inzwischen hatten sich Beamte um Berger und seine Frau gekümmert und festgestellt, dass es nur ein Streifschuss an Bergers Bein gewesen ist. Als per Funk Sanitäter angefordert wurden, hörte man die Stimme eines Vaters, der für seine Tochter seinen eigenen Weg der Vergeltung gegangen ist: „Gucken sie in die Lagerhalle mit dem schwarzen Dach direkt neben den Gastanks hinter dem Stacheldraht“.

Ein Rückblick aus der Zukunft

Pfeiffer starrte auf das rote Licht. Sein Herz pumpte. Sein Blut rauschte in seinen Ohren. Berger neben ihm wimmerte leise. Doch das war so irrelevant. In seinem Kopf blitzten immer wieder Bilder auf. Maria. Ihr lächeln. Ihre strahlenden Augen. Das Glück, neben ihr aufwachen zu dürfen. Das Gefühl ihrer seidig weichen Haut. In seinen Ohren klang ihr Lachen schon so fern. Er hatte sie geliebt und er hatte es bis jetzt unterdrückt. Selbst an ihrem Grab, als ihre Stimme wie ein flüstern im Wind verhallte.
Die Frau, die er unter Kerzenschein kennengelernt und sich verliebt hatte… sie würde nie wieder zurückkehren. Er würde sie nie wieder berühren. Nie wieder ihre weichen, zarten Lippen schmecken. Nur weil dieses Schwein Selbstjustiz vollstreckte und sich für Batman oder sonst wen hielt!
Eine Sicherung brannte durch. Er griff einfach neben sich, packte die Pistole, öffnete das Magazin, schaute hinein, stellte fest das tatsächlich eine Kugel darin war und ließ das Magazin wieder hinein schnappen.
„Mister Pfeiffer?“, kam es unruhig vom dritten Mann.
„Chr-chr-christian?“, stammelte Berger neben ihm. „M-meine Schwester…“
Eine seltsame, eisige Ruhe befiel Pfeiffer, als er die Pistole entsicherte, sich in Position stellte und beide Hände zum zielen nutzte. Als wenn er nie etwas anderes getan hätte.
„Sie haben einen Fehler gemacht“, grollte seine Stimme.
„Ich warne sie Pfeiffer, ich bin bewaffnet!“, rief der Täter nun doch hörbar nervös, „Die Waffe war nicht für Sie-“
„Fi**en sie sich ins Knie“, knurrte Pfeiffer und spürte kalte Absolution in seinen Venen fließen, als sein Finger andrückte, der Knall sich löste und-

~ * ~ * ~ * ~

Keuchend schnappte ich nach Luft. Etwas verstopfte meine Luftröhre und ich hustete, um das Zeug los zu werden. Mein Körper zuckte und krampfte. Die Kontrolle entglitt mir.
Dann blendete mich Licht und ich wollte stöhnen. Doch es gelang mir nicht. Irgendeine Flüssigkeit die leicht Kirschig schmeckte, verstopfte alles. Es lief mir aus der Nase und dem Mund, meine Augen tränten und wie durch Watte hörte ich eine Stimme.
„Ruhig Hunter. Mach langsam.“
Hunter? Wer ist Hunter? Mein Name war doch Pfeiffer?
„Sie sind sicher noch etwas verwirrt. Der Switch war etwas hart dieses mal. Mussten sie sich denn erschießen lassen? Woher kam plötzlich diese Emotionalität, Hunter?“
Die Stimme war Weiblich und irritierend. Was zur Hölle?
Ich blinzelte erneut, dann merkte ich, wie die Flüssigkeit in meinen Atemwegen sich verflüchtigte und ich wieder einigermaßen Luft bekam.
Jemand berührte mich.
„Gehts?“
Ein Mann. Ich nicke langsam. Ja, langsam ging es.
„Was zur Hölle?“, krächzte ich und meine eigene Stimme war mir fremd.
„Warten Sie noch einen Moment, gleich kommts zurück“, erwiderte mir die Frau.
„Zurück? Was soll-“
Dann stockte ich, als mein Hirn mir Bilder hinwarf. Ich wurde überschwemmt. Mit einer Sinntflut aus Erinnerungen, die nichts mit Christian Pfeiffer zu tun hatten. Nichts mit dem Leben, von dem ich geglaubt hatte, dass es meines wäre.
Stattdessen überschwemmte mich mein eigenes und ich wusste wieder, warum ich hier war. Wer ich war. Mein Name ist Quin Hunter und ich… bin am Arsch.
„Mein Schädel“, krächze ich und quäle mich in eine sitzende Position.
„Wird besser, Sergeant“, grinste ihn eine kleine, Silberhaarige Frau an.
„Nova“, brumme ich und werfe meiner Technik Offizieren einen missbilligenden Blick zu. „Wie ist meine Bewertung?“
„Unterster Durchschnitt“, kicherte es neben mir und ich blicke auf und in das Gesicht eines jungen Mannes, der mir so vertraut war, wie es Maria in der Simulation gewesen war. Ich lächle ihn erleichtert an, „Sinclair.“
„Willkommen zurück, Liebster“, beugte sich der Orangehaarige vor und hauchte mir einen Kuss auf die Lippen.
Ich genieße es. Jede Sekunde, jede zarte Berührung. Ich liebe es und mehr denn je weiß ich es zu schätzen, meinen Partner an meiner Seite zu haben.
„Willkommen zurück, Captain“, ertönte eine melodiöse Stimme und neben meiner Kapsel erscheint eine Hartlicht-Projektion einer jungen Frau, die wie aus Kristall zu bestehen schien.
„Levi“, begrüße ich meine Schiffsintegrierte KI.
„Wie lange war ich drin? Was habe ich verpasst?“, hacke ich nach.
„Och, nicht so viel“, zuckte Ciel Sinclair mit den schmalen Schultern und grinst mich schelmisch an, „Nov hat deinen Bruder gelyncht, Lina und Ris haben im Lager gepimpert und wurden von Murphy erwischt und Dragon und Dante… ach, ich erzähle es dir später. Du warst etwa einen Tag in der Simulation. Levi findet, dein Temperament ist zu heiß.“
Ich blinzle und erinnere mich daran wie ich diesen Typen eiskalt mit nur einer Kugel erschossen habe. Nun, er mich auch. Ich lächle schief, „Ich war sauer.“
„Haben wir bemerkt“, grinste die Silberhaarige, deren Scheitel mit gerade einmal bis zur Brust reichte, wenn ich stand. Nun, Ciel war nicht wesentlich größer. Was gut so war. Ich mochte meinen Partner so klein. Ich spürte wie ich grinste.
„Einen ganzen Tag, nur um fest zu stellen, das ich heißblütig bin und ich es demjenigen sehr übel nehmen werde, wenn er meinem Partner etwas antut?“
Ciel merkte auf, wurde etwas rot um die Nase und bewies damit, warum ich mich in ihn verliebt hatte. Er war einfach zu süß!
„Ja“, machte Nova und grinste noch ein bisschen mehr, „Ich seh schon. Euch sehen wir die nächsten 24 Stunden auch nicht mehr.“
Wir sahen erst sie an, dann folgten wir ihrem Blick.
Ich war nackt und das kaum zu übersehen.
„Nun“, schürze ich die Lippen, „Da könntest du recht haben.“
Ciel‘s Gesichtsfarbe nahm zu, doch ich konnte seinen Fuchsschweif aufgeregt hinter ihm wedeln sehen, der ihm aus dem Steiß wuchs.
„Jap“, sagte ich grinsend, stand auf und schnappte mir meinen Fuchs, „Falls wer fragt“, warf ich mir einen japsenden Ciel über die Schulter, „Wir sind nicht ansprechbar!“
Damit wandte ich mich ab und tappste grinsend und nackt wie ich war, aus dem Simulationsraum, durch mein Schiff zu unserem wunderschönen kleinen Nest.

„War es denn lehrreich?“, fragte mein kleiner Fuchs viel später und nachdem wir viel Zeit füreinander gehabt hatten.
Ich überlegte und zog Ciel näher zu mir, dessen Wange auf meiner entblößten Brust lag.
„Hm“, brummte ich tief, „Eine interessante Zeit. Sah unsere Welt wirklich mal so aus?“
„Vor sehr langer Zeit. Noch bevor ich vor tausend Jahren in den Schlaf ging“, bestätigte er.
Ich denke darüber nach.
„Immer noch sauberer als heute“, stelle ich fest.
Er schnaubte, „Ja, aber wir arbeiten dran“, streckte er sich, küsst mich und ich genieße es. In vollen Zügen.

Ende

~ * ~ * ~ * ~

Für meine Freundin und Schreibpartnerin und eine kleine Anekdote an eine unserer vielen Geschichten :face_with_hand_over_mouth:

Die Hand Gottes

Das Video war seit drei Tagen online. Pfeiffer saß seit drei Tagen nahezu ununterbrochen vor seinem Rechner und sah sich immer wieder an, wie Berger sich selbst erschossen hatte.
Kaum zu glauben, dass der alte Mann sich wirklich selbst umgebracht hatte. Pfeiffer war danach wie in Trance gewesen. Der Unbekannte war sofort verschwunden, hatte aber im Laufen noch gerufen, dass der kleine Videobeweis soeben in Pfeiffers Mailpostfach gelandet sei. Er habe zwei Stunden.
Also hatte er den Film ohne vorherige Absprache mit der Polizei oder seiner Redaktion hochgeladen und gewartet. Leider von Marlene Romero keine Spur und kein Lebenszeichen. Auch drei Tage später noch nicht.
Die Polizei hatte ihn mehrfach befragt und er hatte immer wieder genauestens beschrieben, wie alles abgelaufen war. Bergers Frau hatte einen Nervenzusammenbruch erlitten und lag im Krankenhaus.
Sie hatten doch alle Forderungen des Unbekannten erfüllt. Trotzdem fehlte von Marlene jede Spur. Eigentlich hätte Pfeiffer der ganzen Sache jetzt nachgehen müssen, doch sein Chef hatte ihn beurlaubt. Der Upload des Videos war zuviel gewesen. Außerdem hatte die Polizei ihn gebeten, sein Zuhause nicht zu verlassen, solange der Täter noch frei herumlief. Aber was konnte er von seiner Wohnung aus tun?
Es klingelte und Pfeiffer ging zur Gegensprechanlage. Es war die Paketbotin. Er bat sie, das Paket vor seiner Tür abzustellen. Dann holte er es herein, nachdem sie gegangen war.
Er hatte nichts bestellt. Das Paket war frankiert und seine Adresse stand auf einem ausgedruckten Blatt Papier, welches auf der Oberseite klebte. Sonst keine äußeren Spuren.
Die Polizei hatte ihn ausdrücklich davor gewarnt, einem Fremden zu öffnen oder gar Pakete wie dieses in Empfang zu nehmen.
Er suchte nach einem kleinen Messer und öffnete damit das Paket. Es war leicht und hatte die Größe eines Buches. Im Inneren lag ein Schlüssel mit einem Anhänger, wie es sie in Hotels gibt. Darauf die Nummer 34.
Pfeiffer lief ein kalter Schauer über den Rücken, seine Kopfhaut kribbelte und seine Hände begannen zu zittern. Er ließ den Schlüssel fallen und als er sich danach bückte, segelte ein kleiner Zettel aus dem Paket zu Boden.
Der Zettel landete mit der beschriebenen Seite nach unten. Als Pfeiffer ihn aufhob, war ihm fast übel. Auf der Rückseite stand 21:30 Du weißt schon, wo.
Das war in knapp einer Stunde und Pfeiffer dämmerte langsam, dass er in riesengroßen Schwierigkeiten steckte. Der Unbekannte wusste Dinge über ihn, die eigentlich keiner wissen konnte. Keiner wissen durfte. Aber das war jetzt sowieso alles egal.
Er wusste genau, wohin er nun musste und rannte die Treppe hinunter. Sein Opel stand in der Tiefgarage. Unter dem Scheibenwischer klemmte ein weiterer Zettel. 20:40 Du bist zu langsam.
Nein, er war nicht zu langsam. Diesen Weg war er damals oft gefahren. Manchmal wie in Trance. Manchmal wie im Schlaf. Also konnte er sich auch noch einen kleinen Abstecher erlauben, der ihm heute Abend vielleicht das Leben retten würde.

Ihre Treffen hatten immer im Zimmer 34 im Hotel Kreuzblatt stattgefunden. Auf dem Dach des Hotels prangten neben dem Namen ein großes Kreuz und ein Kleeblatt. Marlene hatte dieser Name gefallen. Es sei ein Omen, sagte sie, dass er Journalist sei und sie sei eine Kirchenfrau und sie beide wären vereinigt in Kreuz und Blatt im Namen des kleinen Hotels.
Er hatte dem nie viel abgewinnen können. Ihren Vereinigungen auf dem Hotelzimmerbett dagegen schon deutlich mehr. Aber woher wusste dieser Unbekannte von ihrer kurzen Affäre? Wer steckte dahinter?

Auf dem Hotelparkplatz stand nur ein weiterer Wagen, den Pfeiffer sofort wiedererkannte. Es war Marlenes alter Golf. Sie waren sich beide immer wie Verliebte aus einer anderen Zeit vorgekommen, in der diese beiden Kultautos noch modern gewesen waren. Zwei moderne Menschen mit einer sentimentalen Liebe für ihre alten Autos.
Unter dem Scheibenwischer von Marlenes Golf klemmte ein weiterer Zettel. 21:20 Du wirst es nicht schaffen.
Oh doch, er würde es schaffen. Das Hotel war nach dem Vorbild amerikanischer Motels angelegt und die Zimmertüren führten alle auf eine umlaufende Veranda, von der aus man wiederum auf den Parkplatz blicken konnte.
Die 34 war ganz am Ende. Das Geheimzimmer hatten sie es genannt. Von hier aus konnte man zwar auf den Parkplatz sehen, doch die hohe Verandabrüstung verhinderte, dass man vom Parkplatz in das Zimmer schauen konnte.
Als er nun vor der Zimmertür stand, ahnte er nicht, was ihn dahinter gleich erwarten würde. Er hoffte, dass Marlene noch lebte. Ohne zu klopfen, drückte er die Klinke nach unten und öffnete die Tür, auf der mit Edding geschrieben stand: 21:25 Du bist gut aber es wird dir nicht helfen.

Das erste, was Pfeiffer sah, war eine Kamera, die auf ihn gerichtet war. Ein kleiner Scheinwerfer blendete ihm in die Augen. Er versuchte das Blendlicht mit den Händen abzuwehren.
Als Zweites realisierte er das große Bett in der linken Wand, auf dem eine Person angekettet war. Es war Marlene. Sie lebte. Noch.
Der Typ saß am Kopfende des Bettes und hielt Marlene ein Messer an den Hals. Sie schien irgendwie betäubt, jedenfalls regte sie sich nicht und wirkte wie in Bewusstlosigkeit erstarrt.
Jetzt erst, mit dem dritten Blick durch den kleinen Raum, erkannte Pfeiffer, wer da bei Marlene auf dem Bett saß oder zumindest, dessen Berufsstand. Der Unbekannte trug einen Talar.
„Wer sind sie und was soll das Ganze“, waren Christian Pfeiffers erste Worte.
„Schon mal was von den sieben Todsünden gehört“, fragte der Unbekannte.
„Was soll der Scheiß? Lassen Sie Marlene laufen“, Pfeiffer hatte fast geschrien. Vielleicht wurde so einer der anderen Hotelgäste munter und verständigte die Polizei.
„Ich denke, dass Marle in diesem Zustand keinen Fuß auf die Erde bekommt und wenn du nicht tust, was ich verlange, dann wird das hier ihr Totenbett sein“, führte der Irre aus. Pfeiffer war mittlerweile klar geworden, dass er etwas unternehmen musste. Was, wenn Marlene nicht mehr lange durchhielt? Und dieser irre Unbekannte war offensichtlich einer, der Marlene zumindest so gut kannte, dass er sie sogar bei ihrem Spitznamen nannte. Marle.
Es war Zeit, den Spieß umzudrehen. Doch dazu brauchte er noch ein paar Informationen.
„Was willst du jetzt noch von mir? Und wer bist du überhaupt“, fragte Pfeiffer und wolte so etwas Zeit schinden.
„Diese Kamera hier, überträgt heute live ins Internet. Gerade schauen uns 23.453 Nutzer zu. Also besser gesagt, schauen sie dir zu. Und du wirst jetzt hier ein Geständnis ablegen. Danach wirst du dich mit dieser Waffe selbst hinrichten und Marlene ist frei“, der Unbekannte warf ihm einen Revolver zu, den er auch fing.
Das Metall war kalt und der Griff fühlte sich klebrig an. War das etwa noch Bergers Blut? Pfeiffer wurde übel bei dem Gedanken.
„Wer auch immer Sie sind, aber Sie müssen jetzt aufhören mit dem Unsinn. Wie können Sie als Mann Gottes solche Taten begehen“, fragte Pfeiffer den Unbekannten.
„Ich bin die Hand Gottes! Es wird langsam Zeit, dass in diesem Drecksnest mal einer aufräumt. Die Menschheit versinkt im Schlamm der Todsünden. Gier, Neid, Wollust und all die anderen haben uns das Elend gebracht. Damit muss Schluss sein.“
Der Typ war irre. Ganz eindeutig nicht für seinen Job geeignet, dachte Pfeiffer.
Da bemerkte er eine Bewegung. Marlene regte sich.
„Was erzählst du da, Benedict“, hörte er sie leise sprechen. Der Irre war nun kein Unbekannter mehr.
„Du halt dich da raus! Danke Gott, dass er mir befohlen hat, hier für Ordnung zu sorgen und uns beide zu retten.“
„Bleiben sie ganz ruhig Marlene. Unsere Rettung wird gleich eintreffen“, wollte Pfeiffer sie beruhigen und ein bisschen auch sich selbst. Wo blieben die bloß?
„Ja, due kannst getrost ruhig bleiben, denn deine Rettung ist schon hier. Ich werde uns retten. Doch erst muss dieser Dreckskerl da noch seine gerechte Gottesstrafe erhalten.“
Plötzlich kam Fahrt auf. Der Irre justierte die Webcam neu. Pfeiffer sah seine Chance gekommen. Den Revolver in seiner rechten Hand, verlagerte er sein Gewicht und wollte gerade abdrücken, da flackerte blaues Licht durch die Jalousie vor dem Fenster.
Der Irre wurde nervös. Die Webcam fiel zu Boden und riss den kleinen Scheinwerfer mit sich. Plötzlich war es dunkel bis auf das blaue Flackern der Polizeiwagen. Pfeiffer hörte schwere Schritte über die Veranda auf sie zukommen. Was sollte er tun? Sich auf den Irren stürzen und ihn festhalten? Ihn erschießen? Im Dunkeln? Oder sollte er zur Tür schleichen und diese für die Polizei öffnen?
Er überlegte nicht lang, sprang und landete auf dem Bett. Im selben Moment wurde die Tür aufgestoßen und einer der Polizisten schaltete das Deckenlicht an. Rufe drangen an Pfeiffers Ohr, doch er war völlig verwirrt.
Er hatte sich schützend auf Marlene werfen wollen. Doch das Bett war leer. Weder Marlene, noch der Irre waren Raum. Die Cops wollten Pfeiffer gerade vom Bett zerren, als der Kommissar das Zimmer betrat.
„Lasst ihn“ ,rief er seinen Jungs zu.
Dann Farbenwechsel. Statt blauem Polizeilichtern flackerte es nun rot im Innenhof des Hotels. Die Polizisten, der Kommissar und Pfeiffer stürzten nach draußen. Das Licht kam vom Dach.
Der Irre hat Marlene und sich selbst an diesem dämlichen Kreuz neben dem Hotelnamen angebunden und das Kreuz in Brand gesteckt. Die Flammen schlugen schon meterhoch. Er musste Benzin oder sowas dabei gehabt haben.
Pfeiffer hielt noch immer den Revolver in seiner Hand. Als er diesen nun betrachtete, um nicht mehr in die Flammen schauen zu müssen, griff der Kommissar nach der Waffe.
„Na na, das lassen wir mal schön bleiben.“

Aus die Maus

Pfeiffer trat einen Schritt zur Seite. Nachdem ihn das Licht nicht mehr blendete, erkannte er den Unbekannten und es fiel ihm wie Schuppen von den Augen. „Jetzt weiß ich, wer sie sind.“ Die Gesichtszüge des bisher selbstgefälligen Mannes entglitten ihm.
„Sie waren damals in der Redaktion und haben gesagt, dass ihre Cousine aus Sofia als Zwangsprostituierte gehalten wird. Georgie Koleva war ihr Name.“ Ein kaltes Lächeln breitete sich auf Kolevas Gesicht. „Sehr gut Pfeiffer. Eins Plus mit Sternchen. Ich sehe, sie sind nicht umsonst Journalist.“ Pfeiffer konnte es nicht glauben. Er sah zu Berger. Dieser stand wie erstarrt da, dankbar für die zusätzliche Zeit. Unmerklich nickte Pfeiffer, bevor er weiter sprach.
„Wir haben damals Nachforschungen angestellt, doch die Fäden führten ins Leere. Mein Chef hat gemeint, den Rest überlassen wir der Polizei.“
Koleva starrte ihn mit eiskalten Augen an. „Sie haben alle weggesehen oder waren an dieser Schweinerei beteiligt, während meine arme Cousine von einem Zuhälter zu Tode geprügelt wurde, nachdem Ihre Frau sie im Stich gelassen hat. Lesen Sie Ihre Mail,“ forderte er Pfeiffer auf. Er überflog einen der Zettel in seiner Hand. Dabei fiel ihm auch Marlenes Bild auf. Sie stand vor der Kirche. Neben ihr eine schmale junge Frau, fast noch ein Kind. Ihr Kleidung sprach für sich. Das musste Kolevas Cousine sein.
Beim Lesen der Mail verengten sich seine Augen zu hasserfüllten Schlitzen. „Ist das ihr Ernst? Weil meine Frau Ihre Cousine aus Privaten gründen, auf eine Kollegin verwiesen hat, haben Sie sie umgebracht?“ Sein ganzer Körper war von Zorn angespannt. „Maria war schwanger, sie Schwein, sie wollte sich nicht mehr solchen Gefahren aussetzen.“ Schrie er. Koleva legte den Kopf schief. „Hm, wie bedauerlich.“ Pfeiffer ballte seine Hände zu Fäusten.
„Es geht hier als nur um Rache?“ Koleva sah ihn feixend an. „Im Leben geht es immer nur darum, was andere getan habe und wie man es ihnen heimzahlen kann.“ Pfeiffer erkannte, dass er es mit einem Wahnsinnigen zu tun hatte. Seine Wut und sein Gerede würden ihn nicht weiter bringen. Also änderte er seine Taktik. „Sie sind genau so an dem Unglück ihrer Cousine beteiligt. Genauso gut hätten sie sich ihre Cousine schnappen können und das Land verlassen.“
Geogris Kolevas Kopf lief hochrot an. Er verlor die Kontrolle und alle Welt sah zu.
„Schluss mit dem Spielchen.“ Sagte er heftiger, als seine kalte Art es annehmen ließ. Er sah wieder zu Berger. Musste die Kontrolle zurückerlangen, ehe er sich zum Gespött machte.
„Nehmen sie jetzt endlich die Waffe und tun sie, was ich gesagt habe. 50 Sekunden Berger oder …“ Er nahm wieder seine Waffe zur Hand und hielt sie sich selbst an den Kopf. „Oder ihre Schwester ist verloren.“ Bergers Hände zitterten. Stockend gab er den Text wieder, den ihm Koleva diktiert hat.
Noch ehe die Zeit abgelaufen war, schloss er die Augen und drückte ab. Berger sackte in sich zusammen und blieb auf dem Boden liegen. Eine Blutlache bildete sich um seinen Kopf. Und sickerte zu Pfeiffers Füßen. Erschrocken wich dieser zurück. Koleva grinste. „Hätte ich ihm gar nicht zugetraut. Und nun zu Ihnen, Herr Pfeiffer.“ Er zielte mit der Waffe auf ihn. Laden Sie das Video hoch und Marlene ist frei. Pfeiffer sah ihn herausfordernd an. „Nur, wenn sie mich danach direkt zu ihr bringen. Ich traue ihnen nicht.“
Koleva baute einen Laptop auf und schloss die Kamera an. „Ts, habe ich mein Wort bisher nicht gehalten? Aber gut, wie sie möchten.“ Er lud das Video hoch, ohne zu zögern. „Also lassen sie uns gehen.“ Pfeiffer wusste, dass Koleva ihn nicht gehen lassen würde. Er wird mit Marlene in dem Keller enden. Immerhin ist er Zeuge und kann ihn noch gefährlich werden. Er musste Zeit schinden. „Halt ganz langsam. Nehmen Sie die Hände hoch. Gehen sie vor, ich werde sie lotsen.“ Pfeiffer verdrehte die Augen, gehorchte aber. Gemeinsam gingen sie zu einem kleinen, schäbigen Auto. „Bitte.“ Sagte er schwungvoll und machte ihm die Fahrertür auf. „Sie fahren.“ Pfeiffer nahm widerwillig Platz.
Sie ließen die Stadt hinter sich und fuhren eine Weile, bis die Straße von hohen Bäumen gesäumt wurde. Der Weg wurde unebener und wechselte zu einem Trampelpfad aus Schotter, der abrupt an einem Haus endete. Es war schon ein wenig zerfallen. Sie stiegen die vier knarrenden Treppen hoch.
Koleva warf Pfeiffer einen Schlüssel zu. „Los Aufschließen!“ Er wedelte mit der Waffe zur Tür hin. Pfeiffer ging langsam „Warum den noch die Waffe? Ihnen kann doch nichts mehr geschehen. Sie könnten sich einfach aus dem Staub machen.“ „Halten sie mich nicht für blöd!“ Sagte er mit kalter Erregung. „Vielleicht halten sie mich ja für blöd. Sie werden mich nicht gehen lassen und auch Marlene nicht.“ Pfeiffer öffnete die Tür. Es war stockdunkel. An der Seite war ein Lichtschalter, den er betätigte. Sie betraten ein kleines Wohnzimmer.
Doch das war nicht ihr Ziel. Dahinter lag ein langgezogener Flur, von dem links und rechts Türen abgingen. Sie nahmen die Ersten. Langsam ging Pfeiffer Stufe für Stufe eine Treppe runter. Es kam ihm vor, wie eine Ewigkeit. Unten war eine weitere Tür. Sie war aus solidem Stahl gebaut und ein Entkommen war zwecklos. Sie wirkte an einem Ort wie diesem fehlplatziert. Der Schlüssel glitt in das Schloss. Dicht hinter ihm stand Koleva. Drinnen stank es erbärmlich. Pfeiffer musste würgen. „Los rein da.“ Der Lichtschalter ging nicht. In der Lampe war keine Birne. Pfeiffers Kehle schnürte sich zu und was ist, wenn er sich geirrt hat, und sein Plan nicht aufging?
Koleva stieß ihn hart und drückte ihn in den Raum. „Marlene?“
Doch es kam keine Antwort. Er stieß gegen etwas und schrei auf, es war ein Fuß. Da lag Marlene und rührte sich nicht. Sie war Tod „Sie Schwein, was haben sie mit ihr gemacht?“ Ein unheimliches Lachen durchdrang den Raum. „Aber, aber. Marlene war schon am Ende, aber dass sie es nicht mehr bis zum Höhepunkt schafft, das konnte doch keiner ahnen.“ Pfeiffer übergab sich in einer Ecke. Während Koleva an der Tür gelehnt stand. „Sie war die Schlimmste von allen. Verlogen. Gott verschrieben und doch hat sie nichts gemacht.“ Er ging auf Pfeiffer und schlug ihm mit der Faust in sein Gesicht, dass er zu Boden fiel. In dem Moment hörte Pfeiffer einen markerschütternden Knall. In Kolevas Bauch klaffte eine Wunde. Erstaunt schaute Koleva zu ihm rüber, bevor er auf den Boden fiel. Ein Röcheln entfuhr seiner Kehle. Hinter ihm konnte er Berger sehen, der ihn angrinste. Pfeiffer atmete erleichtert aus. „Keine Minute zu früh, Berger.“ Er gab ihm die Hand und half ihm hoch. „Hat sich der Schützenverein doch noch ausgezahlt. Aber wo ist Marlene?“ Da sah er sie auf dem Boden liegen. „Marlene?“ Pfeiffer legte ihm mitfühlend die Hand auf die Schulter. „Es tut mir schrecklich leid. Er hatte nie vor, uns überleben zu lassen.“ Pfeiffer ging hoch, um Berger Zeit mit Marlene zu lassen.
Er atmete tief ein. In der Ferne konnte er die Sirenen der Polizei hören.

Tage später saßen beide in einem Café. „Sie hatte recht. Er wollte wieder ein Spiel mit uns treiben, wir wären da nie lebend weggekommen. Ich bin froh, dass sie diesen Plan ausgeheckt haben. Ihn abzulenken, während ich eine Platzpatrone in den Lauf schmuggle. Und dann der Tomatensaft, der als Blutersatz diente.“ Ein leichtes Lächeln umspielte seinen Mund, das abrupt abbrach. „Nur hat es Marlene nichts mehr gebracht. Seinen sie mir nicht böse, wenn das unser letztes Treffen war, ich möchte das hinter mir lassen, Dorotha und ich verlassen die Stadt. Vielleicht etwas Tropisches.“ Pfeiffer nickte. Er schob ihm eine Mappe zu „Hier, ich habe nachgeforscht, die Daten, die sie von dem Bordell für ihre Überfahrten bekommen haben, waren gefälscht. Das Video habe ich auch aufgeklärt. Ich habe gesagt, dass es nur eine Scharade war, um den Täter festzunehmen.“ Berger tippte sich dankend an den Hut und verschwand.
Die Kellnerin brauchte ihm eine Tasse dampfenden Kaffee und stellte ihn auf den Tisch. Er war so wie er ihn am liebsten Trank ohne Schnickschnack. Er hatte beschlossen, bei der FGZ aufzuhören und sich wieder Themen zu widmen, die wichtig waren und die Menschen bewegten. Die ihnen halfen. Er nahm seine Tasse und trank einen Schluck. Vielleicht sollte er auch eine Weile wegfahren, um von all dem Grauen Abstand zu gewinnen.

Gerechtigkeit
Pfeiffer kniff die Augen zornig zusammen. Auf keinen Fall würde er es zu lassen, dass sich erneut jemand in seiner Gegenwart umbringt. Die Frage war nur, ob er Berger dazu bringen konnte, mitzuspielen. „Und was soll ich hier? Warum muss ich hier sein, wenn er sich umbringen soll. Was ist wenn er stattdessen auf mich schießt!“ Der Mann aus dem Video senkte die Hand mit der Fernbedienung „das wird Herr Berger nicht tun, immerhin geht es ja um seine Schwester und er hat nur diese eine Kugel um ihr Leben zu retten.“ Pfeiffer spürte seinen mitgehangenen am ganzen Körper zittern. Er musste klar denken, irgendwie einen Plan schmieden, wie er Berger beruhigen konnte. Er legte ihm eine Hand auf den Unterarm, als wollte er ihn abhalten weiterzugehen und ging selbst einen Schritt vor: „Und Maria? Du hast sie erschossen obwohl ich das Video hochlud. Er wird niemals erfahren ob seine Schwester überlebt.“ Der Gegenüber fängt an zu knurren und Ungeduld macht sich in seiner Stimme breit. „Was denken sie, was sie gerade tun Herr Pfeiffer, glauben sie wirklich, sie können einen Sünder davon abhalten zu tun was er tun muss um seine Lieben zu retten?“ Seine Hand verschwand in der Jackentasche, in der die Waffe ist. So einfach war seine Gelassenheit also an ein Ende gebracht. Ihm selbst würde hier jetzt erstmal noch nichts passieren, dem war sich Pfeiffer sicher. Er musste erst noch das Video hochladen. Aber der Berger, der darf sich jetzt hier nicht umbringen, das musste er auf jeden Fall verhindern. „Ich sage Ihnen, wie es war“ hörte er da den Mann neben sich auf einmal mit fester Stimme sagen. Verwirrt trat er einen Schritt zurück und sah seinen bisher sehr stumm gewesenen Kameraden an. „Ich habe die Fahrten mit den Bussen freigegeben. Mein Mitarbeiter hat den Auftrag bearbeitet und mir vorgestellt. Wir haben uns mit dem Auftraggeber auf 4000€ für Bus und zwei Fahrer geeinigt. Ich weiß nicht, was es mit den Zehntausend auf sich hat. Und ich wusste auch nicht, was auf diesen Fahrten passiert. Mein Mitarbeiter ist die Fahrten selber mitgefahren und hat nie etwas gesagt.“ Berger rasselte sein Geständnis runter, von dem jungen Mann kam ein böses Zischen. „Natürlich, sie wussten nicht, was vor sich geht. Sie sollen keine Scheiße labern, sagen sie nur, was ich Ihnen aufgetragen habe und dann schießen sie sich selber tot. Kapert!“ Es klackte und er zog seine Waffe wieder raus. Der Reiseveranstalter zuckte zusammen und hob die Hände hoch in die Luft. „Sie sollen sich erschießen Dreckskerl, wenn sie wollen, dass ihre Schwester überlebt!“. Pfeiffer verfolgte entsetzt das Geschehen, dass immer weiter aus dem Ruder lief. Es wurde Zeit, dass sein eigener Plan zu tragen kam. „Ich habe nicht gewusst, was hinter den Sofia-Fahrten steckte. Die einzige Schuld, die mich trifft, ist dass der Mensch vor meiner Haustür sich erschossen hat. Weil ich ihm die zehntausend nicht geben wollte.“ Bergers Stimme klang höher als zuvor, ein schriller reumütiger Ton lag in seinem Schuldbekenntnis, aber es wirkte ehrlich. Als Journalist, hatte Pfeiffer schon einige falsche Entschuldigungen gehört, diese war echt. „Ich bin Richard Berger. Ich bin ein normaler Bürger. Zehntausend Euro habe ich…“ Und das war der Moment, in dem es keinen anderen Ausweg mehr gab. „Moment!“ hörte Pfeiffer sich selber brüllen und im nächsten Augenblick packte er Berger am Handgelenk, zog ihn zu sich rüber und verpasste ihm einen gezielten Schlag auf die Schläfe, wodurch dieser bewusstlos zusammensackte. Die Bilder die Pfeiffer in der Hand hielt, fielen auf den Boden. Berger daneben. Die Waffe nun in Pfeiffers Hand bereits auf den jungen Mann gerichtet, der überhaupt nicht erfreut aussah und einen wütenden Schritt auf die beiden Männer zuging. „Was geht hier vor sich was soll das!“ brüllte er den vor Aufregung schnaufenden Journalisten an. „Sie, hören jetzt mal mir zu.“ Entgegenete Pfeiffer bestimmt. Sein Blick ging kurz runter zu Richard Berger und landete auf dem Bild von Marlene. Sie sitzt auf einen Stuhl gekettet. Auf dem Tisch neben ihr eine Flasche Rotkäppchen Sekt und eine Schachtel Zigaretten. In Ihrem Schoß hält sie die Waffe. Sie sieht extrem fertig aus, der Kopf hängt runter und je nachdem wie alt das Foto ist, würde Pfeiffer keine Garantie geben, ob sie tatsächlich noch lebte. „Du meinst ich habe nicht weiter ermittelt, weil mein Chef mir das verbietet?“ Seine Stimme bebte und während er sprach, spürte er, wie sein Herz in der Brust deutlich erhöht am Schlagen war. Sein Blick lag auf dem Finger seines gegenüber, der sich zwar nicht in der richtigen Position aber deutlich zu nah am Abzug der Waffe befand. „Ich habe weiter ermittelt.“ Bringt er hervor und hofft einfach, dass das, was man in den Samstagabend Krimis gezeigt bekommt, wirklich funktioniert. „Ich habe bereits einiges über den Venustempel und den Menschenhandel in Verbindung bringen können. Und ich weiß auch, dass das unbekannte Mädchen, dass sich umbrachte, eine der Frauen aus Sofia ist, die mit den Bussen hergebracht wurden.“ Die Hand des jungen Mannes fing an zu zittern. „Mir fehlten noch wichtige Details, um meine Recherchen aussagekräftig zu machen. Ich wusste noch nicht, wie sie sie herbringen, aber jetzt weiß ich es!“ Pfeiffer schluckte. Die Atmosphäre im zugigen Waggon spannte sich an. Eine Schweißperle bildete sich und er würde gerne den untrainierten und bereits schmerzenden Arm mit der Waffe in der Hand senken. Jedoch war dies sein einziger Rettungsanker. Er wusste ganz genau, dass der junge Mann selber nicht sterben wollte. Er nutzte bisher lediglich die Schwächen seiner Opfer aus und brachte sie dazu, sich selber umzubringen, weil er Rache wollte. Rache für das arme kleine Mädchen, welches mit 14 Jahren bereits so schreckliches durchmachen musste, dass es sich im Obdachlosenunterschlupf betrank und erschoss. Von niemandem beachtet, von niemandem aufgehalten und von niemandem gekannt. Niemandem außer ihm. Dem einzigen Zeugen, dessen Aussagen aber mangels an Beweisen nicht weiter verfolgt wurden. Tränen rannen über sein Gesicht. „Sie hieß Adrina.“ Wimmerte er. „Sie kam jeden Tag in den Kiosk und holte sich zwei trockene Brötchen. Mehr konnte sie sich nicht leisten. Ich habe sie aufgenommen und mich um sie gekümmert. Wir wollten zur Polizei gehen und das alles beenden. Aber sie…“ Mit der Waffe schwenkt er zu dem Reiseveranstalter und den Bildern und Mails von Töpfer und Magnus. „Sie haben sie gejagt und eingesperrt!“ Merklich hörbar zieht er die Nase hoch. „Wissen sie, was für eine schreckliche Angst sie hatte. Und wie sie litt?“ Das konnte der Journalist nur erahnen, aber er wusste, dass es schrecklich gewesen sein muss. „Hör zu,“ hörte er sich ruhig sprechen, „Es ist schrecklich. Und es ist ungerecht. Aber du kannst Unrecht nicht mit Rache ausgleichen. Zusammen haben wir genug Beweise, um etwas bewirken zu können. Bei der Polizei. Das ist eine Sache, die die Polizei regeln muss und nicht du.“ Während er den Satz aussprach, nahm er im Augenwinkel auch schon das erlösende Blaulicht eines Polizeiwagens wahr. Der junge Mann bemerkt es auch und dreht sich um. „Ich sagte keine Polizei!“ Er stürmt hinaus und wieder rein. „Warum haben sie die Polizei dabei?“ In der Stimme ist pure Verzweiflung zu hören. Christian Pfeiffer legte vorsichtig die Waffe auf den Boden. Ein befreiendes Gefühl beschlich seine Brust, er atmete tief ein und hob die Hände über den Kopf. „Weil es so das beste ist Junge. Leg deine Waffe ab, damit sie dich nicht als Gefahr sehen.“ Der junge Mann war sichtlich verunsichert. Er taumelte auf und ab und schlug sich mit der Faust auf die Stirn. Schließlich hörte man von draußen die Polizisten, wie sie ihm befehlen hinauszukommen. „Geh raus Junge und stell dich friedlich. Wenn du überlebst, können wir Gerechtigkeit für Adrina bewirken.“ Inzwischen kniend fleht Pfeiffer den Unbekannten an. Er wollte hier heute niemanden sterben sehen, auch wenn es der Mörder seiner geliebten Maria war. Von draußen klang Hundegebell herein und ein Polizist war nun neben dem Waggon. „Kommen sie heraus. Arme erhoben!“ der Mann ergab sich schluchzend und verließ mit erhobenen Händen den Waggon. Pfeiffer sackte zusammen und legte sich neben Berger auf den Rücken. Die Waffe schob er mit Schwung in die gegenüberliegende Ecke. So verweilte er bis zwei Polizisten den Waggon betraten und die beiden Insassen herausholten. Berger bekam zunächst noch ein paar Wangenklopfer und wurde aber Gott sei dank wach. Bei den Autos angekommen stürmte auch schon Dorothea Berger herbei und griff nach der Hand ihres immer noch ein wenig geräderten Mannes. „Sind sie der Journalist, dessen Handy wir verfolgten?“ „Ja.“ Antwortet Pfeiffer. Stolz darüber, wie gewitzt er auf Journalisten-Art vom Herrn Berger ungesehen sein privates Handy mit laufender Ortung seines Firmenhandys für Frau Berger am Wohnzimmer Tisch liegen gelassen hatte. Zwei Krankenwagen fuhren nun ebenfalls herbei. Pfeiffer der vom Sanitäter begutachtet wurde durfte im Polizeiauto Platz nehmen um auf dem Revier seine Aussage zu machen. Dank den eigenen Aufnahmen des Täters, wird er nicht viel zu erzählen brauchen. Vorm Einsteigen hört er noch eine beruhigende Aussage aus dem Funkgerät des Einsatzleiters. Die Hundestaffel hat die Pastorin Marlene gefunden und sie lebt. Mit einem Seufzen lässt er sich auf die Rückbank fallen. Was ein Abend. Da freute ihn doch fast der Gedanke, morgen in der Online Redaktion entspannt seine Medizin aus dem Filterkaffeautomaten zu trinken. Moment musste er da jetzt überhaupt noch hin, wenn sein Chef heute Abend noch von der Polizei verhört würde? Es bleibt wohl noch ein paar Tage spannend, die Hauptsache ist, niemand schickt ihm mehr verstörende Videos und die Straftäter hinter dem Venustempel und der junge Mann, der seine Maria getötet hat, erhalten ihre gerechte Strafe.