Offene Enden Teil 4: Schreib Teil 5 – Finale

Richard Berger starrte auf die Waffe in seiner Hand, während das rote Aufnahmelicht der Kamera unerbittlich leuchtete. Seine Finger zitterten so stark, dass Pfeiffer fürchtete, der Schuss könnte sich versehentlich lösen. Die Luft im Waggon war stickig, nach Rost und alter Angst.

„Na los, Herr Berger!“, drängte der Unbekannte. „Die Zeit ihrer Schwester läuft ab.“

Berger hob langsam den Kopf. Im grellen Licht des Baustrahlers glänzten Tränen auf seinen Wangen. Doch in seinen Augen lag plötzlich etwas anderes - eine Art verbissene Entschlossenheit.

„Ich… ich bin Richard Berger“, begann er mit brüchiger Stimme. „Ein normaler Bürger wie ihr alle…“

Er stockte, schluckte schwer. Die Waffe in seiner Hand schwankte gefährlich.

„Weiter!“, befahl der Unbekannte scharf.

„Zehntausend Euro…“ Bergers Stimme wurde fester. „Zehntausend Euro habe ich erhalten. Aber nicht, um wegzusehen.“

Der Unbekannte machte einen drohenden Schritt nach vorne. „Das war nicht der Text!“

„Sondern um zu handeln!“, rief Berger plötzlich. Mit einer überraschend schnellen Bewegung riss er die Waffe hoch - und zielte auf die Kamera.

Der Schuss hallte ohrenbetäubend durch den Metallwaggon. Funken sprühten, als die Kugel die Webcam zerfetzte. Im selben Moment stürzte sich Pfeiffer auf den Unbekannten, der nach seiner eigenen Waffe griff.

Sie prallten gegen die Wand des Waggons. Pfeiffer spürte einen scharfen Schmerz in der Schulter, als der andere Mann ihm die Pistole gegen den Körper rammte. Doch bevor er abdrücken konnte, traf Bergers massige Gestalt ihn von der Seite.

Der Unbekannte verlor das Gleichgewicht. Seine Waffe fiel klirrend zu Boden. Im Kampf riss Pfeiffer ihm die Kapuze vom Kopf - und erstarrte.

„Pastor Weber?“, keuchte Berger ungläubig.

Der hagere Mann mit dem kantigen Gesicht grinste höhnisch. „Überrascht? Wer könnte besser über die Sünden der Menschen urteilen als einer, der ihre Beichten hört?“

„Wo ist meine Schwester?“, schrie Berger.

„In Sicherheit. Bei Gott.“ Webers Grinsen wurde noch breiter. „Genau wie Maria Pfeiffer. Sie haben beide ihre Wahl getroffen. Und ich habe sie erlöst.“

Mit einer blitzschnellen Bewegung griff er in seine Jackentasche. Doch statt einer weiteren Waffe zog er einen kleinen Metallzylinder hervor. Eine Spritze!

Bevor Pfeiffer oder Berger reagieren konnten, rammte Weber sich die Nadel in den Hals und drückte den Kolben durch.

„Nein!“, brüllte Pfeiffer. Er packte Weber am Kragen, doch der lachte nur. Ein irres, gurgelndes Lachen.

„Suchen Sie… suchen Sie nach der Wahrheit“, röchelte er. „Sie steckt… in den Details…“ Seine Augen rollten nach oben. Der große Körper erschlaffte.

Pfeiffer ließ den leblosen Mann zu Boden sinken. Sein Herz hämmerte wild. Details… welche Details?

Da fiel sein Blick auf die Fernbedienung, die aus Webers Tasche gerutscht war. Es war keine gewöhnliche Fernbedienung - sondern ein Smartphone. Und auf dem Display blinkte eine Nachricht:

„Übertragung zu Server ‚Himmelspforte‘ beendet. Backup erfolgreich.“

Plötzlich verstand Pfeiffer. Die Kamera hatte nicht nur aufgezeichnet - sie hatte live gestreamt. Irgendwo da draußen existierte ein Video von allem, was hier geschehen war. Und vielleicht, ganz vielleicht, enthielt es auch einen Hinweis auf Marlenes Aufenthaltsort.

Der Kampf war noch nicht vorbei. Er hatte gerade erst begonnen.

Zwischen Schuld und Dunkelheit:
Wenn alle Optionen falsch sind

Zwei Schauspieler auf der Bühne der Einsamkeit, aber gemeinsam in ihrer letzten Rolle: Christian Pfeiffer und Richard Berger stehen schweigend unter dem schreiend grellen Licht des Baustrahls. Um sie herum lauert mehr als nur Dunkelheit. Zwei Augenpaare suchen das schwarze Nichts da draußen ab. Große Augen, voller Verzweiflung und Panik. Augen, die gegen das Wasser ankämpfen. Sinnlos.

Regen hämmert auf die rostigen Dächer der Waggons; spitze Fäden schneiden durch die Dunkelheit – eine endlose Flut. Voller Ungeduld. Bald wird sie alle Sünder in dieser jämmerlichen Ruine hinweg spülen.

Ein Spiel beginnt, ein Dilemma ist inszeniert, im Schatten blitzt die Pistole auf. Sie scheint zu schweben, aber eine Hand führt das Metall. Das Phantom hinter der Waffe genießt den Moment. Ein Jäger ergötzt sich am Opfer seiner blutigen Bärenfalle: »Herr Berger, ihr Ende war von Anfang an besiegelt, aber geben Sie nicht auf – noch nicht. Ich gebe ihnen diese eine Chance. Retten Sie wenigstens ihre Seele. Jetzt.«

Berger tastet nach seiner Pistole, dann sinken die Hände schlaff herab. Dafür schießt Adrenalin in Pfeiffers Adern, seine Gedanken rasen: Eine Mafia ist hier am Werk und Berger scheinbar darin verstrickt. Aber ja: Jetzt, in diesem Moment und hier ist das alles egal. Dieser Wahnsinnige wird uns nicht sofort erschießen. Er will, dass wir vorher aufgeben. Die letzten Worte platzen aus ihm heraus:

»Wichser! Geht dir einer ab bei deinem verdammten Psychospiel?«

Die Wort-Explosion hallt in der metallischen Leere der Waggons. »Richard, wach auf!« Endlich heben sich Bergers Hände langsam zur Pistole, umklammern sie zitternd, doch dann murmelt er unhörbar: »Christian, das war nicht gut!« Aus der Dunkelheit setzt ein Zischen an: »Zu laut, viel zu laut. Und so unhöflich.« Ein Kichern: »Machen Sie es unserem Herrn Berger doch nicht so schwer. Er zerbricht gerade. Sehen Sie?« Stille. »Berger. Sie bleiben, was Sie waren: schwach.« Ein kehliges Lachen hallt durch die Waggons: »Kommen Sie schon, Berger, nur einmal in ihrem Leben. Stehen Sie endlich zu ihrer Schuld. Danach wird alles leichter, das verspreche ich ihnen.«

Pfeiffer tritt aus dem Lichtkegel, stellt sich vor Berger und ruft ins Nichts: »Ja, das ist der Moment. Leben oder Tod! Wir entscheiden jetzt nicht über Schuld und Sühne!« Die Wassertropfen schimmern im Lichtstrahl, während Pfeiffer sich langsam umdreht: »Richard, das ist nicht der Weg«, sagt er. »Wir können ihn überwältigen. Wir retten Marlene und bringen diese ganze verdammte Sache ans Licht.«

»Oh nein, mein Held, hier draußen gibt es nur Dunkelheit. Kampf oder Flucht? Wollen Sie wirklich der Nächste sein? Berger wird Sie mit in den Abgrund reißen. Ticktack – die Zeit läuft.«

Wütend trommelt der Regen auf die Dächer der Waggons, Berger wankt, er stöhnt, er starrt auf die Pistole in seiner Hand. Sein Atem geht stoßweise, seine Gedanken sind ein Chaos. Die Dunkelheit lächelt: »Oh, vielleicht doch Schuld und Sühne?« Schließlich flüstert Berger: »Ich kann das nicht.«

Die Kamera zeichnet alles auf – ein unbestechliches Auge. Gleich wird sie drei Schicksale für die Ewigkeit bezeugen. Ein Augenblick – eine Entscheidung – dann endet alles.

Berger starrt auf die Pistole in seiner Hand wie zu einem lebendigen Wesen, das ihn verhöhnt. Die Finger zittern, der kalte Schweiß läuft über seine Stirn. Worte aus der Dunkelheit hallen in seinem Kopf wider: »Ihre Entscheidung, Herr Berger!« Pfeiffer steht neben ihm, atemlos.

»Richard, hör mir zu!« Pfeiffers Stimme ist eindringlich, fast flehend. »Das ist genau das, was er will. Er will dich brechen. Aber du bist stärker! Denk an Marlene – sie braucht uns jetzt!« Berger schweigt, sein Blick ist leer, seine Gedanken gefangen in einer Spirale aus Schuld und Verzweiflung.

»Und Sühne, Herr Berger?«, raunt es aus der Dunkelheit

Der Unbekannte tritt einen Schritt vor – und mit ihm scheint auch das Nichts näher zu kommen: »Ach, Herr Pfeiffer«, die Worte sind kalt, »ein Held versucht, einen Mann zu retten, der keine Wahl hat, weil er nicht mehr gerettet werden kann. Aber wissen Sie was? Helden sind langweilig. Sie ändern nichts.«

Der Lauf einer Pistole hebt sich langsam aus der Dunkelheit und richtet sich auf Pfeiffer: »Vielleicht sollte ich IHNEN eine Wahl geben?« Pfeiffes Herz rast, die linke Faust des Unbekannten hebt sich, ballt sich triumphierend zusammen; er blickt auf die Pistole in seiner rechten.

Der Mann will weitersprechen, doch dann wendet er verblüfft seinen Blick ab von Pfeiffer. Eine zweite Pistole hat sich erhoben. Bergers Hände zittern noch immer, aber die Augen sind auf die Dunkelheit gerichtet – so starr wie der Lauf seiner Waffe:

»Du willst eine Entscheidung?« Bergers Stimme ist rau und brüchig und hallt doch durch den Waggon: »Hier ist meine Entscheidung. Manchmal sind alle Optionen falsch.« Ein Schuss kracht durch die metallische Leere des Raumes.

Der Namenlose taumelt, seine Hand greift nach seiner Brust im Ledermantel. Doch statt Panik füllt wieder ein Kichern die Stille. »Interessant«, keucht er und sinkt langsam zu Boden. »Am Ende … haben Sie nur noch Möglichkeiten … aber keine echte Wahl mehr.«

Berger stürzt auf die Knie, seine Pistole fällt zu Boden, dann kauert er zusammen, umarmt sich und wimmert: »Nein, für mich gibt es keinen Ausweg mehr.«

Pfeiffer springt nach vorne, umgreift den Namenlosen, spürt das Lederimitat und das warme Blut: »Wo ist Marlene? Sag es mir! Was soll das alles?« Der Mann lacht, aber sein Lachen wird schwächer; er flüstert: »Die Wahrheit … lag immer in euren Händen…« Er gleitet hinab in die Dunkelheit. Vielleicht bald nicht mehr die einzige Leiche im Raum.

Pfeiffer stößt panisch die Pistole neben Berger mit seinem Stiefel in die Ecke, will den verzweifelten Mann nach oben ziehen, aber der bricht nun völlig am Boden zusammen: »Richard, lassen Sie das! Niemand sieht ihre Tränen im Regen!« Pfeiffer gibt es auf, durchsucht Berger nur noch nach Waffen – und findet einen Umschlag mit Dokumenten: Beweise für Bergers Verstrickung in den Menschenhandel und die Korruption hinter dem Bordellnetzwerk. Die Kamera ist weiter ein stummer Zeuge, das Licht leuchtet rot.

Pfeiffer weiß, was er tun muss.

Epilog

Alle großen Nachrichtenportale bringen das Video: Christian Pfeiffer enthüllt die Machenschaften des Menschenhändlerrings. Richard Berger wünscht sich, er wäre lieber tot; sein Lebenswerk ist zerstört, seine Zeitung am Ende. Er gilt für immer als der Verleger, der alle zum Schweigen brachte. Die Polizei findet Marlene Romero in einem Kellerversteck; geschwächt, aber außer Lebensgefahr.

Für Berger gibt es keine Erlösung: Er stellt sich. Er bekennt sich schuldig an all den Verbrechen, bei denen er im Hintergrund die Fäden zog. Und dann richtet er sich selbst in einer Zelle – oder seine verstimmten Geschäftspartner sandten ihm einen letzten Gruß.

Pfeiffer kündigt und beginnt eine neue Karriere: als investigativer Podcaster und Youtuber – entschlossen, nie wieder wegzusehen.

Der Namenlose bleibt ein Phantom: kein Name, keine Akten, keine Geschichte. Und doch ein Symbol: Die Wahrheit ist grausam. Deshalb leben viele Menschen lieber in einer Welt voller Lügen. Doch wenn das eigene Lügengebäude wankt, sind am Ende manchmal alle Optionen falsch.

Berger zitterte am ganzen Körper. Er war nicht bereit zu sterben. “Kann man dafür überhaupt bereit sein?", fragt er sich. Sein Blick wanderte auf die geladene Waffe in seiner Hand. Er hatte die Wahl. Sein Leben, oder das seiner Schwester. Er zwang sich, dem Unbekannten in die Augen zu sehen. Ein hämisches Grinsen huschte über sein Gesicht. Siegessicher, arrogant, überheblich. Wut stieg in Berger auf. Der Zorn färbte seinen Kopf rot. Er hasste sich selbst für alles, was er getan hatte, er hasste Pfeiffer, diesen elendigen Online-Redakteur, der sein Leben ruiniert hatte, indem er das Video hochlud, aber am meisten hasste er den Unbekannten. Wie er da stand, das selbstgefällige Lächeln im Gesicht, die Hände locker auf der Hüfte abgestützt. Er musste eine Entscheidung treffen und zwar schnell. Hilfesuchend sah er Pfeiffer an, doch dieser erwiderte den Blick nicht. Er war alleine mit der Verantwortung über die Situation. Er positionierte seinen Finger am Abzug. Langsam hob er die Hand mit der Waffe. Er atmete. Sein Brustkorb hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Dann drückte er ab. Ein kurzer Lichtblitz erhellte den Wagen. Der Knall war ohrenbetäubend. Blut breitete sich auf dem schmutzigen Boden aus. Das Blut des Unbekannten. Berger stand da, die Waffe immer noch dahin gerichtet, wo bis vor einem Moment das selbstsichere Grinsen zu sehen war. Sein Körper zitterte. Es klingelte ihm in den Ohren. Wie in Trance starrte er auf den am Boden liegenden Körper. “Was haben Sie getan?”, schrie Pfeiffer ihn an.

“Das einzige, was ich tun konnte. Wer sagt, dass er jemals damit aufgehört hätte?”, antwortete Berger kühl, wenn auch mit zittriger Stimme.

“Was ist mit Marlene?”, fragte Pfeiffer besorgt. “Sie wird wegen ihnen sterben.”

Ein schmerzerfülltes Stöhnen riss die beiden abrupt aus dem Dialog. Jetzt erst bemerkten sie, dass der Unbekannte noch am Leben war. Er stöhnte vor schmerzen und versuchte vergeblich an die Waffe in seiner Tasche zu kommen.

Pfeiffer blickte Berger vorwurfsvoll an, dann ging er zu dem Unbekannten und beugte sich über ihn. Blut quoll aus seiner Brust. Die Kugel hatte das Herz verfehlt. “Es gibt wohl noch eine Möglichkeit”, sagte Pfeiffer. Er sah dem am Boden liegenden Unbekannten in die Augen. “Wo ist Marlene?", fragte er mit ruhiger Stimme. “Ich habe meine Wahl getroffen, ich verrate ihnen nichts!”, brüllte der Mann mit schmerzverzogenem Gesicht.

“Das werden wir sehen”, meinte Pfeiffer und stellte seinen Fuß auf die Wunde.

Der Unbekannte schrie vor Schmerzen auf. “Wo ist Marlene”, wiederholte Pfeiffer. "Fahren sie zur Hölle!”, schrie er Pfeiffer an. Er erhöhte den Druck auf die offene Wunde. Die Schreie wurden lauter. Er war kurz davor, ohnmächtig zu werden, als er die Schmerzen nicht mehr aushielt. “Stopp, hören sie auf, ich sage es ihnen”, schrie er. Daraufhin gab er ihm eine Adresse und verwies auf einen Schlüssel in seiner Jackentasche. “Gehen Sie!”, blaffte Pfeiffer Berger an. “Sehen sie nach, ob er die Wahrheit sagt. Ich bleibe hier und warte auf ihren Anruf.” Berger verschwand durch den schmalen Spalt in der Türe. Einige qualvolle Minuten später klingelte Pfeiffers Telefon. “Ich habe sie gefunden”, meldete sich Berger. “Die Polizei wird gleich bei Ihnen sein.” Erleichtert ließ Pfeiffer sein Handy sinken. Er atmete auf, als er die Sirenen endlich hörte.

Er starrte auf das Bild seiner Schwester. Tränen liefen ihn in die Augen. Auf dem ersten Foto lächelte sie noch, voller Hoffnung und Lebensfreude. Ihre Augen funkelten wie die eines jungen Mädchens, das noch an die gute Welt glaubte. Doch das zweite Bild schnürte ihm die Kehle zu. Der Einschuss in ihrer Stirn und die blauen Male an ihrer Haut waren grausame Zeichen ihrer endgültigen Entscheidung. Er hatte nie gewusst, wie schwer sie litt, bis es zu spät war.
Seine Rache lief an seinem inneren Auge noch einmal an ihm vorbei. Er rief sich die Verantwortlichen für das Schicksal seiner Schwester erneut in Gedanken. Hatte er niemanden vergessen?
Die Jahre nach dem Tod ihrer Mutter hatten sie immer weiter auseinandergetrieben. Sie hatten nichts besessen, aber sie hatten sich zumindest gegenseitig. Und doch, als ihre Mutter starb, fiel die ganze Last auf ihre Schultern. Ihr Leben hatte sich von einem Überlebenskampf zu einem Albtraum entwickelt, und er konnte nichts tun. Der Gedanke, dass sie sich mit seiner eigenen Waffe das Leben nahm, war für ihn der endgültige Bruch. Hatte er ihr nicht zu helfen gewusst? Ihre letzten Stunden, in denen sie in der Hölle Töpfers arbeitete, waren unvorstellbar. Er hatte das Gefühl, sie verraten zu haben, als sie ihm am meisten gebraucht hatte.
Er erinnerte sich an die Zeit, als sie noch Kinder waren. Ihre Mutter, zwar krank, war immer der Fels in ihrer Brandung. Gemeinsam hatten sie überlebt, sie hatten sich gegenseitig gestützt. Doch als die Krankheit ihrer Mutter schlimmer wurde, spürte er immer stärker, dass die Last der Welt auf den Schultern seiner Schwester lag. Es war seine Schwester, die immer für ihn da war, wenn er wieder in Schwierigkeiten war, die ihn aufrichtete, wenn er am Boden war. Sie war die einzige Konstante in seinem Leben.
„Wir schaffen das, wir beide“, hatte sie damals gesagt, als sie bei einem besonders harten Winter in einem kleinen, zerfallenen Zimmer saßen und auf das bisschen Geld warteten, das sie durch kleine Gelegenheitsjobs verdienten. Aber nach dem Tod ihrer Mutter ging alles bergab. Der Druck war erdrückend, und eines Nachts, als er sie im Flur weinend fand, wusste er, dass sie sich auf einen gefährlichen Weg begab. Sie hatte ihm nicht erzählt, was sie tat, um das Überleben zu sichern. Wie sie Töpfer immer wieder ertragen hatte, den Mann, der sie erpresste, und wie sie gezwungen wurde, sich zu prostituieren. Sie wusste, dass er es nicht ertragen würde, und doch wollte sie nicht, dass er sie als Opfer sah. Die Wunden an ihrem Körper blieben für ihn unsichtbar, bis es zu spät war.
Er blickte auf die Fotos seiner Schwester und fühlte das Gewicht der Entscheidung, die sie getroffen hatte, noch immer. Sie hatte sich selbst geopfert, um ihm die Last zu nehmen. Doch warum hatte er sie im Stich gelassen? Warum hatte er sie nicht gerettet? Und dann kam Maria in seine Gedanken. Sie war wie seine Schwester – unschuldig und verloren in einer Welt, die von Männern wie Töpfer regiert wurde. Er hatte sie in diese Katastrophe hineingezogen, weil er in seiner Wut und seinem Hass nicht sehen konnte, was er damit anrichtete.
Pfeiffer hatte seine Frau nicht beschützen können - und er hatte seine Schwester nicht beschützen können. Wurden sie nicht beide von der gleichen Verzweiflung getrieben? Der Vergleich mit Pfeiffer war schmerzhaft.
Der Gedanke, dass er an der Misere von Maria genauso schuldig war wie Töpfer und Pfeiffer, nagte an ihm. Es war eine bitter-süße Erkenntnis, dass er, der sich so lange als Racheengel gesehen hatte, genauso ein Teil des Teufelskreises war. Genauso wie Pfeiffer, der seine Maria nicht beschützen konnte, hatte er es nie geschafft, seine Schwester aus der Falle zu befreien, in der sie gefangen war. Warum hatte Pfeiffer es nicht geschafft, seine Maria zu retten?
Doch jetzt, in dieser kalten Stille seiner Wohnung, musste er sich eingestehen, dass auch er ein Versager war. Er hatte Maria in ihre grausame Zukunft geschickt, genauso wie er es war, der seine Schwester in die Hölle geschickt hatte. Wieso erkannte er es nicht, was seine Schwester durchmachte? Warum nur? Die Last der Schuld, die Last des Versagens, hatte ihn unter sich begraben. Erstickte ihn unter sich.
Doch all diese Gedanken änderten nichts an seinem Plan. Die Rache war nicht nur für seine Schwester, sie war auch ein Versuch, sich selbst zu erlösen. Aber er wusste, dass er sich selbst nie wieder vergeben konnte. Die Entscheidung, wie es enden würde, lag nun in seinen Händen.
Er nahm die Bilder zur Seite und ging an sein Smartphone. Er öffnete die Seite der FGZ. Wartete darauf, dass ein neues Video ganz oben erscheinen würde. Würde Herr Berger sich tatsächlich für seine Schwester umbringen? Oder würde Christian Pfeiffer ihn davon abhalten? Trotz des Lebens seiner Schwester, welches auf dem Spiel steht.
Als er den Waggon verlassen wollte, hat Herr Pfeiffer ihn zunächst folgen wollen, angetrieben von seinem Durst nach Rache für seine Frau. Doch Herr Berger dessen Gesichtsausdruck verriet, dass er tatsächlich überlegte dies zu tun, hielt ihn auf. Er konnte ihn hier nicht zurücklassen. Und wenn er es tatsächlich tun würde? Wer würde das Video hochladen, wenn er dem Unbekannten hinterherlaufen würde. Er musste es verhindern. Doch wie?
Trotzdessen, dass sich das Ziel seiner Rache gerade entfernte, entschied er sich, zurückzubleiben und einen Ausweg zu finden, wie Berger sich nicht erschießen würde. Sie würde ersticken hatte der Unbekannte behauptet. Wie viel Zeit würden sie also wohl haben?
Er behielt Berger fest im Blick. Herr Berger hielt inne, als die Schwere der Last eine Entscheidung zu treffen ihn einholte. Er dachte nochmal an das Video mit seiner verängstigten ahnungslosen Schwester. Und dann schlichen sich in seinem Kopf plötzlich Bilder von seiner Frau ein. Was würde aus ihr werden, wenn er sich nun tatsächlich das Leben nahm? Sie war der letzte Mensch, der ihm noch etwas bedeutete, derjenige, der trotz seiner Fehler und seiner Härte immer noch zu ihm hielt. Sie würde zurückbleiben, ohne ihn, ohne Antworten, nur mit einem Abgrund aus Schmerz und Ungewissheit.
Und was, wenn der Unbekannte gar nicht sein Wort hielt? Würde seine Schwester überhaupt Gerechtigkeit erfahren? Oder wäre alles, was er tat, nichts weiter als eine Farce, ein weiterer Schachzug in einem grausamen Spiel, das er nicht kontrollieren konnte? Der Unbekannte hatte schon so viel gelogen und manipuliert. Warum sollte er diesmal die Wahrheit sagen? Diese Zweifel fraßen sich wie Risse in das Fundament seines Entschlusses.
Seine Gedanken drifteten zurück zu dem Morgen vor seiner Haustür. Der tote Mann in einer Blutlache auf seinem Plattenweg vor seiner Haustür. Der sich selbst umbringen musste, weil Berger ihm die Zehntausend nicht hat geben wollen. Hätte er damals anders handeln können? Was wäre passiert, wenn er bezahlt hätte? Oder hatte sein Schicksal ihn genau an diesen Punkt geführt?
Jetzt, da er mit dem Gedanken spielte, seinem Leben ein Ende zu setzen, quälte ihn eine weitere Frage: Was würde danach kommen? War da überhaupt ein „Danach“? Wenn er starb, würde seine Frau ohne ihn leben können? Würde sie ihn verurteilen oder ihm vergeben? Oder würde alles einfach im Nichts verschwinden, genau wie seine Hoffnung? Die Unsicherheit schnürte ihm die Kehle zu. Sein Leben war längst ein einziges Chaos, aber das Nichts schien noch grausamer.
Herr Berger blickte entschlossen in die Kamera, doch ein Zittern lief durch seinen Körper, als die Worte schwer über seine Lippen kamen. Seine Stimme bebte, während er sprach: „Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Wegen mir sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!“ Die Worte hallten durch den Waggon, wie das letzte Geständnis eines gebrochenen Mannes. Sein Blick war leer, doch in den Winkeln seiner Augen funkelten Tränen.
Pfeiffer, der hinter der Kamera stand, spürte, wie die Zeit zu einem zähen Strom gerann. Seine Hände zitterten, und ein unbändiger Drang, einzugreifen, machte sich in ihm breit. Doch gleichzeitig fragte er sich, ob er überhaupt das Recht dazu hatte. Dies war Bergers Entscheidung, sein Leben, das er für seine Schwester opfern wollte. Würde er nicht genauso handeln, wenn er an Bergers Stelle wäre? Pfeiffer biss die Zähne zusammen, sein Geist ein Wirrwarr aus Wut, Mitleid und Zweifeln.
Doch als Berger die Pistole in die Hand nahm und sie mit einem entschlossenen Ruck entsicherte, war es, als ob ein Stromstoß durch Pfeiffer fuhr. Die Waffe glitt langsam in Richtung von Bergers Schläfe, und der Moment dehnte sich ins Unermessliche. Ohne weiter nachzudenken, griff Pfeiffer zu. „Nein!“, schrie er und packte Bergers Arm. Die plötzliche Bewegung ließ Berger zusammenzucken, und seine Augen weiteten sich vor Schreck.
„Was zur Hölle tun Sie?!“, schrie Berger, während die beiden Männer um die Waffe rangen. Pfeiffers Griff war fest, doch Berger kämpfte mit der Wut und Verzweiflung eines Mannes, der nichts mehr zu verlieren hatte. Die Waffe wackelte zwischen ihnen hin und her, und plötzlich löste sich ein Schuss. Der Knall donnerte durch den Waggon und ließ beide Männer erstarren.
Der Schuss hatte nichts getroffen, doch die Luft war geladen mit einer Stille, die fast schmerzte. Berger ließ die Waffe langsam sinken, sein Körper bebte. Seine Schultern sackten herab, als eine Welle aus Ratlosigkeit und Verzweiflung über ihn hereinbrach.
„Was soll das?“, fragte Berger heiser. Seine Stimme war kaum noch mehr als ein Flüstern, doch sie triefte vor Vorwurf und Schmerz. „Wie soll ich sie jetzt finden? Was soll ich tun?“ Seine Hände zitterten, und er ließ die Waffe schließlich los. Ohne eine Patrone nützte sie ihm nicht mehr.
Pfeiffer stand ihm gegenüber, außer Atem, aber mit einem Blick, der zugleich wütend und voller Mitgefühl war. „Es gibt andere Wege“, sagte er schließlich. „Sie wissen, dass der Unbekannte genaus so gut lügen könnte. Glauben Sie wirklich, er würde sie Ihnen einfach so zurückgeben? Vielleicht ist sie bereits längst tot.“
Berger schüttelte den Kopf, als ob er die Worte nicht hören wollte. „Sie verstehen es nicht! Sie ist unschuldig! Sie hat mit dem ganzen doch gar nichts zu tun. Wenn sie wegen mir…“ Er brach ab, unfähig, den Satz zu beenden.
Pfeiffer trat einen Schritt näher und legte eine Hand auf Bergers Schulter. „Sie haben unrecht. Ich verstehe es sehr wohl.“ Er erinnerte sich an die Situation mit seiner Frau Maria. „Und ich weiß, dass es nicht das Ende ist, solange wir noch atmen. Lassen Sie uns einen anderen Weg finden. Zusammen.“
Herr Pfeiffer blickte auf die Uhr und dann zu Herrn Berger. „Wir haben nicht viel Zeit“, sagte er ernst. „Der Unbekannte kann noch nicht weit gekommen sein. Wir müssen versuchen, ihm zu folgen.“
Berger nickte mechanisch, doch die Verzweiflung in seinen Augen war unverkennbar. Es war offensichtlich, dass er in diesem Moment nicht mehr wusste, wie es weitergehen sollte.
„Ich gehe alleine“, fuhr Herr Pfeiffer fort. „Der Unbekannte hat den Schuss gehört. Er wird denken, Sie sind tot. Ich werde ihn verfolgen und hoffe, dass ich ihn einhole.“
Berger wollte protestieren, doch Herr Pfeiffer fuhr fort, ohne ihm eine Chance zu lassen, sich zu wehren. „Bleiben Sie hier und warten Sie. Wenn es gut läuft, werde ich ihn finden. Doch wenn er sie sehen sollte wie sie noch am leben sind, wer weiß wie er reagieren wird.“
Ohne ein weiteres Wort verließ Herr Pfeiffer den Waggon. Er zog sich schnell die Jacke enger und trat hinaus in die Kälte.
Er trat entschlossen den Weg entlang, den sie gekommen waren, und hielt Ausschau nach Hinweisen auf den Unbekannten. Die dunkle Straße wirkte noch leerer, als er sie verließ, und ein kaltes Unbehagen kroch ihm den Rücken hinauf.
Als er um die Ecke bog, sah er ihn – der Unbekannte, gerade mal ein paar Meter entfernt, ging schnurstracks auf einen alten, verbeulten Toyota zu. Er öffnete die Tür, warf einen kurzen Blick in die Umgebung und stieg ein. Ein Moment der Unaufmerksamkeit, den Herr Pfeiffer sofort ausnutzte.
Schnell drehte er sich um und eilte zu seinem eigenen Wagen, der nicht weit stand, unauffällig am Straßenrand. Er schlüpfte hinein und startete den Motor. Ohne zu zögern, nahm er die Verfolgung auf, hielt jedoch genügend Abstand, um nicht aufzufallen.
Der Unbekannte schien sich keine Gedanken um ihn zu machen. Er fuhr geradewegs durch die Straßen Frankfurts, immer weiter hinaus in die abgelegenen Gegenden.
Der Gedanke, was der Unbekannte vorhatte, nagte an Herrn Pfeiffer. Würde er direkt zu Marlene fahren? Oder hatte er ein anderes Ziel? Vielleicht hätte er schon längst die Polizei informieren sollen. Die Zweifel blieben, und sie quälten ihn. Was, wenn es zu spät war? Was, wenn er Marlene nicht rechtzeitig erreichte?
Der Unbekannte bog schließlich in eine schmutzige, verwinkelte Straße ab. Die Häuser wurden kleiner, die Gegenden zunehmend schlechter. Der Unbekannte parkte sein Wagen am Straßenrand und stieg aus. Herr Pfeiffer parkte etwas weiter entfernt, hinter einem Transporter, der das Fahrzeug des Unbekannten teilweise verdeckte. Vorsichtig stieg er aus und beobachtete, wie der Unbekannte ein paar Meter weiter in ein vierstöckiges, heruntergekommenes Gebäude ging.
„Jetzt wäre der Moment, die Polizei zu rufen“, dachte Herr Pfeiffer. „Oder war das der Zeitpunkt in dem er ungehindert seine Rache ausüben konnte, für seine Maria?“ Ein innerer Konflikt zerriss ihn, doch er wusste, dass er nicht handeln konnte, ohne sicher zu sein, dass Marlene in Sicherheit war. Außerdem war der Unbekannte auch noch bewaffnet, und eine Auseinandersetzung würde nur in eine Katastrophe führen.
Mit einem leisen Fluch griff Herr Pfeiffer in seine Tasche und zog sein Smartphone heraus. Ein Blick auf die Nummer, dann drückte er entschlossen die grüne Taste. Das Display flimmerte, der Rufzeichen ertönte. Die Polizei würde kommen, das wusste er. Doch was würde dann geschehen?
Gerade als der Ruf sich zu einem Klingeln verdichtete, stoppte der Moment. Die Zeit schien stillzustehen.

Er starrte auf den Bildschirm seines Smartphones, seine Augen weiteten sich, als er darauf wartete, dass Christian Pfeiffer endlich das Video hochladen würde. Der Schuss, den er gehört hatte, hatte ihn in Sicherheit gewogen. Er hatte gedacht, dass Herr Berger sich umgebracht hatte, wie es der Plan gewesen war. Aber warum war das Video noch nicht hochgeladen? Warum war noch nichts passiert?
Er blickte auf den Nachttisch, auf den Umschlag mit der Aufschrift „Aufenthaltsort von Marlene“. Wie viel Zeit würde ihr noch bleiben? Musste er wirklich noch warten, bis das Video endlich online war?
Er sah nach einem Stapel Fotos, die er sorgfältig auf seinem Tisch abgelegt hatte. Jedes einzelne Bild zeigte seine Schwester. In jüngeren Jahren, auf Geburtstagsfeiern, an einem Sommernachmittag, als sie noch unbeschwert und lebensfroh war. Das Bild, auf dem sie in einem Kleid lachte, erinnerte ihn ein letztes Mal an ihre gemeinsame Vergangenheit.
Plötzlich durchbrach das Dröhnen der Sirenen die Stille seines Zimmers. Polizeiwagen! Der Geräuschpegel stieg, als die Sirenen näher kamen, und sein Herzschlag beschleunigte sich. Hatte jemand ihn gesehen? Hatten sie ihn wirklich schon entdeckt?
Ein kurzes Klingeln an der Tür ließ ihn zusammenzucken. Dann hörte er die Polizisten, wie sie durch das Treppenhaus eilten. Ihre Schritte hallten durch das Gebäude, und er wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie bei ihm standen. Sie kannten ihn nicht, das war sicher. Deshalb klopften sie wohl an jeder Tür. Doch sie würden nicht lange brauchen, um ihn zu finden. Es war nur eine Frage von wenigen Minuten. Vielleicht sogar Sekunden.
Und da war es. Ein erneutes Klopfen an der Tür. Diesmal war es eindeutig. Die Polizisten standen vor seiner Wohnung.
Der Unbekannte blickte auf das Foto seiner Schwester, das er immer noch in den Händen hielt. Ihre Augen strahlten auf diesem Bild so viel Freude aus. Doch die Freude, die das Bild widerspiegelte, war längst verschwunden. Sie war nicht mehr da, nicht mehr die fröhliche Person, die sie einmal gewesen war.
Er küsste das Bild sanft, als würde er sich von ihr verabschieden. Als würde er sich von der letzten verbleibenden Erinnerung an sie verabschieden. Und in diesem Moment wusste er, dass er sie nie wiedersehen würde.
Langsam zog er die Waffe aus seiner Tasche und führte sie langsam an seinen Kopf. Der Schweiß lief ihm über das Gesicht, und seine Hände zitterten, als er den Abzug berührte. Um ihn herum wurde es still. In diesem Moment gab es keine Rückkehr mehr. Der Druck des Lebens, die Fehler, die er gemacht hatte, und die Gewissheit, dass er immer weiter in die Dunkelheit gerutscht war, schnürten ihm die Kehle zu. Tränen fuhren ihm die Wangen runter. Dann hörte er das letzte Klopfen. Ein letztes Mal.
Kurz bevor die Polizisten die Tür eintraten, war da nur noch der laute Knall, der die Stille durchbrach. Und alles war vorbei.

Richard Berger stand wie gelähmt. Die Pistole in seiner Hand fühlte sich an, als trüge sie das Gewicht seiner gesamten Schuld. Seine Finger zitterten, und der Lauf war unsicher auf den Boden gerichtet. Er konnte den Blick nicht heben, konnte sich nicht dazu bringen, sich zu bewegen. Die Stimme des Unbekannten, drang wie aus weiter Ferne zu ihm durch. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen.

Es war die Wahrheit, so unerbittlich und grausam, dass sie ihn beinahe zu Boden zwang. Jede Entscheidung, die er in den letzten Jahren getroffen hatte, kam ihm nun wie ein Fehler vor, ein Puzzleteil in einem Bild der Schande, das er selbst geschaffen hatte. Und jetzt war es Marlene, die den Preis dafür zahlte.

Seine Gedanken sprangen zu seiner Schwester, die ihn so oft getröstet hatte, ihm in Momenten der Verzweiflung Halt gegeben hatte. Und was hatte er im Gegenzug getan? Sein Name stand auf Verträgen, die Menschen in die Dunkelheit geführt hatten, ins Elend. Marlene war in Gefahr, und er, Richard Berger, war zu schwach, zu feige, um etwas zu tun.

»Richard, hören Sie mir zu!« Die Stimme von Christian Pfeiffer schnitt durch den Nebel in Bergers Gedanken. Er blickte auf und sah Pfeiffer, der ihm direkt in die Augen sah. »Das hier ist ein Spiel für ihn. Lassen Sie ihn nicht gewinnen.«

Pfeiffer schien ruhig, entschlossen, doch Berger konnte seine eigene Panik nicht abschütteln. Alles schien auf ihn einzustürzen – die höhnische Worte des Unbekannten, die Kälte der Waffe in seiner Hand, die Kamera, die wie das Auge Gottes seine Sünden offenbarte. Es gab keinen Ausweg.

»Warum das alles?«, fragte Pfeiffer den Unbekannten. Berger beobachtete, wie der Journalist einen Schritt zur Seite machte. »Warum Maria? Warum Marlene? Was willst du damit beweisen?«

Der Unbekannte lachte schauerhaft. »Sie verstehen es nicht, Herr Pfeiffer. Es geht um Prinzipien. Um Gerechtigkeit.«

Während die beiden sprachen, begann Berger, die Worte wie durch Watte wahrzunehmen. Es war, als würde eine unsichtbare Kraft ihn aus seiner Starre ziehen. Er spürte, dass Pfeiffer Zeit schindete, den Unbekannten zu locken, vielleicht sogar zu enttarnen. Und dennoch: Was könnte das ändern? Marlene war in den Händen dieses Wahnsinnigen, und jede Sekunde zählte.

»Gerechtigkeit?«, Pfeiffer klang jetzt schärfer. »Das nennst du gerecht? Menschen zu entführen, sie zu zerstören? Was hat dir Maria getan? Was hat Marlene dir getan?«

»Maria war eine Mitläuferin«, erwiderte der Mann. »Marlene ist eine Heuchlerin. Beide haben versagt.«

»Versagt?!«, murmelte Pfeiffer kopfschüttelnd. »Es geht hier nicht nur um Marlene oder Maria oder Klaus Töpfer, nicht wahr? Es geht um etwas viel Persönlicheres.“

Der Unbekannte lächelte spöttisch. »Interessant, wie Sie sich anmaßen, etwas über meine Beweggründe zu wissen.«

Pfeiffer ignorierte den Sarkasmus. »Jemand wie Sie – methodisch, gründlich, besessen – handelt nicht nur aus Ideologie. Sie haben das hier geplant, weil es eine Botschaft gibt, die Sie senden wollen. Dabei geht es nur darum ihre eigene Vergangenheit zu bewältigen.«

Der Unbekannte hob die Pistole ein wenig, ein leises Lächeln spielte um seine Lippen. »Aber ich bin nicht hier, um über mich zu reden. Es geht darum Herrn Berger zur Rechenschaft zu ziehen.«

»Rechenschaft für was genau?« Pfeiffer machte einen Schritt näher, seine Hände offen, unbewaffnet. »Für den Menschenhandel, den Ihre Schwester aufgedeckt hat? Für Klaus Töpfers Machenschaften? Oder für das, was Ihnen selbst angetan wurde?«

Die Worte schlugen ein. Ein kaum wahrnehmbares Zucken durchlief das Gesicht des Unbekannten. »Halten Sie den Mund.«

»Das ist es doch, nicht wahr?« Pfeiffer setzte nach, seine Stimme jetzt eindringlicher. »Sie haben es selbst erlebt. Menschenhandel. Missbrauch. Vergewaltigung. Vielleicht waren Sie nur ein Kind, als man Sie verschleppt hat, verkauft und hat wie eine Ware.«

Berger beobachtete den Mann, sah, wie sich seine Hände um die Waffe verkrampften. Es war, als würde Pfeiffer durch unsichtbare Barrieren hindurchbrechen, Stück für Stück.

»Deshalb die Pastorin. Deshalb der Venustempel. Weil Sie wissen, was dort passiert ist. Weil Sie vielleicht selbst in diesen dunklen Räumen waren, als Kind, als Jugendlicher. Sie haben dort Dinge durchlitten, die kein Mensch durchmachen sollte.«

Der Unbekannte wich einen Schritt zurück, als wolle er den Worten entkommen, die ihn zu durchbohren schienen. Doch Pfeiffer folgte ihm, ließ nicht locker.

»Und jetzt rächen Sie sich an denen, die weggeschaut haben. An Berger, weil sein Unternehmen die Transporte organisiert hat, ob wissentlich oder nicht. An Marlene, weil sie Teil eines Systems ist, das Sie im Stich gelassen hat.« Pfeiffer hielt inne, dann fügte er mit sanfterer Stimme hinzu: »Aber vor allem kämpfen Sie gegen das Gefühl, dass niemand für Sie da war. Dass niemand Sie gerettet hat.«

Die beiden rangen miteinander, und Berger sah wie in Zeitlupe, wie Erasmus versuchte, die Waffe zu heben. Doch Pfeiffer hielt seinen Arm fest.

Der Unbekannte zitterte jetzt sichtbar, die Pistole in seiner Hand wackelte.

„Wer hat Ihnen das angetan?“ fragte Pfeiffer leise.

Der Mann schloss die Augen, das Gesicht zu einer Grimasse verzogen.

In dem Moment sprang Pfeiffer nach vorne. Er warf sich auf den Mann, seine Bewegungen schnell und entschlossen. Die beiden rangen miteinander, und Berger sah wie in Zeitlupe, wie der Unbekannte versuchte, die Waffe zu heben. Doch Pfeiffer hielt seinen Arm fest. Ein ohrenbetäubendes Krachen ließ Bergers Ohren erzittern.

Berger löste sich aus seiner Starre, ließ er die Pistole fallen und packte die Hand des Unbekannten. Gemeinsam rangen sie ihn zu Boden, bis er sich nicht mehr wehren konnte.

»Wo ist Marlene?« Pfeiffers Stimme war scharf, fast ein Knurren. Der Unbekannte schnaubte, doch als Pfeiffer ihn schüttelte, sprach er schließlich.

»Sie… ist in der verlassenen Farbenfabrik am Osthafen.« Seine Worte waren knapp, und doch schien eine grausame Freude darin zu liegen. »Ihr werdet zu spät sein.«

Diese Worte trieben Berger an. Sie schnappten sich die Waffen stürmten aus dem Waggon, ohne einen weiteren Blick auf den Unbekannten zu werfen. Die Chemiefabrik war nicht weit, doch mit jedem Schritt fühlte sich Berger, als würde er durch zähen Schlamm waten. Der Gedanke an Marlene, allein in Dunkelheit und Panik, trieb ihn voran.

Er wusste nicht, ob sie rechtzeitig dort sein würden. Aber zum ersten Mal seit langer Zeit spürte Berger, dass er kämpfen musste – für Marlene, für seine Schwester, und vielleicht auch, um sich selbst zu retten.


Es dauerte einen Moment, dann brach Jubel aus. Eschbach lächelte ins Publikum. Du hast es wieder einmal geschafft, Andreas. Wenn die Leute nur wüssten, dass eigentlich Hobby-Autoren die ganze gemacht haben und ich nur die Einleitung geschrieben habe …

Dreihundertsechzig Meter pro Sekunde ließen wenig Spielraum für Entscheidungen. Pfeiffer war sich dessen bewusst, als er zusah, wie Berger sich die Waffe in den Mund steckte, nachdem er die Worte gesprochen hatte, mit denen er sich zum Kapitalisten machte; machen musste. Die Worte waren erzwungen.
Berger schlotterten die Knie, er sank immer wieder wimmernd zusammen. Die Augen hielt er geschlossen, als schütze es ihn vor der Wahrheit. Der Lauf der Pistole klapperte an seinen Zähnen wie ungeübte Hände auf Klaviertasten. Sein Magen gab glucksende Geräusche von sich.
Tu es nicht! Gleich hab’ ich’s. Mir fällt etwas ein. Wir brauchen Zeit. Drück nicht den Abzug!
Die Patrone wird bei korrektem Lauf Bergers Hirnstamm oder die Medulla oblongata – das Markhirn – zerfetzen. Sie wird an der Eintrittsstelle nur ein winziges Loch hinterlassen, da wo sie aber austreten wird, ein murmelgroßes. Manche überleben einen Schuss in den Kopf eine gewisse Zeit lang, bis Hirnödem oder Embolie dem Ganzen ein Ende setzen. Pfeiffer betete, dass Berger dieses Schicksal erspart blieb, erst recht seiner Frau. Vielleicht würde er es auch überleben. Er würde sein restliches Dasein im Rollstuhl verbringen und sich tagtäglich verfluchen, nicht einmal mit einer geladenen Waffe in der Lage gewesen zu sein, sein Leben zu beenden.
Das ist es! Die Waffe in Bergers Hand: eine Heckler und Koch P30. Nicht, dass sich um eine besondere Pistole handelte, schon gar nicht um eine außergewöhnliche, aber sie war in dem Sinne interessant, da es sich um die Dienstwaffe der Polizei handelte. Sie gehörte zur Standardausrüstung wie Uniform, Schlagstock und Taschenlampe.
Erinnerungen schossen jetzt schneller als eine Kugel durch Pfeiffers Hirn. Sie rasten mit einer Geschwindigkeit, dass seine Neuronen nur so blitzten. Sein Hippocampus entfachte ein Feuerwerk an Impulsivität, dass die Bilder, Worte und Schlagzeilen in der Großhirnrinde explodierten. Pfeiffer sah alles in Zeitlupe, selbst der Schweiß auf Bergers Stirn rann in Millisekunden. Er war zurück. Er war wieder der Journalist, den sie früher gefürchtet hatten: investigativ und unberechenbar.
Aleksander Dragnov wegen Befangenheit abgezogen … Dragnovs Nichte eine Prostituierte … Ehemaliger Ermittler festgenommen … Dragnov auf eigener Faust … Pistolen aus Asservatenkammer verschwunden …
Er sprang zwischen Berger und die Kamera und sagte: »Mein Name ist Christian Pfeiffer, Online-Redakteur der FGZ, und ich bekenne mich meiner Dummheit schuldig, nicht früher darauf gekommen zu sein. Der Name des Mörders ist Aleksander Dragnov, ehemaliger Polizeimeister der Kriminalabteilung in Frankfurt.«
Das Flutlicht erlosch und Pfeiffer erblindete. Etwas Schnelles streifte sein Gesicht, ein Schuss, dann ein Schrei von Berger. Pfeiffer ging in die Knie. Er kroch über den Boden und suchte Berger. Er bekam seinen Schuh zu fassen.
»Bleiben Sie ganz ruhig.«
»Meine Schulter!«
Als Pfeiffers Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten, sah er die Schusswunde in der linken Schulter. Er zog seinen Pullover aus und legte einen provisorischen Druckverband an. Draußen sprang ein Motorrad an.
»Lassen Sie den Kerl nicht entkommen«, sagte Berger. Er reichte ihm die Waffe.
»Rufen Sie die Polizei. Der Pin ist 2005 – zwanzig-null-fünf.«
»Wie die Uhrzeit«, sagte Berger, »Hab’ verstanden.«
Pfeiffer rannte zu seinem Auto. Er sprang hinein und hörte den Nachhall der Worte: Wie die Uhrzeit … Hab’ verstanden.
Er sah die Rücklichter um die Ecke rasen, als er aufs Gas trat. Das Auto schlingerte auf dem nassen Asphalt. Das Motorrad mochte wendiger sein, aber Pfeiffer kannte sich hier aus.
Der Opel dröhnte lauter als das Motorrad, als er die Nadel des Drehzahlmessers in den roten Bereich katapultierte. Er holte auf. Dragnov drehte sich immer wieder um. Er trug keinen Helm, und Pfeiffer meinte einen Anflug von Panik in seinen Augen zu erkennen. Das Vorderrad der KTM hob ab.
Dragnov stellte den linken Fuß raus und schlitterte um die Kurve. Pfeiffer zog die Handbremse und folgte ihm. Eine Rußwolke nahm ihm kurz die Sicht. Er musste dranbleiben, bis zum Eintreffen der Polizei.
Diesmal stellte Dragnov den rechten Fuß raus, er riss am Gasgriff – das Motorrad schien kurz auf der Stelle zu stehen –, bevor das Hinterrad durchdrehte und er über eine Schwelle in den Eingang einer Lagerhalle sprang. Pfeiffer sah ihn abspringen und seine Maschine umfallen.
»Fuck!« Pfeiffer trat auf die Bremse. Er stolperte aus dem Auto und hetzte in die Halle. Das Motorrad lag mit laufendem Motor im Eingangsbereich und blubberte. Er zog den Schlüssel und es verstummte.
»Dragnov! Hören Sie auf sich zu verstecken. Es ist aus!«
Er lief in geduckter Haltung, weil er wusste, dass Dragnov eine Waffe trug. Er hatte eine Polizeiausbildung und konnte schießen.
»Ich kenne ihre Geschichte. Ich weiß von ihrer Nichte. Es tut mir leid, was mit ihr passiert ist.«
»Sie hätten sie retten können«, sagte Dragnov, sehen konnte man ihn nicht.
»Das ist immer noch möglich.«
»Sie ist tot! Totgeschlagen von einem Zuhälter.«
»Das Video ist ein Fake. Nichts, als eine Lüge.«
Es war lange her, als er es zum letzten Mal gesehen hatte, aber er erinnerte sich, dass sie schnell herausgefunden hatten, dass es unzählige Schnitte und Bearbeitungen gab. Die Prügel waren echt, das Totschlagen nicht. Ein verstörendes Video.
»Sie haben sie gesehen. Ihnen wurde ein Video zugespielt – auf ihr Handy, auf dem sie alle zusehen sind. Zusammengepfercht wie Rinder und übel zugerichtet. Trotzdem haben Sie geschwiegen; ihrer Karriere wegen.«
»Ich wurde abgezogen, genau wie sie.«
»Sie sind ein Lügner!«
»Es ist die Wahrheit! Mir waren die Hände gebunden. Ich wusste nicht, dass sie dabei war.«
»Wenn Journalisten sich an die kurze Leine nehmen lassen, welche Daseinsberechtigung haben sie dann? Sie sind ein Heuchler Christian Pfeiffer und sie werden Marlene nicht retten. Sie werden sie nie finden!«
Aleksander Dragnov tauchte aus dem Dunkel auf. Beide standen sich gegenüber und hielten ihre Waffe auf den anderen.
»Was nun?«, sagte Dragnov. »Wollen sie mich erschießen? Nur zu, ich habe nichts zu verlieren. Sie haben genau ein Schuss, was nicht viel für jemanden ist, der noch nie geschossen hat.«
»Ich schlage Ihnen einen Deal vor.«
»Was können Sie mir schon anbieten?«
»Das Leben ihrer Nichte«, sagte er. »Verraten Sie mir, wo Sie Marlene gefangen halten, anschließend stellen Sie sich der Polizei.«
Dragnov unterbrach: »Nennen Sie mir einen Grund, dies zu tun. Sie hatten ihre Chance. Sie haben sie wieder vermasselt.«
»Ich werde ihre Nichte aufspüren. Ich werde alles daransetzen, sie zurückzubringen. Ich werde die Hintermänner aufspüren und ans Messer liefern. Sie haben meine Frau getötet Aleksander, das Verzeihe ich Ihnen nie, aber ein Feuer in mir entfacht, was ich längst erloschen glaubte.«
Pfeiffer drückte den Abzug, und diesmal streifte Aleksander Dragnov der Atem der Kugel. Pfeiffer warf die Waffe vor Dragnovs Stiefel.
»Jetzt liegt es an Ihnen«, sagte er mit einer Gelassenheit, die Dragnov sichtlich irritierte. »Ich bin Ihre einzige Chance. Nehmen Sie sich das Leben oder verschweigen sie, wo Marlene ist, wird niemand sich je um ihre Nichte scheren. Sie haben ihrer Schwester einen Schwur gegeben, nicht wahr? Das haben Sie doch in einem Interview gesagt. Was wollen Sie tun?«
In der Ferne ertönten Sirenen. Erstes Blaulicht färbte den Boden der Halle. Dragnov tippte sich mit der Waffe an die Stirn und blieb stehen.
»Der Keller befindet sich im alten Wasserwerk.« Dragnov warf ihm einen Schlüssel zu. Er blickte in die Kamera und sprach: »Mein Name ist Aleksander Dragnov. Ich bekenne ich mich den Morden an Klaus Töpfer und an Maria Pfeiffer schuldig, und an dem Schuss auf Richard Berger. Ebenso der Entführung von Marlene Romero, die ich im alten Wasserwerk gefangen halte. Sie alle haben zu ihren Gunsten weggesehen und dem Bösen die Tür geöffnet. Ich habe meiner Schwester versprochen, Deniz nach Hause zu bringen. Ich habe versagt. Vergib mir.«
Er drückte ab und fiel hart zu Boden. Die Polizei stürmte das Gebäude …
Pfeiffer nahm das Hochzeitsbild aus dem Rahmen und lehnte zurück, er betrachtete seine Maria, dann setzte er die Überschrift Frankfurts Schattenriege – blinde Gier und schnelles Geld. Die Kaffeemaschine spie heißen Dampf aus wie ein Geysir. Er trank den besten Kaffee der Welt – seinen letzten.
Er drückte Enter und der Bericht erschien auf dem Social-Media-Account des Frankfurter Generalanzeigers. Pfeiffer wusste, dass er all die Menschen, die er in seinem Artikel nannte, den Medien zum Fraß vorwarf. Doch wird er selbst längst im Flieger nach Marokko sitzen und der Mocro – der marokkanischen Mafia – auf den Fersen sein. Er legte seine Kündigung in ein Kuvert und malte einen fetten Mittelfinger drauf, dann nahm er sein Flugticket nach Rabat und das Foto und steckte beides in die Manteltasche. Es tat verdammt gut, wieder die Wahrheit zu jagen …

Finde den Täter

»Stehen bleiben!«, rief eine Frauenstimme mit Nachdruck. Marlene erschien im Inneren des Waggons. Sie sah mitgenommen aus, wirkte aber hellwach. »Da guckst du, huh?«, sagte sie mit einem selbstbewussten Lächeln. Sie hielt die Waffe, die sie im Keller des verlassenen Gebäudes fand, in welchem er sie ließ, direkt auf ihn gerichtet. Der schlaksige Mann trug seine nach wie vor in der Jackentasche. »Nächstes Mal solltest du vielleicht ein wenig sorgfältiger arbeiten! Oder warte mal, ich glaube eher, dass es für dich heute hier enden wird.« »Marlene«, murmelte Berger halblaut vor sich hin. Er war gleichzeitig erleichtert, sie zu sehen, jedoch auch überrascht, wie anders sie jetzt wirkte. Berger hielt jene Pistole, mit der sich Töpfer erschoss und die vom Tatort verschwand, mit zittrigen Händen Richtung Boden. Am liebsten würde er sie einfach aus dem Wagen werfen. Der Mann im Lederimitat schmunzelte leicht, nachdem er Marlenes Worte hörte. »Denken Sie, ich hätte Angst vor dem Tod? Ich habe alles verloren. Meine Schwester…« Er warf einen flüchtigen Blick auf Berger. »Sie fuhr mit nach Sofia, in Ihrem verdammten Bus!« Er schaute zu Pfeiffer und dann wieder in die Runde. »Und kehrte nie mehr zurück. Man brachte sie um, weil sie zu viel wusste und darüber sprechen wollte. Doch ihre mutige Stimme wurde nie erhört, sie wurde mundtot gemacht. Ich werde nicht zulassen, dass das so bleibt.«

»Oh, wie rührend, hat jemand ein Taschentuch dabei? Sag mal, hältst du dich jetzt für einen Helden?«, nahm Marlene ihn nicht ernst.

»Im Gegensatz zu euch beiden kämpfe ich für meine Familie und bringe sie nicht in Gefahr, nur um an schnelles Geld zu kommen. Manches liegt wohl einfach im Blut.«

»Ich verstehe nicht…«, sagte Berger. Das reizte den Mann.

»Ach, tun Sie doch nicht so, Herr Berger, Berger-Reisen, das sind doch Sie und es ist doch Ihr hungriges Portemonnaie, das ab und zu 10 000 Euro verspeist hat, oder etwa nicht?«

»Nein…also Berger-Reisen, ja, aber…«

»Nichts aber, Sie verstehen wohl immer noch nicht, wie falsch Ihr Handeln war? Wie ignorant Sie waren? Wenn jemand in einer solchen Situation von ihnen verlangt, keine Nachfragen zu stellen, dann sollte man doch erst recht hinterfragen. Naja, das Geld war dann wohl doch wichtiger.«

»Hätte ich gewusst, dass…«

»Dann was?«

»Dann hätte ich einen anderen Weg gewählt, um die Schulden an meine Schwester zu begleichen!« Der Mann schwieg.

»Du sagtest doch, es wären Fahrten im kirchlichen Rahmen, um Menschen zu helfen, sich ein besseres Leben in Deutschland zu ermöglichen. Du sagtest, du bräuchtest jemanden, dem du vertrauen kannst, weil es im Geheimen stattfinden müsste«, Berger blickte geschockt zu seiner Schwester, in der Hoffnung sie hätte für alles eine plausible Erklärung. Er stelle nur die Busse bereit, hieß es, und er würde ihr für diesen Gefallen nichts mehr zurückzahlen müssen. Seine Schwester wäre so selbstlos und hilfsbereit, dachte er, als sie ihn fragte, und sagte zu. Vom ganzen Geld hörte er heute aber zum ersten Mal. Wäre es jemand anderes gewesen und nicht seine Schwester, wäre er komplett anders vorgegangen. Bergers Gedanken wurden unterbrochen. »Sie sagen also, Sie haben an der Sache nichts verdient?«, fragte der Mann ihn etwas überrascht.

Marlene lachte kurz auf, ignorierte den fragenden Blick ihres Bruders und ernahm das Wort: »Okay, okay, die Welt ist grausam, unfair, wir haben’s verstanden! Denkst du aber tatsächlich, dass sich irgendetwas geändert hätte, wenn du uns alle einfach umlegst? Holt das deine Schwester wieder zurück?«

»Nein, es ist nicht die Welt, es sind grausame, ignorante, obendrein scheinheilige Menschen wie Sie, aber klar, wer beschuldigt schon eine selbstlose Pastorin.«

»Marlene, was hast du gemacht?«, Berger wandte sich direkt zu ihr. Er erkannte sie kaum wieder. »Ach komm schon, Bruder. So unterschiedlich sind wir gar nicht. Ich habe eine Möglichkeit erhalten, leichtes Geld zu verdienen, und du hast eine erhalten, um leicht deine Schulden auszugleichen. Win Win, ein Selbstläufer.« Sie wandte sich nun wieder dem Mann zu, als sie bemerkte, dass ihr Bruder nicht direkt darauf reagierte. Ihr Gesicht entspannte sich. »Kommen wir doch lieber gleich zum Ende, du Möchtegern-Held«, fuhr sie fort. Sie trat einen Schritt näher an den Mann heran, ihre Waffe weiterhin auf ihn gerichtet und seine Augen auf sie. In diesen sah Marlene, wie er davor bereits klargestellt hatte, keine Angst. »Es werden zwei von vier Personen in diesem Raum sterben«, sagte er auf einmal ganz trocken. »Drücken Sie ab, tragen Sie das Blut endlich direkt auf Ihrer ach so reinen Haut«, ermutigte er sie. Er denkt wohl, ich würde nicht abdrücken, wenn er so redet, bemerkte sie. Sie dachte nicht weiter über das Gesagte nach, das könnte sie auch hinterher noch. Er ging ihr auf die Nerven, sein dauerhaftes Siezen mit eingeschlossen. Er hält sich wohl für was Besseres, dachte sie. Nach wenigen Sekunden fiel der erste Schuss und es ging alles ganz schnell. Der Körper samt Waffe sackte in sich zusammen und stürzte zu Boden. Der Knall schallte durch den Waggon, er war lauter als dieser fassen konnte und hinterließ in den Ohren der drei Verbliebenen ein gedämpftes Pfeifen.

»Marlene!«, schrie Berger auf und kniete sich neben seine Schwester. »Nein!«, brach er in Tränen aus, lehnte seinen Kopf auf ihren Körper und vergaß die Pistole, die nun neben ihm am Boden lag, direkt neben der umgebauten Schusswaffe, die nach hinten seine Schwester selbst erschoss, anstatt nach vorne, wo sie hinzielte.

»Bevor Sie mich versuchen zu töten, hören sie mich bitte kurz an«, ertönte die Stimme des Mannes, während Bergers Kleidung sich mit Marlenes Blut vollsaugte und Pfeiffer hektisch versuchte, auf klare Gedanken zu kommen. Es ergibt alles Sinn, ein Motiv, ein Ziel, die Beteiligten, außer… Der Mann fuhr fort: »Es war naiv von Ihrer Schwester zu denken, dass ich gerade heute, an einem so wichtigen Tag, vergessen würde, die Tür abzuschließen, ihre Fesseln nur halbfest zubinde und obendrein noch eine Waffe im Raum liegen lasse. Um ehrlich zu sein, in keinem Szenario hätte ich Ihre Schwester das überleben lassen. Wie Sie merken, kannten Sie ihre selbstlose Marlene wohl doch nicht so gut.«

Pfeiffer fasste seinen Mut zusammen. Für Maria, dachte er und ergriff schnell die Pistole, die auf dem Boden lag. Er richtete sie direkt auf den Mann. »Oh, Herr Pfeiffer, das kam jetzt unerwartet, nicht schlecht«, der Mann lächelte und hob seine Hände leicht nach oben. »Was genau hat Maria mit der Sache zu tun? Warum sie?«, brach es aus Pfeiffer heraus. Der Mann blieb ganz ruhig. Pfeiffer beobachtete die Hände aufmerksam, ob sie vielleicht schnell nach der Jackentasche greifen würden, aber der Mann machte keinen Anschein, das zu tun. »Herr Pfeiffer, Ich sage Ihnen mal was, Ihre liebste Maria hat genau gewusst, was Marlene tat, sie wusste im Gegensatz zu Herrn Berger alles, aber für sie war es wichtiger, eine gute Freundin zu sein als ein guter Mitmensch.« Er wandte sich wieder beiden Männern zu. »Sagen Sie beide mir, was schlimmer ist: Menschen Schaden zuzufügen, oder wegzusehen, wenn jemand jemandem Schaden zufügt, während man eigentlich die Möglichkeit hat, es zu verhindern? Dazu muss man nur über seinen eigenen Schatten springen. Warum tun das aber so Wenige? Meine Schwester wollte im Venustempel aufhören und sehnte sich nach einem Neuanfang. Sie wäre nur noch an dieser einen Sache dran. Ihre Leiche fand man erst nach ein paar Tagen. Sie gab ihr Leben für die Wahrheit.«

Im Waggon herrschte eine kurze Stille.

»Ach, und noch was: Die Pistole, die Sie in Ihrer Hand halten, Herr Pfeiffer, ist nicht einmal geladen.«
Ehe jemand reagieren konnte, setzte er fort: »Ich habe meinen Part getan, für meine Familie, für eine bessere Welt, was werden Sie tun?«
Schnell zog er die Pistole aus seiner Jackentasche und feuerte sie ab, auch Pfeiffer betätigte reflexartig den Abzug und innerhalb weniger Sekunden waren zwei von vier Personen im Raum tot, wie der Mann vorhersagte. Die Pistole in Pfeiffers Hand war tatsächlich nicht geladen, auch da hatte der nun tote Mann Recht. Das Blut Marlenes und seines verband sich auf der Kleidung der geschockten Männer. Die Grenzen zwischen Täter und Opfer verschmolzen. Und das Licht der Kamera glühte immer noch rot.

Sechs Monate später

Wie ihr nun wisst, ich sah den Tod, und das nicht nur einmal. Ich blickte an ihm vorbei, aber auch tief in die Augen. Ich sah die Angst, sie erfüllte mich bis in die Tiefen meiner Fasern und ich sah angsterfüllte Augen, viel zu viele. Eine Situation ging in den nächsten Horror über. Wie unsichtbare, aufgereihte Dominosteine des Grauens, die erst sichtbar wurden, sobald sie sich berührten. Doch in alldem lag auch etwas anderes verborgen, denn wäre das alles nicht passiert, wäre dieser Text hier vermutlich nie geschrieben worden. Ich hätte mein sicheres Leben weitergeführt, hätte weggesehen und alles gemacht, was jemand, der die Wahrheit aufdecken will, nicht tun würde. Also egal, was jetzt passiert. Hier habt ihr die Wahrheit. All die Themen, die ich zu recherchieren begann, aber nie das Licht der Welt erblickten. Und das wird auch mein vorerst letzter Beitrag sein, ich ziehe mich zurück. Ich habe meinen Part getan, weil es das Richtige ist, für eine bessere Welt. Was werdet ihr tun?

Euer Christian Pfeiffer

Richard Berger richtete die Waffe auf die Körpermitte des Unbekannten. Der würde gleich Augen machen. Er blickte ihm ruhig ins Gesicht, sagte seinen Text auf.

„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle – bin ich nicht! Das Spiel ist aus, Herr Andreas Schmidt. Sag mir jetzt, wo du meine Schwester gefangen hälst!“

Sein Blick flackerte, als Schmidt seinen Namen hörte. Was zur Hölle war das jetzt? Bloß keine Nerven zeigen.

„Wenn Sie abdrücken wird Marlene sterben!“

„Ganz schön naiv, wie du dir das vorstellst, mein Lieber! Hast du wirklich geglaubt, meinen Partnern aus dem Rotlichtmilieu ist es egal, was du vor meiner Haustür veranstaltest? Die hatten ganz schnell raus, wer der Lover von der kleinen Nutte ist, die sich selbst ausgeknipst hat. Zwei von ihnen sind uns gefolgt. Sie wollen dich unbedingt sprechen. Und glaube mir, am Ende dieses Gesprächs wirst du sie anbetteln, um ihnen Marlenes Versteck verraten zu dürfen.“

Es klopfte an der geöffneten Tür.

„Hallo, ist hier noch Platz für zwei Überraschungsgäste?“

Zwei Türstehertypen blickten höhnisch ins Innere. Die katzenartige Geschwindigkeit, mit der sie sich hochwuchteten passte nicht zu ihren massigen Körpern. Schmidt griff in seine Jacke, wollte die Pistole ziehen. Die Klatsche, die ihn an die Wand beförderte kam ansatzlos und heftig. Er konnte sich mit Mühe auf den Beinen halten. Der Muskelprotz nahm seelenruhig die Waffe aus der Jackentasche. Benommen leistete Schmidt keinerlei Widerstand.

Sein Kollege ging zu Berger und baute sich dicht vor ihm auf. Er grinste ihm ins Gesicht, umklammerte mit der Linken dessen Waffe. Mit einem Nicken nahm er sie an sich.

Berger triumphierte. Wie schnell hatte sich das Blatt doch gewendet! Er wandte sich direkt an Schmidt. Der Hohn ließ ihn geifern.

„Zeit für einen netten kleinen Plausch? Wo sagtest du befindet sich meine Schwester?“

Der Ganove neben ihm zielte mit Bergers Pistole auf Schmidt und drückte ab. In die Stirn getroffen sackte dieser tot zusammen. Berger stand unter Schock. Er starrte sekundenlang auf die Leiche. Er schrie, seine Stimme schnappte über.

„Nein … nein … NEIN!!! Wie sollen wir jetzt meine Schwester finden?“

Der andere Ganove neben Schmidts Leiche verzog keine Miene.

„Kleine Planänderung von der Zentrale. Jetzt ist es offiziell eine Entführung mit tödlichem Showdown.“

Er feuerte vier Schüsse aus Schmidts Waffe auf Berger und Pfeiffer ab und legte sie anschließend in dessen Hand. Sein Komplize presste die andere Pistole in Bergers Hand. Einer der beiden riss die Webcam ab, entfernte die Speicherkarte und steckte beides ein. Sie machten sich auf den Rückweg.

„Entspannter Job! Noch Bock auf´n Bier zum Feierabend?“

„Jau!“

ER saß auf Wolke 7 und beobachtete das Näherkommen des Feuerballes. Trotz des strahlenden Sonnenscheins war es angenehm kühl. Gerade so, wie ER es mochte. Und still. Stille mochte ER auch. Doch nun zischte und grollte es, lauter und lauter. ER seufzte. Musste das jetzt sein? Direkt vor ihm stoppten die infernalischen Flammen. Kurzes Aufleuchten und ein Mann im schwarzen Anzug, mit Krawatte und dunkler Sonnenbrille stand vor IHM.

Mit teuflischem Grinsen sagte er: „Ich habe gewonnen!“

„Nein, hast du nicht.“ ER ließ einen weißen Thron unter sich manifestieren, nur um des guten Eindrucks willen.

„Wieso? Sie sind doch alle tot. Berger, Pfeiffer, Töpfer, Maria und Marlene. Nur Krüger, mein Kontaktmann lebt noch und wird bald wieder morden.“

Der Schwarzgekleidete begann zu qualmen. Anerkennend nickte ER. Auch das war beeindruckend. „Das mag sein. Aber du kennst die Regeln. Jeder davon hat sich bemüht doch noch etwas Gutes zu tun. Pfeiffer hat sich dabei leider ungeschickt angestellt.“

„Der Idiot!“ Satan lachte lauthals. „Konnte wieder mal nicht richtig sein Handy bedienen.“

„Aber er hat es versucht.“ Unendliche Güte sprach aus SEINEN Worten. „Berger und er wollten Marlene retten.“

Eine Störung des emotionalen Gleichgewichts der Erde ließ beide nach unten blicken. Jetzt wurde es interessant. ER fragte irritiert: „Was macht Dorothee Berger da?“

Satan ließ einen Feuerstuhl erscheinen und setzte sich. „Ich habe ihr den Film zusenden lassen, auf dem ihr Mann sich erschießt.“

„Und woher weiß sie, wo Krüger wohnt?“

„Ach, er hat dabei versehentlich seinen Standort mitgesandt.“ Kleine Flammen tanzten vergnügt auf Satans Haaren. „Ich wollte mal sehen, was dann geschieht.“

Traurig sah ER zu, wie Dorothee Berger mit der Gasflasche das Küchenfenster zerschlug. Dann drehte sie den Hahn auf und warf die Flasche ins Haus. „Hast du ihr das eingeflüstert?“, fragte ER leise?

Zufrieden lehnte Satan sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nein. Damit habe ich nichts zu tun. Der Einfallsreichtum der Menschen übertrifft hier meinen mal wieder bei weitem.“

Dorothee Berger wartete. Dann zündete sie ein Streichholz an. Die Explosion erfolgte sofort.

Satan klopfte sich auf die Schenkel. „Das ist ja wie zuhause.“

ER seufzte nur. „Bei Krüger ist die Sache klar. Der kommt zu dir. Aber über Dorothee Berger müssen wir verhandeln.“

Jack in a box, in a box
petias

„Halt, nicht so schnell!“ Christian Pfeiffer unterbrach Berger in seinen Gedanken. Er sah förmlich, wie der Entschluss, dem Verrückten zu Willen zu sein, in der vagen Hoffnung seine Schwester zu retten, sich in dem völlig verzweifelten Mann bildete.

„Es ehrt sie, Richard, dass sie ihre Schwester retten wollen, sogar unter Aufgabe ihres eigenen Lebens. Aber denken sie dabei auch an ihre Frau? Und überhaupt, ich bin mir sicher, ihre Schwester ist längst tot!“

„Halt die Klappe! Was mischt du dich ein du Winkeljournalist? Das ist mein Spiel, du spielst nur eine Rolle. Und gerade denke ich darüber nach, sie umzubesetzen!“
Der selbsternannte Manipulator anderer Leben zeigte zum ersten mal Nerven.

„Pfeiffer hat recht“, meldete sich jetzt Berger zu Wort. „Sie brüsten sich damit, dass sie jedem eine Wahl lassen. Wahrscheinlich haben sie Marlene längst vor eine ähnliche Wahl gestellt. Bei der Menschenliebe und dem Gottvertrauen meiner Schwester kann ich mir vorstellen, wie die ausgegangen ist.“

„Von wegen Menschenliebe und Gottvertrauen, die hat ihr Gelübde gebrochen“, ereiferte sich der Psychopath.

„Das sagten sie vorhin schon, dass meine Schwester die Bequemlichkeit ihrem Gelübde vorgezogen hätte. Was soll das denn bedeuten? Wollen sie damit sagen, sie hätte ihre Gelübde als Pfarrerin gebrochen? Eine bessere Pfarrerin als Marlene kann ich mir gar nicht vorstellen.“

„Nicht das Gelübde als Pfarrerin hat sie gebrochen, sondern das, das sie mir gegeben hat!“ Die Stimme des Entführers schnappte über. Seine Rage war unübersehbar.

„Aha!“ Pfeiffer machte seinem Namen Ehre und pfiff durch die Zähne. „Langsam kommen wir der Sache näher. Erhellen sie uns. Wenn wir schon alle sterben sollen, dann sollten wir wenigstens wissen, wofür.“

Pfeiffer und der Wahnsinnige, der mittlerweile wieder die Hand mit der Pistole aus der Tasche gezogen hatte, lieferten sich ein heftiges Wortgefecht. Es ging um die Frage, ob denn Pfeiffers Leben ebenfalls bedroht wäre, oder nicht. Aber Berger hörte gar nicht zu. Seine Gedanken kreisten in seinem Kopf.
Marlene hatte dem Spacko ein Gelübde gegeben, oder sie sich gegenseitig. Folglich mussten sie sich gekannt haben. Dann hätte Marlene die Bequemlichkeit dem Gelübde vorgezogen. Er erinnerte sich, aber das war bestimmt 10 Jahre her, da war Marlene für ein paar Monate weg gewesen. Sie hatte jemanden kennen gelernt, mit dem sie nach Spanien gereist war. Vorher wollte sie Medizin studieren und nach dem Studium für „Ärzte ohne Grenzen“ oder eine ähnliche Organisation an Hilfsprojekten teilnehmen. Als sie zurückgekommen war, studierte sie evangelische
Theologie und wurde Pfarrerin. Was war da in Spanien vorgefallen? Marlene hatte nie darüber gesprochen.
Der Kidnapper wusste von der Sache mit den Busreisen von Sofia nach Frankfurt. Das war auch zu dieser Zeit vor ca. 10 Jahren. Berger dachte damals, es ginge um das Einschleusen illegaler Einwanderer. 10000 Euro für eine Busfahrt mit 30 Passagieren von Sofia nach Frankfurt waren jetzt nicht exorbitant hoch. Ein Ticket Frankfurt Sofia kostet heute ca. 150 Euro. Bei 30 Leuten sind das 4500 Euro dazu noch die Leerfahrt nach Sofia, da sind wir schon bei 9000 Euro. Damals waren die Preise nicht viel günstiger als heute. Ein todeswürdiges Verbrechen war das sicher nicht.
Berger war der Erpresser irgendwie bekannt vorgekommen. Jetzt fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Er war der Busfahrer, der damals diese Sofia-Fahrten gemacht hatte. Ein Student mit Busschein, der sich sein Studium finanzieren wollte. Berger hatte ihn nur wenige Male gesehen.
Was, wenn Marlene den damals kennengelernt hatte und er es war, mit dem sie nach Spanien gereist war? Berger hatte ein gutes Namensgedächtnis. Der Mann hieß - Robert Wolf.

„Welches Gelübde haben sie und meine Schwester sich damals in Spanien gegeben, Herr Wolf?“, meldete sich Berger wieder im Gespräch zurück.
Beide, Wolf und Pfeiffer waren sekundenlang stumm vor Erstaunen.

Wolf raffte sich als Erster wieder auf: „Haben sie mich letztlich doch noch erkannt, Chef?“ Das Wort „Chef“ betonte er spöttisch.
„Euch beide vor eine Wahl stellen, kann ich mir nun nicht mehr leisten, da kann ich euch vor dem Tod auch noch sagen, worum es geht. Schieben sie ihre Waffe zu mir herüber, Berger!“
Wolf hatte seine Pistole auf Berger gerichtet. Der tat wie ihm geheißen. Berger war nicht so der Heldentyp.

„Marlene und ich hatten uns verliebt und wir spannen große Pläne für die Zukunft. Wir wollten für mehr Gerechtigkeit in der Welt sorgen. Wir gelobten, uns beide immer zu unterstützen dieses Ziel umzusetzen.

„Das Gelübde ewiger Liebe“, warf Pfeiffer pathetisch ein.
„Nein“, widersprach Wolf, „wir waren beide zu intelligent, um nicht zu wissen, dass man sowas wie ewige Liebe nicht realistischerweise geloben kann. Aber ewige gegenseitige Fürsorge und Unterstützung schon!“

„Als ich einen korrupten Journalisten vor die Wahl stellte, und der sich für einen ehrenvollen Tod entschieden hatte, war Marlene nicht einverstanden. Sie trennte sich von mir und ging zurück nach Deutschland. Sie hinterließ mir einen Brief, indem sie sich von mir trennte und von Schuld sprach, die sie durch meine Unterstützung auf sich geladen hätte. Ich wurde verhaftet und zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Vor einem halben Jahr hat man mich wegen guter Führung vorzeitig entlassen.
Als ich Marlene wieder aufgespürt hatte, war sie Pfarrerin in Frankfurt in der Gemeinde, zu der auch der Bruder mit seiner Frau gehörte.“

„Womit sie auch zugegeben hätten, dass die ganze Richter und Henker Masche reiner Eigennutz und Rachelust sind“, antwortete Pfeiffer mit Verachtung.

„Aber diese ihre sogenannte Erkenntnis nehmen sie jetzt mit ins Grab, sie talentloser Schreiberling!“
Wolf trat nach vorne in den Scheinwerferkegel und richtete seine Waffe auf Pfeiffer.

Ein Schuss fiel, bevor Wolf noch abdrücken konnte. Die Kugel trat an seinem Hinterkopf in den Schädel ein, verließ ihn mitten durch die Stirn und blieb im Dach des Waggons stecken.

Der Scharfschütze des Sondereinsatzkommandos verstand seinen Job.
Frau Berger hatte gegen den Willen ihres Bruders die Polizei verständigt und damit vermutlich nicht nur das Leben von ihrem Mann und Christian Pfeiffer gerettet.

Marlene fand man zwei Tage später tot im Keller eines verlassenen Hauses. Der Keller war nicht luftdicht verschlossen. Sie hatte sich mit der Waffe vor Tagen selbst erschossen, mit der sich auch ihr Bruder hätte das Leben nehmen sollen.


Christian Pfeiffer wachte auf. Er spürte sanfte Küsse auf seinem Mund. Als er es endlich schaffte, die Augen aufzuschlagen, sah er Maria, die sich zärtlich über ihn beugte. Nach langen Sekunden trat endlich Erkennen in sein Gesicht.
„Du glaubst nicht“, flüsterte er kopfschüttelnd seiner Frau zu, „was ich für einen Blödsinn geträumt habe!“


Gabi und Robert drängten sich mit duzenden Anderen durch die geöffneten Flügeltüren des Kinos.
„Der Schluss kam recht überraschend, finde ich, hätte ich anders gemacht als Filmemacher. Was meinst du, Liebes?“
„Ich frage mich, ob du dich auch erschießen würdest, um mich zu retten?“ Gabi sah Robert mit einem schalkhaften Lächeln an und schlug pathetisch die Augenlider nach oben.
„Klar, du bist doch mein Leben. Ohne DICH wäre ich sowieso tot!“

Gabi klemmte Roberts Nase zwischen die gebeugten Mittelfinger und Zeigefinger: „Ich werde dich beizeiten daran erinnern!“ Sie zog seinen Kopf zu sich heran und küsste ihn auf den Mund.

Pfeiffer starrte auf die Kamera, dann zu Berger, dessen zitternde Finger sich an den Griff der Waffe klammerten, als wäre sie ein Rettungsanker und nicht sein Freifahrtschein in die Hölle.

»Die Luft reicht noch für maximal 15 Minuten.«

Pfeiffers Gedanken rasten, sein Herz setzte ihnen mit hastigen Sprüngen hinterher und in seinem Kopf formte sich ein Plan, der verrückter war als alles, was er je in seinem Leben getan hatte.

In diesem Patt war er die einzige Variable, die das Blatt noch wenden konnte - ob zum Guten oder Schlechten konnten nur die nächsten Minuten zeigen.

»Ich mache es«, sagte er in die angespannte Stille hinein und sowohl Berger als auch der Unbekannte fuhren zu ihm herum.

»Sie machen was?«

»Ihn erschießen«, sagte Pfeiffer und versuchte, seinen Ton so gleichgültig wie möglich klingen zu lassen.

»Pfeiffer, Sie …«, Bergers Stimme überschlug sich beinahe vor Verzweiflung und er machte einen Schritt auf ihn zu. Doch Pfeiffer streckte abwehrend die Hand in seine Richtung und brachte Berger damit zum Stehen.

»Sie haben Recht mit dem, was Sie gesagt haben«, wandte Pfeiffer sich an den Unbekannten.

Dieser lachte leise: »Pfeiffer, Pfeiffer, so viel Einsicht hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut.«

Der Journalist stockte, stolperte in Gedanken über den Klang seines Namens aus dem Mund des Mannes. Etwas zupfte an seinen Erinnerungen, schwer fassbar und verschwommen aber eindeutig vorhanden. Da war etwas an der Art, wie sein Gegenüber sprach … eine Betonung die ihm so bekannt vorkam …. Es war lange her, dass man ihn so angesprochen hatte aber …

»Geben Sie ihm die Waffe, Berger.«

Pfeiffer wartete nicht ab, ging auf den korrupten Reiseveranstalter zu und riss ihm die Pistole aus den eiskalten Fingern. Dann drehte er sich zur Kamera. Holte tief Luft und starrte auf das rot blinkende Licht.

»Ich, Christian Pfeiffer, werde diesem korrupten Schwein jetzt ein Ende setzen.«

Er hob die Waffe. Hoffte inständig, dass ihm seine Talentfreiheit im Schützenverein nicht zwischenzeitlich abhandengekommen war, zielte auf Bergers Brust und drückte ab. Verzog, wie zu erwarten.

Berger schrie auf, taumelte zurück und brach wie ein Sack Kartoffeln in sich zusammen, das Licht des Scheinwerfers zu grell, um erkennen zu können, wie schlimm es um ihn stand. Pfeiffer schüttelte die aufsteigende Panik und mit ihr jeden Gedanken an Berger ab. Keine Zeit.

Stattdessen ließ er die Waffe fallen, ging sicheren Schrittes auf den selbsternannten Ritter der Gerechtigkeit zu und streckte ihm die Hand entgegen.

»Ich will mich Ihnen anschließen.«

Der Mann lachte erneut. Überheblich. Selbstbewusst. Sich seiner Sache viel zu sicher.

»Pfeiffer, werden Sie auf Ihre alten Tage tatsächlich noch auf den Pfad der Rechtschaffenheit zurückfinden?«

»So wie Sie? Hansen?«

Der Angesprochene trat einen Schritt aus den Schatten heraus und Pfeiffers Verdacht wurde zur Gewissheit.

»Ihr journalistischer Spürsinn hat Sie also noch nicht gänzlich im Stich gelassen« , erwiderte sein ehemaliger Kollege, der vor 10 Jahren wegen tätlichen Angriffs auf einen Regierungsbeamten suspendiert worden war statt an Pfeiffers Stelle zum Investigativjournalisten befördert zu werden. Hansen war schon immer fanatisch gewesen, wenn es um seine Recherchen ging. So fanatisch, dass er mehr als einmal mit Pfeiffer in Konflikt geraten war. Und mit dem Gesetz.

Hansens schmieriges Grinsen wurde breiter als er die Waffe sinken ließ und die Hand in Pfeiffers Richtung ausstreckte.

Überheblicher Idiot.

Doch genau darauf hatte Pfeiffer gehofft.

Seine Chance oder sein Ende - alles hing von diesem nächsten Augenblick ab.

Statt Hansen die Hand zu schütteln, zog er seine blitzschnell zurück, packte dessen Unterarm mit seiner anderen Hand, zog diesen nach oben und tippte mit seinem Finger in die Mitte von Hansens Handfläche. Begann im gleichen Moment mit leiser Stimme zu sprechen.

»Schauen Sie auf Ihre Hand, auf genau diesen Punkt. Sehen Sie, wie sich die Linien darin abzeichnen, wie sie immer mehr vor Ihren Augen verschwimmen … Sie wollen die Linien genauer ansehen. Sie näher betrachten. Näher. Noch näher … Jede kleinste Verästelung, jede Furche mit Ihren Augen erforschen. Noch näher … Bis Ihre Hand Ihre Stirn berührt. So ist es gut … Schließen Sie die Augen. Sinken Sie in einen Zustand absoluter Entspannung.«

Pfeiffer sah, wie Hansen taumelte und nach vorn sackte. Adrenalin schoss durch seine Adern.

Es hatte funktioniert. Es hatte wirklich funktioniert!

All die Diskussionen in denen er Marias begeistertes Geplapper über Hypnose als Unsinn abgetan hatte. Sie nur widerwillig zu einem ihrer Seminare begleitet hatte.

Es tut mir leid, Maria. So leid ….

Der Gedanke ernüchterte ihn, überlagerte den Adrenalinrausch und half ihm, einen klaren Kopf zu behalten. Pfeiffer nahm Hansen die Waffe aus der Hand, griff nach seiner Schulter und redete weiter mit monotoner Stimme auf ihn ein. Er musste die Trance aufrecht erhalten. Um jeden Preis. Bis er hatte, was er wollte …

»So ist es gut. Entspannen Sie sich, lassen Sie ganz locker. Ihre Schultern … Ihren Nacken … Ihren Kopf … Sie fühlen sich schläfrig … angenehm müde und entspannt …«

Pfeiffers Herzschlag hämmerte in seinen Ohren und doch zwang er sich dazu, seine Stimme ruhig zu halten, während er Hansen langsam zu Boden gleiten ließ.

»Lassen Sie Ihre Gedanken wandern … zu Marlene … zu dem Ort an den Sie sie gebracht haben … Spüren Sie tief in sich hinein … Wie gerne würden Sie mir jetzt sagen, wo Marlene jetzt ist. Das Geheimnis mit ihrem einzigen Mitstreiter teilen. Spüren Sie, wie der Wunsch in ihrer Kehle brennt, an ihren Stimmbändern zerrt, wie Sie die Worte nicht mehr zurückhalten können … Wie sie an Ihren Lippen zupfen… aus Ihnen herausfließen wie ein stetiger Strom …«

»Die Halle nebenan … Marlene … Untergeschoss … der Kühlraum …«

Pfeiffers ganzer Körper spannte sich an. Es funktionierte! Sein Blick flackerte durch den Raum, auf der Suche nach etwas, irgendetwas, mit dem er Hansen fesseln konnte. Doch da war nichts. Seine Stimme war seine einzige Waffe, wollte er nicht selbst zum Mörder werden und Hansen erschießen.

»Das war sehr gut … Sie sind glücklich, mir dies gesagt zu haben … so glücklich … und so müde … Sie wollen sich hinlegen … Schlafen … nur schlafen … kein Geräusch kann Sie davon abhalten. Ihr Bewusstsein sinkt tiefer … tiefer … immer tiefer.«

Die Atemzüge Hansens wurden tiefer, langsamer, ruhiger. Pfeiffer löste langsam die Hände von seiner Schulter und trat einen Schritt zurück. Noch einen und noch einen. Blickte kurz zu Berger, unter dessen rechter Schulter sich eine Blutlache gebildet hatte. Hoffte, dass er keine Arterie verletzt hatte.

Dann nahm er die beiden Waffen an sich, verließ den Wagen und wählte den Notruf.

Finale

Das Ende eines Planes

»Sind wir etwa On-Line, und sie verarschen uns mit ihrem Aufzeichnungsgetue!?«, polterte Pfeiffer aufgebracht. Diese anmaßende Manipulation wurde unerträglich. Er ging einem Anflug eines Geistesblitzes nach, der aber unausgereift in seinem Schädel hing wie eine saure Frucht im Frühsommer und bisher vergeblich nach herbstlicher Reife suchte.

»Wer sind sie überhaupt!? Und wie heißen sie!?«, versuchte er Zeit zu gewinnen, die er dringend zum Überlegen brauchte.

»Müssen sie nicht wissen! Die Fragen stelle ich!«, spielte sich der Unbekannte auf. Ein bissiger Unterton schwang unüberhörbar mit. Wieder diese überhebliche Arroganz. Pfeiffer registrierte einen landesfremden Akzent, den er nicht einordnen konnte. Ob ihm diese Spur weiterhalf, wusste er nicht.

Berger hielt die Pistole unschlüssig in seiner zitternden flachen Hand. ›Gab es wirklich nur eine Kugel im Magazin?‹, brütete er. ›Oder war es gar leer und das Ganze ein Bluff?‹ Fieberhaft liefen seine Gedanken wie hungrige Hunde auf der Suche nach Futter. ›Nein! Sicher kein Bluff! Das hatte er ja schon einige Male bewiesen.‹

Der eigene Tod war für Berger ein vermintes Gelände. Nie hatte er sich mit dem Undenkbaren beschäftigt. Zu allem Übel kannte er sich mit Waffen nicht aus und war doppelt ratlos auf gänzlich unbekanntem Terrain. So hilflos hatte er sich noch nie in seinem Leben gefühlt. Er konnte seine Schwester nicht im Stich lassen, das schien ihm klar zu sein. Aber würde der Unbekannte sie freilassen, wenn er dessen Vorgaben folgte? Das war überaus zweifelhaft. So einem konnte man nicht trauen. Und sich selber umbringen? Das kam auch nicht in Frage – niemals! Eine Zwickmühle. Oder war es ein gordischer Knoten, den nur ein scharfes Schwert lösen konnte? Aber wer hatte so ein magisches Schwert und könnte hier zuschlagen? Verzweiflung machte sich breit. Berger kapitulierte.

Pfeiffer hingegen grübelte an der Idee herum, Berger die Pistole aus der Hand zu reißen und mit einem sicheren Schuss den Unbekannten außer Gefecht zu setzen. Das Gefühl, als Held aus dieser Geschichte herauszugehen, ja als Rächer für Maria, hob fühlbar seine Stimmung, ja beflügelte ihn. Still konzentriert rekapitulierte er sein Wissen, welches von der Militärausbildung übrig geblieben war. Würde er gut genug treffen, um ihn kampfunfähig zu machen und gleichzeitig so gezielt, daß er ihn zum Reden zwingen könnte, um Marlenes Versteck preiszugeben? Der Unbekannte hatte seine Waffe in siegessicherem Überlegenheitsgefühl eingesteckt. Wenn Pfeiffer schnell genug wäre, könnte es klappen. Seine Nerven lagen jetzt blank. Schnell ergriff er Bergers Arm und wollte ihm gerade die Pistole entreißen, da hatte der Unbekannte seine Hand bereits wieder an seiner Jacke. Gleichzeitig ertönte mit einem deutlichen Doppelklicken das Durchladen einer Waffe von draußen, begleitet von einer rauhen Stimme im Befehlston:

»Laß´die Hände oben, daß ich sie sehen kann! Aber dalli! Ende Gelände, Radu! Du bist aufgeflogen, du Versager in der Möchtegern-Lederjacke!«, gefolgt von einem typischen hemmungslosen Lachen.

Julian Zangerl, Zuhälter und Besitzer des besagten Venustempels, stand breitbeinig in seinem langen Ledermantel vor der offenen Waggontüre. Einen Moment lang hatte er, flankiert von zweien seiner Gorillas, das Treiben im Waggon stillvergnügt mitverfolgt und richtete nun seine durchgeladene Fünfundvierziger mit ruhiger Hand auf den Kopf von Radu Dobre, der augenblicklich erstarrte. Wäre es nicht so real gewesen, hätte es der Showdown aus einem Western sein können.

»Deine Opfer sind mir scheißegal, du dilettantischer Rächer!«, lachte er höhnisch. »Aber, wie du dir denken kannst: Wer mir in die Suppe spuckt, macht es nur einmal! Und das ist definitiv das Letzte, was er tut! Ich dachte, du wüsstest das.«

Ein Schuß krachte und hallte zwischen den verlassenen Fabrikgebäuden wider. Ein paar herrenlose Krähen flatterten krächzend auf und verzogen sich in einen grauen Himmel. Zangerl hatte getroffen. Radu stand wie versteinert da. Die Webcam fiel in Fragmenten herunter. Gleich darauf war die Waffe wieder auf Radus Kopf gerichtet. Herabgefallene Splitter in seinen Haaren bemerkte Radu in seiner Erstarrung nicht. Alle bisherige Überlegenheit war von ihm gewichen. Er hatte seine Möglichkeiten überschätzt und stand leichenblass einem knallharten Profi gegenüber. Viel zu spät bemerkte er, dass sein Plan eine Lücke aufwies, die ihm sträflicherweise entgangen war und ihm nun zum Verhängnis wurde.

»So! Raus jetzt, du erbärmlicher Amateur!«

Die zwei Gorillas, die Zangerl begleitet hatten, nahmen Radu fest, banden ihm die Hände auf den Rücken und führten ihn ab. Er wehrte sich nicht. Radu spürte, daß das Spiel aus war. Er ließ alles resigniert geschehen. Er wusste, daß die Einbahnstraße seiner Handlungen zur Sackgasse mutiert war, deren Ende empfindlich nahe rückte. Zangerl sicherte seine Waffe, steckte sie ins Halfter und folgte der Vorhut seiner Gorillas siegesgewohnt mit gemächlichen Schritten. Dann drehte er sich noch einmal kurz um und grölte zum Waggon hinein:

»Ihr seid frei, ihr Gesindel! Bin ja kein Unmensch!«, und lachte laut in seiner selbstgefälligen Art.

Und halblaut beschwörend zu seinen Gorillas:

»Ab in meinen Keller, unterste Abteilung!«

Damit verschwanden Zangerl, der Zuhälter, und seine Begleiter aus der Welt bürgerlicher Sichtbarkeit.

Pfeiffer hatte Bergers Arm losgelassen und griff nach seinem Handy. Die Polizei war schnell alarmiert. Die gemeldete Entführung, die für das Opfer ein gefährliches Stadium erreicht hatte, löste das volle Programm aus. Die Suche nach Marlene Romero gestaltete sich aufwendig, besonders, da man nicht sicher sein konnte, ob sich das Versteck hier auf dem Gelände befand. Aber der Entführer war kein Profi und seine Raffinesse beschränkt. Man fand das Opfer endlich mit Hilfe von Wärmebildkameras und gerade noch rechtzeitig.

Die Indizien und die Befragung der Zeugen halfen nur, die Identität von Radu Dobre ans Licht zu bringen. Der wollte offenbar seine Schwester rächen, die in Rumänien entführt und im Räderwerk der Zwangsprostitution verschwand. Der in diesem Zusammenhang unbehelligt gebliebene Zangerl hatte Radu einkassiert und beide blieben unauffindbar. Berger und Pfeiffer waren vom Scheinwerferlicht im Waggon geblendet gewesen, konnten Zangerl nicht erkennen und keine brauchbare Zeugenaussage machen. Selbst Bergers Verstrickungen in zweifelhafte Transporte kamen nicht ans Licht, was Berger veranlasste, nicht allzu informativ in gewissen Belangen zu sein. Der Fall wurde abgeschlossen und zu den Akten gelegt.

Ob Pfeiffer eine Wendung in erneuter Recherchetätigkeit unternahm, um die Verbrechen von Menschenhandel und Zwangsprostitution aufzudecken und damit seine Anstellung in der FGZ zu riskieren, ist eine andere Geschichte und soll, wenn es denn etwas zu berichten gäbe, ein andermal erzählt werden.

Zangerl blieb wie immer unentdeckt und geht, wie so oft, weiter seinem zwielichtigen Gewerbe nach – vorläufig noch?

Die Existenz von Radu Dobre verebbte, für die Welt unerkannt, in Gefilden, die niemand zu sehen bekam und die keiner kennenlernen wollte. Von ihm blieb ein leerer Raum zurück, in dem die letzten Schwingungen einer Existenz langsam verebbten.

Ende der offenen Enden

Verzweifelt raste Pfeiffers Verstand im Kreis. Ein Ausweg, ein Ausweg … es gab keinen.
Berger starrte in die blinkende Kamera. Langsam und bleich senkte er den Kopf. »Darum geht es Ihnen?«
»Ich warte«, antwortete die dunkle Gestalt vor dem Lichtkegel. »Und Marlene ebenso.«
»Also gut …« Berger sah wieder hinauf. »Ich bin Richard Berger, ein … ein normaler Bürger wie ihr alle.«
Nein, dachte Pfeiffer. Nein, es muss einen anderen Weg geben.
In dem Moment ertönte dumpf ein fröhliches Kinderlied. Es klang nach Rolf Zuckowski und kam irgendwo aus Bergers Jackentasche. Ein Klingelton?
Alle drei Männer hielten inne und lauschten überrascht den Kinderstimmen, die der Situation einen makaberen Charakter verliehen.
»Dein Ernst?«, brummte der Unbekannte.
Berger antwortete nicht, sein Gesicht war noch starrer als zuvor. Die Zeit verging. Das Lied erstarb.
»Weiter. Oder wollen Sie das bei Marlenes Beerdigung spielen lassen?«
Berger schüttelte kurz den Kopf. Seine Lippen legten sich fest aufeinander, sein Gesicht hatte auf einmal einen entschlossenen Ausdruck angenommen. Fast schon unheimlich für den zitternden Mann, der er eben noch gewesen war.
Er hob den Blick. »Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Ja, meine Entscheidung trug dazu bei, dass sich ein Mensch umbrachte. Und ja, ich bin ein Schwein, ein Ausbeuter und ein Kapitalist. Das habe ich begriffen.« Er senkte den Kopf und sah seinem Gegenüber ins Gesicht. »Aber ich werde mich deshalb nicht erschießen. Menschen können lernen. Sich verbessern. Ihre Fehler wieder gut machen.«
Kurzes Schweigen. »Dann wollen Sie also schuld an einer weiteren Toten sein?«
»Nein, denn dann haben Sie sie umgebracht! Sie sind das Schwein! Ein Mörder!«
Pfeiffer kam nicht umhin, seinen Leidensgenossen für seinen plötzlichen Mut zu bewundern.
»Sie haben sich also entschieden?«, fragte die fremde Stimme eisig.
Berger legte die Waffe auf den Boden. »Ja.«
»Nun gut, dann werde ich das übernehmen.«
Berger schluckte. »Werden Sie dann wenigstens der Polizei verraten, wo sich Marlene befindet?«
Keine Antwort. Nur ein Klicken, als die Waffe entsichert wurde.
Pfeiffer wusste nicht, woher er die Energie nahm. Er sprang vor, packte den ausgestreckten Arm und drückte ihn Richtung Boden. Eine kurze Rangelei, ein Schuss fiel. Pfeiffer ging zu Boden, es wurde schwarz. In seiner letzten Wahrnehmung meinte er, Sirenen zu hören.

Berger stellte die dampfenden Kaffeetassen auf den Tisch, dann holte er die Colaflaschen und reichte sie den vier Teenagern, die ihnen gegenüber saßen und sie lachend entgegennahmen.
Mit einem tiefen Seufzen setzte er sich aufs Sofa zwischen Dorothea und Marlene und nahm sich selbst ein paar Chips aus der Schüssel. Er hoffte, er konnte den Jugendlichen einigermaßen angemessen seine Dankbarkeit zeigen. Angeregt unterhielten sie sich bereits mit den beiden Frauen.
Es klopfte. Erfreut erhob sich Berger und eilte zur Tür.
»Christian!« Wie einem alten Freund schüttelte er dem erschöpft wirkenden Mann die Hand. »Kommen Sie doch herein. Ich habe Kaffee gekocht.«
»Wunderbar.« Lächelnd folgte ihm Pfeiffer ins Wohnzimmer und hielt überrascht inne, als er die Runde erblickte.
»Ich habe Ihnen wohl noch etwas zu erklären … Das hier sind die vier, die regelmäßig in dem leerstehenden Haus rumhängen, in dessen Keller Marlene eingesperrt war. Sie haben sich gewundert, warum die Tür verschlossen war, und Marlene hatte versucht sie auf sich aufmerksam zu machen.« Er holte sein Handy heraus und spielte ein Kinderlied ab. »Erinnern Sie sich? Diesen Klingelton habe ich für Marlene eingespeichert. Fragen Sie bitte nicht warum … Ich wusste also, dass sie frei sein musste. Vielen Dank für Ihren Einsatz. Und dass Sie das Video schon so bald hochgeladen haben, nachdem Sie aus dem Krankenhaus entlassen worden sind.«
»Es war mir wichtig. Hat es denn geholfen?«
»Du solltest dir die Kommentare ansehen! Das hat meinen Ruf definitiv verbessert. Nun muss ich natürlich dafür sorgen, ihn wieder ganz herzustellen. Wenigstens dafür war die ganze Sache gut. Ach, übrigens: Durch euer Gerangel ist das Gesicht dieses Psychopathen kurz zu sehen. Die Polizei fahndet bereits.«
»Wenigstens etwas …« Pfeiffer setzte sich und genoss den Kaffee.
Sie unterhielten sich noch mit den Teenagern, bis sie gehen mussten und sich freundlich verabschiedeten.
Berger streckte sich, seufzte und schwieg eine Weile. »Werden Sie in der Online-Redaktion bleiben?«
»Ich habe lange darüber nachgedacht. Ich werde …«
»Das hier lag vor Ihrer Tür.« Eines der Mädchen kam noch einmal herein und überreichte Berger ein Paket mit einem Briefumschlag.
Die beiden Männer wechselten einen Blick.
»Danke«, meinte Berger nur. Er wartete, bis die Haustür zugezogen wurde, dann öffnete er den Briefumschlag und zog einen Zettel heraus. Er begann mit den Worten:
Es ist noch nicht vorbei.

Pfeiffer trat einen Schritt zur Seite, sodass der Baustrahler ihn nicht länger blendete. War er eben noch von rasendem Zorn und Kummer über den Tod von Maria beherrscht gewesen, meldete sich jetzt sein Journalisten-Instinkt zu Wort. Eine Situation ließ sich nur beschreiben, in Worte fassen und bewältigen, wenn sie verstanden wurde, wozu es der richtigen Fragen bedurfte. Er konnte nicht seiner Wut die Kontrolle überlassen, sondern musste die Umstände analysieren, begreifen, beherrschen.

Wer war der Mann vor ihnen, worin lag seine Motivation? Offensichtlich hielt er sich für einen Rächer, der einem bestimmten Kodex folgte. Worin aber lagen seine tieferen Beweggründe? Es musste in Hinblick darauf eine persönliche Verbindung geben, die Pfeiffer bis jetzt nicht durchschaute.

„Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken. Sie bleiben, wo Sie sind oder unser kleines Geschäft ist beendet, bevor es überhaupt begonnen hat. Wenn Gott nicht richtet, dann eben der Mensch“, sagte der Mann und hob eine Hand, als ziele er mit einer Waffe auf ihn.

„Wen wollen Sie rächen?“, fragte Pfeiffer betont besänftigend. Er musste Vertrauen aufbauen, nur dann würde er Antworten erhalten.

Der Mann erstarrte und auch wenn Pfeiffer nur die Umrisse seines Gegenübers sah, meinte er zu bemerken, wie die Schultern sich im nächsten Moment senkten, der Körper an Spannung verlor.

„Für Fragen ist es zu spät. Sie nehmen Berger auf, wenn er sich erschießt und laden das Video hoch. Das ist Ihre Sühne.“

Die Stimmlage des Mannes ließ keine Zweifel, Pfeiffer hatte die richtigen Knöpfe gedrückt, die richtige Frage gestellt. Er musste weitergehen, der Ereigniskette, welche in der Vergangenheit begann und bis zu diesem Punkt führte, folgen.

„Sie kannten eine der Frauen, welche mit Bergers Bussen nach Frankfurt gebracht und dann in einem der Bordelle arbeiten musste. Liege ich damit richtig?“ Pfeiffer klang nun, als rede er mit sich selbst, um sich seiner unvollendeten Gedanken zu vergegenwärtigen. Er rief sich in Erinnerung, was er im Rahmen seiner Recherche über den bulgarischen Menschenhändlerring in Erfahrung gebracht hatte. Seinerzeit hatte er Interviews mit mehreren Prostituierten geführt, bevor sein Chefredakteur ihm die Zügel angelegt und einen Maulkorb verpasst hatte. Eine Frau hatte ihn besonders beeindruckt …

„Wen ich kannte, spielt keine Rolle“, erwiderte der Mann. „Berger muss entscheiden, was er tut, ob er die Verantwortung für sein Handeln übernimmt oder seine geliebte Schwester sterben lässt. Seine Wahl.“

Schwester!

Pfeiffer fühlte sich, als habe das Wort ihm einen Stromschlag versetzt. Der Mann vor ihnen war vielleicht ein Psychopath, aber er folgte seiner eigenen makaberen Logik. Auge um Auge, Zahn um Zahn!

„Sie haben eine Narbe am Oberbauch!“, rief Pfeiffer von plötzlicher Erregung ergriffen.

Der Mann erstarrte, machte dann einen Schritt nach vorne. Sein Gesicht blieb von Schatten umhüllt, seine Augen aber schimmerten in der Dunkelheit.

„Woher wissen Sie das?“

„Nierentransplantation! Sie haben eine neue Niere bekommen, die Ihre Schwester, Dara Petrova, gespendet hat. Sie sind Stojan Petrov, ehemaliger Soldat, der für Georgi Todorov, einen bekannten Menschenhändler, als Sicherheitsmann hier in Deutschland gearbeitet hat, bis sie krank wurden.“ Es war ein Schuss ins Blaue, nicht mehr als eine begründete Vermutung.

„Sie können das nicht wissen …“ Die Stimme des Mannes hatte jede Kraft verloren, war nur noch ein vibrierender Faden, der jeden Moment reißen konnte.

„Ich weiß es, weil ich lange genug über die Geschäfte von Todorov recherchiert und mehr als einmal mit Ihrer Schwester gesprochen habe. Ich weiß, dass man ihr und den anderen Frauen die Ausweise abgenommen und sie damit erpresst hat, man werde ihren Angehörigen etwas antun, wenn sie nicht weiter gefügig seien. Ich kenne diese Geschichte nur allzu gut, aber vor allem kenne ich Dara Petrova, weil sie meine Hauptquelle war, bis mir mein Redakteur verboten hat, die Story weiterzuverfolgen.“

„Was spielt das für eine Rolle? Denken Sie, ich verzeihe Ihnen, weil Sie meine Schwester kannten?“ Der Mann sprach laut, aber seine Tonlage war brüchig, ein trockener Ast, der unter dem Gewicht der Vergangenheit zerbarst.

Vielleicht war es angesichts der Situation unpassend, eine Woge aus Euphorie zu verspüren, aber Pfeiffer konnte nicht anders. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Schreckliches geschah nie zufällig, immer existierte eine Geschichte, Verknüpfungen, die sich auf düstere Weise zusammenfügten und das Böse formten.

„Sie müssen mir nicht verzeihen. Wenn hier jemand Vergebung benötigt, dann sind Sie es für das, was Sie Maria und Klaus Töpfer angetan haben. Ihre Schwester ist nach Deutschland gekommen, um Geld für Ihre Behandlung zu verdienen. Sie hat Ihnen eine Niere gespendet, aber es gab Komplikationen, also hat sie einen Job bei Todorov angenommen. Immer wenn ich mit ihr gesprochen habe, hat sie betont, dass sie das alles für ihre Familie tut, am meisten für Sie.“

Es war, als verfestigten sich die Schatten im Gesicht des Mannes zu einer zähen Melange aus Schmerz und Trauer. „Dara war ein Engel, ein Licht, das so hell gebrannt hat wie kein anderes. Und jetzt ist sie tot, wegen Leuten, die sich an ihrem Schicksal bereichert haben. Wenn Sie ihre Geschichte kennen, wissen Sie, warum meine Rache gerecht ist. Todorov, dieses Schwein, habe ich bereits vor einigen Monaten bestraft. Ich wollte, dass er mir meine Schwester zurückgibt, aber er hat gesagt, sie sei an einer Erkrankung gestorben, er könne nichts für mich tun. Also musste ich ihn töten.“

Pfeiffer schüttelte den Kopf, während der bittere Beigeschmack der Erkenntnis ihm wie Säure in den Magen fuhr. „Lügen, Sie sind einer Lüge aufgesessen und so zum Mörder geworden! Sie haben sich angemaßt, über andere zu richten und sind in Wahrheit der eigentlich Schuldige.“

Petrov machte einen weiteren Schritt nach vorn. Zum ersten Mal konnte Pfeiffer das Gesicht des Mannes in Gänze sehen. Er blickte in die gleichen katzengrünen Augen, mit denen auch Dara ihn während ihrer Gespräche angesehen hatte. Hinter ihm gab Berger plötzlich einen erstickten Schrei von sich, als fürchte der Reiseunternehmer, die Situation würde im nächsten Moment eskalieren.

Pfeiffers Gefühl sagte ihm etwas anderes.

„Was erzählen Sie da? Dara ist hier gestorben. Ich habe Todorov die Pistole an den Kopf gehalten und ihm gesagt, ich würde ihn erschießen, wenn er mir meine Schwester nicht zurückbringt.“

„Das konnte er nicht.“

Der Mann sah ihn völlig verwirrt an. Mein Gott, wie jung Petrov doch war. Wenn Pfeiffer sich richtig an die Gespräche mit Dara erinnerte, musste ihr Bruder nur zwei Jahre älter als sie sein. Kaum Mitte zwanzig.

„Dara ist in Hamburg. Sie arbeitet bei einem Freund von mir in der Gebäudereinigung. Ich habe ihr geholfen, sich dorthin abzusetzen. Ich habe gute Kontakte in die Frankfurter Szene. Man bekommt leicht die notwendigen Papiere, um ein neues Leben anzufangen. Ich habe Dara gesagt, sie dürfte vorerst keinen Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen, weil dann die Gefahr bestände, dass Todorov sie doch wieder in die Finger bekommt. Es war ihm also nicht möglich, Ihnen Daras Standort zu verraten, weil er ihn schlichtweg nicht kannte. Also hat er sich für die Lüge entschieden, Ihre Schwester sei tot. Verhängnisvoll für alle Beteiligten.“

„Das kann nicht sein …“ Petrov schüttelte den Kopf, atmete stoßweise durch die Nase und erinnerte dabei an ein wütendes Tier, das jeden Moment angreifen würde.

„Das kann es sehr wohl. Ich beweise es Ihnen.“ Langsam, um Petrov nicht unnötig zu provozieren, zog er sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke, legte seinen Daumen auf den Sensor-Bereich. Er war alles andere als ein Nerd. Weil er nicht schnell genug einen Artikel hatte online stellen können, war Maria gestorben. Etwas Vergleichbares würde ihm heute nicht passieren.

„Hier!“ Er hielt Petrov das Display hin. Eine junge Frau lächelte darauf.

Mir geht es gut. Ich bin gut angekommen. Arbeit ist gut, Wohnung schön. Danke, danke, tausendmal danke, Herr Pfeiffer. Sie haben mir so viel geholfen“, sagte die Frau und winkte zur Verabschiedung.

„Dara lebt“, fügte Pfeiffer hinzu, auch wenn das eine unnötige Anmerkung war.

Petrov stand mit bebenden Schultern keine zwei Meter entfernt. Sein Blick war weder auf Berger noch auf ihn gerichtet.

„Ich …“, stammelte er, dann versagte ihm die Stimme.

„Es ist an Ihnen, jetzt das Richtige zu tun. Geben Sie uns die Adresse, wo Sie Marlene versteckt haben.“

Die Worte waren leise, aber verständlich. „Spessartstraße 3a, Maintal, im Keller hinter einer Feuerschutztür.“ Petrov griff, während er sprach in seine Jackentasche. Pfeiffer zuckte zusammen. Der Mann zog eine schwarzglänzende Pistole hervor, hob sie und zielte auf seine eigene Schläfe.

„Tun Sie das nicht!“, schrie Pfeiffer im Affekt.

Petrov stand vor ihnen, das Gesicht eine Maske aus Schmerz und Verwirrung.

„Ihre Schwester will Sie wiedersehen. Ihr Tod ist so sinnlos wie der von Maria und Töpfer. Es sind genug Menschen wegen dieses Wahnsinns gestorben.“

Petrov runzelte die Stirn, betrachtete ihn fast flehend. Etwas in seinen Zügen ließ erahnen, dass er an Pfeiffers Worte glauben wollte, so schwer es auch fiel. Langsam, zögerlich ließ er die Hand sinken, im gleichen Moment zerriss ein Schuss die Stille.

Petrov betrachtete fassungslos sein Revers. Ein roter Fleck erblühte auf dem Stoff seiner Jacke. Den Bruchteil einer Sekunde später sackte der junge Mann zu Boden und blieb regungslos liegen.

Pfeiffer fuhr herum, sah Berger, der wie versteinert mit der Waffe in jene Richtung zielte, wo Petrov eben noch gestanden hatte.

„Verdammt, warum haben Sie auf ihn geschossen?“

„Er … ich dachte, er würde auf uns schießen! Außerdem war er doch schuldig. Er hat getötet!“

„Schuldig?“ Pfeiffer hustete verächtlich, bevor er mit belegter Stimme und gesenktem Haupt weitersprach. „Wer unter uns ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

Richard Bergers Herz bebte. Er hielt nichts von Waffen, hatte er noch nie. Und jetzt
sollte er sich noch dazu erschießen und sich davor sogar noch bloßstellen! Doch es
hatte keinen Sinn. Wenn er es nicht tat, würde es der Unbekannte tun und
wahrscheinlich noch dazu Christian Pfeiffer. Mit vor Angst zitternder Stimme sagte er so
leise, dass es fast als flüstern galt: “Also gut. Sie haben gewonnen. Aber was garantiert
mir, dass sie der Polizei den Aufenthaltsort meiner Schwester mitteilen?” Der Fremde
zögerte kurz mit seiner Antwort, bevor er sagte: “Nun, das garantiert ihnen natürlich
niemand. Wenn sie sich jedoch dadurch besser fühlen würden, könnte ich ihrem
Freund meine Pistole geben. Wenn er mich jedoch erschießt, gäbe es keine Rettung
mehr für Marlene.” Pfeiffer riss erschrocken die Augen auf: “Ich? Aber…” “Bitte,
Christian. Dadurch hält er vielleicht tatsächlich sein Wort. Es besteht die Möglichkeit,
dass du dadurch Marlene rettest.”, fiel Richard Berger ihm ins Wort. Pfeiffer überlegte.
Dies wäre tatsächlich die einzige Möglichkeit, dass sie zumindest ein kleines bisschen
Sicherheit hätten, dass der Unbekannte Wort hielt. Aber zu 100% konnten sie es
natürlich nicht wissen. “Also gut. Geben sie her.” antwortete er schließlich. Der zum
Tode verurteilte Richard Berger überlegte. Jetzt hatte der Unbekannte keine Waffe
mehr. Konnten sie ihn nicht einfach zwingen, ihnen Malenes Standort zu sagen?
Vieleicht hing er ja doch an seinem Leben. “Jetzt haben sie keine Waffe mehr! Sagen sie
uns wo Malene ist oder wir erschießen sie!” rief Berger erfreut aus. Ein leichtes Lächeln
umspielte die Lippen des Unbekannten und er antwortete wie erwartet: “Machen sie
doch. Dann stirbt ihre Schwester aber in einem dreckigen Kellerloch und niemand weiß,
wo sie ist. Dann können sie ihr nicht mal die letzte Ehre erweisen. Sie als ihr Bruder
würden sie töten!” Damit erwischte er Malenes Bruder den Erwartungen entsprechen
besonders hart. Doch dieser wurde dadurch nur noch wütender, konnte sich nicht
mehr kontrollieren und schoss. Kurz nachdem sein Finger den leichten Gegendruck des
Abzugs überwunden hatte, bereute er es. Nun war er tatsächlich zum Mörder
geworden! Dieser Mann hatte zwar schon zwei Menschen sterben lassen, jedoch war
dies nun nicht mehr zu ändern. Hoffnungslos sackte er zu Boden. Malene war nicht
mehr zu retten und er würde lebenslang ins Gefängnis kommen! Nein, das war es nicht
was er gewollt hatte. “Richard! Was hast du getan?” rief Christian Pfeiffer “Du hast ihn
umgebracht!” “Ich weiß. Und damit auch Malene.” flüsterte Richard Berger. Man hörte
ihm die Tränen in seiner Stimme an. “Kannst du bitte die Polizei rufen?”
Kurz darauf kam die Polizei angefahren. Sie nahmen Richard Berger in Gewahrsam und
fuhren ihn auf das Polizeirevier. Berger nahm das alles nur am Rande wahr, zu groß war
seine Trauer über Marlene. Dort erfuhr er dann auch den Namen des Toten. Er hieß
Markus Reimer und war ein überzeugter Kommunist. Dieser hatte durch Zufall von
seinem Kollegen Christian Pfeiffer von dem Menschenhandel erfahren und
beschlossen, das auf eigene Faust zu klären.
Christian Pfeiffer wurde danach wieder in den Außendienst versetzt und sein Chef
wurde gefeuert. Richard Berger bekam lebenslange Haftstrafe für den Mord an Markus
Reimer und seine Frau wollte nichts mehr mit ihm zu tun haben. Die Frauen aus den
illegalen Bordellen wurden wieder in ihre Heimat geschickt und bekamen
Entschädigung aus dem Vermögen von Klaus Töpfer. Der Rest wurde armen Kindern
und Jugendlichen gespendet.

Richard Berger stand wie erstarrt da, die Pistole in der Hand. Nur in seinem Gesicht arbeitet es heftig, gnadenlos vom hellen Baustrahlerlicht ausgeleuchtet, unbarmherzig von der Webcam aufgezeichnet.
Christian Pfeiffer stand daneben und versuchte, Berger nicht anzustarren, doch als dieser plötzlich am ganzen Körper zu zittern begann und erste Tränen rollten, brach es aus Pfeiffer heraus: »Nun machen Sie schon! Wenn Sie Menschen auf dem Gewissen haben, ist Ihr Leben doch sowieso nichts mehr wert! Retten Sie wenigsten Ihre Schwester! Retten Sie Marlene!«
Der Unbekannte außerhalb des Lichtkegels ließ ein leises, bösartig-belustigtes Lachen hören.
Das schien Berger wieder zu sich zu bringen. Er straffte sich, sein Gesicht nahm einen entschlossenen, stählernen Ausdruck an, langsam hob er die Waffe. Dabei blickte er mehrmals abschätzend zwischen Pfeiffer und dem Unbekannten, dessen hochgewachsene Gestalt trotz des Schattens, in dem er stand, gut auszumachen war, hin und her.
»Treffen Sie ihre Entscheidung bald, Berger. Marlenes Luftvorrat geht zur Neige«, mahnte der Unbekannte.

Ein Schuss fiel.

Pfeiffer schrie unwillkürlich auf und beobachtete ungläubig, wie Berger die leere Pistole von sich schleuderte, wieselflink zu dem auf dem Boden zusammengesackten Unbekannten lief, die zweite Waffe aus dessen Jackentasche nestelte, entsicherte und zu Pfeiffer herumfuhr.
Bevor Pfeiffer wirklich begriffen hatte, dass Berger, statt sich selbst eine Kugel in den Kopf zu schießen, im letzten Moment mit einer schnellen, in der ungünstigen Beleuchtung für Pfeiffer fast nicht sichtbaren Bewegung, die Waffe auf den Unbekannten gerichtet und diesen erschossen hatte, mit einem unfassbar präzisen Schuss, blickte er selbst in den Lauf der zweiten Waffe. Die Berger in der Hand hielt. Ein gefährliches Glitzern in den Augen.
»Nun sind Sie der Letzte, der noch von meinen kleinen … Unternehmungen weiß«, sagte Berger ganz ruhig, während Christian Pfeiffers Augen immer größer wurden. Angst kroch in ihnen hoch, als die Bedeutung von Bergers Worten langsam einsickerte. Panisch sah Pfeiffer zum Eingang des Waggons, der immer noch offen stand, aber unerreichbar hinter Berger lag.
»Na,na!«, tadelte Berger. »Sie werden doch wohl nicht etwas Dummes anstellen?«
Pfeiffer wich einen Schritt zurück, schien seine Sprache verloren zu haben.
»Schön, dass Sie vernünftig sind.« Berger wartete noch einen Moment, dann sprach er in ruhigem Ton weiter: »Marlene ist ja bald kein Problem mehr, alle anderen sind inzwischen aus dem Spiel. Dorothea wird niemals auch nur ahnen, dass ich in Wirklichkeit nicht ihr leicht glückloser, aber harmloser Gatte bin und wir werden darum auch weiterhin unser friedliches kleines Leben leben und diese hässliche kleine Episode bald vergessen haben. Nur Sie stehen diesen, alles in allem doch sehr angenehmen Aussichten im Weg. Schade, dass Sie sich schon wieder in diese Sache haben hineinziehen lassen, obwohl Sie es in der Online-Redaktion doch so schön ungefährlich hatten … Nun ja, nicht mehr zu ändern.« Berger seufzte theatralisch. »Deshalb gibt es für Sie, fürchte ich, nur eine Lösung.«
Pfeiffer stand nur da und schüttelte fassungslos den Kopf. Von der Verwandlung Bergers, die sich in den letzten zwei Minuten vor seinen Augen vollzogen hatte, völlig überrumpelt und überfordert.

Ein Schuss fiel.

Richard Berger stieg in Pfeiffers alten Opel, kramte sein Handy aus der Tasche und nahm eine Sprachnachricht auf: »Dorothea, Liebling, es ist alles wieder in Ordnung. Mach dir keine Sorgen mehr, ich komme bald nach Hause.«
Dann ließ er den Motor an.

Der Showdown

Richard Berger starrte auf das kleine rote Licht und zitterte am ganzen Körper. Christian Pfeiffer war in einer Art Schockstarre und sah mit weit aufgerissenen Augen auf die Waffe in Bergers zittriger Hand. Dann schaute er Berger ins Gesicht. Er konnte die Panik in seinen Augen sehen, die Angst, die Gedanken, die sich wahrscheinlich überschlugen. Berger öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Doch statt Wörter kamen nur röchelnde Geräusche hervor.

„Nana, Herr Berger. Sie müssen sich schon mehr Mühe geben, damit die Leute da draußen Sie auch verstehen“, sagte der Mann aus dem Schatten mit gehässiger Stimme. Berger atmete zitternd ein und setzte erneut zum Sprechen an. Nur um dann ein Würgen von sich zu geben, ein paar Schritte nach vorne zu taumeln und sich vornübergebeugt zu übergeben. Der Schwall Erbrochenes landete direkt auf den Füßen des Erpressers, welcher angeekelt einen Schritt zurück machte, gegen die Rückwand des Waggons stieß und für einen Moment unachtsam wurde. Berger dagegen landete auf den Knien und stützte sich mit den Händen auf dem Boden ab – dabei ließ er die Waffe fallen. Das Plopp, mit dem die Waffe auf dem Holzboden landete, schien Christian Pfeiffer aus seiner Starre zu holen. Ohne nachzudenken, machte er einen Satz auf die Waffe zu, hob sie auf und richtete sie auf den Mann, der Maria auf dem Gewissen hatte. Dieser hatte sich inzwischen wieder gefangen und richtete seine Waffe nun ebenfalls auf Pfeiffer. Dabei schaute er ihn fast schon belustigt an.

„Oh, jetzt wird es interessant, Herr Pfeiffer. Wollen Sie mich erschießen? Machen Sie ruhig, aber ich glaube, das wird Ihnen Herr Berger hier“, er deutete auf das Häufchen Elend auf dem Boden, „nicht so leicht verzeihen. Und die Zuschauer“, jetzt zeigte er auf die beständig rot leuchtende Webcam, „wahrscheinlich auch nicht. Denn Sie nehmen so leichtfertig den Tod einer Pfarrerin auf sich.“ Doch Pfeiffer ignorierte die Worte des Verrückten. „Wie haben Sie Maria dazu gebracht, sich selbst umzubringen? Ich verstehe es nicht. Sie hatte nichts damit zu tun. Sie haben sie nur ausgewählt, weil ich nicht weiter recherchiert habe. Und warum haben Sie mich ausgewählt? Warum nicht Magnus, meinen Chef? Er hat mich degradiert und mir befohlen, das Thema zu begraben.“

„So viele Fragen, Herr Pfeiffer. Jetzt scheinen Sie sich ja doch auf Ihre Rolle des Journalisten zu verstehen. Warum haben Sie nicht damals weiter Fragen gestellt, als er Ihnen verbot zu recherchieren? Kam Ihnen das damals denn nicht seltsam vor? Oder haben Sie sich nur im Selbstmitleid gesuhlt, weil Sie, ausgerechnet Sie, der nichts von Technik versteht, in die Online-Redaktion mussten?“

In Christian Pfeiffers Bauch rumorte es, er wusste selbst, dass er weiter hätte recherchieren sollen. Aber damals hatte er es nicht getan – zu groß war seine Angst, arbeitslos zu werden. In seinem Alter fand er nicht mehr so leicht eine neue Stelle als Journalist. Nicht bei den ganzen jungen Leuten, die alles konnten: Audio, Video, Schreiben. Auch KI wurde immer häufiger eingesetzt und bedrohte seinen Arbeitsplatz. Er fühlte sich hilflos damals, er sah keine andere Möglichkeit. Aber war das so falsch? War es nicht die Aufgabe der Polizei und Staatsanwaltschaften, solche Menschenhändlerringe auszuhebeln? Er spürte, wie die Wut immer weiter in ihm anwuchs - gleichzeitig ergriff ihn aber eine seltsame, fast surreale Abgeklärtheit. Er wusste selbst nicht, woher diese kam. Vielleicht hatte es mit der Waffe in seiner Hand zu tun, auch wenn darin nur eine Kugel war.

„Und wer sind Sie, dass sie meinen, über mich richten zu dürfen? Und über Berger hier, der keine Ahnung hatte, wofür die von ihm organisierte Busreise genutzt wurde? Nicht wir haben diese unschuldigen Frauen und vielleicht sogar Minderjährigen geschmuggelt. Nicht wir haben sie zur Prostitution gezwungen. Warum haben Sie es auf uns abgesehen?“

Der Unbekannte lachte nur laut. „Ich sehe schon, Sie wollen Ihr Gewissen rein reden. Aber so funktioniert das nicht, Pfeiffer. Sie tragen eine Mitschuld. Hätten Sie weiter nachgeforscht, wäre es nie soweit gekommen.“

„Ach ja? Und was ist mit Ihnen? Sie müssen doch auch darüber Bescheid gewusst haben. Warum habe Sie sich nicht an die Polizei gewendet oder von mir aus an die Presse? Wollen Sie so eine Art Vigilante sein? Der Bruce Wayne oder Oliver Queen von Frankfurt?“

Der Unbekannt grinste stolz. „Und wenn? Es macht ja sonst keiner. Und die Menschen lieben selbst ernannte Retter und Superhelden.“

„Sie sind aber kein Superheld! Superhelden retten und verteidigen unschuldige Menschen. Sie bringen sie nicht mit einem perfiden Plan dazu, sich selbst umzubringen. Maria – sie war unschuldig. Ihr einziger Fehler war es, mit mir verheiratet zu sein. Sie hat nichts, rein gar nichts von dem Menschenhandel gewusst. Sie fühlen sich moralisch überlegen? Sie sind nicht viel besser als Berger und ich, Sie haben zugesehen, wie sich eine unschuldige Frau umgebracht hat, schlimmer noch. Sie haben sie dazu gebracht. Und Marlene Romero wusste wahrscheinlich auch von nichts. Wenn sie stirbt, haben Sie zwei unschuldige Menschen auf dem Gewissen. Das macht Sie zu einem Mörder.“

Pfeiffer spürte, wie sich die Atmospähre im Waggon veränderte. Auch wenn sein Gesicht im Schatten war, spürte Pfeiffer den hasserfüllten Blick des Verrückten auf ihm. „Sie haben doch keine Ahnung! Ich bin der Gute! Sie sind der Böse! Sie und Berger. Sie sind Schuld, dass so viele Frauen und Kinder verschleppt und verkauft wurden.“

Pfeiffer lachte ungläubig. „Das denken Sie wirklich? Sie sind doch vollkommen verrückt! Und überhaupt, was haben diese Frauen mit Ihnen zu tun? Sie haben gesagt, die Busse kamen aus Rumänien? Sie haben weder einen Akzent, noch sehen Sie aus wie ein Ausländer. Warum gehen Sie so weit? Ich glaube nicht, dass jemand in Ihrer Familie Opfer von Menschenhandel geworden ist, oder?“

„Ach, ich muss mit ihnen verwandt sein, um für Gerechtigkeit zu sorgen?“, spie er hasserfüllt heraus.

„Gerechtigkeit? Gerechtigkeit wäre, wenn Sie die wahren Drahtzieher hinter dem Menschenhandel richten – nicht uns.“

„Ach ja? Und wer sagt, dass ich das nicht schon getan habe?“, sagte der Mann aus dem Schatten aggressiv. Doch Pfeiffer erkannte eine gewisse Unsicherheit, die er überspielen wollte.

„Ich sage das. Weil sie viel zu feige sind, sich an die großen Fische zu wenden. Sie haben noch nie selbst den Abzug gedrückt, weil sie sich die Finger nicht schmutzig machen wollten und sich schlichtweg nicht getraut haben. Unschuldige und kleine Fische wie uns können Sie so vielleicht zum Selbstmord bringen, aber die großen Fische, die skrupellosen Menschenhändler, die würden darauf nicht reinfallen. Die würden sie ohne mit der Wimper zu zucken einfach umbringen.“

Pfeiffer spürte, wie die Wut und der Hass in dem Mann immer weiter anstiegen, auch wenn er ihn nicht genau sehen konnte. Doch dann machte er einen Schritt auf Pfeiffer zu, hinein ins Licht, und Pfeiffer sah zum ersten Mal sein Gesicht. Es sah unscheinbar aus – abgesehen von dem starren, irren, hasserfüllten Blick, mit dem er Pfeiffer bedachte. Berger saß immer noch zitternd auf dem Boden und bemerkte nichts. Er schien unter Schock zu stehen und sich komplett ausgeklinkt zu haben. Es war, als wäre er nur noch körperlich anwesend. Pfeiffer hatte ihn schon fast vergessen, so hatte er sich in Rage geredet.

„Sie meinen, ich kann den Abzug nicht drücken?“, sagte der Unbekannte drohend und zielte mit der Waffe direkt auf Pfeiffers Kopf.

„Ja, das meine ich“, sagte Pfeiffer selbstsicher, auch wenn er sich auf einmal überhaupt nicht mehr so fühlte. Direkten in den Lauf einer scharfen Waffe zu blicken, hatte wohl diesen Effekt. Der Mann machte noch einen Schritt auf Pfeiffer zu, und dieser sah, dass der Finger am Abzug seines Gegenüber gefährlich zitterte. In dem Moment fasste Pfeiffer einen Entschluss. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Darauf folgte ein schmerzverzerrter Schrei. Pfeiffer hatte geschossen, bevor es der Mann tun konnte. Dieser lag nun vor ihm auf dem Boden, beide Hände um sein linkes Bein geschlossen, aus dem eine Menge Blut floss. Die Waffe hatte er fallen lassen. Während Pfeiffer sich noch vom Rückstoß der Waffe erholen musste, sah er, wie wieder Leben in Berger kam. Der Schuss muss ihn aus seiner Starre gelöst haben. Entgeistert schaute er zwischen dem Unbekannten und Pfeiffer hin und her.

„Was haben Sie getan?“, flüsterte er erst, um die gleichen Worte danach noch einmal zu schreien. „Was haben Sie getan? Wo ist Marlene? Wo ist meine Schwester?“

Er machte einen Satz auf den verletzten Mann zu, und schüttelte ihn an den Schultern. Doch dieser lachte nur, zumindest versuchte er es – es klang mehr wie eine Mischung aus wimmern und Hysterie. „Das würden Sie wohl gerne wissen, was? Mein Angebot steht immer noch: Erschießen Sie sich und ich sage es Pfeiffer, nachdem er das Video hochgeladen hat“, sagte er mit mehreren Pausen, in denen er vor Schmerz ächzte.

Berger sah die Waffe neben dem Mann liegen und griff danach, bevor Pfeiffer reagieren konnte. „NEIN“, schrie er, genau im gleichen Moment, als ein lautes Quietschen ertönte. Die Tür des Waggons wurde weiter aufgeschoben. „Wehe Richard!“, sagte eine Frauenstimme mit so viel Wut und so viel Nachdruck in der Stimme, dass jeder Widerstand zwecklos schien. Es war Dorothea. „Gib mir die Waffe!“ Doch Berger schüttelte den Kopf und klammerte seine Finger um die Waffe, als wäre sie ein Rettungsring – obwohl sie das Gegenteil davon war. „Ich muss Marlene retten, sie ist unschuldig.“

Dann hörten sie Sirenen in der Ferne. „Du musst sie nicht retten! Ich weiß, wo sie ist. Außerdem ist die Polizei unterwegs.“

„WAS?“, riefen die drei Männer ungläubig.

„Sie bluffen“, meinte der Unbekannte.

„Nein, tue ich nicht. Sie hätten Marlene nicht in ihrem eigenen Keller einsperren und filmen sollen. Ich habe mir Ihr Video noch einmal angeschaut, als Richard und der Journalist gegangen waren. Als Sie die Kamera von der Betonwand zu Marlene geschwenkt haben, habe ich es gesehen. Die Kiste mit ihrer Weihnachtsdeko – die Schrift auf der Kiste, der Weihnachtsstern, der oben herausgeguckt hat. Das waren Marlenes. Da habe ich mich sofort auf den Weg gemacht, bevor Sie Richard auch noch töten.“

Der Mann schrie wutentbrannt und robbte in Richtung Tür. Er wollte Dorothea schnappen, doch diese wich einfach ein paar Schritte zurück außer Reichweite. Außerdem schien Berger auf einmal neuen Mut geschöpft zu haben. Er richtete die Waffe auf den Unbekannten und entsicherte sie, so, wie er es schon tausende Male im Tatort gesehen hatte. Das Klicken ließ den Mann der Bewegung innehalten. Er schaute mit großen Augen zu Berger und als er seinen Blick sah, schien er zum ersten Mal Angst zu bekommen. Zumindest hatte Pfeiffer diesen Eindruck, denn der Mann wich ein Stück zurück. Doch bevor Berger wirklich abdrücken konnte, waren die Sirenen bei ihnen angekommen und sie hörten, wie mehrere Autos quietschend zum stehen kamen. Dann Schritte und Rufe, bevor der erste Polizist mit gezogener Waffe in den Waggon blickte. Es war vorbei.


Christian Pfeiffer stand an Marias Grab. Den Kragen seines Mantels hochgestellt, den abgewetzten Fedora in die Stirn gezogen. Er wirkte nicht mehr ganz so verzweifelt wie bei seinem letzten Besuch. „Er wurde geschnappt. Ich habe es dir versprochen, Maria. Er wurde geschnappt. Und mit ihm auch die Drahtzieher hinter dem Menschenhandel. Es tut mir so Leid, dass es so weit kommen musste und du da mit reingezogen wurdest. Es tut mir so Leid.“ Ungeachtet des nassen Bodens fiel er auf die Knie und weinte leise. Er fand es immer noch ungerecht, aber gleichzeitig war er froh, dass es nun vorbei war und er die Antworten hinter dem Warum kannte. Es hatte sich herausgestellt, dass der Mann, der Richard Berger und Christian Pfeiffer bedroht, Marlene entführt und mehrere Menschen zum Selbstmord genötigt hatte, Felix Meurer hieß. Entgegen Christian Pfeiffers Überzeugung gab es in Meurers Umfeld tatsächlich ein Opfer des Menschenhandels. Eine Prostituierte, in die er sich verliebt hatte, war illegal und zwangsweise aus Rumänien ins Land gekommen. Sie starb, nachdem sie versucht hatte, aus ihrem Gefängnis zu fliehen und bei der Polizei auszusagen. Der Bordellbesitzer, Uwe Eschenbach, hatte es herausgefunden und seine Lakaien damit beauftragt sie umzubringen. Felix Meurer wollte sie rächen. Und - in dem Punkt hatte Pfeiffer Recht - da er nicht an die großen Fische rankam, mussten die Kleinen herhalten. Was Pfeiffers Chef Magnus mit der ganzen Sache zu tun hatte, kam ebenfalls ans Licht: Uwe Eschenbach war sein ehemaliger Schwager. Der Ex-Mann seiner Schwester. Er hatte Magnus bedroht, als er herausfand, dass einer seiner Redakteure in seinen Angelegenheiten rumschnüffelte. Am Ende hatte die Polizei durch die verschiedenen Aussagen und die Fotos, die Meurer gesammelt hatte, genug Beweise für eine Großrazzia. Eschenbach wurde verhaftet, genauso wie ein Teil seiner Lakaien. Pfeiffer hatte seine alte Stelle zurück bekommen, Magnus dagegen war degradiert worden. Auch die Bergers waren wieder vereint. Marlene wurde von der Polizei aus ihrem eigenen Keller gerettet und die Bergers tatsächlich nicht mehr ganz so angefeindet, nachdem Pfeiffers Artikel über die Zusammenhänge hinter den Vorkommnissen veröffentlicht wurde. Es gab immer noch ein oder anderen Angriffe auf ihn, aber sie würden mit der Zeit weniger werden. Spätestens wenn die nächste Sau durchs Dorf getrieben wurde. Christian Pfeiffer richtete sich wieder auf und verabschiedete sich von Maria. Er wusste, sein Leben würde nie wieder so sein wie früher, trotzdem hatte er sich etwas geschworen. Ab sofort würde er nie wieder kuschen, wenn er mit seinen Recherchen in ein Wespennest stieß. Er hatte nichts mehr zu verlieren und würde immer weiter graben, komme, was wolle.

Die Abrechnung

Richard Berger stand da, die Pistole in seiner zitternden Hand. Schweißperlen glänzten auf seiner Stirn. Sein Blick war leer, ausdruckslos. Eine einzelne Träne lief ihm eiskalt die Wange herunter. Verzweifelt versuchte er, einen Ausweg zu finden. Seine Gedanken rasten und stießen doch immer wieder auf das gleiche Hindernis. Jemand würde sterben und er musste die Wahl treffen. Er konnte sein eigenes Leben retten und seine Schwester dafür in den qualvollen Tod schicken. Er wollte nicht sterben. Sein ganzer Körper bebte. Er sah die Waffe in seiner Hand an.
“Ob es wohl weh tut?”, dachte er. Sein Blick huschte hin und her, gefangen wie in einem unsichtbaren Dreieck, das ihn einspannte wie die Seile einer Falle. Die Waffe in seiner Hand, der Unbekannte und Pfeiffer mit seinem albernen Fedora. Jeder Punkt war wie ein Eckstein und zwischen ihnen zogen sich die Linien aus Schuldgefühlen, Hilflosigkeit und Verzweiflung. Jede noch so kleine Bewegung verschärfte die Spannung, die zwischen ihnen lag. Ein Pulverfass, bereit zur Explosion.
Der Unbekannte lächelte siegessicher. Er hatte Berger und Pfeiffer genau dort, wo er sie von Anfang an haben wollte. Überheblichkeit lag in seiner Stimme, als er die unangenehme Stille durchbrach: “Ihnen läuft die Zeit davon, Herr Berger. Denken Sie an Marlene. Nicht mehr lange und ihrer geliebten Schwester wird langsam der Sauerstoff ausgehen”

Hilfesuchend, fast schon flehend, suchte Berger mit seinem Blick den, des Journalisten. Pfeiffer schüttelte den Kopf. “Geben Sie ihm nicht, was er möchte, Berger. Für ihn ist das alles nur ein Spiel. Wahrscheinlich wird er nicht aufhören, bis wir alle tot sind.”

Berger antwortete nicht sofort. Es war, als müssten Pfeiffers Worte sich erst mühsam einen Weg in sein Bewusstsein erkämpfen. Seine Stimme brach vor Verzweiflung, als er sagte: ”Ich kann nicht noch mehr Schuld auf mich laden. Marlene hat es nicht verdient zu sterben. Sie ist ein guter Mensch. Von mir kann ich das nicht behaupten”.
Zögerlich sah er hinunter auf die Waffe in seiner Hand. Das Metall hatte sich anfangs kühl und fremd angefühlt, doch je länger er die Waffe umklammert hielt, desto mehr nahm sie die Wärme seines Körpers an. Auf seltsame Art und Weise fühlte sich die Pistole zunehmend vertrauter an. Bergers Haltung änderte sich. Er stand aufrechter, wirkte selbstsicher und in seinem Gesicht spiegelte sich eine tiefe Überzeugung. Ein gequältes Lächeln huschte über sein Gesicht.

“Ich sehe sie haben ihre Wahl getroffen. Das ist gut.”, sagte der Unbekannte mit höhnischer Stimme.

Berger sah in die Kamera. Das kleine rote Licht fühlte sich an wie der Zielpunkt eines Scharfschützen direkt auf seiner Brust. Er hatte keine Wahl und doch hatte er eine Entscheidung getroffen. Er nahm einen tiefen Atemzug der abgestandenen Luft. Der modrige Geruch von verwittertem Holz und rostigem Metall machte sich in ihm breit. “Es tut mir leid, Doro.", dachte er sich. “Ich muss es tun. Für Marlene.”.

Seine Hände hatten aufgehört zu zittern. Er hob die Pistole an seine Schläfe. “Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle”, begann er.

“Nein, tun sie das nicht!”, schrie Pfeiffer dazwischen.
Doch Berger fuhr fort: ”Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!” sagte er. Einen Moment war es totenstill in dem kleinen Waggon. Dann drückte er den Abzug.

Es klickte. Kein ohrenbetäubender Knall. Keine Explosion. Kein Blut an der rostigen Wand. Nur ein sanftes Klicken. Dann wieder Stille. Berger drückte den Abzug erneut, wieder und wieder. Jedes Mal nur ein leises verhöhnendes Klicken. Er ließ die Waffe fallen und seine wackeligen Knie gaben nach, sodass er zu Boden sank.

Der Unbekannte lachte: “Denken Sie wirklich, ich lasse sie so einfach davonkommen, Herr Berger? Nach dem, was sie getan haben? Was sie meiner Familie angetan haben?”

“Ihrer Familie?”, erwiderte er fragend.

“Lassen Sie mich Ihnen eine Geschichte erzählen: Vor vielen Jahren gab es einen Mann. Er war krank und starb vor seiner Zeit. Er hinterließ drei Kinder, die zu Vollwaisen wurden. Ich war eines dieser Kinder, gerade einmal 16 Jahre alt und ich sollte von da an die Verantwortung für die Familie tragen.Für mich und meine zwei kleinen Schwestern. In Bulgarien verdiente man schlecht, also sparte ich all mein Geld, bis ich jemanden bezahlen konnte, um mich nach Deutschland zu bringen. Ich fuhr im Gepäckraum eines Reisebusses mit. Es war dunkel, stickig und ich war nicht alleine. Mit mir saß ein halbes Dutzend junger Frauen darin. Einige jünger als ich selbst. Das wenige Licht, welches durch die Spalte hereinfiel, reichte aus, um die Angst in ihren Gesichtern zu sehen. Sie waren an den Händen gefesselt. Doch ich war jung und sah weg.”

Berger sank immer tiefer in sich zusammen. Er schluchzte verzweifelt. Die Kamera nahm weiterhin alles auf. Pfeiffer lauschte, hing dem Unbekannten wie gebannt an den Lippen. Er ahnte bereits, worauf die Erzählung hinauslief.

“Ich arbeitete so viel ich konnte.”,fuhr er mit seiner Erzählung fort. “Natürlich illegal und unter schlechten Bedingungen, doch ich verdiente gut. Besser als in Bulgarien. Bald schon hatte ich genug zusammen, um meine Schwestern nachzuholen. Ich leistete mir einen Zug nach Sofia. Doch es war bereits zu spät. Als ich Zuhause ankam, waren meine Schwestern fort. Ich habe lange gebraucht, bis ich sie hier wieder gefunden habe. Sie wurden nach Frankfurt gebracht. In einem Reisebus. In einem Ihrer Reisebusse, Herr Berger. Können Sie sich vorstellen, wie viel Leid sie ertragen mussten? Zu was sie gezwungen wurden?”

Berger schüttelte den Kopf. Mit Tränen in den Augen schluchzte er: “Ich wollte das nicht. Ich wusste es nicht. Ich habe…”

“Sie haben keine Fragen gestellt. Sie haben das Geld genommen und weggesehen. Sie haben ihre Wahl getroffen. Sie haben sich gegen Moral und Anstand entschieden”, unterbrach ihn der Unbekannte mit bebender Stimme.

“Was wollen Sie von mir? Ich bin bereit zu sterben! Lassen Sie Marlene gehen! Ich tue was immer sie von mir verlangen.”, flehte Berger.
“Auch ich habe eine Wahl getroffen”, ignorierte der Unbekannte die Fragen. Seine Stimme strahlte wieder die beunruhigende Ruhe aus, wie der Atem eines Raubtiers, das weiß, dass seine Beute nicht entkommen kann.

“Der Tod ist zu gut für Sie, Herr Berger. Ich habe mich für Gerechtigkeit entschieden. Sie werden ihre Strafe bekommen. In wenigen Minuten wird die Polizei hier sein und sie festnehmen.”, fuhr er fort. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er wandte sich an Pfeiffer und warf ihm einen gepolsterten Umschlag zu. “In dem Umschlag sind alle Beweise, die sie brauchen werden. Fotos, Videos, Sprachaufnahmen, Namen und Adressen. In dem Umschlag finden sie auch einen Schlüssel und den Ort an dem sich Marlene befindet. Ihren Verlust bedaure ich sehr, Herr Pfeiffer, doch auch für den Tod von Maria finden sie darin Gründe. Gehen Sie damit an die Öffentlichkeit!”

Pfeiffer nahm kommentarlos den Umschlag vom Boden und steckte ihn ein. In der Ferne hörte man bereits die näherkommenden Sirenen der Polizei. Nicht mehr lange und das alles hatte ein Ende. Der Unbekannte zog seine Pistole aus der Jackentasche und sagte:”Meine Aufgabe ist erledigt. Jetzt sind Sie dran, Herr Pfeiffer.”
Noch bevor Pfeiffer etwas erwidern konnte, hielt der Unbekannte sich die Waffe unter das Kinn und drückte ab. Dieses Mal gab es einen ohrenbetäubenden Knall. Blut spritzte an Wand und Decke des Waggons. Der leblose Körper fiel zu Boden. Innerhalb kürzester Zeit bildete sich eine große Blutlache. Berger und Pfeiffer klingelte es in den Ohren. Sie hörten es nicht, als die Polizisten die Türe aufzogen. Berger hatte noch immer die Waffe vor sich liegen. Zwei Polizisten drückten ihn zu Boden. Er ließ es widerstandslos zu. Sein Kopf lag flach auf dem kalten Boden auf. Seine Nasenspitze war nur noch wenige Zentimeter von der sich ausbreitenden roten Pfütze entfernt. Der Geruch nach frischem Blut ließ die Übelkeit in ihm aufsteigen. Er spürte das klickende Einrasten der Handschellen an seinem Rücken, dann wurde er unsanft in den Wagen der Polizisten gezerrt. Er wehrte sich nicht. Er würde seine gerechte Strafe bekommen.

Pfeiffer wurde respektvoller von der Polizei behandelt. Er war unbewaffnet und kooperierte. Nach einigen Stunden auf dem Polizeirevier und endlos vielen Fragen, durfte er wieder nach Hause gehen. Dort angekommen eilte er sofort zu seinem Laptop. Er behielt die Schuhe und die Jacke an. Die Neugier brannte in ihm . Was war auf dem USB-Stick, den der Unbekannte ihm hatte zukommen lassen? Er fand mehrere Ordner und viele Dateien. Eine stach ihm direkt ins Auge. Eine Textdatei mit dem Titel . Er klickte darauf. Entsetzt starrte er den Bildschirm an. Die Datei enthielt nur wenige Worte. “Sie sind an der Reihe, Herr Pfeiffer. Sie haben die Wahl.”
Mit zittrigen Fingern klickte er auf eine Video Datei.

Bruder Theophil
Richard Berger starrte auf die Waffe in seiner Hand, schaute hilfesuchend zu Christian Pfeiffer. »Tun Sie das nicht«, rief der Journalist.
Mit einem Mal entspannten sich Bergers Gesichtszüge. Er nickte Pfeiffer zu, als wolle er ihm sagen, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche. Wie ein Erleuchteter hob er seinen Kopf zur Kamera, öffnete seine Lippen und flüsterte: »Das tu ich für dich, Marlene.«
Pfeiffer ließ die ausgedruckten Blätter fallen. Er wird doch nicht…
»Ich … ich bin Richard Berger, ein —« Er stockte. Wie hätte er sich in dieser Situation einen Text merken sollen, den er nur einmal gehört hatte? Wortlos hielt der Unbekannte einen Zettel ins Licht. Berger nahm ihn entgegen und las vor. Von Satz zu Satz klang er lauter, verzweifelter. Die letzten Worte schrie er in die Kamera: »Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!« Dann hob er die Waffe, drückte sie gegen seine Schläfe, schnaubte, wimmerte. Ein Schuss fiel, dann ein zweiter. Stille.
Christian Pfeiffer stand da mit ausgestreckten Armen, seine Finger umklammerten die Waffe, die er Berger im letzten Augenblick entrissen hatte. Er fiel auf die Knie, ein brennender Schmerz durchfuhr sein linkes Bein. Die Waffe glitt aus seiner Hand auf den Boden. Neben ihm kauerte Richard Berger, unverletzt. Die Silhouette des Unbekannten war verschwunden. Hatte er ihn getroffen?
»Was haben Sie getan? Jetzt wird meine Schwester sterben, weil er uns nicht mehr verraten kann, wo sie ist!« Berger raufte sein Haar, als wolle er es ausreißen. Von draußen drang ein Stöhnen ins Abteil. Christian Pfeiffer richtete sich auf und humpelte zur offenen Tür. Mit schmerzverzerrtem Gesicht stieg er aus dem Wagon. Seine Augen mussten sich erst wieder an die Dunkelheit gewöhnen. Er stolperte, verlor seinen Hut. Der Unbekannte lag vor ihm auf dem Rücken mit ausgebreiteten Armen wie Jesus am Kreuz. Auf seinem Bauch breitete sich ein dunkler Fleck aus. Offensichtlich hatte er bei ihrem spontanen Duell den Kürzeren gezogen. Sein Ächzen verriet, dass er noch am Leben war. Christian Pfeiffer beugte sich über ihn und packte ihn am Kragen. »Wo hast du Marlene versteckt?«
Mit letzter Kraft hob der Unbekannte seinen Kopf. Er röchelte, Blut drang aus seinem Mund. Dann spie er Christian Pfeiffer seine letzten Worte entgegen: »Kasteie deinen Leib und du wirst frei von Sünde sein!« Spucke und Blut spritzte in Pfeiffers Gesicht. Der Körper des Fremden erschlaffte und sank zu Boden wie ein Sack Mehl.
»Was schwafelst du da? Sag mir sofort, wo —« Er spürte eine Hand auf seiner Schulter.
»Herr Pfeiffer, ich glaube nicht, dass er Ihnen noch antworten kann.« Bergers Stimme klang jetzt ruhiger. Christian Pfeiffer wich zurück, als laste auf dem Toten ein Fluch. »Verdammt! Ich habe schon wieder versagt! Marlene ist verloren. Erst Maria und jetzt sie.«
Berger faltete seine Hände, als wolle er beten. »Wir dürfen meine Schwester nicht aufgeben! Nicht Marlene! Wir brauchen immer noch einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Sie sind doch der Journalist. Wenn es um einen ihrer Artikel ginge — welche Quelle würden sie jetzt anzapfen?«
Pfeiffer massierte seine Schläfen. Der Schmerz in seinem Bein überlagerte alles. Berger hatte die Wunde noch nicht bemerkt und das war auch gut so. Er würde ihn nur drängen, einen Arzt aufzusuchen. Doch dafür war jetzt keine Zeit. Er sah zu dem Toten. Vielleicht konnte er ihnen doch noch einen Hinweis geben. »Durchsuchen wir ihn«, sagte er. Vielleicht finden wir etwas Brauchbares.«
Gemeinsam inspizierten sie sämtliche Taschen der braunen Kunstlederjacke. In der Innentasche wurde Pfeiffer fündig: wieder ein Umschlag, beschriftet mit seinem Namen. Ohne zu zögern, riss er ihn auf. Als er den Inhalt herauszog, war ihm, als zerbrösle seine Welt und alles, woran er geglaubt hatte wie eine Sandburg im Wind. Der Umschlag enthielt ein Foto und einen Notizzettel mit einer kurzen Botschaft: Guter Schuss, Herr Pfeiffer. Erledigen Sie nun den Rest.
»Mein Gott, dieser Kerl wusste, dass Sie ihn erschießen und dann diesen Brief öffnen werden?«, fragte Berger, nachdem auch er den Text gelesen hatte.
Pfeiffer nickte. »Sieht so aus. Er hat alles genauso geplant. Offenbar wollte er sterben.«
»Und was ist das für ein Foto?«
Pfeiffer zeigte es ihm mit zitternder Hand. Es war die Aufnahme eines Zimmers voller Plüsch, Samt und rotem Licht. Auf einem protzigen Bett lag ein nackter Mann in lasziver Pose. Neben ihm kniete eine Dame in Reizwäsche und berührte seinen schweißnassen Schwabbelbauch. Die Szene war dunkel umrahmt, als habe sie jemand heimlich durch einen Türspalt geknipst.
Berger schüttelte angewidert den Kopf. »Ich wette, das wurde im Venustempel aufgenommen. Kennen Sie diesen Mann?«
»Allerdings. Dieser Fettsack ist Konstantin Magnus, mein Chef.«
»Und die Nutte?«
Pfeiffer schloss für einen Moment seine Augen. »Das ist Maria. Meine Frau.«
Berger schluckte. »Vielleicht eine Fotomontage. Heutzutage ist doch alles möglich.«
Pfeiffer lächelte schief. »Das können Sie ihrer Großmutter erzählen.«
Er hatte immer geahnt, dass Maria ihm etwas aus ihrer Vergangenheit verschwieg. Etwas, wofür sie sich selbst schämte. Aber Magnus? Ausgerechnet Magnus?
»Los, suchen wir weiter«, sagte Herr Berger, um ihn von der hässlichen Wahrheit abzulenken. Pfeiffer nickte stumm und verstaute das Foto in seiner Jackentasche. Er griff nach seinem Fedora, klopfte den Staub ab und setzte ihn wieder auf. Jetzt erst sah er die geladene Waffe des Unbekannten, die etwa eine Armlänge von ihm entfernt lag. Pfeiffer nahm sie an sich. Vielleicht würde er sie noch brauchen. Dann knüpfte er sich die Hosentaschen des Unbekannten vor. Er spürte etwas Metallisches. »Ein Schlüsselbund! Vielleicht passt einer der Schlüssel zu Marlenes Kellerverlies.« Auch ihn steckte er ein.
»Und hier, sein Handy«, sagte Berger. Er drückte auf die Seitentaste. »Natürlich passwortgeschützt.«
»Geben Sie mal her«, sagte Pfeiffer. Er hielt das Smartphone mit dem Display vor das Gesicht des Toten. So entsperrten seine Kolleg*Innen gewöhnlich ihre Smartphones. Ihre geliebte KI funktionierte offenbar auch bei Leichen. Anstelle des Sperrbildschirms erschien eine Straßenkarte. »Sieht so aus, als habe unser Freundchen zuletzt das Navi benutzt.«
»Und woher kam er? Vielleicht führt und das ja zu Marlene«, sagte Berger.
»Die letzte Route begann bei einer Adresse in der Moselstraße. Ich erinnere mich, dort befindet sich auch der Venustempel.«
»Dann nichts wie los«, sagte Berger und stand auf. In diesem Augenblick hörten sie ein Auto vorfahren. Drüben am Stahlzaun pulsierte Blaulicht.
»Verdammt, Ihre Frau hat die Polizei gerufen. Wir müssen hier sofort verschwinden.« Pfeiffer erhob sich trotz seiner Schmerzen. »Warum verschwinden?«, fragte Berger.
»Ich habe einen Mann erschossen, darum.«
»Aber es war doch Notwehr.«
»Bis ich die Polizei davon überzeug habe, ist Ihre Schwester vielleicht schon tot. Und vergessen Sie nicht, auch Sie haben Dreck am Stecken mit ihren dubiosen Busreisen.« Berger nickte. »Aber wie kommen wir unbemerkt zu Ihrem Wagen?«
Türen wurden zugeschlagen. Schritte und Stimmen näherten sich.
»Gar nicht«, flüsterte Pfeiffer. »Los, kommen Sie.« Er humpelte über die Gleise, Berger folgte ihm. »Sie sind ja verletzt«, sagte Berger.
»Pssst!« Pfeiffer warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu und hielt sich den Zeigefinger vor die Lippen. »Ist nur ein Streifschuss.« Sie liefen weiter eine Böschung hinunter bis zum Mainufer. Dort stand ein Motorrad auf einem Fußgängerweg. Über dem Lenker hing ein Helm. Christian Pfeiffer kramte hektisch den Schlüsselbund hervor und testete, ob der Zündschlüssel passte. »Bingo, das ist seine Maschine«, sagte er und stieg auf.
»Können Sie mit so einem Ding überhaupt fahren?«, fragte Berger.
»Das Ding ist eine Triumph Bonneville T140 und ja, ich kann damit fahren. Jetzt ziehen Sie verdammt nochmal den Helm über und steigen Sie mit auf.« Berger zögerte einen Moment und kletterte dann umständlich auf den Sattel.
»Erdrücken Sie mich bitte nicht. Und halten sie meinen Hut. Aber wehe, Sie lassen ihn unterwegs fallen.« Mit diesen Worten startete Christian Pfeiffer die Maschine und düste mit Berger davon. Diesmal nahmen sie die Schwanheimer Brücke in Richtung Innenstadt. Die Moselstraße befand sich mitten im Rotlichtviertel. Laut Navi war der letzte Standort des Unbekannten nicht der Venustempel, sondern ein unscheinbarer Altbau am anderen Ende der Straße. Hier gab es weniger bunte Neonlichter und Schilder mit Herzen oder Kussmündern. Sie parkten direkt gegenüber vor einem Kino, in dem höchstwahrscheinlich nicht die neuesten Blockbuster liefen. »Hereinspaziert, meine Herren«, sagte ein schmieriger Typ mit Achtzigerjahre-Schnauzbart. Die beiden versuchten ihn zu ignorieren und überquerten die schmale Straße. Neben der Eingangstür befand sich ein schlichtes Schild mit der Aufschrift Flagellantes Christi — Alternative Freikirche Frankfurt am Main.
»Jetzt wird mir einiges klar«, sagte Richard Berger. Pfeiffer sah ihn fragend an. »Marlene war hier Diakonisse, bevor sie sich entschied, Pastorin zu werden.«
»Und davon erzählen Sie mir erst jetzt?« Christian Pfeiffer steckte einen Schlüssel nach dem anderen ins Schloss der Eingangstür.
»Ist ja schon ewig her«, entgegnete Berger. »Sie hat diesem Verein den Rücken gekehrt, weil er ihr zu radikal wurde.«
Der letzte Schlüssel passte und die Tür öffnete sich. Als sie eintraten, ging Licht im Treppenhaus an. Sie erschraken, doch offenbar wurde es nur durch einen Bewegungsmelder ausgelöst. Drinnen war es still. Rechter Hand führte eine Treppe nach oben, geradeaus führte ein kurzer Flur zu einer Tür, auf der wieder der Name der Freikirche stand: Flagellantes Christi.
»Flagellantes — waren das nicht diese durchgeknallten Mönche, die sich im Mittelalter selbst ausgepeitscht haben?«
»Genau, auf deren Gedanken basiert diese Freikirche. Anfangs haben sie den Begriff Kasteiung bildlich interpretiert. Die Diakonissen konnten sich durch soziale Arbeit hier im Bahnhofsviertel von ihren Sünden reinwaschen.«
Pfeiffer drückte die Klinke. Die Tür war nicht versperrt. Sie führte in einen bestuhlten Saal mit Bühne. Die hintere Wand war bemalt mit Szenen aus der Passion Christi. Die Darstellungen waren sehr realistisch und für Kirchenkunst ungewöhnlich brutal.
»Später hat sich die Kirche radikalisiert«, fuhr Berger fort. Seine Stimme hallte in dem hohen Raum. »Ein gewisser Bruder Theophil hat die Lehren allzu wörtlich genommen. Er betrieb regelrechte Gehirnwäsche, brachte Obdachlose und Prostituierte dazu, der Kirche beizutreten. Dafür mussten sich die Ärmsten selbst Schmerzen zufügen. Daraufhin ist Marlene ausgetreten.«
»Dann war unser Unbekannter vielleicht dieser Bruder Theophil. Er hat ja auch Marlene vorgeworfen, sie habe aus Bequemlichkeit ihr Gelübde gebrochen.«
Berger nickte. »Wir sollten jetzt schleunigst nach ihr suchen.«
»Dort hinten ist eine weitere Tür, vielleicht führt sie in den Keller«, sagte Christian Pfeiffer und rannte los, so schnell es ihm seine Verletzung erlaubte. Die Hoffnung, Marlene befreien zu können, ließ ihn seine Schmerzen fast vergessen. Berger holte ihn ein, riss die Tür auf und stieg nach unten. Christian Pfeiffer folgte ihm die Stufen hinab bis zu einer Brandschutztür. „Raum der Buße“ war mit scharlachroter Farbe darauf gepinselt worden.
Christian Pfeiffer probierte erneut die Schlüssel durch. »Der hier passt«, sagte er und riss die Tür auf.
»Marlene!«, schrie Richard Berger, drängte sich an Pfeiffer vorbei und nahm seine Schwester in die Arme.

Zum ersten Mal seit Tagen drangen wieder Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke. Christian Pfeiffer stand mit einer Rose in der Hand an Marias Grab. Diesmal war er ohne seine Mutter hierher gekommen. Seine Wunde war fast verheilt, aber den Schmerz würde er wohl nie mehr vergessen. Maria Pfeiffer, geb. Weiß stand auf dem Grabstein. Nicht ihr richtiger bulgarischer Name, wie er nun dank Marlene wusste. Er hatte von ihr nur jene Seite gekannt, die sie selbst an sich gemocht hatte. Maria Mileva war vor zehn Jahren aus ihrer Heimatstadt Sofia nach Frankfurt verschleppt und im Venustempel zur Prostitution gezwungen worden. Konstantin Magnus war einer ihrer treuesten Freier gewesen. Außer ihm kannte nur Marlene ihre wahre Geschichte. Sie hatte Maria damals davor bewahrt, den Flagellantes beizutreten und damit vom Regen in die Traufe zu geraten. Pfeiffer sog die kalte Dezemberluft in seine Lungen. »Hättest du mir nur deine Sorgen anvertraut«, flüsterte er und küsste die Rose. Dann kniete er nieder und legte die Blume vor Marias Grabstein. Gerade, als er im Begriff war, wieder aufzustehen, fiel ihm am Fuße des Steins ein Diktiergerät ins Auge, eines jener Geräte, die in Zeiten von Smartphones ausgedient hatten. Christian Pfeiffer überkam wieder dieses ungute Gefühl, als er auf die Play-Taste drückte.
»Guten Tag, Herr Pfeiffer«, hörte er die Stimme, die ihm mittlerweile allzu vertraut war. »Sie haben noch eine Sache vergessen: töten Sie Konstantin Magnus. Sonst stirbt Ihre Mutter. Sie haben eine halbe Stunde Zeit.«
Sifaka (Katharina Schütz)

Richard Berger hielt die Pistole fest umklammert, während Pfeiffer den Unbekannten mit zusammengekniffenen Augen fixierte. Das rote Aufnahmelicht der Webcam blinkte wie ein mahnender Zeigefinger.

„Also, Herr Berger“, begann der Unbekannte, seine Stimme triefend vor Sarkasmus. „Das Spiel ist einfach: Eine Kugel, eine Wahrheit. Entweder geben Sie zu, was für ein skrupelloser Ausbeuter Sie sind, und richten sich selbst – oder wir lassen Ihre Schwester ersticken.“

„Hör nicht auf ihn, Richard“, grätschte Pfeiffer dazwischen. „Wir lassen uns nicht von jemandem einschüchtern, der zu feige ist, sein Gesicht zu zeigen.“

Einen erschreckend langen Moment wurde es still im Waggon. Dann trat der Fremde in den Lichtkegel des Baustrahlers. Sein Gesicht, zu einer spöttischen Miene verzogen, hatte nichts Besonderes an sich, aber trotzdem kam es Pfeiffer auf eigenartige Art und Weise bekannt vor. Wie eine längst verblasste Erinnerung … da erkannte er plötzlich die Ähnlichkeit.

„Mein Gott“, flüsterte er geschockt. „Klaus Töpfer …“

Der blonde Mann schnaubte verächtlich. „War mein Vater. Ganz recht. Er war todkrank, voller Schuld und ein Schwein. Es war einfach ihn dazu zu bringen, seinem Leben zum Schluss wenigstens noch ein bisschen Sinn zu verleihen.“

„Sinn?“, wiederholte Berger entsetzt. „Ihn sich vor meiner Haustür erschießen zu lassen, das nennen Sie Sinn? Ihren eigenen Vater?“

„Er war nicht mein Vater!“, fauchte der Fremde. „Höchstens mein Erzeuger. Und er war ein verdammtes Arschloch! Wollen Sie wissen, was er mit Ihren Bussen getan hat? Nein, natürlich wollen Sie das nicht. Aber Sie Herr Pfeiffer, Sie könnten das doch gewiss aufklären?“

Pfeiffer runzelte die Stirn. „Ich weiß nicht, was Sie …“

„Ist Ihnen bei der vereinbarten Uhrzeit nichts Merkwürdiges aufgefallen? Haben die Zahlen Sie nicht ein klein wenig stutzen lassen?“

Zu viele Gedanken rauschten durch seinen Geist, gepaart mit einem rasenden Herzschlag, der laut in seinen Ohren pochte. Er atmete tief durch, versuchte Klarheit in seinem Kopf zu schaffen, das Rätsel zu lösen. 20:05 Uhr, was könnte das … Hinter dem Fremden bewegte sich plötzlich etwas. Pfeiffer kniff die Augen zusammen. Der Strahler ließ die Umgebung außerhalb des Waggons beinahe schwarz wirken, doch … da! Jemand lief über die Gleise.

„Der 20. Mai war der Tag an dem ich meine Recherchen aufgenommen habe“, sagte er laut und klar, um von seiner Entdeckung abzulenken. „Der Tag an dem ich den ersten Hinweis auf den Prostitutionsring bekommen habe. Aber Klaus Töpfer kam darin nicht vor.“

Ein beinahe schon schmerzhafter Ausdruck huschte über das Gesicht des jungen Mannes und die Knöchel um den Lauf seiner Pistole zeichneten sich weiß unter der Haut ab. „Klaus Töpfer transportierte junge Frauen aus Osteuropa – Frauen, die von der Straße oder aus Heimen entführt wurden. Und Ihre Firma, Herr Berger, lieferte die Busse, die sie hierherbrachten. Zehntausend Euro pro Fahrt, ohne Fragen zu stellen. Jahrelang hatte er keinerlei Probleme damit, hunderte Leben zu zerstören. Bis er krank wurde. Und sein Gewissen entdeckt hat.“ Er spie das Wort so verächtlich aus, dass Pfeiffer es halb ausgespuckt auf dem Boden erwartete. Der Unbekannte fuhr fort. „Er konnte das nicht mehr ertragen. Also stellten seine Bosse sicher, dass er auch weiterhin spuren würde. Und entführten meine Schwester.“

Pfeiffer spürte wie ihm sämtliches Blut aus den Wangen wich. Berger erbleichte genauso. Hass funkelte in den Augen des Fremden.

„Warum sind Sie damit nicht zu mir gekommen? Wenn Sie wussten, dass ich da dran bin, warum haben Sie …“, fragte Pfeiffer mit zitternder Stimme.

„Weil Sie aufgegeben haben, Sie verdammtes Schwein“, brüllte der Blonde und fuchtelte wild mit seiner Pistole herum. „Und was glauben Sie, warum Sie schweigen sollten? Warum nichts davon an die Öffentlichkeit dringen sollte? Was glauben Sie wohl, wer dahinter steckt?“

Die Puzzleteile in seinem Kopf rutschten an die richtige Stelle und das Herz sank ihm in die Hose. „Magnus …“, flüsterte er und der Fremde nickte. Der Schock fuhr tief in seine Knochen, ließ ihn aufkeuchen. „Das … kann doch alles nicht wahr sein“, presste Pfeiffer hervor. „Und Maria? Was hat sie mit allem zu tun? Wie konnten Sie sie dazu bringen, sich zu erschießen? Und warum Marlene?“

Der Schemen vor dem Waggon gab ihm ein eindeutiges Zeichen.

„Sachte, sachte, alles zu seiner Zeit“, antwortete der Fremde und wandte sich nun wieder an Berger, achtete nicht auf mögliche Dinge in seinem Rücken. „Mit jeder Sekunde, die hier verstreicht, ist ihre Schwester dem Tod ein Stückchen näher. Entscheiden Sie sich jetzt, Herr Berger, oder sie erstickt.“

Berger taumelte zurück, die Pistole wankte in seiner Hand. „Ich … ich wusste das nicht … Ich bitte Sie …“

„Für Entschuldigungen ist es zu spät“, zischte er und hob seine eigene Pistole. Pfeiffer sah sich fieberhaft nach etwas um, womit er seinen Gegner ablenken konnte. Doch der Waggon war leer, das einzige was ihm blieb waren die Dokumente in seiner Hand.

„Warum tun Sie das?“, rief er, um von Berger abzulenken, der immer mehr die Nerven zu verlieren schien. „Sie wollen Ihre Schwester retten, das verstehen wir, aber aus Rache die Schwester eines Anderen zu entführen wird Sie da doch nicht weiterbringen!“

„Marlene wusste Bescheid“, knurrte der Fremde und verschlug Pfeiffer damit die Sprache. Berger keuchte auf. „Was? Was reden Sie da?“, verlangte er zu wissen und mittlerweile schien er sich an der Pistole in seinen Händen eher festzuhalten, als sich dagegen zu wehren.

Ein genüssliches Grinsen erschien auf dem Gesicht ihres Gegners. „Ihr kapitalistisches Pack. Alle gleich. Oh ja, sie wusste Bescheid. Mein Erzeuger hat ihr alles gestanden, in der Hoffnung auf Hilfe, auf Erlösung. Und was tat sie? Nichts. Rein gar nichts. Und dafür wird sie jetzt bezahlen.“

Er hob die Pistole und in dem Moment warf Pfeiffer den ganzen Stapel Papier in die Luft, die Dokumente wirbelten wild umher, der Fremde schrie auf und Pfeiffer warf Berger mit einem kräftigen Stoß auf die Seite. Ein explosionsartiger Krach ertönte in dem Wagen, Schreie, Schritte, ein Schuss, der sein Trommelfell zerriss. Ein schmerzhafter Stich drang durch seinen Kopf und er stöhnte auf. Als er die Augen wieder öffnete hatten die Papiere sich gelegt und vor ihm standen drei Männer in schwarzen Uniformen, die Klaus Töpfers Sohn verschränkten Armen auf dem Boden des Waggons festhielten. Er fluchte und wand sich wild, doch seine Bewegungen wurde immer schwächer. Pfeiffer sah das Blut, das seine Schulter entlang lief und sich unter ihm in einer kleinen Lache ausbreitete.

„Aber … Marlene …“, wimmerte Berger und Pfeiffer rappelte sich auf, um ihm die Hand zu reichen.

„Richard! Richard!“, tönte eine Stimme von draußen und Dorothea erschien mit bleichem Gesicht und wild zerzaustem Haar vor dem Waggon, jetzt erkannte Pfeiffer auch die anderen Polizisten und drei Sanitäter, die mit Dorothea Berger angekommen waren. Richard Berger stürzte auf seine Frau zu und die Sanitäter kletterten in den Waggon um den Unbekannten zu verarzten.

„Warten Sie einen Moment“, hörte Pfeiffer sich selbst sagen und kniete sich wie auf Autopilot neben den Fremden, der ihn mit hasserfülltem Blick ansah. Doch mittlerweile erkannte der Journalist hauptsächlich Verzweiflung darin.

„Warum Maria?“, flüsterte er mit rauer Stimme. „Was hat sie getan?“ Er hatte furchtbare Angst vor der Antwort, doch er brauchte sie. Er musste die Wahrheit wissen. Der Blonde hustete, dann verwandelte sich sein Mund in ein irres Grinsen. „Gar nichts. Ich habe ihr einfach nur gesagt, dass ich dich umbringen werde, wenn sie sich nicht das Hirn wegpustet. Sie war völlig unschuldig. Aber du solltest bezahlen. Bezahlen für deine Feigheit. Du warst so kurz davor, meine Schwester zu retten. Sie und so viele andere.“

Seine Worte waren wie heiße Bleikugeln, die Pfeiffer durchsiebten, ihn bluten ließen. Sein erster Impuls war, sich auf ihn zu stürzen, doch da legte sich ein kräftiger Arm um seine Brust und zog ihn auf die Beine.

Ein Sanitäter untersuchte ihn, Polizisten befragten ihn. Die Bergers klagten über Marlenes Verschwinden. Sirenen ertönten. Wörter prasselten auf ihn ein, doch er hörte nichts. Der Fremde wurde weggebracht. Kurz bevor er aus Pfeiffers Sichtfeld verschwand drehte er sich nochmal um und sagte ruhig:

„Sie sind dran.“