Pfeiffer trat einen Schritt zur Seite, sodass der Baustrahler ihn nicht länger blendete. War er eben noch von rasendem Zorn und Kummer über den Tod von Maria beherrscht gewesen, meldete sich jetzt sein Journalisten-Instinkt zu Wort. Eine Situation ließ sich nur beschreiben, in Worte fassen und bewältigen, wenn sie verstanden wurde, wozu es der richtigen Fragen bedurfte. Er konnte nicht seiner Wut die Kontrolle überlassen, sondern musste die Umstände analysieren, begreifen, beherrschen.
Wer war der Mann vor ihnen, worin lag seine Motivation? Offensichtlich hielt er sich für einen Rächer, der einem bestimmten Kodex folgte. Worin aber lagen seine tieferen Beweggründe? Es musste in Hinblick darauf eine persönliche Verbindung geben, die Pfeiffer bis jetzt nicht durchschaute.
„Kommen Sie nicht auf dumme Gedanken. Sie bleiben, wo Sie sind oder unser kleines Geschäft ist beendet, bevor es überhaupt begonnen hat. Wenn Gott nicht richtet, dann eben der Mensch“, sagte der Mann und hob eine Hand, als ziele er mit einer Waffe auf ihn.
„Wen wollen Sie rächen?“, fragte Pfeiffer betont besänftigend. Er musste Vertrauen aufbauen, nur dann würde er Antworten erhalten.
Der Mann erstarrte und auch wenn Pfeiffer nur die Umrisse seines Gegenübers sah, meinte er zu bemerken, wie die Schultern sich im nächsten Moment senkten, der Körper an Spannung verlor.
„Für Fragen ist es zu spät. Sie nehmen Berger auf, wenn er sich erschießt und laden das Video hoch. Das ist Ihre Sühne.“
Die Stimmlage des Mannes ließ keine Zweifel, Pfeiffer hatte die richtigen Knöpfe gedrückt, die richtige Frage gestellt. Er musste weitergehen, der Ereigniskette, welche in der Vergangenheit begann und bis zu diesem Punkt führte, folgen.
„Sie kannten eine der Frauen, welche mit Bergers Bussen nach Frankfurt gebracht und dann in einem der Bordelle arbeiten musste. Liege ich damit richtig?“ Pfeiffer klang nun, als rede er mit sich selbst, um sich seiner unvollendeten Gedanken zu vergegenwärtigen. Er rief sich in Erinnerung, was er im Rahmen seiner Recherche über den bulgarischen Menschenhändlerring in Erfahrung gebracht hatte. Seinerzeit hatte er Interviews mit mehreren Prostituierten geführt, bevor sein Chefredakteur ihm die Zügel angelegt und einen Maulkorb verpasst hatte. Eine Frau hatte ihn besonders beeindruckt …
„Wen ich kannte, spielt keine Rolle“, erwiderte der Mann. „Berger muss entscheiden, was er tut, ob er die Verantwortung für sein Handeln übernimmt oder seine geliebte Schwester sterben lässt. Seine Wahl.“
Schwester!
Pfeiffer fühlte sich, als habe das Wort ihm einen Stromschlag versetzt. Der Mann vor ihnen war vielleicht ein Psychopath, aber er folgte seiner eigenen makaberen Logik. Auge um Auge, Zahn um Zahn!
„Sie haben eine Narbe am Oberbauch!“, rief Pfeiffer von plötzlicher Erregung ergriffen.
Der Mann erstarrte, machte dann einen Schritt nach vorne. Sein Gesicht blieb von Schatten umhüllt, seine Augen aber schimmerten in der Dunkelheit.
„Woher wissen Sie das?“
„Nierentransplantation! Sie haben eine neue Niere bekommen, die Ihre Schwester, Dara Petrova, gespendet hat. Sie sind Stojan Petrov, ehemaliger Soldat, der für Georgi Todorov, einen bekannten Menschenhändler, als Sicherheitsmann hier in Deutschland gearbeitet hat, bis sie krank wurden.“ Es war ein Schuss ins Blaue, nicht mehr als eine begründete Vermutung.
„Sie können das nicht wissen …“ Die Stimme des Mannes hatte jede Kraft verloren, war nur noch ein vibrierender Faden, der jeden Moment reißen konnte.
„Ich weiß es, weil ich lange genug über die Geschäfte von Todorov recherchiert und mehr als einmal mit Ihrer Schwester gesprochen habe. Ich weiß, dass man ihr und den anderen Frauen die Ausweise abgenommen und sie damit erpresst hat, man werde ihren Angehörigen etwas antun, wenn sie nicht weiter gefügig seien. Ich kenne diese Geschichte nur allzu gut, aber vor allem kenne ich Dara Petrova, weil sie meine Hauptquelle war, bis mir mein Redakteur verboten hat, die Story weiterzuverfolgen.“
„Was spielt das für eine Rolle? Denken Sie, ich verzeihe Ihnen, weil Sie meine Schwester kannten?“ Der Mann sprach laut, aber seine Tonlage war brüchig, ein trockener Ast, der unter dem Gewicht der Vergangenheit zerbarst.
Vielleicht war es angesichts der Situation unpassend, eine Woge aus Euphorie zu verspüren, aber Pfeiffer konnte nicht anders. Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen. Schreckliches geschah nie zufällig, immer existierte eine Geschichte, Verknüpfungen, die sich auf düstere Weise zusammenfügten und das Böse formten.
„Sie müssen mir nicht verzeihen. Wenn hier jemand Vergebung benötigt, dann sind Sie es für das, was Sie Maria und Klaus Töpfer angetan haben. Ihre Schwester ist nach Deutschland gekommen, um Geld für Ihre Behandlung zu verdienen. Sie hat Ihnen eine Niere gespendet, aber es gab Komplikationen, also hat sie einen Job bei Todorov angenommen. Immer wenn ich mit ihr gesprochen habe, hat sie betont, dass sie das alles für ihre Familie tut, am meisten für Sie.“
Es war, als verfestigten sich die Schatten im Gesicht des Mannes zu einer zähen Melange aus Schmerz und Trauer. „Dara war ein Engel, ein Licht, das so hell gebrannt hat wie kein anderes. Und jetzt ist sie tot, wegen Leuten, die sich an ihrem Schicksal bereichert haben. Wenn Sie ihre Geschichte kennen, wissen Sie, warum meine Rache gerecht ist. Todorov, dieses Schwein, habe ich bereits vor einigen Monaten bestraft. Ich wollte, dass er mir meine Schwester zurückgibt, aber er hat gesagt, sie sei an einer Erkrankung gestorben, er könne nichts für mich tun. Also musste ich ihn töten.“
Pfeiffer schüttelte den Kopf, während der bittere Beigeschmack der Erkenntnis ihm wie Säure in den Magen fuhr. „Lügen, Sie sind einer Lüge aufgesessen und so zum Mörder geworden! Sie haben sich angemaßt, über andere zu richten und sind in Wahrheit der eigentlich Schuldige.“
Petrov machte einen weiteren Schritt nach vorn. Zum ersten Mal konnte Pfeiffer das Gesicht des Mannes in Gänze sehen. Er blickte in die gleichen katzengrünen Augen, mit denen auch Dara ihn während ihrer Gespräche angesehen hatte. Hinter ihm gab Berger plötzlich einen erstickten Schrei von sich, als fürchte der Reiseunternehmer, die Situation würde im nächsten Moment eskalieren.
Pfeiffers Gefühl sagte ihm etwas anderes.
„Was erzählen Sie da? Dara ist hier gestorben. Ich habe Todorov die Pistole an den Kopf gehalten und ihm gesagt, ich würde ihn erschießen, wenn er mir meine Schwester nicht zurückbringt.“
„Das konnte er nicht.“
Der Mann sah ihn völlig verwirrt an. Mein Gott, wie jung Petrov doch war. Wenn Pfeiffer sich richtig an die Gespräche mit Dara erinnerte, musste ihr Bruder nur zwei Jahre älter als sie sein. Kaum Mitte zwanzig.
„Dara ist in Hamburg. Sie arbeitet bei einem Freund von mir in der Gebäudereinigung. Ich habe ihr geholfen, sich dorthin abzusetzen. Ich habe gute Kontakte in die Frankfurter Szene. Man bekommt leicht die notwendigen Papiere, um ein neues Leben anzufangen. Ich habe Dara gesagt, sie dürfte vorerst keinen Kontakt zu ihrer Familie aufnehmen, weil dann die Gefahr bestände, dass Todorov sie doch wieder in die Finger bekommt. Es war ihm also nicht möglich, Ihnen Daras Standort zu verraten, weil er ihn schlichtweg nicht kannte. Also hat er sich für die Lüge entschieden, Ihre Schwester sei tot. Verhängnisvoll für alle Beteiligten.“
„Das kann nicht sein …“ Petrov schüttelte den Kopf, atmete stoßweise durch die Nase und erinnerte dabei an ein wütendes Tier, das jeden Moment angreifen würde.
„Das kann es sehr wohl. Ich beweise es Ihnen.“ Langsam, um Petrov nicht unnötig zu provozieren, zog er sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke, legte seinen Daumen auf den Sensor-Bereich. Er war alles andere als ein Nerd. Weil er nicht schnell genug einen Artikel hatte online stellen können, war Maria gestorben. Etwas Vergleichbares würde ihm heute nicht passieren.
„Hier!“ Er hielt Petrov das Display hin. Eine junge Frau lächelte darauf.
„Mir geht es gut. Ich bin gut angekommen. Arbeit ist gut, Wohnung schön. Danke, danke, tausendmal danke, Herr Pfeiffer. Sie haben mir so viel geholfen“, sagte die Frau und winkte zur Verabschiedung.
„Dara lebt“, fügte Pfeiffer hinzu, auch wenn das eine unnötige Anmerkung war.
Petrov stand mit bebenden Schultern keine zwei Meter entfernt. Sein Blick war weder auf Berger noch auf ihn gerichtet.
„Ich …“, stammelte er, dann versagte ihm die Stimme.
„Es ist an Ihnen, jetzt das Richtige zu tun. Geben Sie uns die Adresse, wo Sie Marlene versteckt haben.“
Die Worte waren leise, aber verständlich. „Spessartstraße 3a, Maintal, im Keller hinter einer Feuerschutztür.“ Petrov griff, während er sprach in seine Jackentasche. Pfeiffer zuckte zusammen. Der Mann zog eine schwarzglänzende Pistole hervor, hob sie und zielte auf seine eigene Schläfe.
„Tun Sie das nicht!“, schrie Pfeiffer im Affekt.
Petrov stand vor ihnen, das Gesicht eine Maske aus Schmerz und Verwirrung.
„Ihre Schwester will Sie wiedersehen. Ihr Tod ist so sinnlos wie der von Maria und Töpfer. Es sind genug Menschen wegen dieses Wahnsinns gestorben.“
Petrov runzelte die Stirn, betrachtete ihn fast flehend. Etwas in seinen Zügen ließ erahnen, dass er an Pfeiffers Worte glauben wollte, so schwer es auch fiel. Langsam, zögerlich ließ er die Hand sinken, im gleichen Moment zerriss ein Schuss die Stille.
Petrov betrachtete fassungslos sein Revers. Ein roter Fleck erblühte auf dem Stoff seiner Jacke. Den Bruchteil einer Sekunde später sackte der junge Mann zu Boden und blieb regungslos liegen.
Pfeiffer fuhr herum, sah Berger, der wie versteinert mit der Waffe in jene Richtung zielte, wo Petrov eben noch gestanden hatte.
„Verdammt, warum haben Sie auf ihn geschossen?“
„Er … ich dachte, er würde auf uns schießen! Außerdem war er doch schuldig. Er hat getötet!“
„Schuldig?“ Pfeiffer hustete verächtlich, bevor er mit belegter Stimme und gesenktem Haupt weitersprach. „Wer unter uns ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“