Offene Enden Teil 4: Schreib Teil 5 – Finale

Castelnaudary
Castelnaudary hatte nach der Adresse gefragt, gesagt, er werde sich darum kümmern und dann aufgelegt. Charles Castelnaudary, um genau zu sein, denn die Castelnaudarys waren ein Familienclan, eine mächtige Organisation.

Dorothea Berger war alleine zurückgeblieben im Haus. Richard hatte den Kopf verloren, war ausgerastet und überhastet mit diesem Pfeiffer weggefahren. Seine Schwester in Gefahr, das liess ihn alle Vorsichtsmassnahmen ausser Acht lassen, rationale Überlegungen missachten. Er sah seine Schwester bedroht und würde alles tun, die Gefahr von ihr abzuwenden. Dabei wusste er doch, genauso gut wie sie, was da eigentlich ablief.

Die Sektierer waren zu weit gegangen! Das war klar. Aber auch nur weil man sie hatte gewähren lassen.
Castelnaudarys Arroganz und Überheblichkeit, nicht zum ersten Mal! Dorothea persönlich hatte ihn informiert, von Anfang an. Schon als Töpfer 10’000 Euro anbot für die Busfahrten von Sofia nach Frankfurt. Er tat das, wie naiv, per E-Mail und zeigte damit, dass er keine Ahnung hatte. Wer benutzt für sowas E-Mail. Zwar hatte er einen Vertrauten vorgeschickt, aber das machte die Sache nicht besser. Sie kannten Töpfer nicht, wussten nichts von seiner Existenz, hatten ihn noch nie gesehen. Jedenfalls hatte er nicht bedacht, oder nicht gewusst, dass er Castelnaudary ins Gehege kam.
Der gab, wie es halt so seine Art war, die Anweisung, auf Töpfers Angebot einzugehen, damit er an ihm ein Exempel statuieren könne, das Kleinkriminelle und Möchtegern Gangster in Zukunft davon abhielte, ihnen eine Warnung war, sich in Castelnaudarys Geschäfte einzumischen.
Sie, die Bergers, hatten sich nichts weiter dabei gedacht, nahmen die 10’000 Euro. Castelnaudary verzichtete darauf, obwohl er sonst sehr kleinlich war, was ihre Einnahmen und Nebeneinkünfte betraf.

Dann erschien dieser Sektenbruder vor ihrem Haus. Dass das Töpfer war, der da 10’000 Euro verlangte und sich dann erschoss, wussten sie nicht, ahnten es nicht einmal. Der Sekteler ging wahrscheinlich davon aus, dass sie ihn kannten und die 10’000 Euro herausrücken würden. Wieso sich Töpfer dann erschoss, blieb ein Rätsel. Ausgerechnet an einem Sonntagmorgen musste das passieren, als sie eine Ladung Meth zur Kirche bringen wollten.
Sie informierten Castelnaudary, dass sie heute keinen Kuchen bringen würden, jemand hätte sich vor ihrem Haus erschossen. Dieser meinte jedoch nur, er habe alles unter Kontrolle. Er informierte seine Leute ja nie, gab keine Hintergrundinformationen.

Die Szene von Töpfers Selbstmord, die im Netz zirkulierte, und dass sich diese Maria erschoss, eine Freundin von Marlene, wie sich später herausstellte, war unangenehm und nicht gut fürs Geschäft.
Castelnaudary meinte da aber nur „Dieser Pfeiffer, der Journalist, Marias Witwer, der muss weg.“
Und plötzlich sass dieser Pfeiffer bei Ihnen im Wohnzimmer. Dorothea wollte schon diskret Castelnaudary benachrichtigen, als es an der Haustüre klingelte, und die Ereignisse begannen sich zu überschlagen, ausser Kontrolle gerieten.
Richard war einfach zu emotional, wenn es darum ging kühlen Kopf zu bewahren.
Da war Charles Castelnaudary ein ganz anderer Mensch, ruhig, fast zu ruhig, eher abwartend, umsichtig und immer zur Stelle, wenn es erforderlich war. Und das war es jetzt!
Marlene, Richards Schwester, war Charles Vertraute, seine Klagemauer. Aber sie war nicht seine Geliebte. Ihr Verhältnis hatte eine ganz andere Dimension, war eher mütterlicher Art. Marlene kannte Charles Sorgen und Nöte, beriet ihn und wusste über seine Geschäfte und Machenschaften Bescheid. Er würde Marlene befreien, da war sich Dorothea sicher.
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Ein paar Kilometer nördlich spitzte sich die Lage im Güterwagen zu.
„Ich kann das nicht mitansehen“, sagte Pfeiffer, „mir ist schlecht.“ Er sackte zu Boden.
„Mir egal, wie du dich fühlst“, sagte die ihm bekannte Stimme.
„Woher weiss ich überhaupt, dass Sie Marlene freilassen werden. Vielleicht lebt sie ja schon gar nicht mehr. Ich brauche einen Beweis, dass sie noch lebt.“
„Gar nichts brauchst du, weder einen Beweis noch etwas zu wissen. Mach einfach, was ich dir sage. Wenn nicht, wird sie sterben, quallvoll. Also Berger, wie stehts? Sagst du uns jetzt dein Sprüchlein.“

„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger…“, begann Berger. Er zögerte, fuhr dann fort: „… wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich…“
Unvermittelt änderte die Situation!
Die Schiebetüre auf der anderen Seite als der, durch die sie eingetreten waren, knarzte, bewegte sich, dann ein Ratschen, und die Tür war offen. Ein Mann sprang herein, war kurz sichtbar.
„Castelnaudary“, hörte Pfeiffer Berger überrascht rufen.
Der Mann, von dem sie nur die Stimme kannten, verschwand durch die Öffnung, vom Mann weggezerrt, der eben hereingesprungen war. Ein Schuss löschte das Licht und liess alle im Dunkeln.

Als Pfeiffer den Namen Castelnaudary hörte, verschwand seine Unpässlichkeit. Seine Gedanken flitzten durch die Gehirnwindungen. Der Name war ihm bekannt. Kein Mann, mit dem zu spassen war. Am besten für ihn, gleich zu verschwinden. Er rollte auf die andere Öffnung zu, diejenige durch die sie eingetreten waren, und liess sich nach draussen fallen. Er rannte weg. Das Handy hatte er noch. Er wählte die Nummer der Polizei.

„He Charles“, rief Berger in die Dunkelheit in die Richtung aus der Castelnaudary aufgetaucht und gleich wieder, zusammen mit dem Sekteler, verschwunden war.
„Komm runter“, hörte er Castelnaudary sagen. „Ist Pfeiffer bei dir?“
„Ich glaube, der ist abgehauen“, sagte Berger.
„Den schnappen wir uns später“, sagte Castelnaudary. „Erst verrät uns der hier wo Marlene ist. Aber besser wir verschwinden. Antonio wartet im Wagen um die Ecke. Lass uns die Kamera mit den Aufnahmen und das ganze Zeugs mitnehmen.“

Als die Spezialeinheiten der Polizei eintrafen, fanden sie einen leeren Güterwagen und einen zerschossenen Scheinwerfer.

Pfeiffers schilderte gegenüber der Polizei die Geschehnisse, bevor Castelnaudary erschien und das Licht ausmachte.
Er habe später, nachdem er die Polizei verständigt hatte, lediglich gesehen wie vier
Männer einen fünften wegtrugen, in eine dunklen Van stiegen und davonfuhren.

Am nächsten Tag, zeitig am Morgen, klingelte Inspektor von Wydenbach an Bergers Haustüre. Vergeblich, wie er erwartet hatte. Er ordnete die Überwachung des Hauses an, wusste, dass diese im Sande verlaufen würde. Nicht das erste Mal war ihm Castelnaudary und seine Entourage entwischt. Immerhin konnte ihm ein empfindlicher Verlust beigefügt werden, eine Niederlage gar. Nicht zuletzt dank Pfeiffers Recherchearbeit, konnten einige der hochrangigen Hintermänner aufgedeckt werden. Dass Konstantin Magnus, Pfeiffers Chef beim Frankfurter Generalanzeiger, ihn hinderte, ja es ihm verbot, weiter zu recherchieren, führte schliesslich zur Aufdeckung und Entlarvung von Castelnaudarys Netzwerk und seinen Tätigkeiten.
Das Netzwerk war zerschlagen, von denen ging keine Gefahr mehr aus, aber Castelnaudary und seine Leute blieben verschwunden, waren abgetaucht.

Pfeiffer kontaktierte später Freunde von Marlene, die ja auch mit Maria befreundet gewesen war und fand heraus, dass diese lebte, also rechtzeitig befreit worden war.
Vom Mann mit der Stimme auf dem Tonband allerdings, fehlte jede Spur. Niemand kannte ihn, niemand vermisste ihn.

Christian Pfeiffer starrte die Szenerie vor sich an. Ja, er war Journalist, aber das hier überstieg alles, was er bis jetzt in seinem Journalistenleben durchlebt hatte. Das rote Licht der Webcam leuchtet.
“Ich muss es wissen. Maria war nicht so. Ihre Mitmenschen waren ihr nicht gleichgültig.” Es war ein Versuch. Das machten die Helden in den Fernsehkrimis doch immer so, sie versuchten den Täter in ein Gespräch zu verwickeln, um Zeit zu bekommen. Zeit, die so kostbar war, dass er dies erst begriffen hatte, als er mit ansehen musste, wie Maria zu Boden gesackt war auf der Straße am Europapark. Bei dem Gedanken an Maria brannten seine Augen. Nein, sie würde nie wieder zurückkommen.
“Wollen sie etwas Zeit schinden, Christian Pfeiffer?” Der Mann mit der Pistole lächelte ihn selbstsicher an. “Sie wissen, dass das alles von der Zeit abgeht, die Marlene Romeo in dem Keller hat. Ich hatte doch erwähnt, dass er luftdicht verschlossen ist. Und ich glaube, sie sind hier jetzt gerade nicht der Akteur. Erst muss sich Richard Berger entscheiden.” Christian Pfeiffers Gehirn arbeitete auf Hochtouren. “Ich kann Ihnen helfen. Ich nehme die Recherche zu dem Venustempel wieder auf. Durch mich können Sie das Unrecht, was dort passiert, publik machen.”
Christian Pfeiffer war inzwischen klar, dass er nicht zulassen könnte, dass Richard Berger sich vor seinen Augen umbrachte. Ob Marlene Romeo überhaupt noch lebte, war nicht gewiss. Der Mann hatte sie in der Hand und er musste ihm etwas anderes anbieten.
Der Angreifer wandte sich jetzt Christian Pfeiffer zu. Das Lächeln war aus seinem Gesicht verschwunden. “Damals hätten sie dies tuen können. Heute können sie nur noch Videos hochladen. Das tun nunmal Online Redakteure.” Christian Pfeiffer spürte heiße Wut. Er hatte damals klein beigegeben, als Magnus ihm gesagt hatte, dass er die Recherchen sein lassen soll.
Er sprang nach vorne und riss dem verdutzten Richard Berger die Waffe aus der Hand. Er hielt den kalten Lauf an seine Schläfe. Der Angreifer starrte ihn an. Christian Pfeiffer hatte nichts zu verlieren und es war wichtig, dass er dem Angreifer dies klar machte. “Ich habe meine gesamten Recherchen von damals noch. Ich sehe jetzt den Zusammenhang mit dem Berger Reiseunternehmen und dem Venustempel. Jetzt ergeben Dinge einen Sinn. Das ist das Puzzleteil, das mir fehlte. Sie wollen Gerechtigkeit? Das ist es doch, oder?” Christian Pfeiffer legte alles auf eine Waagschale. Wenn der Angreifer darauf nicht einging, dann hatte er nichts mehr.
Die Sekunden vergingen quälend langsam. Das rote Licht der Webcam leuchtete unaufhörlich. “Es ist dafür zu spät, Christian Pfeiffer. Sie werden nie etwas anderes sein, als ein Online-Redakteur." sagte der Angreifer.
Die Hände von Christian Pfeiffer wurden zittrig. Er hielt sich den Lauf einer Pistole an den Kopf. Und wenn er dem Angreifer glaubte und er hatte keinen Grund, warum er das nicht tun sollte, war dort genau eine Kugel. Was änderte es, wenn er sich jetzt erschoss? Er warf Richard Berger einen Blick zu, der bleich immer noch auf der Stelle stand. Jetzt hörte er ein Lachen. Tränen stiegen in seine Augen. Er schloss sie und fühlte den Abzug.
“Stopp!” Er blinzelte. Er brauchte einen Moment, bis er die Stimme zuordnen konnte. “Warum bist du hier? Ich habe alles im Griff. Das Video wird gleich hochgeladen.” Wut schwang im Tonfall des Angreifers mit.
Christian Pfeiffer öffnete seine Augen. In dem alten Bahncontainer stand Marlene. Keine zerzausten Haare. Sie sah ganz normal aus, als wäre sie zufällig vorbeigekommen. Marlene sah von Christian Pfeiffer zu Richard Berger. “Was machst du hier, Marlene? Geht es dir gut?” Richard Berger hatte als erstes seine Stimme wiedergefunden.
Christian Pfeiffer fühlte die Waffe in seiner Hand. Wie ein Raubtier lauerte sie kalt. Es gab nur eine Wahl. Er hatte sie ihm genommen. Es gab keinen Grund mehr, warum er es nicht tat. Für Maria. Er hielt die Waffe vor seinem Körper, zielte auf den Angreifer und drückte ab.
Die Wucht des Schusses riss ihn nach hinten. Seine Ohren klingelten. Als er aufsah, konnte er einen Blick auf Marlene erhaschen, die den Bahncontainer verließ. Ihre Blicke trafen sich und das, was er dort sah, ließ ihn erschaudern.

„Bin ich zu früh?“ tönte plötzlich vom Eingang des Güterwaggons eine Männerstimme. Ein stämmiger Mann zwängte sich durch die halbgeöffnete Schiebetür und stolperte ins Scheinwerferlicht. Augenblicklich wandte sich der Unbekannte dem Ankömmling zu. "Sie stören, Mann! Sie sind erst um neun dran.“
Pfeiffer zuckte zusammen, als er den Mann erkannte. Das war doch … „Magnus, was wollen Sie denn hier?“ In Pfeiffers Kopf wirbelten die Gedankenfetzen durcheinander. Venustempel, Menschenhandel, Prostitution und sein Chef, der ihm die Recherche verboten hatte. War Magnus Mittäter bei diesem perfiden Spiel oder hatte auch er einen Stick und ein Schreiben erhalten und sollte er wie Töpfer und Berger durch Selbstbestrafung sterben? Wenn er „dran“ sein sollte, dann traf wohl letzteres zu.
Der Unbekannte wedelte mit der freien Hand in Richtung Magnus und versuchte, ihn mit einem strengen „Gehen Sie da rüber und verhalten Sie sich ruhig!“ in die gegenüberliegende Ecke des Waggons zu dirigieren. Aber so geht man nicht mit einem Konstantin Magnus um! Er stürmte auf den Unbekannten zu, packte ihn mit beiden Händen am Revers und brüllte ihn an: „Sie sagen mir jetzt augenblicklich, wo Marlene ist!“ Ungerührt drückte der Unbekannte Magnus die Pistole in die Magengrube, während er grinsend versuchte, dessen Hand von seinem Revers abzustreifen. Mit dem Kinn deutete er in die Ecke. „Da rüber, ich sag’s nicht nochmal! Und Klappe halten!“ Für Sekundenbruchteile fiel das Licht auf sein Gesicht.
So viel Courage hätte Pfeiffer seinem Chef nicht zugetraut. Ja, seine Untergebenen zusammenfalten, das konnte der gut, so wie bei seiner Versetzung in die Online-Radaktion vor einem halben Jahr. Aber sich einem Bewaffneten entgegenstellen, das war doch eine andere Nummer. Und dieses Gesicht, das er kurz gesehen hatte, woher kannte er das nur?
Plötzlich fügten sich Pfeiffers Gedankenfetzen zu einem Bild zusammen. „Ich weiß, woher ich Sie kenne“, rief er aus und zeigte auf den Unbekannten. „Sie sind Mike Schwarz, Sicherheitschef vom Venustempel. Das habe ich noch recherchiert, bevor ich nicht mehr durfte. Klar, Sie wollen den Laden übernehmen, und Töpfer und Berger sind Ihnen im Weg.“
„Ach nee, sind Sie sicher?“, sagte der Mann hinter der Lampe. „Aber sagen Sie’s nicht weiter.“ Er schwenkte das Licht auf Berger.
Zitternd redete Pfeiffer weiter. „Sie müssten uns alle drei erschießen, denn jeder von uns weiß es jetzt. Sagten Sie nicht, das wäre nicht ihr Stil?“
„Haben Sie nicht zugehört, Pfeiffer? Menschen in die Luft jagen ist nicht mein Stil. Von Schießen war nicht die Rede. Und wenn der andere eine Waffe hat, dann ist es Notwehr.“
Inzwischen hatte sich Magnus lautlos an Schwarz herangeschlichen und bereit gemacht, ihm die Waffe aus der Hand zu schlagen. Ein Schuss hallte durch den Waggon, die Lampe fiel zu Boden. Vor Bergers Füßen schlug Metall auf Metall. Gerade noch mal gutgegangen. Magnus stürzte sich auf Schwarz und warf ihn auf den staubigen Boden des Waggons. Pfeiffer sprang herbei und half, Schwarz zu entwaffnen. Gemeinsam zerrten sie den Mann hoch und hielten ihn eisern fest.
„Jetzt sagen Sie endlich, wo Marlene ist!“
„Oder?“ Schwarz grinste immer noch überheblich.
„Wir lassen Sie hier schmoren, bis Sie …“ Schwarz werden, wollte Pfeiffer hinzufügen, wurde sich aber der Ironie bewusst, die in diesem Satz lag.
„Marlene retten Sie damit nicht, ich sag’s nämlich nicht.“
„Das werden wir sehen“, sagte Pfeiffer. „Berger, Ihr Gürtel! Wir müssen ihn fesseln.“
Langsam kam Berger näher. Er starrte ungläubig auf die Pistole, die er immer noch in der Hand hielt und mit der er nicht geschossen hatte. Ehe Berger zu seinem Gürtel greifen konnte, befreite Schwarz sich mit einer heftigen Bewegung aus dem Griff der beiden Männer und entriss Berger die Pistole. Blitzschnell steckte er sie sich in den Mund und drückte ab. Die drei Männer erstarrten.
„Scheiße“, sagte Pfeiffer nach einer Weile ganz leise. Berger murmelte nur noch vor sich hin. „Marlene, meine liebe Schwester. Wo ist sie?“ Pfeiffer und Magnus klopften ihm beruhigend auf die Schulter, sprachen auf ihn ein. Es half nichts. Sie führten ihn zum Auto und setzten ihn auf die Rückbank. Er schüttelte immer wieder den Kopf und murmelte weiter. Pfeiffer griff zum Handy, um die Polizei zu rufen.
Ein Auto näherte sich auf der holprigen Straße. Dorotheas Audi. Es stoppte abrupt neben ihnen, Dorothea sprang heraus. „Was habt ihr mit Roland gemacht?“ schrie sie die Männer an. „Er ist so … zombiehaft“. Die beiden schwiegen kummervoll.
„Der Entführer hat sich erschossen. Er wollte nicht sagen, wo Marlene ist.“ erklärte Pfeiffer schließlich. „ Auch nicht, als wir gedroht haben, ihn einzusperren, bis er mit der Sprache rausrückt.“
„Wir werden es nie herausfinden“, fügte Magnus mit bebender Stimme hinzu.
„Er hätte es gar nicht sagen können. Marlene ist nämlich hier.“ Dorothea öffnete die hintere Tür ihres Autos, Marlene kletterte heraus.

Die Luft im Güterwaggon war kalt und abgestanden, als hätte sie seit Jahrzehnten niemand mehr geatmet. Richard Berger saß schwer atmend am Boden, seine Finger krallten sich um die ungeladene Pistole, während Pfeiffer noch immer die Augen des Fremden suchte. Jedes Geräusch – das Knarzen des Metalls, das leise Tropfen von Regenwasser durch ein Loch im Dach – schien plötzlich verstärkt.

„Warum?“, fragte Pfeiffer, seine Stimme belegt vor Wut. „Was willst du damit beweisen? Mit diesem ganzen Scheiß?“

Der Fremde – groß, hager, sein Gesicht jetzt voll im Licht sichtbar – legte den Kopf leicht schief, als genieße er die Frage. „Es geht nicht ums Beweisen, Herr Pfeiffer. Es geht ums Erinnern.“ Seine Stimme war ruhig, fast sanft, was das Ganze noch beängstigender machte. „Vergessen Sie nicht, dass wir alle… Entscheidungen treffen.“
Er ließ die Pistole fallen, und sie fiel mit einem schweren Klirren zu Boden. Stattdessen zog er einen kleinen, schwarzen Umschlag aus seiner Jackentasche. „Ich wollte Ihnen etwas zeigen. Ein Geschenk, könnte man sagen.“
Mit bedächtiger Langsamkeit zog er aus dem Umschlag mehrere Fotos hervor und breitete sie auf dem staubigen Boden aus, sodass sie im Licht des Handys sichtbar wurden.

Pfeiffers Magen zog sich zusammen.

Auf den Fotos war Marlene zu sehen. Die Pastorin, gefesselt, nackt bis auf ein dünnes, zerrissenes Kleid, in einem Kellerraum, dessen Wände mit Dreck und Schimmel bedeckt waren. In einem Bild schien sie zu schreien, aber ihre Stimme war nicht zu hören. Ihre Augen – weit aufgerissen – waren ein Spiegel aus Furcht und Schmerz. Blutspuren zeichneten sich an ihren Handgelenken ab, wo die Fesseln sich in die Haut schnitten.
Berger stieß ein ersticktes Geräusch aus.
„Du… Monster!“ Seine Stimme brach und wurde zu einem krächzenden Flüstern.

Der Fremde ließ ein Lächeln aufblitzen – das Lächeln eines Mannes, der die Kontrolle genoss. Er zog ein weiteres Bild hervor, diesmal von Richard Berger. Es zeigte ihn, wie er in einer dunklen Bar einer jüngeren Frau einen Umschlag zusteckte. Die Szene war verschwommen, doch der Inhalt des Umschlags – Geld – war deutlich zu erkennen.
„Erkennen Sie das, Herr Berger?“, sagte der Fremde mit leiser Genugtuung. „Ein Moment des Schweigens. Für ein paar Tausend Euro. Ihr Anteil an der stillen Prostitution, an den Mädchen, die im Keller gefangen gehalten wurden. Wissen Sie, wo sie waren, als Marlene entführt wurde? In der gleichen Bar.“

„Nein…“, flüsterte Berger. Tränen liefen ihm über das Gesicht. „Ich wusste nicht, was sie mit dem Geld tun. Das war nur… ein Geschäft!“

„Ein Geschäft“, wiederholte der Fremde. „Genau darum geht es.
Menschen sind für euch ein Geschäft. Und doch… wollen wir uns davon loskaufen.“

Pfeiffer spürte, wie die Wut in ihm brodelte. „Wo ist Marlene?! Wenn du willst, dass wir bezahlen, dann sag uns, wie wir sie retten können!“

Der Fremde betrachtete ihn lange. Dann bückte er sich, hob die Fotos auf und steckte sie langsam wieder in den Umschlag.
„Sie haben zwölf Stunden“, sagte er kalt. „Finden Sie die Wahrheit. Denn wenn nicht, wird Marlene ihr letztes Bild in diesem Keller malen. Mit Blut.“

Später, als Pfeiffer und Berger aus dem Waggon stolperten und in den strömenden Regen traten, zitterten ihre Hände noch immer. Berger konnte kaum laufen, als hätten die Fotos all seine Kraft ausgesaugt. Pfeiffer zog ihn in sein Auto.

„Wohin jetzt?“, fragte Berger, seine Stimme schwach.
„In mein Hotel“, antwortete Pfeiffer. „Wir brauchen ein ruhiges Zimmer. Und dann… finden wir dieses Kellerloch.“

Im Hotelzimmer – ein anonymes Zimmer in einem billigen Motel, das nach abgestandenem Parfüm und Zigarettenrauch roch – saß Pfeiffer mit den Fotos auf dem Tisch. Das Licht der Nachttischlampe flackerte, der Regen trommelte monoton gegen das Fenster.
Berger saß im Sessel, blass, seine Hände noch immer um die ungeladene Pistole gekrallt. „Ich will das nicht sehen… Ich kann das nicht.“
„Du musst es sehen!“ Pfeiffer schlug die Faust auf den Tisch. „Das hier ist deine Schuld genauso wie meine. Irgendwo in diesem verdammten Raum steckt der Hinweis auf Marlene.“

Er nahm das erste Bild wieder zur Hand. Das Kellerloch. Eine Wand aus zerbröckelndem Beton, im Hintergrund ein altes Rohr, von dem Wasser tropfte.

Das Geräusch hallte in seinem Kopf wider. Tropf. Tropf. Tropf.
Sein Blick wanderte zu einem kleinen Detail am unteren Bildrand.
„Verdammt…“, murmelte er. „Ich kenne das.“

Berger sah auf. „Was? Was meinst du?“
Pfeiffer zog das Bild näher heran. Da war ein verrostetes Nummernschild, halb im Schatten verborgen. Es gehörte zu einem Wagen – nein, zu einem Lastwagen, der nur an einem Ort stehen konnte: einem verlassenen Industriehof am Rand der Stadt. Pfeiffer erinnerte sich daran aus einer alten Recherche. Ein Gebäude, das längst dem Verfall preisgegeben war.
„Ich weiß, wo sie ist“, sagte er leise.
In seinem Kopf hörte er die Stimme des Fremden.
„Zwölf Stunden.“
Der Regen wurde stärker. Und irgendwo in der Dunkelheit wartete das Kellerloch – und Marlenes letzte Stunden.

Die Luft war stickig und roch nach Eisen – nach Blut.

Marlene hing reglos in der Mitte des Kellers. Ihre Handgelenke waren rot und aufgescheuert, festgebunden an grobe Seile, die von der Decke herunterhingen.
Der Raum war dunkel. ein einziger Scheinwerfer strahlte sie an. Ihr dünnes, zerissenes Kleid klebte an ihr, durchnässt von Schweiß und Tränen.

Ihr Kopf war gesenkt, die dunklen Haare hingen verfilzt vor ihrem Gesicht wie ein Vorhang, der ihre Augen verbarg. Aber sie atmete noch. Langsam. Flach.
An der Wand war ein altes Rohr, aus dem Wasser in regelmäßigen Tropfen fiel. Der Klang drang wie ein Messer in die Stille, ein weiterer Folterer in diesem Raum.

Der Fremde betrat den Keller. Seine Schritte hallten auf dem Betonboden wider, jeder Tritt ein kleiner Trommelschlag des Grauens. In der einen Hand hielt er eine Kamera, in der anderen einen Stock. Das leise Klicken der Kamera begleitete seinen Eintritt, ein Rhythmus, der die Demütigung mit jedem Bild weiter verewigte.

„Wach auf, Marlene“, sagte er leise. Seine Stimme war sanft, fast zärtlich, und doch kroch sie wie ein kalter Wurm unter die Haut. „Es ist Zeit, dass wir unsere Zuschauer unterhalten.“
Marlene zuckte, der Klang seiner Stimme schien sie aus einem Halbschlaf zu reißen. Sie hob langsam den Kopf, und durch die verfilzten Haarsträhnen sahen ihre Augen – müde, leer, verloren – zu ihm hinüber. Ein Zittern lief durch ihren Körper.

„Was… was willst du von mir?“, flüsterte sie mit rauer Stimme. Sie klang, als hätte sie seit Tagen nicht gesprochen.

Der Fremde lächelte, trat näher an sie heran. Er hob den Stock, fuhr damit sanft an ihrer Wange entlang, und sie zuckte vor der Berührung zurück.
„Was ich will? Oh, Marlene… das hier geht gar nicht um dich. Es geht um die Männer, die dich vergessen haben. Die dich verkauft haben, ohne es zu merken. Pfeiffer und Berger.“ Seine Stimme nahm einen gefährlich schneidenden Ton an, als er ihre Wange plötzlich fester mit dem Stock drückte. „Du bist nur der Preis ihrer Sünden.“
Tränen stiegen in Marlenes Augen, als er ihre Kinnlade packte und ihr Gesicht zur Kamera drehte.
„Sag es ihnen, Marlene. Zeig ihnen, wie eine Frau aussieht, die für andere bezahlen muss.“
Sie schüttelte verzweifelt den Kopf, aber der Fremde lachte nur. Dann riss er an einem der Seile, und Marlene schrie auf, als ihre Handgelenke noch höher gezogen wurden. Ihre nackten Füße schwebten einen Zentimeter über dem Boden. Die Seile gruben sich tief in ihre Haut. Das Geräusch des tropfenden Wassers wurde lauter, und in ihrem Schrei lag alles – Schmerz, Demütigung, Angst.

Pfeiffer saß mit Berger im Auto, das Lenkrad fest umklammert. Sie starrten auf den Laptop, auf die neue Nachricht, die der Fremde geschickt hatte.

Ein Video.

Mit zitternden Fingern klickte Pfeiffer auf „Play“.

Das Bild war unscharf, dann tauchte Marlene im Licht auf. Sie hing da wie ein gebrochenes Pendel, ihr Gesicht tränenüberströmt, ihr Kleid zerrissen. Die Kamera schwenkte auf den Fremden, der in ruhigem Ton sprach:

„Ihr hättet sie beschützen können, aber ihr habt euch gekauft. Jetzt seht euch an, was eure Taten angerichtet haben.“
Berger würgte. Er konnte nicht hinsehen. „Wir müssen die Polizei rufen! Wir müssen –“
„Und riskieren, dass er sie tötet?!“ Pfeiffers Stimme überschlug sich fast. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. „Das hier ist seine Show, Berger. Er will uns zerstören. Aber er weiß noch nicht, dass wir zurückschlagen.“
Berger hob den Kopf, seine Augen waren rot. „Und wie? Was willst du tun?“
Pfeiffer sah ihn an, und in seinem Blick lag etwas Kaltes, Entschlossenes.

„Wir finden ihn und töten ihn.“

Verwischt

»Ich bin Berger«, stammelt Richard Berger, zitternd, die Beine drohen sich der Schwerkraft zu ergeben. »Richard Maurius Berger!, so heißt das«, schnauzt die Stimme aus dem Schatten, »Nochmals!« - »Ich bin Richard Maurius Berger, und – und…« – »Verdammte Scheiße, jetzt fehlen dir die Worte, hä? Es heißt: ›Ich bin Richard Maurius Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euros habe ich jeweils erhalten, um wegzusehen.‹« – »Ja…,« Berger zittert nicht mehr, er zuckt unkontrolliert und fällt auf den Boden des Waggons, dumpf. »Ich, ich – ich…«, mehr bringt er nicht über die Lippen. Tränen rollen über seine Wangen, die Pistole gleitet ihm aus der Hand. »Aufstehen!«, blafft die Stimme Berger an, »Aufstehen! Los!« Christian Pfeiffer ballt die Faust und – und hört ganz leise Marias Stimme: »Ruhig bleiben.« Pfeiffer atmet tief durch, reicht Berger seine Hand. Berger zieht sich hoch, die Rundungen an seinem Körper wiegen gerade schwerer, aber er zieht sich hoch. Pfeiffer stützt den schwankenden Mann bis sich das Gleichgewicht eingependelt hat. »Ruhig bleiben«, nochmals Marias Stimme – seit ihrem Tod wartete er darauf, und jetzt, jetzt sagt sie ihm, er solle Ruhe bewahren. Er atmet nochmals durch, tief, bewusst, schaut sich um. Der Halogenstrahler blendet noch immer, das rote Lichtlein leuchtet weiterhin, die Stimme grunzt aus der Dunkelheit heraus. Die Augen gleiten weiter – die Pistole! – die liegt noch am Boden. Berger kann inzwischen alleine stehen, Pfeiffer bückt sich, greift die Pistole, will sich aufrichten, hört Marias Stimme »Erschieß ihn!« Das, so geht es Pfeiffer durch den Kopf, das muss man ihm nicht zweimal sagen. Er richtet die Pistole auf den Unbekannten, schaut in den Lauf dessen Pistole, drückt ab, einmal, zweimal. Das Knallen erschüttert den Waggon, Staub rieselt von der Decke, der Mann in der Ecke wird gegen die Wand gedrückt, er lässt seine Pistole fallen, greift zum Loch im Lederimitat, sackt langsam in sich zusammen, röchelnd. Ein Blutfaden gleitet aus dem Mund. Pfeiffer und Berger sind in Starre. »Fuck«, sagt Marias Stimme, ein Klicken. Pfeiffer reißt Berger auf den Waggonboden, scheppernd schlagen sich neue Dellen in die Waggonwand, Projektile fallen klimpernd auf das Holz.
Die beiden Männer bleiben liegen, das Scheppern hat aufgehört, ein Tor knarzt fern, die Zeit verstreicht, ein Glockenturm läutet viertel nach, ein Motor springt an und verliert sich in der Stille der Nacht. »Scheisse«, Pfeiffer dreht sich mit diesem Wort auf den Rücken, »Verdammte, verdammte Scheisse!« Er bleibt liegen, Berger setzt sich keuchend auf. Das Surren seines Handys setzt ein, pulsartig, wartend darauf, abgenommen zu werden. Berger zieht das Gerät heraus, »Doro«, sagt er leise, das Handy surrt weiter. »Nicht abnehmen,« meint Pfeiffer, »wir rufen später zurück, ok?« Berger nickt, lässt das Handy weiter surren. Später, jetzt atmet er erst mal durch, Pfeiffer setzt sich auch auf, zittert. Sirenen heulen auf, noch in der Stadt, aber doch nähernd, viele, unterwegs in die gleiche Richtung. Berger und Pfeiffer schauen sich an. »Wir müssen weg«, sagt Pfeiffer, Berger nickt, die Worte finden noch nicht ihren Weg. »Aufräumen und weg«, wiederholt sich Pfeiffer, rafft die Papiere zusammen, nimmt die Pistole und sichert diese mit seinem rechten Daumen, das Klicken bestätigt das Einrasten des Hebels. Er blickt sich um, Berger zeigt stumm mit dem Finger zur Kamera, Pfeiffer ist es nun, der nickt. Mit ganzer Körperstreckung erreicht er die Kamera, reißt diese herunter, das rote Lichtlein beleuchtet seine Hand. »Los.« Berger rollt sich halb aus dem Waggon heraus, Pfeiffer folgt ihm agiler, ein Faden bleibt hängen, mit einem Ratschen reißt die Hose auf. Ein blick zurück, der abgewetzte Fedora liegt mitten im Waggon, die Sirenen jaulen schon lauter, Pfeiffer schüttelt für sich den Kopf. Stolpernd rennen die beiden los, weg vom Waggon, weg. Die Gleise sind rutschig, Berger fällt, Pfeiffer hilft ihm auf. Sie hinken weiter, im Schatten der Waggons, versteckt. Wechseln in ein Schleichen entlang des Zaunes. Die Blaulichter durchzucken blitzartig das Dunkel der Nacht, die Scheinwerfer strahlen die Wege vor den Autos. Heulend rasen die Fahrzeuge an den beiden vorbei, bald gefolgt von einem quietschen, krachen. Berger und Pfeiffer humpeln weiter, weiter zum Opel. Sie schweigen, hören deshalb die Stimmen über das Megafon, welche die Waggons anschreien, das Echo aber verzerrt die Stimmen zur Unerkenntlichkeit. Der Opel kommt in sicht, noch einmal reißen sich die beiden zusammen, die letzten paar Schritte, die Zentralverriegelung löst sich unter Drehung des Schlüssels. Beide setzen sich rein. »Scheisse!«, entfährt es Pfeiffer. »Scheisse!«, wiederholt Berger. Sie schauen sich an, das schummrige Licht im Auto wirf einen fahlen Schatten auf die Gesichter. Ruckelnd springt der Motor an, erstickt gleich wieder. »Handbremse«, meint Berger beiläufig. »Ja« antwortet Pfeiffer. Beim zweiten start rollt das Fahrzeug dann los, eine scharfe Drehung auf der Straße, zurück in die Stadt.

Wenige Worte werden während der Fahrt getauscht, die Handys werden ausgeschaltet. Berger erkennt die Kurt-Schumacher-Straße, sie fahren Richtung Main. Kurz vor der alten Brücke biegt Pfeiffer rechts ab, runter, dann nochmals rechts, der rote Turm des Kaiserdoms ragt hell beleuchtet vor ihnen auf. Pfeiffer dreht nochmals nach rechts, dann zieht er das Auto nach links und parkiert. Schnell ist Pfeiffer beim Ticketautomaten, lässt den Parkschein raus, legt diesen auf das Armaturenbrett. »Komm«, fordert er Berger auf, welcher sich mühselig aus dem Auto pellt. Pfeiffer hat da schon alles Material in einer Jutetasche verstaut. Die Türen knallen zu, die Zentralverriegelung ruckelt, Pfeiffer geht voran. Zwischen den Häusern durch, eine kleine Straße kreuzen, und schon sind Sie wieder am Mainkai. Pfeiffer dreht nach links, nimmt die vier rotbraunen Treppenstufen zur ersten Haustür, klingelt. Die Tür öffnet sich, skeptische Augen mustern die beiden Herren. »In Edwards Schlafzimmer träumt es sich besser«, sagt Pfeiffer, korrigiert sich dann aber gleich: »nein, nicht träumt - es trinkt sich besser.« Die Tür öffnet sich ganz, der weiße Anzugträger geleitet die beiden Herren an der Bar vorbei, dezentes Licht erhellt die Ecken, die Tische und Hocker sind leer, leises Musik. Vorbei an alledem, nach hinten, da öffnet der weiße Anzug eine weitere Tür und lässt die beiden Herren in einen kleinen Raum eintreten. Zwei Tische, dezentes Licht, aber niemand hier. Pfeiffer und Berger setzen sich, der Anzug fragt nach dem Drink. »Einen doppelten Aluhut«, bestellt Pfeiffer, Berger hängt sich dem an.
»Sorry«, beginnt nun Pfeiffer, »Ich habe Maria gehört…, sie sagte, ich solle abdrücken.« Berger nickt, »Ich habe sie auch gehört.«
Bevor Pfeiffer darauf antworten kann, schwingt die Tür wieder auf, ein Herr mit einer Fliege trägt ein Tablet mit drei Drinks und drei Dosen herein, stellt die Drinks vor die beiden und sich selbst einen an den freien dritten Platz. Mit den Worten: »So, Christian, wieder zurück im Kämmerchen?«, setzt sich der Mann, Pfeiffer nickt. »Brauchst du etwas?«, fragt nun der Mann, Pfeiffer antwortet: »Ein Laptop wäre gut,«, macht eine kurze Pause, »Danke Edward.« Edward rückt seine Fliege zurecht, steht auf und verlässt den Raum. Pfeiffer öffnet die Dose vor ihm, zischend, leert einen Teil davon in seinen Drink und nimmt dann einen großen Schluck, Berger tut es ihm gleich, verzieht sodann aber das Gesicht. »Eklig!« – »Ja, aber hält wach.«
Pfeiffer packt die Zettel aus der Tasche, legt diese auf den Tisch. »Wie konnte er Maria hören?« Murmelt Pfeiffer vor sich hin, »etwas stimmt hier nicht.« Berger hängt sich in die Gedanken ein: »Ich weiss nicht, ob es Maria war, aber es war eine Frauenstimme, Sie sagt sowas wie ruhig bleiben und erschiess ihn. Oder?« Pfeiffer nickt. Mit dem Öffnen der Tür unterbricht Edward die Gedanken, legt den Laptop auf den Tisch. »Ich lass euch mal, wir machen vorne auf.«
»Also«, beginnt Berger, pausiert, setzt nochmals an: »also, was machen wir jetzt?« »Wir beginnen wieder bei null. Zurück auf Anfang. All diese Zettel, all diese Ausdrucke, was beweisen diese?« »Keine Ahnung«, antwortet Berger, Pfeiffer fährt fort: »Die Mails, die wir erhalten haben, beweisen nur, dass jemand Zugang zu unseren Mails hatte.« »Wir wurden gehackt?« »Vielleicht, aber vielleicht auch nicht. Wer weiss?« Pfeiffer zieht die Schultern hoch, nimmt nochmals einen Schluck vom Aluhut, das Koffein des Kaffees fährt ein, die Bittere und Säure des Grapefruitsaftes zieht alles zusammen, der Energydrink vollendet den Kick. »Vielleicht sind die Mails gar nicht wichtig?« setzt nun Berger an, nimmt auch einen Schluck. Pfeiffer legt die Pistole auf den Tisch. Wie kann diese die Gleiche sein, mit welcher sich Töpfer erschossen hatte? »War die Pistole bei Töpfer noch dabei, als die Polizei ihn geholt hat?«, fragt Pfeiffer. »Ich denke schon. Doch, die Polizei hat diese eingepackt.« Antwortet Berger, schüttelt dann gleich den Kopf - »aber, dann kann das hier ja nicht die gleiche Pistole sein, oder?« »Es macht einfach keinen Sinn.«
Resigniert klappt Pfeiffer den Laptop auf, öffnet automatisch die Nachrichtenseite und hält inne. »Vielleicht macht es doch Sinn.« Er dreht den Laptop, die oberste Schlagzeile: »Polizist im Industrieviertel erschossen.« Berger schluckt leer. Es macht Sinn. Pfeiffer und Berger schauen sich an, nehmen simultan einen Schluck Aluhut. »So, welche Fragen müssen wir zuerst beantworten?« Fragt Pfeiffer, Berger atmet durch: »Wo ist Marlene?« Pfeiffer runzelt die Stirn: »Nehmen wir an, das Lederimitat gehörte zu dem Polizisten – weshalb ist niemandem die Stimme aufgefallen?« »Weil er wenig spricht.« - »und weshalb hatte er die Pistole von Töpfer?« »Weil er … weil er die Leiche untersucht hat. Wie nennt man das?« »Forensiker?« »Ja, genau. Und – und der hat sicher auch Lagerkeller. Könnte Marlene dort sein?« »Vielleicht. Ich lass mal meinen Kontakt anrufen.« Pfeiffer steht auf, geht rüber zur Bar, kommt kurz darauf zurück. »Wir müssen warten.« »Mhm«, Berger spürt den Koffein des doppelten Espressos gemischt mit dem Energydrink, das Hirn läuft auf Hochtouren. »Wenn der Polizist Forensiker ist, dann hat er vielleicht auch den Tod von Maria untersucht. War Maria denn wirklich tot?« Pfeiffer kratzt sich am Kopf, der Gedanken bohrt schon seit dem Waggon in ihm, schmerzhaft. War Maria denn wirklich tot? »Ich sass in meinem Büro, als Sie sich unten auf der Sitzbank erschossen hat. Aber – ich schaute da auf den Bildschirm. Als ich unten war, da war schon die Polizei dort und hat Maria abgedeckt, ich durfte nicht zu ihr. Identifiziert habe ich sie anhand von Fotos. Aber tot gesehen? Das habe ich sie nicht. Sei zu entstellt gewesen.« Tränen sammeln sich in Pfeiffers Augen, er zieht die Nase hoch, nimmt einen Schluck. »Also könnte sie am leben sein?« Versichert sich Berger, Pfeiffer nickt. Könnte, in diesem Wort steckt plötzlich so vieles, könnte. Berger fühlt sich auf einem hoch, fährt eifrig fort: »Hatte Maria Zugang zum Laptop?« Pfeiffer nickt, der zuvor aufrechte Körper sackt immer tiefer in den Sessel. Berger blättert durch das dünne Druckerpapier, schaut die Mail an ihn nochmals an. »Und - und wer hatte Zugang zu meinen Mails? Und wer kannte meinen zweiten Vornamen?« Er kratzt sich am Kopf, nippt nochmals am Glas, verzieht wieder das Gesicht, schüttelt den Kopf. »Nein« flüstert er leise, dann wiederholt er es flehend: »Nein.«
Die Tür geht auf, Edward kommt rein mit den Worten: »Sie haben jemanden gefunden bei der Leichenkammer. Lebt noch, alles gut. So, ich muss wieder nach vorne – braucht ihr noch was?« Und verschwindet gleich wieder.
Bergers Augen leuchten auf, tränen rollen, »Marlene ist sicher.« Pfeiffer nickt, stumm. »Maria«, wimmert er. Berger legt Pfeiffer die massige Hand auf die Schulter, schweigt. Die weiteren Mails – was ändern diese jetzt noch? Er steht auf, geht zur Tür, bestellt zwei Espresso Martinis, fragt dann, ob man Ihnen ein Hotel buchen könne, Edward bietet jedoch die hauseigenen Betten an, weniger Luxus, dafür auch keine Fragen.

Vier Wochen später, gleiche Bar, nur nicht mehr versteckt. Draußen fließt der Main seinen Lauf, eine Gruppe Jugendlicher ballt sich am Uferweg. Berger und Pfeiffer sitzen sich gegenüber. »Hast du Doro schon besucht?«, fragt Pfeiffer, Berger schüttelt den Kopf und fragt: »Hast du was von Maria gehört?« Nun schüttelt Pfeiffer den Kopf. Ein Drogenring sei aufgeflogen, so stand es in der Zeitung. Aber das war den beiden egal. Verraten und betrogen von den eigenen Frauen, das sind sie. Wer welche Rolle gespielt hat? Da hat sich Dorothea ausgeschwiegen. Der Tod Töpfer – der galt Dorothea, eine Warnung, Richard war nur der falsche Empfänger. Und Maria? Sie musste vermutlich abtauchen. Nur wenige Worte finden den Weg über den Tisch, aber instinktiv verstehen sich die beiden. Pfeiffer fragt nach dem Wohl von Marlene, diese sei in den Ferien sich am Erholen, meint Berger. Welche Tortur mussten die beiden Durchleben? Immerhin ist der Drink mit Alkohol.
Auf der Maininsel blitzt die Reflexion eines Feldstechers auf, unbemerkt. Notizen werden ins Smartphone gesprochen. Der Mantel wird enger geschnallt, ein kalter Seitenwind bläst durch die Bäume.
»Weshalb wir?«, fragt Pfeiffer endlich. Dorothea sollte Geld waschen, meint Berger, und er habe wohl die Belege zu genau kontrolliert, er hätte weg müssen. Marlene, war nicht gerade die liebste Person um Dorothea, da kam ein Mord gerade recht. Was denn mit ihm sei, fragt Pfeiffer, Berger zuckt die Schultern.
»Ich weis es nicht« klingt die verrauschte Stimme Bergers aus dem Kopfhörer, der Mantel diktiert: »Der Verdacht lässt sich nicht erhärten«.
Der Mantel hebt nochmals den Feldstecher, blickt durch die Fenster in die Bar. Berger kramt eine Tüte hervor und reicht sie an Pfeiffer, dieser zieht einen neuen Fedora heraus. Edward schüttelt stumm den Kopf beim Anblick des neuen Kopfschmuckes.

Pfeiffer beobachtete alles wie aus weiter Ferne. Seine Gedanken rasten. Er war unfähig, sich zu rühren, selbst als er sah, wie Berger die Hand, in der er die Pistole hielt, langsam hob. Er tut es wirklich, schoss es ihm durch den Kopf. Er wird sich erschießen. Und er konnte nur hilflos dabei zusehen, weil er Marlenes Leben nicht aufs Spiel setzen wollte.
Es musste doch eine andere Lösung geben. Im Grunde könnten sie einfach aus dem Waggon spazieren, ohne dass der Unbekannte die Möglichkeit hätte, sie aufzuhalten.
Berger hielt sich die Pistole an die Schläfe. Pfeiffer wollte wegsehen. Er würde es nicht ertragen, noch einmal jemanden sterben zu sehen. Doch er konnte den Blick nicht abwenden. Sein Herz schlug schneller. Es musste einen anderen Ausweg aus dieser Situation geben.
»Ich bin …«, begann Berger mit trockener Stimme, bevor er abbrach.
»Jetzt mach schon!«, zischte der Unbekannte. »Oder willst du, dass Marlene erstickt?«
»Nein … das ist es nicht …«
»Was dann? Hast du den Text vergessen? Soll ich ihn dir aufschreiben?«
»Bevor ich sterbe«, antwortete Berger zögernd, »will ich wenigstens wissen, was Sie mit der Sache zu tun haben.«
Der Unbekannte lachte.
»Das wirst du ohnehin gleich erfahren. Oder glaubst du nicht mehr an den alten Herren?«, höhnte der Mann. »Nein. Du hast Angst, dass du zu dem da unten kommst, stimmts?«
Berger wurde blass.
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll«, gab er zu. »Aber ich muss es wissen. Sagen Sie es mir!«
»Verdammt!«, schnaubte der Unbekannte.
Das Licht an der Webcam erlosch. Das will er nicht aufgezeichnet haben, dachte Pfeiffer grimmig. Dennoch verschaffte ihm das ein paar Augenblicke Zeit. Es musste ihm etwas einfallen. Konnte er das Arschloch nicht dazu bringen, ihnen zu verraten, wo er Marlene versteckt hielt?
»Na schön! Wenn du es unbedingt wissen willst. Aber beschwer dich nicht, wenn die Zeit dann nicht mehr für Marlene gereicht hat.«
»Red schon!«, forderte ihn Berger auf, beinahe hysterisch.
»Meine Schwester war eine von deinen Passagieren in den Bussen. Die haben ihr erzählt, dass sie hier Arbeit findet. Ich erinnere mich, wie ich sie bis zur Abfahrt begleitet habe. ›Berger Reisen‹ stand groß drauf. Als würde es in den Urlaub gehen.«
»D… das hatten die mir auch so gesagt«, stammelte Berger. »Ehrlich. Ich wusste doch nicht …«
Er wurde aschfahl. Die Hand mit der Pistole begann zu zittern.
»Für zehntausend Euro? Verarsch mich nicht. Meine Schwester hätte sich dafür nie freiwillig hergegeben. Wissen Sie, was die ihr angetan haben?«, schrie der Unbekannte. »Die haben sie mit Drogen gefügig gemacht.«
Mit geballten Fäusten hörte Pfeiffer der Erklärung des jungen Mannes zu. Gewiss, das war alles schlimm. Aber Maria hatte nichts damit zu tun gehabt. Hätten sie sich gegen die Anweisung von Magnus hinweggesetzt und weiter ermittelt, wäre es ohne dessen Zustimmung auch nicht veröffentlicht worden. Ein Unrecht konnte man nicht mit einem anderen aufwiegen.
»Sie musste alles tun, was sie von ihr verlangt haben, nur um den nächsten Schuss zu bekommen. Jeden Tag. Immer wieder. Bis es einmal eine Spritze zu viel war. Verstehen Sie jetzt?«
»Oh Gott«, entfuhr es Berger.
»Sie ist mit einem Ihrer Busse weggefahren und dann in einem Sarg zurückgekommen. Und das durften wir selbst bezahlen.«
»Es tut mir leid«, sagte Berger.
»Dann tu, was ich dir gesagt hab, und erschieß dich!«
Pfeiffer sah auf. Jetzt wusste er, was er zu tun hatte. Das Arschloch durfte damit nicht davonkommen. Er musste nur auf die richtige Gelegenheit warten.
»Eines noch: Wie haben Sie Klaus Töpfer dazu gebracht, sich vor meinem Haus umzubringen?«
Der Unbekannte verdrehte die Augen: »Hab seine Enkelin nach der Schule abgefangen und behauptet, sie gewissen Leuten zu überlassen, wenn er Ihnen nicht die zehntausend Euro abpresst oder sich wahlweise erschießt. War nur ein Bluff. Aber sobald es um das eigene Fleisch und Blut geht, sehen die Leute die Dinge plötzlich ganz anders.«
»Sie Schwein!«
»Beschimpfen Sie mich ruhig! Das wird Ihnen nichts nutzen! Alle letzten Fragen beantwortet? Ja?! Tun Sie es jetzt oder lassen Sie es bleiben! Mir einerlei. Dann stirbt eben Marlene. Mit dieser Schuld müssen Sie leben. Meine Geduld ist begrenzt.«
»Ja …«, sagte Berger matt. »Ich mache es …«
Das Licht an der Webcam ging wieder an. Darauf hatte Pfeiffer gewartet.
»Nein!«, bestimmte er. »Tun Sie das nicht!«
Berger starrte ihn an. »Was? Aber Marlene…«
Pfeiffer machte einen Schritt auf ihn zu. »Geben Sie mir die Waffe!«
»Lassen Sie’s gut sein! Ich habe mich entschieden.«
Er hob die Pistole an seine Schläfe und begann: »Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro …«
Pfeiffer machte einen Satz und packte Bergers Hand mit der Pistole, um ihm diese zu entreißen. Zu seiner Verblüffung ließ dieser nicht los, sondern versuchte, sich seinem Griff zu entwinden. Dabei hielt er die Waffe wie in einem Schraubstock.
»Lassen Sie mich!«, rief Berger gepresst. »Ich hab mich entschieden.«
»Ich auch!«, keuchte Pfeiffer.
Instinktiv versuchte er, die Pistole von sich und Berger wegzuhalten. So wie der Mann sich daran klammerte, konnte sich jederzeit ein Schuss lösen. Den wollte er nicht abbekommen. Es war nur einer im Raum, der die Kugel verdient hatte.
»Seid ihr jetzt völlig verrückt?«, rief der Unbekannte wütend. »Hört sofort auf!«
»Wie du meinst, du Arschloch«, entfuhr es Pfeiffer.
Er hatte Bergers Arm so von sich weggedreht, dass die Mündung der Waffe genau auf den jungen Mann zielte. Das war die Gelegenheit. Er drückte Bergers Zeigefinger nach unten.
Ein ohrenbetäubender Knall hallte durch den Waggon.
Berger gab seinen Widerstand auf, und Pfeiffer ließ ihn los. Er selbst blickte sich um. Einen Moment sagte keiner ein Wort.
»Ah! Scheiße«, brach der Unbekannte das Schweigen.
Er ging in die Knie und fasste sich dabei an den linken Oberschenkel. Pfeiffer sah, wie seine andere Hand in die Tasche seiner Jacke glitt.
»Er hat noch eine Waffe!«, brüllte er und trat dem jungen Mann gegen den verletzten Oberschenkel.
Dieser schrie auf und fiel zu Boden. Dennoch schaffte er es, ein Springmesser aus seiner Tasche zu ziehen. Ohne zu überlegen, stürzte sich Pfeiffer auf ihn und hielt seinen Arm mit beiden Händen fest. Mit einem scharfen Klicken schnappte das Messer auf. Er durfte ihn auf keinen Fall loslassen, sonst würde er es ihm in den Bauch rammen. Der Unbekannte schlug mit der freien Hand auf ihn ein. Pfeiffer stieß daraufhin mit seinem Knie gegen den blutenden Oberschenkel.
»Helfen Sie mir doch, Berger!«, rief er. »Nehmen Sie ihm das Messer ab!«
Dieser näherte sich vorsichtig. Er wusste nicht, was er tun sollte, ohne sich an der Klinge zu verletzen. Dann trat er mit dem Schuh auf das Messer. Der junge Mann schrie. Pfeiffer spürte, wie dessen Griff nachließ.
Mit einem nie gekannten Zorn zog er den Unbekannten von der Waffe weg und warf ihn auf die andere Seite zu Boden. Dann war er über ihm und schlug ihn mit der Faust ins Gesicht. Einmal. Zweimal. Dreimal.
»Das ist für Maria, du Schwein!«
Er hörte, wie die Nase des jungen Mannes unter seinen Schlägen brach. Seine Finger wurden feucht von Blut. Voller Ekel stieß er ihn von sich. Berger hatte in der Zwischenzeit das Messer und die Pistole eingesteckt.
»Und jetzt?«, fragte er außer Atem. »Was ist mit Marlene?«
Pfeiffer sah auf den jungen Mann hinab. »Rede, und wir bringen dich gleich ins Krankenhaus.«
Trotz seiner schweren Verletzungen begann der Unbekannte zu lachen.
»Vergesst es! Ich sage gar nichts.«
»Da haben Sie’s. Jetzt ist Marlene verloren.«
Er ging panisch im Waggon auf und ab.
»Nein«, sagte Pfeiffer bestimmt. »Ich glaube, ich weiß, wo sie ist.«
Berger fuhr herum. »Was? Wo?«
»Ich habe gehofft, der nette junge Herr würde es uns sagen, aber der zieht es vor, still zu leiden. Da müssen wir wohl selbst nachsehen«, sagte Pfeiffer. »Los! Packen Sie mit an! Wir nehmen ihn mit.«
Er hob den Unbekannten an einem Arm. Zögernd nahm Berger den anderen.
»Wo ist sie denn?«, fragte er, während sie den jungen Mann aus der Tür zerrten. »Reden Sie schon!«
»Sag du’s ihm«, knurrte Pfeiffer. »Dann rufen wir die Polizei und einen Krankenwagen. Deine Wahl.«
Der Unbekannte warf ihm einen finsteren Blick zu, schwieg aber beharrlich. Sein Blutverlust machte sich langsam bemerkbar, und er leistete keinen Widerstand mehr, bis sie Pfeiffers alten Opel erreicht hatten. Pfeiffer öffnete den Kofferraum.
»Sie wollen ihn doch nicht etwa …«, rief Berger.
»Meine schönen Polster blutet er mir nicht voll. Also, was ist? Letzte Gelegenheit.«
»Fickt euch! Kapitalisten-Schweine!«
»Sie haben es gehört. Laden wir ihn ein.«
Ein paar Minuten später rasten sie mit dem Wagen durch das Industriegebiet. Von hinten hörten sie bei jedem Schlagloch ein lautes Stöhnen. Pfeiffer sah, wie sich Berger immer wieder nervös umwandte. Davon ließ er sich nicht ablenken. Stattdessen konzentrierte er sich auf sein Ziel.
»Wo fahren wir denn hin?«, fragte Berger. »Wo, glauben Sie, ist Marlene?«
»Erinnern Sie sich? Er sagte, sie befindet sich in einem kalten Kellerloch, wo sie erstickt.«
»Ja. Genau das macht mir ja Sorgen.«
»Nun, überlegen Sie mal: Welche Keller sind so gebaut, dass man darin ersticken könnte?«
Berger starrte ihn an.
»Keine Ahnung«, gab er zu.
»Verhungern und verdursten wäre etwas anderes. Aber ersticken? Nein, das wäre viel zu gefährlich für ein normales Haus. Da könnten sich auch leicht Gase sammeln und zu Unfällen führen. So ein Keller wird zu einem bestimmten Zweck gebaut. Na? Kommen Sie nicht darauf?«
»Was weiß ich. Ein Tresorraum in einer Bank?«
»Gute Idee«, sagte Pfeiffer und nahm die Kurve etwas zu schnell.
Die Reifen quietschten, und von hinten drang ein gedämpfter Schrei zu ihnen.
»Aber schaffen Sie da mal eine entführte Pastorin hinein! Vorbei an den Angestellten und den Kameras …«
»Ein Kühlraum bei einer Metzgerei oder einem Hotel. Ich hab schon von Unfällen gehört, wo jemand darin eingesperrt wurde und gestorben ist.«
»Wärmer. Sie haben es fast.«
»Hören Sie mit dem Rätselraten auf!«
»Ich will nur wissen, ob Sie auf die gleiche Idee kommen, für den Fall, dass ich mich irre.«
»Was ist, wenn Sie sich irren?«, schrie Berger.
»Dann prügeln wir es eben aus ihm raus«, antwortete Pfeiffer wütend. »Was glauben Sie, warum ich ihn mitnehmen wollte?«
»Wo fahren Sie überhaupt hin?«
»Erkennen Sie es nicht?«
Berger blickte aus dem Fenster auf die Straße.
»Moment. Da geht es doch zu …«
Pfeiffer nickte und drückte das Gaspedal durch. Ein paar Minuten später standen sie vor dem hohen Turm einer Kirche. Sie eilten zu einem Tor, das auf den anschließenden Friedhof führte.
»Das ist Marlenes Gemeinde«, sagte Berger.
»Ich habe mir überlegt, wo man eine Pastorin am schnellsten verschwinden lassen würde, ohne dass es jemand mitbekommt«, erklärte Pfeiffer, während sie die Reihen der Gräber entlang liefen.
»Ein kaltes Kellerloch«, keuchte Berger, der Mühe hatte, ihm zu folgen. »Ich glaube, sie haben recht. Hier gibt es so einige.«
Am Ende des Weges erreichten sie ein Gebäude mit hohen, dunklen Fenstern und breiten Türen. Sie traten in die Finsternis unter dem Vordach.
»Hier im Keller gibt es einen speziellen Raum, in dem die Verstorbenen aufbewahrt werden. Das weiß ich von Marias Beerdigung«, sagte Pfeiffer. »Hier kommt man am einfachsten rein. Kühl und luftdicht. Und Marlene hat dafür alle Schlüssel …«
Berger streckte den Arm aus und stoppte ihn.
»Hören Sie das?«, flüsterte er. »Ist das nicht ein Klopfen?«
Einen Moment lauschten sie in die Nacht.
»Entweder war da jemand zu früh dran mit seiner Beerdigung oder …«
»Marlene!«, rief Berger, und die beiden Männer rannten zur nächsten Tür.
Viele Monate später trafen alle Beteiligten beim Prozess gegen Rico Moretti, so hieß der junge Mann. Nachdem sie Marlene Romero aus ihrem Gefängnis befreit hatten, waren sie mit ihm ins Krankenhaus gefahren. Dort wurde er von der Polizei verhaftet. Die Anklage gestaltete sich als schwierig. Auf jeden Fall musste er sich für Entführung, Erpressung, Nötigung, Bedrohung, fahrlässige Tötung bis Totschlag verantworten.
»Ich fasse es nicht, dass die Anklage wegen Mord fallengelassen wurde«, knurrte Pfeiffer, als sie während einer Pause im Gang vor dem Gerichtssaal standen. »Für das, was er Maria angetan hat, müsste er lebenslang ins Gefängnis.«
Nach den ersten aufsehenerregenden Prozesstagen hatte sich das Interesse der Öffentlichkeit allmählich verflüchtigt. Dafür galt es, die Schuld von allen Beteiligten festzustellen. Selbst Pfeiffer und Berger waren nicht ungeschoren davon gekommen. Die Anwälte von Rico Moretti hatten sie wegen tätlichen Angriffs und unterlassener Hilfeleistung angezeigt. Zum Glück hatten die Richter ihnen nur eine Bewährungsstrafe auferlegt. Sogar die Beteiligung von Berger an der Menschenhandelsorganisation war untersucht worden – ohne Ergebnis. Er selbst hatte das Reiseunternehmen verkauft, ebenso sein Haus, und sich mit Dorothea in eine kleinere Stadt zurückgezogen, wo sie einen Blumenladen betrieben.
»Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen«, sagte Berger matt. »Er hat nicht den Abzug gedrückt. Es war immer noch Marias Entscheidung gewesen.«
»Sie hätten es doch beinahe auch gemacht«, warf Pfeiffer wütend ein. »Hatten Sie da das Gefühl, Sie hätten eine Wahl?«
»Nein«, gab Berger zu.
»Schluss mit diesem Gerede!«, mischte sich Dorothea ein. »Ich will nichts mehr davon hören.«
»Sie hat es doch von uns allen am besten getroffen«, meinte Marlene. »Ich habe gehört, Sie sind jetzt Chefredakteur der FGZ. Gratuliere.«
»Kein Grund, darauf stolz zu sein«, winkte Pfeiffer ab. »Nachdem Magnus‹ Verbindungen ins Rotlichtmilieu herausgekommen waren, hatte man ihn still und leise gefeuert. Aber ein konkretes Vergehen konnte ihm nicht nachgewiesen werden.«
Ihr Gespräch wurde unterbrochen, als die Pause vorüber war und sie in den Gerichtssaal zurückgerufen wurden. In ein paar Wochen würde dieses Kapitel beendet sein, doch die Folgen würden sie alle den Rest ihres Lebens begleiten. Egal, wie der Richterspruch lauten würde, für sie würde es nie ein endgültiges Ende geben.

Der Engländer macht’s

Fiebrige Kälte stieg in Pfeiffer hoch. Sie legte sich über jede seiner Nervenzellen und ließ ihn erschaudern vor Wut und Hilflosigkeit. Ein infernalisches Wechselbad aus furchtbarer Ohnmacht und archaischer Rachefantasie.

Ein kurzer Blick zu Berger, dann einer zum Fremden im Schatten. Was war zu tun? Was konnte denn überhaupt getan werden?

Erfahrungsgemäß blieb nicht viel Zeit, wenn man die Abläufe der zurückliegenden Suizide heranzog. Allesamt waren sie rasch und ohne Vorwarnzeit vonstatten gegangen.

In rasender Eile ging Pfeiffer die verbliebenen Optionen gedanklich durch. Würde sich Berger erschießen, um seiner Schwester Marlene das Leben zu retten, dann würden die Dinge ihren Lauf nehmen. Vielleicht wäre der Fremde dann befriedet. Oder aber er würde anschließend noch ihn selbst – Pfeiffer – erschießen, um sein Tagwerk als vollendet zu betrachten. Allerdings glaubte der Journalist nicht so recht daran, zumindest jetzt noch nicht, denn ganz offensichtlich ging es dem “Rächer” nicht nur um Vergeltung, sondern auch um Publicity, um Öffentlichkeit, um die Möglichkeit, aller Welt seine persönliche und tödliche Botschaft zukommen zu lassen.

Der Journalist fühlte sich wie in einem Vakuum – Raum und Zeit wurden eins, und es blieb nur wenig Hoffnung, abgesehen vielleicht von einem letzten Strohhalm, an den er sich klammerte – ohne aber zu wissen, ob er die Rettung bringen würde.

Ein guter Journalist pflegt sich einen “Plan B” zurechtzulegen, denn jede Story hat eigene Wendungen und man weiß nie, wie absurd es am Ende kommen kann. Und dies galt umso mehr für eine groteske Story wie diese hier, die er ja selbst – wenn auch nur als Komparse – live erlebte.

Ein weiterer Blick zum Reiseveranstalter. Sollte er versuchen, Berger dazu zu überreden, den Fremden zu erschießen? Das würde die Sache beenden, gleichzeitig aber das sichere Ende Marlenes bedeuten. Pfeiffer zögerte.

Verflucht! gab es denn keine Möglichkeit, weitere Tote zu verhindern?

“In dreißig Sekunden ist es 20:05 Uhr, meine Herren!”

Der Fremde schaltete sich nun wieder ein. Seine Stimme klang tief und sonor und ein diabolischer Widerhall wurde von den feuchten Waggonwänden zurückgeworfen. Die Hölle konnte nicht widerwärtiger sein.

Berger zitterte am ganzen Leib und Pfeiffer versuchte, Zeit zu gewinnen – eine in der Vergangenheit oftmals bewährte Methode:

“Es geschah also um 20:05 Uhr, wenn ich mich nicht irre, ja?”, rief er dem Fremden zu.

Und sein Plan schien fürs Erste zu funktionieren. Der Mann stutzte:

“Exakt. Um 20:05. Um diese Uhrzeit geschah das Furchtbare.”

Er gab Herrn Berger ein Handzeichen, mit seiner Selbsterschießung zu warten.

“Eigentlich wollte ich die Auflösung erst nach dem Freitod aller Beteiligten verkünden, um ein gebührliches Finale Furioso zu erzeugen. Für Ihr Abschlussvideo, Pfeiffer, das Sie heute noch publik machen werden. Allerdings, wenn ich es mir recht überlege, sollte Berger sich das Folgende tatsächlich mitanhören, bevor er sich das Leben nehmen wird. Er muss ja nicht als Unwissender sterben.”

Der Mann trat mit mächtigem Schritt aus dem Schatten. Und jetzt war er auch für Pfeiffer zum ersten Mal von vorne zu sehen. Ein wahrer Hüne, zwei Meter von Wuchs, vielleicht mehr, und mit einem Gesicht wie aus Granit geschlagen. Die Haut zerfurcht und betongrau, mit durchdringenden blassblauen Augen, die in tiefen Höhlen saßen – wie Muränen, die stets zum tückischen Totschlag bereit sind.

Der Mann mochte an die siebzig Jahre alt sein und er sah furchteinflößend aus – selbst ohne Waffe, die er noch immer in seiner Jackentasche trug.

Er räusperte sich und begann.

“Mein Name ist …”

Doch er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.

Drei Beamte vom Überfallkommando Frankfurt Süd hatten den Hünen zu Boden gerungen, professionell entwaffnet und Handschellen angelegt.

Das Ganze war so schnell und überraschend gegangen, dass er keinerlei Gegenwehr leisten konnte und nun schnaubend und kopfschüttelnd im Schneidersitz auf dem kalten Boden des Eisenbahnwaggons saß – zu Füßen der drei Beamten.

Sie zogen ihn am Kragen ein Stück von der Türe weg, um Platz zu machen für eine weitere Person, die sich anschickte, die skurrile “Bühne” zu betreten.

“Those bloody stairs”, hörte man dieselbe fluchen, bevor sie im Licht erschien. In voller Größe, mit Inverness-Mantel und Deerstalker, jener legendären Hirschjäger-Mütze.

Pfeiffer stieß einen Jubelschrei aus

“Holmes? Inspektor Holmes! Du bist es wirklich? Du hast es tatsächlich rechtzeitig geschafft?”

“Of course, Pfeiffer. Ich bin es schließlich gewohnt, unter Zeitdruck meine allerbesten Denkleistungen zu vollbringen.”

Richard Berger erlangte langsam die Fassung wieder, drohte dieselbe aber im gleichen Moment wieder zu verlieren.

“Was, Holmes? Wie, Holmes? Bin ich nun endgültig in der Klapsmühle gelandet? Oder Wollen Sie mich zum Narren halten? Was soll dieser Holmes-Mist, Pfeiffer?”

Holmes winkte gelassen ab.

“Beruhigen Sie sich, Mister Berger. Sie haben genug durchgemacht, wie mir scheint. Und ja, Sie dürfen es glauben, Sir, ich bin tatsächlich Inspektor Sherlock Holmes – allerdings der Dritte, Enkel des berühmten Detektivs. Darüberhinaus bin ich Inspektor, kein Privatdetektiv, wie mein Großvater einer zu sein pflegte. Das ist ein signifikanter Unterschied, Gentlemen!”

Ihm entfuhr ein kurzes God bless him, God bless Sherlock Holmes, er bekreuzigte sich und fuhr dann fort:
“Ich bin zu Besuch bei meinen Berufskollegen in Deutschland, mein jährlicher Pflichtbesuch beim Morddezernat Frankfurt sozusagen”, antwortete er mit britischem Akzent, “und als ich hörte, dass mein Freund Pfeiffer freiwillig die Polizei zu einem Tatort gerufen hatte, anstatt die Sache selbst journalistisch auszuschlachten, da wusste ich, dass es sich um eine ganz große, um eine furchtbar tödliche Sache handelt musste. Ich zog sofort alle Register und begann mit der Arbeit.”

Pfeiffers Gesichtszüge zeigten ein sich immer mehr entspannendes und breites Grinsen und er atmete erleichtert aus, als Holmes auf ihn zutrat, um ihm die Hand zu schütteln. Offenbar hatte der Journalist mit seinem spontanen und heimlichen Notruf bei der Polizei – denn Berger hatte nichts davon gewusst– genau das Richtige getan.

“Danke, dass Du hier bist, Holmes. Ich war in großer Sorge.”

“My pleasure, Pfeiffer”.

Die beiden Gentlemen kannten sich seit Jahrzehnten und waren sich in der Vergangenheit immer wieder bei den verschiedensten Fällen über den Weg gelaufen – nicht nur in Frankfurt, nein, auch in Paris, London und einmal sogar in Wladivostok, wo sie einen aus Belgien geflohenen Gangster überführen mussten, der sich den Decknamen “Hercule Poirot” zugelegt hatte, was die Klärung des Falls erschwert hatte, doch diese Geschichte lag lang zurück.

Das Rezept für die belgische Zubereitung von French Fries brachte damals die Lösung. Der Fall ging als Pommes-Frites-Attentat in die Annalen der Polizeigeschichte ein und er wird noch heute als Paradebeispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Presse und Polizei herangezogen, wann immer es ein Paradebeispiel für die erfolgreiche Zusammenarbeit von Presse und Polizei braucht

“Ich hoffe, Du konntest Licht in die Angelegenheit bringen, Holmes”, fragte Pfeiffer vorsichtig.

Doch statt einer Antwort von Holmes ertönte ein lautstarker Vorwurf seitens Richard Bergers:

“Sie Teufel, Pfeiffer! Während Sie hier Nettigkeiten austauschen, haben Sie das Leben meiner Schwester verwirkt. Man hatte uns doch explizit verboten, die Polizei zu rufen”.

Holmes winkte abermals lässig ab.

“Beruhigen Sie sich endlich, Berger. Ihrer Schwester Marlene geht es hervorragend, seien Sie versichert. Ich sagte doch, ich begann sofort zu kombinieren. Und der Fall war einfacher zu lösen, als es Ihnen erscheinen mag, Gentlemen.”

Pfeiffers trübes Gesicht vollzog eine sekundenschnelle Metamorphose. Seine Schwester war gerettet! Mit einem Mal grinste er wie ein Honigkuchenpferd, ja, er begann sogar mit angedeuteten Tanzbewegungen, die er aber nach einem kritischen Blick des Inspektors schnell wieder einstellte.

Holmes nahm einen bedächtigen Zug aus der Pfeife und setzte seinen Bericht fort:

“Wie Sie sicher richtig vermuteten, handelte es sich hierbei um einen arglistigen Rachefeldzug, der mit der Prostitution junger Mädchen zu tun hatte. Und als ich von der Uhrzeit, 20:05, hörte, begab ich mich sofort auf eine intuitive Zeitreise in die Vergangenheit, die mich genau zehn Jahre zurückführte.

Ich erinnerte mich an den Selbstmord einer jungen Prostituierten namens Dinka Jordanova, die im Venustempel gearbeitet hatte. Die Sache war damals von meinen Kollegen der Frankfurter Mordkommission bearbeitet worden, bis sich herausgestellt hatte, dass es sich um einen Suizid gehandelt hatte. Die Sache kam damals nicht in die Zeitungen und lief auch an dir vorbei, Pfeiffer. Es war ein Selbstmord wie jeder andere gewesen, möchte man fast sagen, nur eben im Rotlichtmilieu. Es hatte keine Notwendigkeit bestanden, eine große Geschichte daraus zu machen und den Namen des Mädchens unnötig in den Dreck zu ziehen. Zudem hatte ihr leiblicher Vater darum gebeten, den Fall nicht zu veröffentlichen. War es nicht so, Georgi?”

Holmes drehte seinen kompletten Körper ruckartig zu dem Mann in Handschellen, der zusammengesunken und vor sich hin starrend zu Füßen der Beamten kauerte. Dabei hielt er die Hände hinter seinem Rücken verschränkt.

“War es nicht so, Georgi Jordanov?”

Jordanov sah nicht auf, flüsterte aber leise, schien zu Tränen gerührt:

“Ich habe es für Dinka getan. Meine geliebte Dinka …Sie war doch erst neunzehn …”

Der Hüne sank zusammen, außerstande, weiterzusprechen.

Holmes sprach für ihn weiter.

“Georgi ist Bulgare, aus Sofia stammend. Aber er spricht hervorragendes Deutsch, da er viele Jahrzehnte als Universitätsprofessor in Deutschland tätig war. Ich lernte ihn kennen, als seine Tochter sich tragischerweise das Leben genommen hatte – vor zehn Jahren. Der Tod trat um 20:05 ein. Es war ein furchtbarer Schock für ihn gewesen, da er nicht gewusst hatte, welchem Beruf sie nachging. Sie war aufgrund von Drogen auf die schiefe Bahn geraten und hatte sich in Sofia von einer Rekruterin anwerben lassen, um in einen der Busse von Richard Berger zu steigen, welche die armen Mädchen einmal im Monat von Bulgarien nach Frankfurt brachten. Ein ausgemachter Menschenhandel. Dazu später noch mehr.”

“Ahh! Nein …”

Jordanov versuchte nun, sich aufzubäumen, schrie wie am Spieß, schlug um sich, doch den Beamten gelang es, ihn zu fixieren.

Und Berger war anzumerken, dass er über eine Fluchtmöglichkeit nachgedacht hatte. Immerhin war er gerade des regelmäßigen Menschenhandels bezichtigt worden, obgleich er selbst laut eigener Aussage ja nicht gewusst haben wollte, wofür Herr Töpfer seine Busse eingesetzt hatte.

“Ruhe jetzt. Alle!”

Holmes setzte seinen Bericht fort.

“Georgi Jordanov war nach dem Tod seiner Tochter für immer nach Bulgarien zurückgegangen, hatte aber zuvor viele Drohungen und Flüche ausgesprochen, als er in den Zug stieg – allerdings auf Bulgarisch, so, dass nur ich sie verstehen konnte, da ich des Bulgarischen mächtig bin.”

Ein anerkennendes Nicken von Pfeiffer und Berger.

“Und weiter?”, fragte Pfeiffer.

“Nun, da Georgi ein hoch intelligenter Mann war und ist, hatte er die vergangenen zehn Jahre dazu genutzt, seine Rache aufs Penibelste vorzubereiten. Er schmiedete einen satanischen Plan, und er wäre ja beinahe damit durchgekommen, wenn du mich nicht um Hilfe gebeten hättest, Pfeiffer.”

Holmes machte eine kurze Pause, um sich die Pfeife neu anzuzünden. Er paffte ein paar Mal und berichtete weiter.

“Nun also zum Ablauf der Morde, beziehungsweise der Selbstmorde. Hierzu darf ich versichern, dass keiner der Morde ein Selbstmord war. Jordanov hatte jede Waffe manipuliert. Er konnte sie per Fernbedienung auslösen, nachdem er die Opfer so weit gebracht hatte, sich den Pistolenlauf in den Mund zu stecken. Das taten sie bereitwillig, denn er hatte ihnen damit gedroht, dass er sie andernfalls erschießen würde, denn selbst hätte wohl keines der Opfer je abgedrückt, dessen bin ich sicher, und eine bereits erfolgte Hausdurchsuchung in seinem Hotel in Frankfurt hat meine Vermutung mittlerweile bestätigt. Wir fanden Waffen mit Fernsteuerungsmechanismus.

Glücklicherweise hatte Jordanov als intelligenter Mensch die Angewohnheit, sein Vorgehen minutiös zu planen und auch vorab niederzuschreiben. Daher weiß ich, dass sich auch deine Maria nicht freiwillig erschossen hat, Pfeiffer. I am so sorry, my friend.”

Holmes hielt kurz inne, um dem Journalisten etwas Zeit zu gewähren, mit seinen Gefühlen zurecht zu kommen. Dem Journalisten liefen Tränen übers Gesicht und er musste sich setzen.

“Es tut mir so leid, Pfeiffer. Allerdings haben wir in Georgi Jordanovs Hotelzimmer auch ein Tagebuch seiner Tochter Dinka Jordanova gefunden. Darf ich dir die Zeilen vorlesen, die sie über deine Frau Maria schrieb?”

Der Journalist fuhr hoch.

“Wie bitte? Die beiden kannten sich?”

“Oh ja, das taten sie. Meine Recherchen ergaben, dass Maria fünf Jahre lang im Venustempel als Prostituierte gearbeitet hatte - lange bevor ihr euch kanntet.”

“Oh, mein Gott, das wusste ich nicht.”

Der Journalist war erschüttert.

Holmes fuhr fort.

“Ja, das dachte ich mir. Doch leider gehört auch das zur Wahrheit dazu. Dinka Jordanova hat Maria monatelang ihr Leid geklagt, wie den Aufzeichnungen zu entnehmen war, und ihr gesagt, dass sie gern aus dem Business aussteigen würde, dass sie es aber nicht wage, da die Betreiber des Etablissements ihr mehrfach gedroht hätten, dass sie ihren Vater umbringen würden. Es muss schrecklich für sie gewesen sein. Umso mehr, als sie es nicht wagte, sich ihrem Vater anzuvertrauen, was die Dinge vielleicht verändert hätte. Und so gab es für sie am Ende nur einen Ausweg. Den Freitod.”

“Oh, mein Gott”, schluchzte Pfeiffer, “ich hatte ja keine Ahnung.”

Er nahm seinen Stetson ab, den er sich von Berger geliehen hatte, nachdem er seinen Fedora während der Fahrt verloren hatte, und vergrub sein Gesicht in dem breitkrempigen Cowboyhut.

“Ich hatte ja keine Ahnung…” wiederholte er, wieder und wieder. “Ich hatte ja keine Ahnung”, und seine Stimme klang dumpf und hohl, kaum noch hörbar. Ein guter Stetson trotzt nicht nur der Sonne, sondern kann auch Wehklagen schlucken.

Holmes klopfte seinem Freund aufmunternd auf die Schulter.

“Kopf hoch, mein Junge. Das wird schon wieder.”

Dann deutete er mit ausgestrecktem Arm anklagend auf Richard Berger.

“Und Sie, Freundchen, Sie werden von den Beamten direkt mitgenommen. Das habe ich veranlasst. Mal sehen, wie viel sie wirklich wussten oder nicht wussten.”

“Aber, Herr Holmes, ich wusste nicht, dass …”

Holmes hob die Hand.

“Schweigen Sie. Wir werden sehen, was am Ende dabei herauskommt. Das werden die Kollegen übernehmen.”

Berger fügte sich und übergab seine Waffe an Sherlock Holmes, der diese einforderte.

“Danke, Berger.”

“Ja, natürlich, Mister Holmes. Aber darf ich noch eine Frage stellen?”

“Ja.”

“Wo ist meine Schwester Marlene. Wie konnten Sie sie finden und wie geht es ihr?”

Holmes sah ihn scharf an.

“Das war die einfachste Übung. Jordanov hatte eine Skizze im Hotel hinterlegt, wo er sie gefangen hielt. Sie ist übrigens längst in Polizeigewahrsam. Wir wissen, dass Marlene die Rekruterin war, die die jungen Mädchen in Bulgarien unter Vorspielung falscher Tatsachen anlockte. Dies dürfte auch Sie weiter belasten. Sie hat übrigens längst gestanden, und dasselbe würde ich Ihnen auch raten.”

Berger konnte nur noch entwaffnet nicken.

Dann wandte sich Holmes noch einmal Georgi Jordanov zu.

“Und Sie, mein Lieber? Sie hätten besser für ihre Tochter gebetet, anstatt weitere Menschen zu töten. Sie sind ein so kluger und gebildeter Mann. Was war nur in Sie gefahren?”

Jordanov blickte zu ihm hoch und die zwei tauschten einen kurzen, aber ehrlichen Blick aus.

“Ich habe es versucht, Mister Holmes, aber ich konnte nicht anders.”

Holmes nickte.

“Ja, Jordanov. Vielleicht konnten Sie das wirklich nicht.”

Dann hob er seine Mütze zum Gruß, es war mir eine Ehre, Gentlemen, und verließ den Waggon.

Dieser Text zählt nicht zum Schreibwettbewerb. Geschrieben ausser Konkurrenz.

Die Papyren

Berger schaut erstarrt in die Kamera, das Lichtlein leuchtet stumm vor sich hin. Der helle Strahler blendet mit seinem gleißenden Licht. Heller, heller…

… heller, alles wird weiß. Ein schwarzer Balken blinkt vor Berger auf, er dreht sich zur Seite, leere. »Pfeiffer? « Fragt er in das weiße hinein. »Ja?« Antwortet Pfeiffer, welcher nun neben ihm steht. Der Balken blinkt, scheidet neue Buchstaben aus, Buchstaben werden zu Worten, Kommas trennen die Halbsätze auf, Punkte beenden. »Wo sind wir?« Sagt und liest Berger zugleich. Wartet, wartet, wartet. ›Weiterschreiben?‹ ziert nun alles. »Sind wir tot?«
Die beiden schauen sich an. Das ›Weiterschreiben?‹ steht immer noch groß vor ihnen. Frustriert tritt Pfeiffer in das Nichts hinein, alles ändert sich. Text über Text wallt sich vor ihnen auf, eine ganze Wand.
»Ich sterbe? Ich lebe? Ich werde ein Held?« Berger und Pfeiffer murmeln vor sich hin während dem lesen. Ganz wirr wird ihnen, Chaos, so viele Wege. Wo kommen die Zwerge her? Schon wieder weg. Reiseführer? Wer?
»Wer ist dieser Hartmut?«, fragt Berger, »und wer ist Anachronica?« Pfeiffer zuckt mit den Schultern, liest weiter. Die Buchstaben verschwimmen vor seinen Augen, ein Seitenwind wirbelt alles durcheinander.
»Wer räumt diesen Buchstabenhaufen wieder auf?«, will Berger wissen. »Kick,« liest Pfeiffer laut einen Namen, »Wie ist es mit Sifaka? Und Shi Gelle, Bommel und…« Berger tritt näher an die Worte heran, es klickt erneut. ›Weiterschreiben?‹
Pfeiffer grunzt, Berger verzieht schmerzverzerrt das Gesicht und hält sich den Fuß. Pfeiffer streckt die Hand aus, drückt auf ›Weiterschreiben‹. Der Balken taucht wieder auf, blinkt.
»Was sollen wir machen?«, fragt Berger verunsichert. Pfeiffer reibt sich die Stirn bevor er antwortet: »Lass mich mal machen.«
Pfeiffer drückt im nichts herum, Buchstaben erscheinen, Pfeiffer beginnt darauf einen seltsamen, ruckartigen Tanz, drückt hie und da auf einen ein.

Hört mal her ihr gnadenlosen Autoren – Ihr seid nicht Gott. Ihr mordet, mordet ohne Grund, und zeigt das allen! Schämt euch, ihr seid Mörder, keine Schöpfer! Und die anderen, Ihr lest das, motiviert zu weiteren Morden, ergötzt euch daran. Und als ob das alles nicht reichen würde – nein, ihr kommentiert das dann auch noch. ‚Boah – alle tot, so schön, mir gefällt das.‘

Pfeiffer ist schon ganz in Rage, springt nun von Buchstaben zu Buchstaben mit voller Kraft:

IHR KOTZT MICH AN!

Berger und Pfeiffer schauen sich an. Pfeiffer nickt zufrieden, Berger tritt vorsichtig vor, berührt nun auch die Buchstaben.

Ende.

Nach dem Einschalten der Webcam verließ der Unbekannte den Waggon. Christian Pfeiffer und Richard Berger warteten noch einen Moment, um sicherzugehen, dass er auch wirklich weg war, dann schaltete Christian Pfeiffer die Kamera kurz aus, um mit Richard Berger über einen Plan den er hatte zu sprechen.
„Richard, Ich habe einen Plan. Wir können das nicht einfach so hinnehmen.“
„Ich weiß, Christian. Aber was sollen wir tun? Er erwartet, dass ich mich selbst richte.“
„Wir werden den Selbstmord vortäuschen. Hier ist der Plan: Du wirst die Waffe so halten, dass der Schuss dich nicht trifft, dann lässt du dich zu Boden sinken. Es muss nur echt aussehen, aber es wird niemand verletzt. Danach werde ich das Video hochladen.“
„Bist du sicher, dass das funktioniert?“
„Ja, wir haben keine andere Wahl. Wir müssen es versuchen.“
Richard nickte und griff nach der Waffe. Er überprüfte sie und stellte sicher, dass sie sicher war.
„Bereit?“
„Ja, ich bin bereit.“
Christian schaltete die Kamera wieder ein.
Richard Berger stand vor der Kamera, seine Hände zitterten. Das rote Licht begann zu leuchten, und er wusste, dass dies der Moment war, in dem er alles gestehen musste. Der Raum war still, nur das leise Summen der Elektronik war zu hören.
„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!“
Seine Stimme brach, als er die Worte aussprach. Tränen füllten seine Augen, und er kämpfte darum, die Fassung zu bewahren. Er erinnerte sich an die Gesichter der Menschen, die durch seine Taten gelitten hatten, und die Schuld lastete schwer auf ihm.
„Ich weiß, dass Worte nicht ausreichen, um das wieder gut zu machen, was ich getan habe. Aber ich hoffe, dass mein Geständnis etwas bewirken kann.“
Er hielt inne und sah direkt in die Kamera, seine Augen voller Reue und Schmerz.
„Nach diesem Monolog werde ich mich selbst richten. Christian Pfeiffer wird das Video auf der Seite der FGZ hochladen. Ich hoffe, dass dies zumindest ein wenig Gerechtigkeit bringt.“
Mit einem letzten tiefen Atemzug griff Richard nach der Waffe, die vor ihm lag. Seine Hände zitterten, als er die Pistole hob. Tränen rollten über seine Wangen, als er leise flüsterte: „Es tut mir leid.“
Die Kamera zeichnete alles auf, und Richard drückte den Abzug. Ein lauter Knall hallte durch den Raum, und der Bildschirm wurde schwarz.
Nach dem Christian Pfeiffer das Video hochgeladen hatte, sagte er zu Richard Berger: „Es ist bald vorbei, aber wir müssen jetzt los, ich weiß wo er sich versteckt hat.“ Christian hatte einen entscheidenden Hinweis in Richard Bergers Geständnisvideo entdeckt. Auf dem Tisch neben Richard war ein Zettel mit einer Adresse zu sehen. Christian konnte gerade noch die Adresse entziffern, bevor der Bildschirm schwarz wurde. Er notierte sie schnell und dann machten sie sich auf den Weg.
„Ich hoffe, dass dies der richtige Ort ist…“
Sie fuhren bis zu einem heruntergekommenen Lagerhaus am Stadtrand.
Christian wusste, dass sie keine Zeit verlieren durften.
Er rief die Polizei an und sagte: „Bitte kommen sie schnell, wir wissen wo sich der Entführer aufhält, ich schicke ihnen die Adresse aber beeilen sie ich Bitte!“
Nachdem er die Adresse, Versackerstraße 57, Am Stadtrand der Polizei durchgegeben hatte, warteten beide angespannt in sicherer Entfernung.
In einem anderen Teil der Stadt stürmte die Polizei das Versteck, in dem Marlene Romero gefangen gehalten wurde. Die Beamten durchkämmten das Gebäude, ihre Taschenlampen durchdrangen die Dunkelheit.
„Frau Romero? Marlene Romero, sind Sie hier?“
Eine schwache Stimme antwortete aus der Tiefe des Gebäudes.
„Ja, hier drüben! Bitte helfen sie mir!“
Die Beamten folgten der Stimme und fanden Marlene, erschöpft und verängstigt, aber unversehrt. Sie halfen ihr auf die Beine und führten sie nach draußen.
Marlene sah die Polizisten mit Tränen in den Augen an. „Danke… danke, dass Sie mich gerettet haben.“
Ein Polizist legte beruhigend eine Hand auf ihre Schulter. „Sie sind jetzt in Sicherheit, Marlene. Wir bringen Sie ins Krankenhaus.“
Der Unbekannte saß in seinem Büro in dem Lagerhaus und sah sich das Video von Richard Bergers Geständnis mit einem zufriedenen Lächeln an.
Die Polizei war Christian Pfeiffers Hinweis gefolgt, und stand nun vor der Tür des Büros.
Panik breitete sich in seinen Augen aus, als es plötzlich laut an der Türe klopfte und jemand rief:
„Aufmachen Polizei“
Als er nicht reagierte, wurde die Tür aufgebrochen und die Beamten stürmten herein. „Hände hoch! Sie sind verhaftet!“
Christian Pfeiffer und Richard Berger standen draußen vor dem Gebäude und warteten, als die Beamten den Mann herausbrachten, riss er die Augen auf und sagte: „Was? Das kann nicht sein!“ Als er Richard Berger lebendig und in voller Größe dastehen sah.
„Sie haben das Recht zu schweigen. Alles, was Sie sagen, kann und wird gegen Sie verwendet werden.“
„Das ist ein Fehler! Ich habe nichts getan!“
„Wir wissen alles, Herr Weber. Ihre Zeit ist abgelaufen.“
Markus Weber wurde in Handschellen abgeführt. Die Polizei hatte endlich den wahren Täter gefasst, und die Gerechtigkeit konnte ihren Lauf nehmen.
Später trafen sich Christian Pfeiffer und Richard Berger, der seinen Selbstmord nur vorgetäuscht hatte, im Gerichtssaal.
Richard: „Danke, dass Sie die Wahrheit ans Licht gebracht haben, Christian. Ich werde für meine Taten einstehen.“
Christian: „Es war das Richtige. Jeder verdient eine zweite Chance, aber die Gerechtigkeit muss siegen.“
Richard nickte dankbar und sah zu Marlene, die im Publikum saß und ihm ein schwaches Lächeln schenkte.
Im Gerichtssaal herrschte eine angespannte Stille, als Richard Berger und Christian Pfeiffer Platz nahmen. Die Zuschauer waren gespannt, was als nächstes geschehen würde.
Der Richter betrat den Saal und alle erhoben sich.
„Sie dürfen sich setzen.“
Richard, der sichtlich nervös war, stand auf, als er aufgerufen wurde.
„Herr Berger, Sie haben sich freiwillig gemeldet und ein Geständnis abgelegt. Das Gericht anerkennt Ihre Reue und Ihren Mut, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Dennoch müssen Sie sich für Ihre Taten verantworten. Haben Sie etwas zu sagen, bevor das Urteil gefällt wird?“
„Ja, Euer Ehren. Ich möchte mich bei den Familien der Opfer entschuldigen. Ich weiß, dass meine Worte nicht ausreichen, um den Schmerz und Verlust wiedergutzumachen. Aber ich hoffe, dass meine Handlungen zeigen, dass ich bereit bin, für meine Taten einzustehen und etwas Gutes aus diesem Albtraum zu machen.“
Marlene, die im Publikum saß, sah Richard an und nickte ihm ermutigend zu. Der Richter sah zu Christian Pfeiffer, der als nächster aufgerufen wurde.
„Herr Pfeiffer, Ihre Hilfe war entscheidend für die Aufklärung dieses Falls. Haben Sie ebenfalls etwas zu sagen?“
„Ja, Euer Ehren. Es war nicht einfach, aber es war das Richtige. Richard hat Fehler gemacht, aber er hat auch den Mut gezeigt, diese Fehler einzugestehen und zu korrigieren. Ich hoffe, dass das Gericht dies berücksichtigt.“
Der Richter nickte und verkündete das Urteil.
„Richard Berger, das Gericht erkennt Ihre Reue und Zusammenarbeit an. Sie werden zu einer Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt, mit der Möglichkeit auf Bewährung nach drei Jahren, sofern Sie weiterhin mit den Behörden kooperieren und zeigen, dass Sie Ihre Lektion gelernt haben.“
Richard atmete tief durch und nickte.
„Danke, Euer Ehren. Ich werde mein Bestes tun, um mich zu bessern.“
Nach der Urteilsverkündung verließen Richard und Christian den Gerichtssaal. Marlene trat zu ihnen und lächelte.
„Danke, dass ihr die Wahrheit ans Licht gebracht habt. Es wird Zeit brauchen, aber ich denke, wir können alle daraus lernen und wachsen.“
„Das hoffe ich auch, Marlene. Gemeinsam schaffen wir das.“
„Ich werde hart daran arbeiten, das Vertrauen wieder aufzubauen, das ich zerstört habe.“
Das Gerichtsurteil und die Wiedervereinigung mit Marlene gaben Richard und Christian die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, die Wunden der Vergangenheit zu heilen und eine neue, gerechtere Zukunft zu schaffen.

Die Schwester

»…Das …das kann ich nicht«, hörte Pfeiffer die Stimme des älteren Mannes gespenstig leise. Fast glaubte er, den Satz nicht vollständig gehört zu haben, doch mehr hatte Berger nicht gesagt.

»Dann haben Sie sich entschieden?«, sagte der Fremde lockend.

»Nein!«, rief Berger sofort rau und mit angestrengtem Nachdruck, als hätte seine Stimme keine Kraft mehr.

Pfeiffers Gedanken rasten, drehten sich im Kreis. Er wurde sich der Kälte im Wagon bewusst, der Feuchtigkeit. Drückend. Der Venustempel. Klaus Töpfer. Sofia. Frankfurt. Ein Reiseunternehmen. 10 Tausend Euro für eine gedeckte Busfahrt. Der Zusammenhang erschloss sich ihm, doch nicht der Grund, warum sie hier zu dritt standen.

Er wagte eine Frage. »Was hätte ich herausgefunden, hätte ich weiter recherchiert?«

Der Fremde drehte langsam den Kopf von Berger zu ihm.

»Das interessiert Sie jetzt?«, sagte er kalt. Nüchtern und dann, als Pfeiffer nicht mehr damit rechnete, hörte er den Fremden leise wiederholen: »Jetzt.«

Zu spät, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Wir übersehen etwas. Wir haben etwas übersehen. Etwas, dass nicht mehr reversibel ist.

»Es … ja. Ja es interessiert mich jetzt. Muss es das nicht? Wir stehen hier mit zwei Pistolen in einem leeren Bahnwagon und diskutieren, wer sich wann erschießen soll. Ja. Es interessiert mich jetzt

»Mich nicht«, erwiderte der Fremde leise und nach wie vor so ruhig, als hätte er keine eigenen Karten in diesem Spiel. Hatte er wirklich keine?

»Denken Sie lieber an Marlenes jetzt, das wird nicht mehr sehr lange dasselbe sein wie Ihres.«

Berger hielt die Pistole linkisch, als wäre sie ihm lästig und zu schwer. Pfeiffer hatte mal bei einer Recherche gelesen, dass eine durchschnittliche Halbautomatik um die 900Gramm wog, deutlich mehr als er angenommen hatte.

Nicht wichtig, schalt er sich selbst, denk nach, wie konnte er an einen Hinweis kommen. Die Kamera lief. Die Sekunden verstrichen. Berger starrte ins rote Blinken, als wäre er nicht mehr länger selbst für seine Handlung verantwortlich.

Grauer Sichtbeton an Wänden und Boden. Marlene gefesselt davor. Das Video. Hier war kein Beton. Vielleicht irgendwo auf dem Gelände oder doch in einem privaten Keller? Wir brauchen den Mistkerl.

»Was garantiert uns, dass Sie uns sagen, wo sie ist, wenn … er…«, Pfeiffer verstummte, als Berger neben ihm nach Luft schnappte.

»Gar nichts. Welche Garantie hatte…«, sagte der Fremde wütend und brach dann abrupt ab. »Nehmen Sie das Video auf! Ihre Schwester stirbt!«, sagte er dann.

»Sie haben jemanden verloren«, flüsterte Pfeiffer. Berger neben ihm wimmerte.

Doch der Fremde sah ihn fest an. Und obwohl er die Züge des jungen Mannes nur erahnen konnte, erkannte er doch, dass er ins Schwarze getroffen hatte.

»Glauben Sie wirklich, ich mache das hier zum Spaß?«

»Warum machen Sie es?«

»Das erzähle ich Ihnen, wenn Herr Berger sein Video aufgenommen hat. Wenn Sie es hochgeladen haben.«

Er machte einen Schritt auf Berger zu. »Richard, was ist schon der Tod? Ein kurzer Zug mit dem Zeigefinger. Sie haben es geschafft, bevor es knallt. Vertrauen Sie mir.« Zu Pfeiffers Erschütterung nickte Berger. Er korrigierte den Griff um die Pistole und hob die Waffe an seine Schläfe.

Der Fremde seufzte. »Sie müssen die Kugel noch in die Kammer laden.«

Berger nahm die Pistole runter und sah darauf, als hätte der Fremde ihm den Auftrag gegeben die Cookies auf seinem Smartphone zu löschen.

»Zum Glück müssen Sie nur einmal abdrücken«, sagte der Fremde und riss dem älteren Mann die Waffe aus den Fingern. Er schob den Schlitten der Pistole einmal nach hinten und ließ ihn wieder nach vorne schnellen. Es klickte vermeintlich vertraut.

»Jetzt.«

Berger nahm die Waffe erneut. Diesmal zitterten seine Finger.

Der Fremde wiederholte die Worte, die er sagen sollte und Berger sprach ihm nach, als stünden Sie vor einem Altar und nicht in einem verfluchten Eisenbahnwagon.

»…I…ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie wir alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier…«

Er brach ab, schluckte. Seine Augen glänzten wässrig. Das Licht der Handytaschenlampe flackerte leicht, weil Pfeiffers Finger nicht mehr still waren.

Berger atmete zittrig ein, fast synchron zum unsteten Licht. »Ich bin ein ein …Schwein!… ich bin ein Ausbeuter. Ein …Kapitalist«, er flüsterte fast. Dann schloss er die Augen und sagte schnell: »Sag Dorothea…«

Doch Pfeiffer ließ ihn nicht ausreden.

Er stürzte sich auf den rundlichen Mann, riss ihm die Waffe aus der Hand und drückte ab. Der Abzug ging widerständiger, als er jemals angenommen hatte. Der Rückschlag war hart, aber erträglich. Der Knall dagegen riss an seinem Trommelfell. Es rauschte, dann sirrte ein ekelhafter Ton in seinen Ohren. Doch die Kugel war raus und irgendwo in der Wagonwand eingeschlagen. Er reagierte sofort, schmiss die Pistole aus dem offenen Wagon und schubste Berger hinterher. Der Mann strauchelte nach draußen. Pfeiffer sprang hinterher, zog ihn mit auf die Beine und huschte mit ihm zum nächststehenden Zug.

»Er wird uns töten«, brach es tonlos aus Berger heraus. Vielleicht hatte der Mann recht. Pfeiffer kletterte behände über eine Kopplung und half Berger darüber. Sie huschten zur Seite hinter den anderen Zug. Hastig schaltete Pfeiffer das Licht an seinem Endgerät aus.

»Dann war es das mit Marlene, was?!«, rief der Fremde ihnen hinterher. »Ihr seid alle gleich!«

Pfeiffer und Berger pressten sich an die Rückseite eines kalten rostigen Kontainerwagons. Es knirschte, als der Fremde aus dem Wagon sprang. Hinter dem Zug, der sie verbarg, ging er auf und ab. »Ich weiß, wo ihr seid! Ihr Feiglinge!«

»Vielleicht braucht ihr doch etwas Kontext.«

Wir brauchen seine Waffe.

»Maria kannte sie. Wissen Sie … Maria mit ihr hat alles angefangen und mit Marlene hat es aufgehört. Und mit Ihnen natürlich. Eigentlich hat es mit Ihnen angefangen, Richard. Sie haben die Busse ermöglicht. Die Entführung.«

Der Fremde drehte um, ging wieder das Stück zurück, dass er gerade gekommen war. Wie ein Wolf schritt er hinter dem Zug auf und ab.

»Maria wusste davon, sie hat Marlene von ihr erzählt. Und Sie, Pfeiffer, Sie hätten es beinahe herausgefunden. Aber das war Ihnen dann zu heikel. Marlene hat ihr nicht geglaubt. Maria war es nicht wichtig genug. Klaus hat sie ermordet. Und ich habe sie nur noch beerdigt.«

»Wen!«, rief Pfeiffer und biss sich auf die Lippe. »Scheiße«, flüsterte er entschuldigend zu Berger. Der Fremde wusste doch eh wo sie waren.

»Meine Schwester«, sagte der schnarrend.

»Ihr fünf seid schuld, dass sie tot ist.«

»Und ihr habt keine Zeit mehr«, sagte er dann und stieg einen Wagon weiter über die Kopplung. Er schwang sich regelrecht herüber, leise wie ein Schatten. Er hatte seine Waffe gezogen und hielt ihnen die Mündung entgegen. Ein schwarzer kleiner Abgrund, dachte Pfeiffer. Berger neben ihm drückte sich noch weiter gegen das Metall.

»Ich braucht ein stärkeres Incentive, habe ich recht.«

»Telefone. Auf den Boden. Los.«

Sie gehorchten, was blieb ihnen anderes übrig. Wenn es eine Sache gab, die der Fremde bewiesen hatte, dann, dass er bereit war, abzudrücken.

Sie ließen ihre Geräte auf den Schotter fallen.

Der Fremde kam auf sie zu. Die Waffe nach wie vor auf Höhe ihrer Köpfe.

»Wir spielen ein neues Spiel. Eines, wo es um Eile geht. Sie fahren«, befahl er und nickte Pfeiffer zu. Mit stelzenden, steifen Schritten gingen sie zurück zum Opel.

Da der Opel kein Fünftürer war, ließ der Fremde Berger nach hinten klettern, ehe er mit ausgerichteter Pistole auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Pfeiffer fühlte sich, als würde er sich von außen beobachten, wie er in sein eigenes Auto stieg, dass sich anfühlte, wie das eines anderen. Er startete den Motor und fuhr vom Gelände.

Sie fuhren nicht lange. Der Fremde dirigierte sie. Christian Pfeiffer wusste nicht mehr, wie diese Nacht ausgehen könnte. Ein winziger Teil von ihm fragte sich, ob er bereits zu Hause wäre, wenn er Berger nicht gestoppt hätte. Und warum hatte er es diesmal getan? Maria war tot. Er hatte versagt. Einmal wieder kam die Erinnerung wie Galle hoch, die Sekunden. Zu spät. Und dann dachte er daran, dass er diesen Gedanken vorhin gehabt hatte. Gab es etwas, dass ihn und den Fremden verband? Oder nur ihn selbst mit seiner Rolle in diesem absurden Spiel?

»Hier rein«, befahl der Fremde und Pfeiffer wäre fast an der Einfahrt in ein kleines Wohnviertel am Stadtrand vorbeigefahren. Sie hielten vor einem alten Einfamilienhaus.

»Aussteigen.«

»Wohnen Sie hier?«, fragte Pfeiffer, als sie die Stufen zur Haustür hochstolperten.

»Würde ich Ihnen das jemals sagen? Nein. Also bewegen und Klappe halten. Gleich können Sie so viel reden, wie sie wollen.«

Der Hausflur war dunkel und leer. Das Haus schien ausgeräumt worden zu sein. Überall hing der mottenartige Geruch von alten Möbeln und noch älterer Tapete. Es roch wie bei Pfeiffers Großeltern. Wie bei allen Großeltern. War es der Geruch einer Epoche oder nur der des Verfalls. Würde seine Wohnung irgendwann so riechen? …sollte er sie je wieder betreten. Den Lauf der Pistole im Rücken gingen sie zur Treppe und hinunter. Natürlich. Der Keller war nie vollumfänglich ausgebaut worden. Die Wände waren betoniert und kahl. Ein altes Fahrrad, ein Schuhregal. Einige Autoreifen und Regale mit allem, was das Leben ansammelte, was niemand je wieder gebrauchen oder wegräumen würde. Zwei Türen.

»Auf die Knie.«

Berger gehorchte sofort. Pfeiffer dagegen sah irritiert zu ihrem Erpresser.

»Los.«

Dann ging er doch in die Knie. Der Fremde trat an eine der Türen und sperrte auf. Dahinter war ein leerer Raum. Aus einer Ecke kam milchiges blaues Licht. Wie von einem Bildschirm. Der Fremde trat von der Tür weg. Hinter sie.

»Aufstehen und reingehen oder einer von euch kriegt eine Kugel ins Knie.«

Sie folgten. Tatsächlich stand in dem Raum ein Schreibtisch mit einem Laptop. Auf dem lief ein Video. Der Fremde trat zu ihnen.

»An die Wand.«

Pfeiffer stolperte über etwas am Boden. Ein winziger metallener Haken, der zu einer Metallplatte gehörte, die auf dem Boden lag. Dann erst begriff er, dass sich darunter ein Hohlraum befinden musste. Und sobald er und Berger an der Wand standen, hob der Fremde die Metallplatte an und öffnete sie, bis er sie auf der anderen Seite fallen ließ. Und in dem Hohlraum kauerte die gefesselte Marlene. Sie schnappte erleichtert nach Luft und atmete gierig ein und wieder aus.

»Marlene!«, rief Berger sofort.

Sie nickte und unterdrückte hörbar ein Schluchzen. Der Fremde zerrte sie aus dem Loch, ohne dabei die Pistole loszulassen. Dann stellte er sie ebenfalls an die Wand. Sie konnte sich mit ihren gefesselten Gliedmaßen kaum halten.

»Hier. Schluckt die.« Er schmiss ihnen drei kleine Objekte vor die Füße.

»Auf keinen FAll«, sagte Berger.

»Plötzlich mutig?«

»Sie können uns nicht zwingen.«

Der Fremde lachte so laut, dass Marlenes klagender Laut darin unterging.

»Ne. Wirklich. Ja. Kann ich nicht. Stimmt.«

Es knallte furchtbar laut. Es klirrte in Pfeiffers Ohren, dann schrie es. Aber das Schreien kam von Berger. Er ging in die Knie und klammerte seine Hände um sein Bein. Schwarz quoll das Blut in der Dunkelheit des Raums zwischen seinen Fingern hervor. Es tränkte seine Hose und lief zum Boden.

»Los. Schlucken.«

Pfeiffer bückte sich und sammelte den kleinen Gegenstand auf. Er wartete, dass Berger und Marlene ihre ebenfalls in den Mund schoben, ehe er schluckte. Kalt und kantig glitt der kleine Schlüssel seine Speiseröhre hinunter.

»Sehr schön. Mund auf.«

Der Fremde leuchtete ihn in den Mund wie in der Psychiatrie, um sicherzustellen, dass sie ihre andersartige Medikation genommen hatten. Dann machte er auf dem Absatz kehrt. »Der Schlüssel macht die Tür auf. Aber ihr habt nur eine Stunde, bis ich euch hier drin erledige. Einer von euch wird sich wohl opfern müssen. Wenn euch langweilig ist, guckt das Video.«

Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Ah, habe ich fast vergessen, die hier kriegt ihr natürlich.«

Daraufhin ließ er seine Pistole auf den Boden Fallen und daneben legte er einen 20cm langen Dolch. »Ihr werdet gefilmt. Hochladen werde ich es wohl selbst.«

Dann schloss er die Tür und das Letzte, was sie von dem Fremden hörten, war der Schlüssel im Schloss.

Berger wandte sich weinend an seine Schwester, die in die Knie ging. Noch immer blutete sein Bein viel zu stark. Pfeiffer verdrängte den Gedanken. Er ging zum Laptop und stoppte das stumm ablaufende Video. Es zeigte das Gesicht einer jungen Frau. Er spulte zurück zum Anfang und hob die Stummschaltung auf.

»Nein, gucken Sie das nicht!«, bat Marlene in seinem Rücken, doch Pfeiffer ignorierte sie. Auf dem Video blickte die junge Frau strahlend in die Kamera.

»Filmst du? Haha. Hiii«, sagte sie gedehnt und ging dann mit lockeren Schritten vor. Sie drehte sich wieder um und sah in die Kamera. »Hellooo Sofia, wir kommen!«

Sie waren in Sofia. Pfeiffer war nie in Bulgarien gewesen. Das Video brach ab. Dann folgte der Ausschnitt, den Pfeiffer soeben gestoppt hatte. Man sah das Gesicht des Mädchens im Close Up. »Ich weiß nicht, wo ich bin, Viktor. Bitte hol die Polizei, hier sind auch noch andere Mädchen, aber sie sprechen weder Deutsch noch englisch. Ich hab richtig Angst. Bitte hol mich hier raus. Track mein Handy oder so…«

Lärm brach aus und das Video wurde beendet. Was war mit ihr passiert? Der Bildschirm blieb schwarz, tauchte den Kellerraum in absolute Finsternis. Dann wurde er wieder etwas heller. Diesmal zeigte er ein kitschig eingerichtetes Schlafzimmer und erst als Pfeiffer die halbnackte Frau auf dem Bett sah, begriff er, was für ein Zimmer das war. Und wer der Mann war, der soeben reingekommen war. Das Mädchen schrie und flehte. Das Mädchen aus dem Video.

»Bitte nicht bitte. Bitte. Ich wollte nur meinen Bruder wiedersehen, wirklich. Ich habe nichts erzählt. Tut mir leid wirklich.«

»Böse Mädchen müssen bestraft werden«, schnarrte Klaus Töpfer und Pfeiffer sah weg, als der Mann zu ihr ins Bett krabbelte. Doch als sie plötzlich erstickende Geräusche von sich gab, sah Pfeiffer wieder hin. Er sah dabei zu, wie Töpfer Viktors Schwester erwürgte. Er wollte ihn stoppen, doch das Jetzt auf dem Video war schon lange vorbei.

»Oh Gott, guckt euch das nicht an!«, rief Marlene weinerlich. »Es ist furchtbar.«

Der Bildschirm wurde wieder schwarz. Zuletzt war nur der Körper der jungen Frau zu sehen. Es blieb nur eine Sekunde lang still, dann startete die Aufnahme einer Mailboxnachricht. »…Viktor. Ich hab nicht so viel Zeit. Ich habe eine Maria getroffen, ich weiß nicht genau wie sie ganz heißt, aber sie hat so eine … Pfarrerin oder so mitgebracht. Sie heißt Marlene Romaro, sie wird dich informieren und die Polizei. Ich bin nicht mehr in Sofia, ich bin wieder in Deutschland. In Frankfurt… ich muss Schluss machen. Venustempel, das heißt Venustempel.«

Dann startete das Video von vorne. Pfeiffer haute auf die Leertaste.

»Woher … wie konnte Maria sie treffen?«

»Überlegen Sie mal.«

»Und Sie?«, entgegnete Pfeiffer kalt. »Warum haben Sie nichts davon getan?«

»Ich … wusste doch nicht, dass das alles stimmt. Eine deutsche Touristin, die angeblich im Urlaub entführt und zwangsprostituiert wird?«, schnaubte Marlene bitter.

Pfeiffer hob anklagend die Brauen. »Hätten Sie ihr lieber geglaubt.«

Er nickte zum Laptop. Dann fiel ihm der Schlüssel in seinem Magen wieder ein.

Doch anstatt was zu sagen, rannte Marlene zu den beiden Waffen vor der Tür. Erst jetzt fiel Pfeiffer auf, dass sie sich mithilfe ihres Bruders von ihren Fesseln hatte befreien können. Der hockte nach wie vor an der Wand und hielt sein Bein. Doch nun beobachtete er sie beide erstaunt. Marlene richtete die Pistole auf Pfeiffer.

»Tut mir leid. Wirklich. Aber wir brauchen einen Schlüssel.«

Dann drückte sie ab. Es knallte furchtbar, doch die Kugel schlug weit neben Pfeiffer in den Beton. Zu seiner eigenen Überraschung erstarrte er nicht. Er sprang auf Marlene zu und stürzte sie zu Boden. ER landete hart auf ihr und entriss ihr die Pistole. Den Dolch behielt sie fest in der Hand. Pfeiffer strauchelte einige Schritte zurück. Er stieß gegen den Tisch und fürchtete, der Laptop könnte ausgehen und sie in Dunkelheit begraben, doch das Licht flackerte nur kurz von der Erschütterung. Die Kamera in der Ecke sah höhnisch auf sie hinunter und zwinkerte ihnen mit ihrem roten Blinken verschwörerisch zu. Eine Stunde. Er wollte hier raus.

»Wie haben Sie sie getroffen, wenn sie im Venustempel gefangen war?«

Marlene atmete schwer, sie krallte ihre Finger um den Dolch. »Maria. Ich bin häufiger dort, um den Mädchen geistlichen Beistand zu leisten. Ich mache Seelsorge!«

»Seelsorge!«

»Ja. Und Maria?«, fragte er trocken. Seine Zunge fühlte sich komisch an, als sträubte sie sich, die Worte zu formen. Marlene lächelte mitleidig.

»Nach einem Jahr Ehe schon aus. Hat Sie nie mit Ihnen darüber gesprochen?«

»Über was?«

»Sie ist dort hingegangen, um mit Frauen zusammen zu sein.«

Marlenes Worte trafen anders, dumpfer und trotzdem bitter. Er empfand keine Wut nur Müdigkeit. War es Verrat? War Maria mit diesem Mädchen zusammen gewesen? Hatte sie diese Maschinerie an Grausamkeit mit finanziert. Hatte sie sich letztlich aus Schuld suizidiert? Hätte er wütender sein sollen – weniger verzweifelt?

»Marlene«, krächzte Richard Berger von der anderen Seite. »Wir haben nur noch eine halbe Stunde.«

Sie sah zu ihrem Bruder und dann zu ihm, Pfeiffer. Und ihre Entschlossenheit fürchtete den Journalisten. Dann folgte der Zorn, überlief ihn wie eine Welle, schwappte einmal über ihn und endete in seinem Zeigefinger. Der Schuss löste sich fast aus Versehen. Er traf nicht und Marlene war in zu wenigen Schritten bei ihm. Er wich aus, doch die Klinge erwischte ihn trotzdem. Er trat nach ihr und dann hielt er die Pistole entgegen und drückte wahllos ab. Es knallte und knallte und knallte. Er schrie. Marlene schrie. Dann wurde es still. Würgend ging sie zu Boden. Sie krallte ihre Finger um ihren Körper. Blut strömte aus mehrern Wunden. Pfeiffer starrte darauf. Dann ging er in die Hocke und entwand ihren schwachen Fingern den Dolch.

»OH Gott!«, rief er. »Tut mir leid. Oh Gott, tut mir leid.«

Er weinte vor Anstrengung.

»Sie Monster!«, brüllte Berger. »Marlene! Marlene!«, er kroch mühsam auf sie zu. Pfeiffer griff die Pistole und hielt sie ihm entgegen.

»Bitte bleib liegen. Ich will das nicht tun. Bitte.«

Berger starrte ihm entgegen. Anklagend. Wie Maria. Aber beide hatten sie kein Recht dazu. Sie hatten ihn hier reingezogen. Was hatte er getan? Seinen Job verloren? Was hätte er denn tun können? Maria hätte es ihm erzählen müssen. Marlene hätte es der Polizei melden können. Es half ihm kaum, als er die Klinge auf ihre Brust setzte. Aber er musste an diesen Schlüssel rankommen.

»Das reicht«, drang es über ihren Köpfen in den Raum. Lautsprecher.

»Das reicht.«

Stille. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. In der Tür stand der Fremde. Viktor.

»Du kennst nun die Wahrheit, Christian. Mach etwas daraus.«

Mit bebenden Beinen kämpfte sich Pfeiffer in einen aufrechten Stand zurück.

»Du kannst gehen.«

Er trat auf den schlanken Mann zu. Als sie auf selber Höhe waren, drückte Viktor ihm eine SD Karte in die Hand. »Mach was draus. Ich finde dich sonst.«

Pfeiffer schaffte es nicht, etwas zu sagen. Er trat heraus. Da stand wieder das Fahrrad. Die Autoreifen. Das Regal. Er war kein Mörder gewesen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.

»Berger, Sie einfallsloser Schwächling. 10 Tausend. Wie gerne hätten sie die nur bezahlt, was?«, sagte Viktor mit einem bösen Lächeln, dass Pfeiffer nur noch hörte.

In seinem Rücken zog Viktor hinter sich und Berger die Tür zu. Christian Pfeiffer stand einen Moment alleine im Kellervorraum, dann ging er die Treppe hoch.

Fünfter Teil: Der letzte Schuss
g.neges@

Die Luft im Waggon war dick von Spannung und einem Hauch von Verzweiflung. Christian Pfeiffer spürte, wie sein Herz in seiner Brust hämmerte, jeder Schlag ein eindringlicher Reminder an die drängende Zeit und das drohende Unheil. Der Unbekannte stand vor ihnen wie ein Schatten, der die Dunkelheit selbst verkörperte, seine Stimme ein kaltes Flüstern, das die Kälte der Nacht in den Raum trug.

Richard Berger zitterte, die Waffe in seiner Hand schien ihm wie ein schwerer Stein, der ihn nach unten zog. Die Worte des Unbekannten hallten in seinem Kopf wider, die Vorwürfe, die er nicht mehr ignorieren konnte. Zehntausend Euro für das Wegsehen, für die eigene Bequemlichkeit, um nicht in die Abgründe der Realität blicken zu müssen. Die Gedanken rasten, während die Kamera mit einem unbarmherzigen roten Licht auf ihn gerichtet war.„Was, wenn ich das nicht tue?“, murmelte Berger, die Stimme brüchig wie das Glas eines zerbrochenen Fensters. „Was, wenn ich mich weigere?“„Was, wenn ich das nicht tue?“, murmelte Berger, die Stimme brüchig wie das Glas eines zerbrochenen Fensters. „Was, wenn ich mich weigere?“ Pfeiffer spürte, wie die Ohnmacht in ihm zu einem lodernden Feuer anschwoll. Er wollte schreien, wollte den Unbekannten überwältigen, ihn zur Verantwortung ziehen für all das Leid, das er angerichtet hatte. Doch die Waffe, die er auf sie richtete, war ein ständiger Reminder, dass der Machtkampf nicht in seinem Sinne entschieden werden konnte.„Sie haben die Wahl, Herr Berger“, wiederholte der Unbekannte, sein Tonfall geschmeidig, fast hypnotisch. „Zeigen Sie der Welt Ihr wahres Ich. Werden Sie zum Symbol für all die Menschen, die zu lange geschwiegen haben. Oder…“ Er machte eine dramatische Pause, „…oder sehen Sie zu, wie Ihre Schwester in einem Kellerloch stirbt, während Sie sich vor der Kamera als das verachten, was Sie sind.“ Berger kniete auf dem kalten Metallboden, die Waffe in der Hand wie ein verfluchter Segen. Seine Gedanken rasten, die Bilder von Marlene, wie sie lächelnd in der Kirche stand, wie sie ihn umarmte, um ihn zu trösten, während die Welt um sie herum in Dunkelheit versank. Die Entscheidung, die vor ihm lag, war mehr als nur eine Frage von Leben und Tod. Es war ein Spiegel, der ihm seine tiefsten Abgründe vor Augen führte.

„Ich… ich kann das nicht“, stammelte er, doch in seinem Inneren wuchs die Erkenntnis, dass er sich nicht länger vor der Wahrheit verstecken konnte. Die Wahl war nicht nur seine, sie war auch die von jedem, der jemals weggesehen hatte.„Oh, Sie können“, kam die Antwort des Unbekannten, der sich nun mit einem selbstzufriedenen Lächeln zurücklehnte, als würde er eine Show beobachten, die ihm gehörte. „Sie müssen nur den Mut finden, sich selbst zu konfrontieren.“

„Marlene…“, flüsterte Berger schließlich, und in diesem einen Wort lag das Gewicht seiner Entscheidung, das Gewicht eines Lebens, das auf der Kippe stand. „Ich kann nicht zulassen, dass sie stirbt.“

Mit einer plötzlichen Entschlossenheit stand er auf, das Licht der Kamera reflektierte sich in seinen Augen, die nun voller Verzweiflung und Entschlossenheit waren. „Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!“

Die Worte flogen wie Geschosse durch den Raum, und während der Unbekannte lachte, spürte Pfeiffer, wie die Zeit stillstand. Die Wahrheit war ausgesprochen, und mit jedem Wort schien die Dunkelheit ein Stück mehr zu weichen. Doch die Frage blieb: War es genug? In diesem Moment, während die Kamera weiter aufzeichnete und die Welt Zeuge wurde, blitzte in Pfeiffers Kopf ein Plan auf. Vielleicht war die Entscheidung, die Berger getroffen hatte, nicht das Ende, sondern der Anfang. Der Anfang eines Kampfes, der weit über die Waggontüren ging.

Die Nacht hatte sich wie ein schwerer Schleier über Frankfurt gelegt, als Richard Berger und Christian Pfeiffer vor dem Güterbahnhof standen. Die Sirenen der Polizei hallten in der Ferne, während der kühle Wind durch die Straßen blies und ihre Herzen schneller schlagen ließ. Marlene war in Gefahr, und jede Sekunde zählte. Die Minuten vergingen quälend langsam, während die Kamera weiter aufzeichnete, das rote Licht unbarmherzig auf die Szenerie fiel. Pfeiffer wollte intervenieren, wollte Berger aufwecken aus diesem Albtraum, doch seine Worte schienen in der stickigen Luft zu verhallen.

„Wir müssen sie finden, Christian!“, rief Richard, seine Stimme ein verzweifelter Aufschrei in der Düsternis. „Wir dürfen nicht aufgeben!“ Ich verspreche dir, wir holen sie zurück!“, antwortete Pfeiffer und versuchte, die aufkeimende Panik in seinem Inneren zu zügeln. Der Gedanke, Marlene in den Klauen des Unbekannten zu wissen, schnürte ihm die Kehle zu.„Lass uns die Waggons durchsuchen“, schlug Richard vor, während sie sich in die Dunkelheit des Güterbahnhofs begaben. „Vielleicht gibt es Hinweise, die wir übersehen haben.“

Sie schlichen durch die schummrigen Gänge, ihre Handys als schwache Lichtquellen, die die Dunkelheit durchbrachen. Richard klopfte an Türen und öffnete sie vorsichtig, aber die Stille war erdrückend. „Hier ist nichts!“, rief er frustriert. „Wo könnte sie nur sein?“

Plötzlich hörten sie ein Geräusch – ein leises Wimmern, das wie ein verzweifelter Hilferuf klang. „Marlene?“, rief Pfeiffer mit zitternder Stimme. Die Antwort kam schwach und ängstlich: „Christian?“ Sein Herz setzte einen Schlag aus. „Ich bin hier!“, rief er und rannte in die Richtung des Geräuschs. Er fand eine Tür, die nur einen Spalt offen stand. Mit einem kräftigen Ruck öffnete er sie und trat ein. Dort lag Marlene, gefesselt und verängstigt, ihre Augen weit aufgerissen vor Angst, aber in ihnen schimmerte auch der Funke der Hoffnung.

„Christian!“, schrie sie, und der Klang ihres Namens ließ Pfeiffers Herz aufblühen. „Hilf mir!“

„Ich bin hier!“, antwortete er hastig, während er sich neben sie kniete und die Fesseln mit zitternden Händen löste. „Halt durch!“„Wo ist Richard?“, fragte sie, die Angst in ihrer Stimme war greifbar.

„Er ist hier, er wird uns helfen!“, beruhigte Pfeiffer sie, während er sich bemühte, die Knoten zu lösen. Doch gerade als die letzten Knoten gelöst waren, ertönten Schritte aus dem Flur. Pfeiffer erstarrte. „Das kann nicht sein…“, murmelte er, als der Unbekannte in den Raum trat, seine dunkle Silhouette von einer bedrohlichen Aura umgeben.

„Du dachtest, du könntest entkommen, Pfeiffer?“, höhnte der Unbekannte, während seine Augen vor Bosheit funkelten. In seiner Hand funkelte die Waffe gefährlich im schwachen Licht.

„Lass sie in Ruhe!“, rief Pfeiffer, während er sich schützend vor Marlene stellte. „Das ist zwischen dir und mir!“ Der Unbekannte lachte kalt, ein Klang voller Verachtung. „Ach, wie rührend! Doch du bist nur ein weiteres Opfer in meiner Geschichte. Und ich werde nicht zulassen, dass du hier gewinnst!“

In einem verzweifelten Moment des Instinkts griff Pfeiffer nach einem alten, verrosteten Metallgegenstand, den er in der Nähe fand. Er war bereit, alles zu riskieren, um Marlene zu schützen. Doch der Unbekannte war schneller. Der Schuss krachte durch die Stille des Lagerhauses, und die Welt um Pfeiffer begann sich in Zeitlupe zu bewegen.„NEIN!“, schrie Richard, der plötzlich in den Raum stürmte. Christian drehte sich im Bruchteil einer Sekunde um, als Richard sich zwischen ihn und den Unbekannten warf. Der Schuss traf ihn, und der Ausdruck des Schocks und der Entschlossenheit in Richards Augen brannte sich in Christian ein.

„Richard!“, schrie Pfeiffer, während er zu seinem Freund eilte, der am Boden lag, sein Gesicht blass und schweißbedeckt. „Was hast du getan?!“„Es tut mir leid… ich wollte…“, murmelte Richard, während sein Atem flacher wurde. Die Schmerzen in seinen Augen waren unerträglich für Christian, der verzweifelt nach Worten suchte.

„Halt durch! Die Polizei ist gleich hier!“, rief Pfeiffer, während er versuchte, die Wunde zu stoppen. Seine Hände zitterten, und die Tränen stiegen ihm in die Augen.

„Geh, Christian. Du musst… die Wahrheit aufdecken… für uns alle…“, flüsterte Richard, und mit einem letzten Atemzug schloss er die Augen. Christian fühlte, wie die Welt um ihn herum zusammenbrach. Die Dunkelheit schloss sich um ihn, und die Trauer schnürte ihm die Kehle zu. In diesem Moment verwandelte sich die Wut in ihm in einen lodernden Flammenstoß. „Ich werde dich rächen, Richard!“, rief er in die Dunkelheit, während er sich auf die Suche nach dem Unbekannten machte.

Er fand Marlene, gefesselt und verängstigt, und half ihr, sich zu befreien. Doch plötzlich durchbrach ein schrecklicher Schrei die Stille. Marlene hatte im Schatten des Unbekannten eine vertraute Silhouette erkannt. „Patrick Pearson! Oh mein Gott!“, rief sie aus, ihre Stimme zitterte vor Entsetzen. Der Name hallte in der Dunkelheit wider, und der Unbekannte zuckte zusammen, als wäre er von einem elektrischen Schlag getroffen. „Ja, genau!“, schrie er zurück, die Wut in seiner Stimme schäumte über. „Das ist der Name, den du nicht vergessen kannst! Der Sohn einer Prostituierten, die die Gesellschaft ignoriert hat! Ihr Tod war das Ergebnis eurer Ignoranz! Zehntausend Euro für euer Schweigen – für das Leben dieser Frau, für die Zukunft ihres Kindes! Und was hat es gebracht? Nichts!“ Seine Worte waren ein Sturm aus Wut und Verzweiflung, der durch den Raum fegte. „Die Medien haben alles getan, um ihren Tod zu verschleiern, weil ein Mitglied der Regierung involviert war. Ihr dachtet, ihr könntet wegsehen, ohne Konsequenzen zu tragen!“ Pfeiffer spürte, wie die Kälte des Schreckens in ihm hochstieg. Die Wahrheit schoss ihm durch den Kopf wie ein Pfeil – dieser Mann war nicht nur ein Monster; er war ein Produkt einer grausamen Realität, die die Menschen in ihrer Bequemlichkeit ignoriert hatten. „Patrick, hör zu!“, versuchte. Pfeiffer verzweifelt, ihn zu erreichen, während er sich zwischen ihn und Marlene stellte. „Wir können das hier nicht so enden lassen! Du musst nicht so weit gehen! Lass uns reden!“

„Reden?“, spottete Patrick, seine Augen blitzten vor Wut. „Was gibt es da zu reden? Ihr habt meine Welt in den Abgrund gestoßen und jetzt wollt ihr, dass ich euch eine Lösung anbiete? Ich habe die Wahrheit in die Öffentlichkeit getragen, und das wird euch alle einholen!“

„Patrick, ich verstehe deinen Schmerz“, sagte Pfeiffer, seine Stimme ruhig, aber eindringlich. „Aber das hier ist nicht der Weg. Du kannst nicht die Unschuldigen dafür bestrafen, was andere getan haben. Lass uns gemeinsam etwas ändern, lass uns die Wahrheit aufdecken – zusammen!“

„Gemeinsam?“, lachte Patrick bitter. „Was habt ihr gemeinsam gemacht, außer wegzusehen? Ihr habt geschwiegen, während Menschen wie meine Mutter leiden mussten! Glaubst du, ich werde euch diese Chance geben?“

Marlene, die sich langsam von ihrem Schock erholte, schob sich vorsichtig an Pfeiffer vorbei. „Patrick, ich kenne deine Geschichte. Ich weiß, was dir und deiner Mutter angetan wurde. Aber das hier wird nichts lösen! Du kannst nicht mehr Schmerz verursachen, um den Schmerz der Vergangenheit zu heilen!“

Patrick zögerte für einen Moment, und in seinen Augen war eine flüchtige Regung von Unsicherheit zu erkennen. „Was weißt du schon über Schmerz? Ihr lebt in euren schönen Häusern, während wir in der Dunkelheit verschwinden!“

„Ich weiß, dass es nicht zu spät ist, um etwas zu ändern“, erwiderte Marlene, ihre Stimme fest und voller Mitgefühl. „Lass uns das Licht auf die Dunkelheit werfen. Wir können für die kämpfen, die keine Stimme haben – aber nicht so!“

Pfeiffer spürte, dass sie einen Riss in der Mauer der Wut von Patrick gefunden hatten. „Patrick, du musst nicht allein kämpfen. Lass uns gemeinsam die Wahrheit ans Licht bringen. Lass uns den Menschen zeigen, was wirklich passiert ist, damit so etwas nie wieder geschieht!“

Ein kurzer Moment der Stille trat ein. Patrick Schloss die Augen, als ob er versuchte, die Worte zu verarbeiten. Pfeiffer nutzte die Gelegenheit und trat einen Schritt näher. „Es gibt immer einen anderen Weg. Du bist nicht allein, Patrick. Lass uns gemeinsam die Stimmen derer erheben, die nicht gehört werden. Lass uns dafür kämpfen, dass die Wahrheit ans Licht kommt!“ Plötzlich ertönte ein Geräusch, das die Spannung im Raum durchbrach – das Geräusch von Polizeisirenen, die sich schnell näherten„Das war’s. Ihr habt eure Chance verspielt!“

„Patrick, warte!“, rief Pfeiffer, doch er drehte sich hastig um und rannte zur Tür. In diesem Moment wusste Pfeiffer, dass sie nicht mehr viel Zeit hatten.

„Wir müssen ihm folgen!“, rief er und ergriff Marlenes Hand. Gemeinsam rannten sie hinter dem Unbekannten her, durch die dunklen Gänge des Lagerhauses, während die Sirenen immer näher kamen. Sie fanden ihn außerhalb des Waggons, wo er mit dem Rücken zur Wand stand, die Waffe in der Hand, die auf die einfahrenden Polizeifahrzeuge gerichtet war. „Haltet Abstand!“, rief er mit zitternder Stimme, während die Beamten sich vorsichtig näherten.

„Patrick! Hör auf! Du musst das nicht tun!“, schrie Pfeiffer,„Glaubst du, sie werden mir glauben? Glaubst du, sie werden mich hören?“, rief Patrick verzweifelt. „Ich bin der, der die Wahrheit sagt, und sie werden mich für verrückt erklären!“

„Wir werden dafür sorgen, dass du gehört wirst!“, versprach Marlene, während sie sich neben Pfeiffer stellte. „Du bist nicht allein! Lass uns das gemeinsam tun!“ In diesem entscheidenden Moment, als die Sirenen verstummten und die Polizei eintraf, sah Patrick sie an, ein Kampf zwischen Wut und Hoffnung in seinen Augen. Die Worte von Marlene und Pfeiffer schienen einen Funken in ihm zu entzünden.

„Ich…“, stammelte er, während sich die Waffe in seiner Hand zu senken begann. „Ich wollte nur Gerechtigkeit…“

„Und das kannst du haben!“, drängte Pfeiffer. „Aber nicht so. Lass uns die Wahrheit gemeinsam ans Licht bringen. Es gibt einen besseren Weg.“ Die Polizisten, die sich vorsichtig näherten, hielten inne und beobachteten die Szene. Patrick zitterte, der Konflikt in ihm war offensichtlich. Schließlich ließ er die Waffe fallen und sie klirrte auf den Boden.

„Ich… ich kann nicht mehr…“, flüsterte er und brach in Tränen aus. Während Pfeiffer die Polizei informierte, dass sie die Kontrolle über die Situation hatten. Doch in diesem Moment, als die Dunkelheit der Nacht begann, sich zu lichten, und die Stimmen der Unterdrückten endlich gehört wurden, schien ein Schatten über Patrick zu fallen.

Plötzlich, in einem Augenblick der Verzweiflung, griff Patrick erneut nach der Waffe, die am Boden lag. Die Polizisten waren zu schockiert, um zu reagieren, und Pfeiffer schrie: „Patrick, NEIN!“

Doch es war zu spät. Mit einem letzten verzweifelten Ausdruck in seinen Augen drückte Patrick ab. Der Schuss hallte durch die Nacht, und der Klang war wie ein endgültiger Schlussstrich, der alles beendete. Die Zeit schien stillzustehen, während die Realität sich um sie herum zusammenbrach.

Die Dunkelheit der Nacht hatte sich in einen tiefen Abgrund verwandelt, und die Hoffnung, die sie kurz gespürt hatten, war wie ein Licht erloschen, das in der Finsternis verschwand. Der letzte Akt war nicht das Ende, sondern ein schmerzlicher Wendepunkt – der Verlust eines Lebens, das hätte gerettet werden können, und die Erinnerung daran, dass der Kampf um Gerechtigkeit oft mit unvorhersehbaren und tragischen Konsequenzen verbunden ist.

Nachruf: Ein Schatten der Wahrheit

Mit gemischten Gefühlen nehmen wir Abschied von Patrick Pearson, einem Mann, dessen Leben in Tragik endete und dessen Taten tiefgreifende Narben in der Gesellschaft hinterließen. Patrick war nicht nur ein Opfer der Umstände, sondern auch ein Täter, dessen Entscheidungen viele unschuldige Leben in den Abgrund stürzten.

Sein Handeln, das von Wut und Verzweiflung geprägt war, führte zu einer Reihe von Verbrechen, die unzählige Menschen betroffen machten. Patrick war in einen Teufelskreis von Gewalt und Rache verwickelt, der nicht nur ihm, sondern auch denjenigen, die ihm nahestanden, großen Schmerz und Leid brachte. Die Schatten seiner Taten werden lange nach seinem Tod weiterwirken.

Die tragischen Ereignisse, die zu seinem Tod führten, haben eine Welle der Empörung ausgelöst und die Augen der Öffentlichkeit auf die Missstände gelenkt, die oft ignoriert werden. Patrick mag in einem verzweifelten Versuch, Gerechtigkeit zu finden, den falschen Weg gewählt haben, und sein Ende erinnert uns daran, wie gefährlich es sein kann, in der Dunkelheit zu kämpfen.

Die Diskussion über die Verantwortung der Gesellschaft, über die Notwendigkeit, die Stimmen der Unterdrückten zu hören und den Kreislauf von Gewalt und Rache zu durchbrechen, wird weiterhin geführt werden. Patrick Pearson mag von uns gegangen sein, aber die Auswirkungen seiner Entscheidungen werden nicht vergessen werden.

Lassen Sie uns die Lehren aus dieser Tragödie ziehen und uns dafür einsetzen, dass wir in der Zukunft Wege finden, um den Kreislauf von Schmerz und Rache zu durchbrechen – für die, die leben, und für die, die unter den Konsequenzen von Patricks Taten gelitten haben.

Albtraum

„Pe-pe-pew.“ Drei Schüsse schallten kurz hintereinander, denn es war eine Dreischussautomatik, welche die drei Männer erschrak. Instinktiv duckten sie sich fast synchron nach unten weg. Fast synchron. Bei Berger dauerte es einen Tick länger, weil er etwas unsportlicher und mit längeren Reaktionszeiten ausgestattet war als Pfeifer und Herr Reiseveranstalter.

Vor Schreck ließ Berger die Pistole fallen, und kurz bevor irgendein Reflex einsetzen konnte, rief ihnen ein Mann zu: „Stehen geblieben!“

Die Schüsse galten dem Entführer. Er lag, sich windend, auf dem Boden, denn er wurde in den Kiefer getroffen. Da war eine Wunde an seinem Mund und in der linken Gesichtshälfte zu sehen.

Eine zweite bedrohliche Gestalt kam hinter den Paletten hervor. Sie trugen beide funktionale Kleidung. Sie wirkten professionell, nicht wie dahergelaufene Kleinkriminelle vom Gallus oder dem Bahnhofsviertel.

Der erste Mann war der Schütze. Er hielt ein automatisches Gewehr in den Händen. Es war kein G3 Sturmgewehr, erkannte Pfeifer auf den ersten Blick. Es war ein moderneres Modell. Der zweite Mann hatte eine Kapuze auf, sodass sein Gesicht nicht komplett zu erkennen war. Dieser hatte sein Gewehr um die Schulter hängen und in der rechten Hand hielt er seinen Hund an der Leine.

„Largo, los ab!“ Largo, das war der Name der kanarischen Dogge. Sie lief geradewegs zum schwer verletzten Entführer und fing an, sein Gesicht anzuknabbern. Der Entführer stöhnte etwas. Aber mit diesen Gesichtsverletzungen war es doch etwas schwer, seinen Unmut zu äußern.

Der Kapuzenmann nahm dem Entführer den Rucksack ab, öffnete diesen und nahm eine weitere Pistole heraus. Der Schütze sammelte währenddessen den Laptop, die Webcam und die fallengelassene Pistole ein.

„Schön, meine Herren. Schön, dass Sie so zahlreich erschienen sind“, sagte der Schütze.

„Richard Berger, Sie sind auf der Suche nach Ihrer Schwester, richtig?“

„Ja.“

„Gut, sie ist in Sicherheit. Wir befreien sie gleich. Aber vorher müssen wir diesen Abfall hier entsorgen“, und zeigte dabei auf den Entführer.

„Vince, du bist einfach unbelehrbar. Ab mit dir auf die stille Treppe.“

Der Entführer hieß also Vincent.

„Und wer sind Sie?“

„Alles zu seiner Zeit“, erwiderte der Schütze und öffnete eine Bodenluke. Es war ein unterirdischer Technikraum oder etwas in der Art. Die beiden Männer nahmen Vincent an Händen und Füßen und schleiften ihn zum Schacht. Ohne zu zögern stieß der Schütze ihn hinein und verschloss die Luke.

„Der macht uns heute keine Probleme mehr.“

„Kommt mit. Wir haben etwas zu besprechen“, sagte der Schütze mit einem beruhigenden Ausdruck in der Stimme. „Aber wir müssen uns beeilen.“

Berger, der sichtlich geschockt vom Geschehen war, hatte nun ein etwas besseres Gefühl. Diese beiden Männer wirkten auf ihn nun wie Verbündete. Pfeifer und der Reiseveranstalter verzogen keine Miene. Es fühlte sich so an, als wären sie gerade ins nächste Level bei einem Videospiel freigeschaltet worden.

Der Kapuzenmann schloss eine schwere Metalltür auf. „Schnell, kommen Sie! Unser Zeitfenster schließt sich bald.“

Das ahnungslose Trio folgte den beiden eine Kellertreppe hinunter. Unten angekommen öffnete der Schütze eine weitere schwere Metalltür und sie betraten einen provisorisch eingerichteten Kellerraum. Es sah aus wie eine Mischung aus Schlafplatz, Wohnraum und operative Kommandozentrale. In einem Bereich stand ein Tisch mit mehreren Laptops, Monitoren und sonstiger Elektronik, die Pfeifer nicht näher definieren konnte.

„Setzen Sie sich“, sagte der Schütze. „Mineralwasser, Brause oder Wodka?“

„Wodka“, antwortete Pfeifer.

„Was geht hier vor sich und wer zum Teufel sind Sie?“, fragte Berger.

„Nennen Sie mich einfach Dario, ich bin IT-Spezialist. Und das ist mein Kollege Manu. Largo kennen Sie ja schon.“

Kapuzenmann Manu holte eine unbestimmbare Fleischmasse aus dem Kühlschrank und fütterte seinen Largo damit.

„Ihre Schwester Dorothea wird in diesem Komplex gefangen gehalten. Wir befreien sie gleich.“

„Ich will sie sofort sehen!“

„Ich muss Ihnen vorher etwas erklären. Sie ist zwei Räume weiter. Hören Sie einfach zu.“

Dario atmete tief ein. Er bereitete sich auf einen langen Monolog vor:

„Wissen Sie, was manche Menschen treiben, wenn ihnen langweilig ist? Irgendwann haben sie alles erlebt und suchen nach immer neuen Grenzüberschreitungen. Am schlimmsten aber sind ganz spezielle Wohlhabende, die selbst nichts zu ihrem Reichtum beigesteuert hatten und nun die Kapitalismuskritik für sich entdeckt haben. Rich Kids halt.

Vincent dagegen ist

ein psychotischer Sadist und dann hält er sich noch für einen Künstler. Er hatte übrigens niemals vor, Ihre Schwester oder jemanden von euch zu verschonen. Er wollte euch alle ausliefern an seine Auftraggeber. Die Pistole, die er Ihnen überreicht hatte, war nicht geladen.“

„Welche Auftraggeber?“, fragte Pfeifer.

„Das sprengt jede Vorstellungskraft. Aber der Reihe nach. Vincent Lauer gehört einem elitären Club von wahnsinnigen Menschen an, die nicht wissen, wohin mit ihrem Geld. Die Aufnahmerituale für die Clubmitgliedschaft sind grausam. So stellen diese Leute sicher, dass nur die Durchgeknalltesten unter sich bleiben. Es hat damit angefangen, dass sie Menschen entführt hatten, um sie für ihre Initiationsrituale zu misshandeln. Sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube, dass Vincent Lauer selbst einer der Entführten ist, der es dann irgendwie in den Club geschafft hat. Auf jeden Fall mauserte er sich im Club nach oben, indem er sich immer neue groteske Spiele ausdachte, um den Club zu bespaßen. Also entwickelte er ein grausiges „ARG“ (Alternate Reality Game), eine Art Schnitzeljagd mit Horrorbezug, welche online ausgetragen wird. Aber mit echten Toten. Dass er euch an der Nase herumgeführt hat, gehörte zum Spiel. Mit seiner „Kapitalismuskritik“ wollte er künstlerisch seine reiche Kundschaft zum Nachdenken bringen. Er glaubt, er wäre ein Philosoph oder so etwas. Der Typ ist völlig durchgeknallt. Er hat sich in diesen Kreisen einen Namen gemacht. Er ist so etwas wie ein Entertainer für zwielichtige Eliten. Aber er hat es übertrieben. Die Polizei war ihm dicht auf den Fersen. Die zwei Kokain-Sheriffs Mirnach und de Luga haben ihn letztendlich geschnappt. Bei dem Verhör haben sie ihn schön misshandelt, das gehört wohl zur üblichen Vorgehensweise bei den beiden. Diese zwei Polizisten waren korrupt wie sonst was. Sie haben zu viel Kokain gezogen. Das geht natürlich an die Finanzen. Und zusätzlich hatte Mirnach Spielschulden. De Lugas neue Freundin ist ziemlich modebewusst und hat dazu einen ausschweifenden Lebensstil. Haben sie eine Ahnung, wie viel allein eine Nasenkorrektur kostet? War doch klar, dass sie bestechlich sind. Also wandten sich Vincent Lauers mächtige Verbündete über seinen Anwalt an die korrupte Polizei und befreiten ihren Lieblingsclown. Seine Aufgabe, die Aufgabe der Kokain-Sheriffs und unsere beiden Aufgabe ist die Entführung von neuen Menschenkörpern. Ich weiß nicht genau, wer unsere Auftraggeber sind, denn diese Hierarchie ist wie eine Zwiebel aufgebaut: Niemand weiß so genau, für wen er arbeitet. Was ich aber weiß: Die Leute, für die wir arbeiten, haben nichts mehr mit dem elitären Club zu tun. Also, keine Sorge Richard, deine Schwester wurde nicht an den Club geopfert. Hier geht es um etwas anderes.“

„Worum geht es?“

„Das werde ich euch zeigen. Kommt. Deine Schwester wartet schon auf dich.“

Manu öffnet die nächste metallische Tür. Die fünf Männer betreten einen länglichen Korridor, während Largo es sich in seinem Korb gemütlich gemacht hat. Am Ende des Korridors befindet sich eine weitere Metalltür. Diese ist jedoch nicht mit einem gewöhnlichen Zylinderschloss ausgestattet, sondern hat einen Mehrfach-Verifizierungsmechanismus. Erst hält Dario seinen Chip dran, dann Manu. Nach einem kurzen Piepen tippen beide nacheinander ihre Daumen auf einen Scanner und schließlich gibt Dario einen Zahlencode ins Bedienfeld ein. Diesmal piept es nicht. Es ist eher ein synthetischer Tröten-Ton: „Beep“. Nun lässt sich der Panikgriff entriegeln. Sie betreten den Raum. Das ist kein einfacher Kellerraum in einem Industriekomplex mehr. Das ist ein voll ausgestattetes Labor mit unzähligen technischen Geräten. Der vordere Arbeitsbereich ist mit LED-Röhren hell ausgeleuchtet. Im hinteren Teil ist das Licht etwas gedimmt. Irgendwelche Maschinen stießen gleichmäßig pulsierende Geräusche aus, als hätten sie eine Atmung und Herzschlag. Und da war sie. Da war Dorothea. Sie befand sich in einem Tank. Sie stand nicht einfach da, sondern schwamm in einer aufrechter Körperhaltung. Der Tank war mit einer semiflüssigen Masse gefüllt, in der Dorothea wie in Schwerelosigkeit zu schweben schien. Dorothea selbst war nicht nass. Diese Flüssigkeit war kein Wasser sondern bestand aus einer unbekannten Nanotechnologie. Sie stützte Dorothea beim Stehen oder Bewegen. Sie hatte eine Art VR-Brille an und ihr Mund war mit einem Anschluss verdeckt. Wie es aussah, wurde sie künstlich ernährt. Nur die Brust und der Unterleib, also da, wo sich sonst die Unterwäsche befindet, waren mit einem fragmentierten Exoskelett bedeckt. Aus ihren Fingern und ihrem Kopf ragten Kabel, Schläuche und leuchtende Verbinder heraus. Sie schien von der Außenwelt mit ihren natürlichen Sinnen abgeklemmt zu sein. Nur über das Interface konnte sie Eindrücke empfangen und mit ihrer Umwelt kommunizieren. Ein schockierender Anblick.

Dario aktivierte etwas am Laptop und Dorothea begann, ihre Körperhaltung und Gestik daraufhin anzupassen. Ein Monitor leuchtete auf. Ein Text und unterschiedliche Kontrollelemente begannen zu arbeiten. Eine Computerstimme erklang: „Richard, bist du hier?“

„Ja, ich bin hier. Wir holen dich hier raus.“

„Dario hat es mir gesagt. Er und Manu planen einen Ausbruch.“

„Doro, zeige deinem Bruder, warum du hier festgehalten wirst“, sprach Dario zu ihr.

Gleich darauf kam ein humanoider Roboter aus seiner Ladestation, die einige Meter vom Tank entfernt stand. Der Roboter war mit seiner Station mit dicken Kabeln verbunden. Es waren jedoch nicht nur Kabel, sondern auch funktionale Ketten, die ihn an dieser Stelle gefangen hielten. Dorothea bewegte ihre Arme und der Roboter bewegte sich synchron mit ihr. Die Bewegungen waren schnell und präzise, ohne wahrnehmbare Verzögerung.

„Zeig uns die Turnerin“, sagte Manu leicht scherzhaft.

Diesmal blieb Dorothea körperlich ruhig stehen, aber sie ließ ihren ferngesteuerten Roboter eine perfekte Rolle in der Luft vorführen. Sie konnte ihn per Gehirn-Interface steuern. Kaum zu glauben, dass eine solche Technik bereits verfügbar war.

„Versteht ihr jetzt? Diese Technik, dieses Labor, das alles hier war von Anfang an illegal. Sie wollen hochentwickelte Personen-Drohnen mit menschlichen Operatoren testen. Diese Dinger werden fürs Militär, Feuerwehr oder gefährliche Arbeiten konstruiert. Warum sie dafür keine freiwilligen Testpersonen nehmen, wissen nur sie selbst. Ich weiß nur, dass die Leute, die das hier betreiben nicht die aus dem elitären Sadisten-Club sind. Das hier ist eine ganz andere Hausnummer. Die Verbindung ist Vincent. Die Betreiber dieses Labors haben ihn anscheinend engagiert, damit er Menschen entführt. Jemand aus dem elitären Sadisten-Club hat Vincent an diese Leute hier weitervermittelt.“

„Wir müssen uns beeilen! Die Zeit läuft!“, sagte Manu.

„Keine Sorge, ich habe die IT und Sicherheitsüberwachung soweit manipuliert, dass wir innerhalb der nächsten Stunden erst einmal nicht auffliegen. Mindestens vier Stunden haben wir noch“, erwiderte Dario.

„Und warum lässt du sie frei? Was genau bringt euch das?“, fragte Pfeifer.

„Wir sind Whistleblower. Ich glaube, wir können sehr viel mehr Geld damit verdienen, wenn wir diese Informationen an Journalisten verkaufen. Und Dorothea wird unsere Kronzeugin. Wir beide sind schwerstkriminell und können nicht ewig unser Geschäftsmodell durchziehen. Die Sicherheitsbehörden haben uns ohnehin auf dem Kieker, wir müssen das Land früher oder später verlassen. Besser früher. Aber mit den Informationen, die wir gesammelt haben, alles was wir dokumentiert und heruntergeladen haben, damit haben wir ausgesorgt und werden dazu noch als Helden gefeiert. Ein glaubwürdiger Kontaktmann hat mir die Auszahlung bereits zugesichert. Glaubwürdig genug sind wir schon. Ich bin der IT-Mann eines kriminellen Netzwerks und mein Partner Manu ist für die Sicherheit zuständig. Wer auch immer hinter diesen grausigen Experimenten steckt, muss in sehr hohen Ebenen der Macht agieren. Unser Plan steht. Der Flug ist bereits organisiert. Wir fliegen heute noch nach Kolumbien. Dann werden wir von einem meiner Männer über eine Schlepperroute nach Venezuela gebracht. Dorotheas Reisepass ist auch da. Wir müssen sie nur noch lebend aus diesem Aquarium herausbekommen.“

„Nein, sobald wir sie befreit haben, gehen wir zur Polizei“, widersprach ihnen Richard Berger.

„Das kannst du gerne tun, aber ohne uns. Die Polizei wird dich schon an die richtigen Leute ausliefern. Wir wissen nicht, wer hinter dieser Sache steckt. Möglicherweise sind da Leute involviert, die über dem Recht stehen. Also ich würde euch raten mitzukommen. Aber es ist eure Entscheidung. Wir haben alle Beweise, die wir brauchen. Nur unsere Kronzeugin Doro behalten wir“, entgegnete Manuel und montierte dabei eine Videokamera auf ein Stativ. Er hatte vor, die Befreiung von Dorothea aufzuzeichnen.

„Wie bekommen wir sie hier raus?“

„Das weiß ich noch nicht so genau. Ich bin ITler, kein Kybernetiker. Ich schlage vor, wir pumpen erst einmal diese Flüssigkeit hier raus.“

„Warte, ich glaube, ich weiß, wie ich selbst hier rauskomme. Du hast mir den Zugang zu den Datenbanken gegeben. Ich habe sie über das Gehirn-Interface studiert. Gib mir die Roboterkontrolle über die Bannmeile hinaus. Ich werde mich selbst befreien. Ihr assistiert mir.“

Darius Schacht zögerte einen Moment. Schließlich könnte Dorothea ihrem Ex-Peiniger mit diesem Roboter ganz einfach den Kopf vom Hals reißen. Aber nach einem Moment des Zögerns gab er ihr schließlich die Kontrolle über den Roboter. Dafür klickte er irgendwas auf dem Laptop.

Die Ketten lösten sich und der Roboter fing nun an, die Apparatur Stück für Stück zu demontieren. Dorothea hatte mit ihren Gedanken ein Programm gestartet, welches sie automatisiert aus dem Tank befreite. Das ging alles so reibungslos, anscheinend war die Demontage aus dem Tank Teil des Programms. Über Monitor und Lautsprecher kommunizierte Dorothea mit den Männern.

„Hast du meine Klamotten?“

„Ja, hier ist alles.“

„Gut.“

Der letzte Schritt war vollzogen, als sie die Flüssigkeit aus dem Tank herausgepumpt hatte und dann die Scheibe herunterfahren ließ. Anschließend trennte sie alle Anschlüsse von ihren Implantaten. Das fest implantierte Equipment blieb aber in ihr.

„Mit diesen Implantaten kommt sie niemals durch die Flughafenkontrolle“, merkte Pfeifer an, der sich bereits für die Flucht entschieden hatte.

„Wir fliegen mit einem Privatjet. Wir sind doch keine Amateure. Ich habe das Personal und den Zoll bereits bezahlt“, erwiderte Manuel.

Leicht benommen, aber fest entschlossen zog sich Dorothea an und taumelte ohne zu zögern zu ihrem bereits gepackten Koffer. Sie prüfte schnell den Inhalt. Erst danach ging sie zu Richard und umarmte ihn erleichtert.

„Die Scheine hast du korrekt abgezählt?“, fragte sie in Richtung Dario.

„Ja, den Rest bekommst du, wenn wir Millionäre sind.“

„Wir liegen gut im Zeitplan und wir sind nicht aufgeflogen. Festplatten, Laptops, Videokamera, Geld, hast du alles?“, fragte Manu.

„Ja, ist alles gepackt. Vergiss deinen Hund nicht“, antwortete Dario Manuel scherzhaft.

Mit schnellen Schritten eilten sie zu einer dunkelgrauen Mercedes V-Klasse. Als sie dann an einer Kreuzung angekommen waren, die sich zum Flugplatz Frankfurt-Egelsbach abzweigte, parkte Dario rechts auf dem Seitenstreifen.

„Nun könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr mitkommt oder zur Polizei geht. Dorothea, du hast natürlich keine Wahl.“

Dorothea dachte aber nicht einmal daran, sich abzuschnallen. Pfeifer überlegte kurz, während Richard ihn fragend anschaute.

Männer in ABC-Schutzanzügen holen den bewusstlosen Vincent aus der Grube. Sie legen ihn auf eine Trage und fahren ihn an einen unbekannten Ort. Als er wieder zu sich kommt, stellt er mit Entsetzen fest, dass er sich in einem Tank befindet und über ein Gehirn-Interface mit seiner Umgebung interagiert.

Seitenwind 2024
Offene Enden – fünfter Teil: Wie du mir so ich dir
von Robert Schweizer

»Sie Schwein!«, fuhr Pfeiffer dazwischen. »Das können sie nicht tun!«
»Seien sie nicht dumm! Ich habe es bereits getan. Jetzt kommt es nur noch darauf an, was Herr Berger hier tut oder nicht tut. So oder so: Herr Berger hat gelernt, dass seine Taten Konsequenzen haben. Nicht wahr, Herr Berger?«
Der Reiseveranstalter stand in gebeugter Haltung vor der laufenden Kamera. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er schniefte.
»Dorothea, es tut mir alles so leid«, nuschelte er.
»Bleiben Sie beim Text, Herr Berger!«, sagte ihr Peiniger. »Der guten Pastorin geht langsam die Luft aus.«
»Ich werde nicht noch einmal ein Video von Ihnen hochladen!«, sagte Pfeiffer.
Der Unbekannte lachte. »Und Marlene wird sterben und Herr Berger ist umsonst gestorben? Ich glaube nicht. So egozentrisch sind selbst sie nicht …«
Pfeiffer kochte, musste sich aber eingestehen, dass ihm wohl nichts anderes übrig bleiben würde, als das zu tun, was der Unbekannte von ihm verlangte, falls Berger sich wirklich umbringen würde.
»Tun sie’s nicht!«, sagte er zu Berger. »Woher wollen sie wissen, ob der Arsch hier sein Wort hält? Oder ob es überhaupt noch rechtzeitig ist, um Marlene zu retten?«
»Ich halt das nicht mehr aus«, sagte Berger mit weinerlicher Stimme. »Ich tue es!« Er hob den Pistolenlauf mit zittriger Hand und richtete ihn auf seinen Kopf.
»Ich bin Richard Berger«, sagte er. »Ein ganz normaler Bürger …«
»Nein!«, schrie Pfeiffer, sprang auf Berger zu und entriss ihm die Pistole. Er würde nicht noch einmal den Handlanger für diesen Irren spielen. Dieser Albtraum musste jetzt enden!
Ein Schuss löste sich mit lautem Knall. Der ausrangierte Güterwaggon hatte die gegenteilige Wirkung eines Schalldämpfers. Pfeiffers Kopf dröhnte, er hörte ein durchdringendes Pfeifen und alle anderen Geräusche verschwanden darunter. Sein linkes Ohr war ganz heiß. Er taumelte, hatte die Pistole von Berger bereits in der Hand. Berger hatte sich nicht gewehrt. Berger, der jetzt die Augen weit aufgerissen hatte und langsam auf die Knie sank. Ein roter Fleck breitete sich über seiner Brust auf dem weißen Hemd aus.
Pfeiffer riss die Pistole hoch und schoss blind in das gleißende Licht. Dorthin, wo er seinen Peiniger vermutete. Diesen zweiten Schuss hörte er kaum, halb taub, wie er noch vom ersten war.
Er lies die Pistole fallen, hob die eine Hand gegen das Licht, das ihn so blendete. Mit der anderen packte er reflexartig nach seinem heißen linken Ohr. Es war Blut an seiner Hand. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der kniende Berger zur Seite kippte.
Pfeiffer brauchte noch einen Moment, bevor er begriff, was passiert war. Dieser Irre hatte auf ihn geschossen, aber verfehlt und stattdessen Berger getroffen. Er selbst hatte nur einen Streifschuss abbekommen.
Bis jetzt! Mit dieser Erkenntnis warf er sich halb blind und taub auf den Boden, um kein leichtes Ziel abzugeben. In Panik krabbelte er weiter und rechnete damit, dass jederzeit eine Kugel in ihn einschlug.
Der Pfeifton wurde leiser, als sein Gehör langsam zurückkam. Ein Mann schrie. Wieder brauchte er einen Moment, bis er bemerkte, dass es sein eigenes Geschrei war, das er hörte. Er brach ab. Da war immer noch ein Schreien. Ein gehässiges Grinsen stahl sich auf sein Gesicht, als er die Stimme seines Peinigers erkannte. Er hob vorsichtig den Kopf und versuchte mit zusammengekniffenen Augen etwas gegen das grelle Licht des Baustrahlers zu erkennen.
Wie ein Schattenriss hob sich der Körper eines Mannes ab, der so wie er am Boden lag. Er schrie und umklammerte mit beiden Händen seinen rechten Oberschenkel.
Pfeiffer lachte irre und rappelte sich langsam auf. Er hatte das Schwein erwischt! Die Hand auf sein blutendes Ohr gedrückt ging er langsam zu ihm hin und beugte sich über ihn. Der Unbekannte hörte keuchend auf zu schreien und sah zu Pfeiffer auf.
»Na, zufrieden?«, sagte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Jetzt, da Berger umsonst gestorben ist und auch die arme Marlene sterben wird. Das hast du getan! Alles deine Schuld! Du bist schuld am Tod von Maria, von Marlene und … aaargh!!«
Als das Schwein Marias Namen in den Mund nahm, konnte Pfeiffer nicht anders und trat heftig gegen den verletzten Oberschenkel. Der Unbekannte schrie und krümmte sich.
Pfeiffer versuchte sich zu beruhigen. Es fiel ihm schwer, einen klaren Gedanken zu fassen. Was sollte er jetzt tun? Richtig: Marlene musste gerettet werden! Er holte sein Handy aus der Innentasche seiner Jacke, um die Polizei anzurufen.
»Das würde ich nicht tun«, presste der unter ihm liegende Mann zwischen den Zähnen hervor. Pfeiffer sah in die Mündung der Pistole. Scheiße – ich habe vergessen, ihm die Pistole abzunehmen!
Pfeiffer hob beide Hände und trat vorsichtig einen halben Schritt zurück.
»Und was willst du jetzt machen?«, fragte Pfeiffer. »Mich auch noch vor laufender Kamera erschießen? So wie Berger?«
Der Unbekannte drehte kurz den Kopf nach hinten. Da oben, für ihn unerreichbar, leuchtete die rote Aufnahmelampe der Kamera. Er wedelte mit der Pistole in Pfeiffers Richtung. »Du bringst mich hier weg!«
Pfeiffer schüttelte entschieden den Kopf. Was sofort sein Ohr zum pochen brachte. »Werde ich bestimmt nicht«, sagte er. »Und du wirst mich auch nicht erschießen. Ich bin deine einzige Chance, hier wegzukommen, bevor die Polizei da ist. Ich brauche sie gar nicht zu rufen. Die Schüsse waren so laut – die waren kilometerweit zu hören.«
»Was willst du?«
»Wo ist Marlene?«
Der Unbekannte schüttelte den Kopf. »Glaubst du, ich bin blöd? Sie ist der einzige Trumpf, den ich noch habe! Außerdem habt ihr euch bereits entschieden. Du und Berger. Ihr Leben war euch weniger Wert als sein eigenes wertloses Leben und deine billige Rache.«
»Du bist nicht besser als die, die du an den Pranger stellen willst! Glaubst du, der Richter wird dir dein blödes Geschwafel abnehmen, dass die Selbstmorde eine freie Entscheidung waren? Und wie wird er wohl darüber urteilen, dass du Marlene ersticken lässt? Das ist kein Selbstmord! Es ist nicht ihre Entscheidung und kein anderer Mensch – weder Berger noch ich – haben das Recht, über ihr Leben zu entscheiden. Und was ist mit Berger selbst? – ›Ooops, sorry, das war ein Versehen?‹. Was glaubst du wohl, auf wie viel Jahre Gefängnis sich mehrfacher Mord, Totschlag und Erpressung addieren werden? Ich verrate dir mal ein kleines Geheimnis: mehr Jahre, als deine jämmerliche Existenz noch dauern wird!«
Pfeiffer hatte sich in Rage geredet und die letzten Worte nur noch geschrien.
Der Unbekannte drückte ab. Zeitgleich mit dem erneuten ohrenbetäubenden Knall, traf ihn etwas am linken Arm und ließ ihn überrascht aufkeuchen. Pfeiffer war klar, dass der Schock noch keinen Schmerz zuließ. Reflexartig trat er nach der Pistole, die der Unbekannte immer noch auf ihn gerichtet hatte, und sie flog scheppernd in eine dunkle Ecke des Güterwaggons.
Pfeiffer griff mit seiner Rechten nach seinem linken Arm, der jetzt taub war. Er blutete, konnte aber nicht feststellen, wie schlimm es war.
Er beugte sich über seinen Peiniger, der jetzt wieder zusammengekrümmt auf der Seite lag.
»Hey Arschloch, ich mache dir jetzt mal einen Vorschlag. Ich hole dir deine Pistole zurück. Mit genau einer Kugel. Du sagst dann gleich vor laufender Kamera, wo Marlene ist. Und anschließend sagst du dann: ›Ich bin kein normaler Bürger. Ich habe Menschen gemordet, erpresst und grausam gequält. Ich bin eine Bestie!‹ – und du weißt, was du dann zu tun hast! Deine Entscheidung … «
Pfeiffer ging in die Richtung, in die die Pistole geflogen war. Er nutzte die Taschenlampenfunktion seines Handys, um sie zu finden. Er öffnete den Revolver, holte die Patronen heraus und steckte sie in seine Hosentasche. Sein Arm glühte. Die Schmerzen nahmen stetig zu.
Er ließ die Waffe neben dem Unbekannten auf den Boden fallen, der sie mit fiebrigen Augen anstarrte wie ein Kaninchen die Schlange.
»Eine Patrone. Genau eine! Na los!«, sagte Pfeiffer. »Viel Zeit hast du nicht mehr! Wenn die Polizei erst einmal hier ist, wirst du es nicht mehr tun können. Du wirst im Gefängnis verrotten!«
Der Unbekannte griff mit schmerzverzerrtem Gesicht und zitternder Hand nach der Pistole. Pfeiffer hielt die Luft an.
Mit rauer Stimme fing der Unbekannte an zu sprechen: »Mein Name tut nichts zur Sache. Unschuldige Menschen sind gestorben. Aber auch schuldige. Für die tut es mir nicht leid. … Aber ich bin keine Bestie. Marlene Romero ist … sie ist in …«
Er brach ab.
»Spucks schon aus!«, brüllte Pfeiffer.
Unvermittelt hob der Unbekannte die Waffe an seine Schläfe und drückte ab. Es machte ›Klick‹, aber es fiel kein Schuss.
»Hast du wirklich gedacht, ich gebe dir eine scharfe Waffe?«, flüsterte Pfeiffer.
Der Unbekannte ließ sich auf die Seite fallen und fing an zu wimmern. In der Ferne klangen Martinshörner, die näher kamen.
»Sie werden sie auch so finden«, flüsterte Pfeiffer. »Sie werden sie finden.«

ENDE

Berger starrte auf die Pistole in seiner Hand. Was sollte das? In seinem Kopf raste diese Frage durch sämtliche Gehirnwindungen, er suchte nach einer Antwort, die sich richtig anfühlte.
Er wollte seine Schwester retten. Unbedingt. Deine Liebe zu ihr war mächtig, auch wenn nicht immer eitel Sonnenschein herrschte.
Aber sterben auf so grausame Art und Weise sollte sie auch nicht. Richard seufzte, blickte den Unbekannten an und sagte: " Ich mache es. Marlene soll leben. Das bin ich ihr schuldig. Ich verlasse mich auf Sie, Sie Mistkerl?"
„Ich wusste doch, dass Sie vernünftig sind, Berger! Also, Sie sind dran“
Richard seufzte, strich sich über die Stirn und drehte sich zitternd zur Kamera. Sein Herz pochte vor Angst, Wut und Hass. Er dachte an Marlene.
„Nein, bitte tun Sie es nicht! Dorothea und Marlene werden nie darüber hinweg kommen. Es muss eine andere Lösung geben.“
„Ich habe keine andere Wahl. Sie haben es doch gehört.“ sagte Berger gedämpft und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
„Marlene muss leben. Sie wird sich gut um Doro kümmern. Sagen Sie den beiden, dass ich sie liebe.“
Berger atmete tief durch, wischte sich nervös unters Gesicht.
Der Unbekannte zischte:„Halten Sie uns nicht unnötig hin, ziehen Sie es nicht in die Länge! Sie verderben uns die Stimmung.“
„Wenn es Ihnen zu lange dauert, dann machen Sie es doch selber!“ fauchte Berger.
Der Schlanke schüttelte den Kopf:„Nicht doch! Wo bleibt denn da der Spaß?“
"Bringen wir es hinter uns! " sagte Berger zitternd.
Zur Kamera gewandt : „Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzugehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!“
Er setzte sich den Lauf der Pistole an die rechte Schläfe und drückte ab. Er sackte zusammen, landete auf der staubigen Erde.
Pfeiffer starrte auf den Körper, trat näher, sah , wie das Blut aus seinem Kopf floß.
Er konnte nicht klar denken.
Der Unbekannte stoppte die Kamera - wie die Kugel Bergers Leben.

Die Kammer

Pfeiffers Wut explodierte und er entriss Berger die Waffe. Mit Maria im Kopf schoss er auf den Unbekannten. Er wollte ihm seine Schmerzen heimzahlen.
Die Kugel traf den Bauchraum. Das Blut sickerte aufs Hemd und der Fleck breitete sich zügig aus. Jeder wusste, dass schnelle Hilfe nötig war. Jetzt handelte Berger. Diese Situation hat er nicht vorhergesehen oder gewünscht, doch wenigstens lebte der Unbekannte – noch. Berger stürzte zu ihm und schrie: „Wir rufen nur den Notarzt, wenn Sie mir sofort sagen, wo Sie meine Schwester gefangen halten! Pfeiffer ist an der Waffe ein Amateur, aber es ist kinderleicht, Sie verbluten zu lassen.“ Der Unbekannte entschied sofort: „Frau Romero liegt am anderen Ende der Stadt in einer geschlossenen und abgelegenen Disko. Sie hieß früher ‚Verstärker‘.“ „Ey, sowas kennen wir in unserem Alter nicht. Sag uns die Adresse“, forderte Pfeiffer. „Textorstraße 77, Nähe Südbahnhof. Ruf den Notarzt, du Pfeife.“
Während der Journalist das erledigte, um nicht als Mörder aus der Sache rauszukommen, fütterte Berger seine Navigationsapp mit den Informationen und stöhnte auf. „Es sind 37 Minuten Fahrzeit“, sagte er. Sie kümmerten sich nicht weiter um den Angeschossenen und überließen ihn den Rettungssanitätern.
Die beiden Männer rannten zum Auto und nutzten wieder die Taschenlampenfunktion, um zügig vorwärtszukommen. Kurz bevor sie den Ford erreichten, schaltete sich Bergers Handy wegen des überstrapazierten Akkus aus.


Die Fahrt nagte an Bergers Nerven. Als Beifahrer hatte er keine Aufgabe und seine Gedanken und Sorgen rasten wie wilde Affen durch sein Hirn. Er zitterte, Schweiß stand auf seiner Stirn. Marlene lag gefesselt und geknebelt in einem Betonraum; seine Frau konnte ihn nicht erreichen. Sie muss Ängste ausstehen. Immer wieder blickte er auf die Restzeit. 30 – 20 – 10 Minuten. Dazwischen lag jeweils gefühlt eine Ewigkeit. Er nagte an seinen Fingernägeln.
„Verdammt!“, schrie Pfeiffer. Er hatte eine falsche Abzweigung genommen und sie befanden sich auf der anderen Seite des Bahnhofs. Da es hier von Einbahnstraßen wimmelte, dauerte die umgerechnete Route zusätzlich sieben Minuten. Beide stöhnten auf, doch konnten sie nur versuchen, konzentrierter den Weg zu finden. Berger kontrollierte die Streckenführung ebenfalls und die Gabelung entdeckten sie diesmal rechtzeitig trotz der Dunkelheit. Seit der Abfahrt von Bergers Haus waren anderthalb Stunden vergangen. Bekam Marlene genug Luft?
Die alten Neonröhren des ‚Verstärkers‘ fanden sie schnell und rannten gemeinsam auf den Eingang zu. Sie liefen eine Treppe runter und Berger rief den Namen seiner Schwester. Es hallte wider in dem leeren Haus. Sie entdeckten weder ein Verlies noch eine versteckte Tür in dem ehemaligen Hauptraum der Diskothek.
Sie liefen tiefer ins Gebäude und erreichen den Keller. Hier gab es kleine Abteile, wie man es aus alten Häusern kennt. Voller Hoffnung schrie Berger erneut nach Marlene. Pfeiffer streckte die Hand aus und legte den Kopf schief. Sein Zeigefinger ruhte queer auf seinen Lippen. Die Stille war bedrückend und offenbarte nichts. Sie liefen weiter und rissen jeder auf einer Seite die Türen zu den kleinen Kammern auf. Bei der dritten wurde Berger fündig.

Er sah einen Fetzen von Marlenes Bluse in der Raummitte. Es war niemand da, aber seine Schwester muss hier gelegen haben. Berger entdeckte Marlenes Halskette mit dem kleinen Kreuz, die sie seit ihrer Konfirmation trug. Nie würde sie den Schmuck freiwillig zurücklassen. „Nein“, presste Berger zwischen den zitternden Lippen hervor. „Was ist passiert? Hatte der Arsch einen Helfer?“ „Den fragen wir. Er wird ins Marienkrankenhaus gebracht worden sein, das liegt dem Waggon am nächsten“, antwortete Pfeiffer.


Im Krankenhaus schmiedeten sie einen Plan, um die Zimmernummer des Unbekannten erfahren, doch trafen sie im Eingangsbereich auf Dorothea. Sie lief mit offenen Armen auf ihren Mann zu und stieß aus: „Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Weshalb hast du dein Handy ausgeschaltet? Dutzende Male habe ich versucht, dich zu erreichen.“ „Mein Akku war leer“, erwiderte Berger. „Was machst du hier?“ Dorothea schaute ihn eine Weile stumm an. „Hach, es ist alles wieder gut. Ich wollte es dir unbedingt so schnell wie möglich sagen. Sie haben Marlene gefunden. Sie liegt hier im Krankenhaus und wird wieder gesund werden. Deine Schwester ist nur erschöpft und unterkühlt.“ Berger verstand die Welt nicht mehr und hakte nach: „Jetzt mal ganz langsam. Was ist passiert?“ Dorothea erzählte: „Ich habe die Polizei angerufen. Ich konnte dich noch nicht so alleine in die Gefahr lassen. Der Typ ist doch zu allem fähig. Die Beamten waren nach zehn Minuten bei uns und analysierten das Video. Schnell fanden sie heraus, dass Marlene in der alten Diskothek ‚Verstärker‘ liegen musste. Neben ihr lag ein alter Bierdeckel mit dem Aufdruck. Sie sind sofort hin und konnten sie retten. Natürlich musste sie ins Krankenhaus.“

Alle drei setzten sich in die Wartesessel und starrten eine Weile ins Leere. Jeder versuchte, die Geschehnisse zu verdauen. Jeder hatte die gleiche Frage im Kopf: Weshalb ist ihnen das alles zugestoßen?

Ein Polizist kam auf die Gruppe zu und stellte Fragen. Berger und Pfeiffer hatten Klarheit, weshalb ihnen das angetan wurde, doch weshalb traf es Marlene? Wieso wurden sie als Mörder bezeichnet? Sie erzählten dem Kommissar ihre Erkenntnisse und Erlebnisse. Der stellte fest: „Jetzt ergibt alles einen Sinn.“ „Welchen?“, hakte Pfeiffer nach. „Weshalb sollte jemand zum Mörder werden und an so vielen Menschen Rache nehmen?“ Der Polizist erklärte die Hintergründe: „Der Täter heißt Pietro Slomka. Seine Schwester Ola wurde mit falschen Versprechungen nach Frankfurt gelockt. Der Reisebus versprach ihr ein zufriedenes Leben. Hier wurde sie in den Venustempel geschickt und musste dort arbeiten. Sie war praktisch eingesperrt. Einmal konnte sie entkommen und nahm Zuflucht in einer Kirche. Sie sprach mit der Pastorin und erzählte ihr von ihrer Situation. Marlene Romero versprach, ihr zu helfen und sie rauszuholen. Doch Ola hörte nie wieder von Frau Romero. Als sie krank wurde, brachte niemand Ola zum Arzt, weil sie nicht gemeldet und nicht versichert war. Ola starb im Venustempel.“

Offene Enden – fünfter und letzter Teil

Von Michael Fritz

Richard Berger starrte auf die Pistole in seiner Hand. Die Waffe war kalt und schwer, fast wie eine Anklage, die ihn nicht losließ. Die Worte des Unbekannten klangen in seinem Kopf nach. »Ihre Entscheidung«. Die Kamera an der Wand schien ihn zu beobachten, die Linse war ein unbarmherziger Zeuge. Ein Alptraum, aus dem es kein Entkommen gab. Und doch wusste er, wenn er jetzt nicht handelte, würde alles zu spät sein. Die Kamera an der Wand beobachtete ihn unerbittlich, ihre Linse ein gnadenloser Zeuge dieses Alptraums.

»Sie haben keine Ahnung, was Sie mir antun«, murmelte Berger. Seine Stimme klang fremd, in seinen eigenen Ohren, als hätte ein anderer gesprochen. Das rote Licht der Kamera warf einen gespenstischen Schein auf die rostigen Wände des Waggons, der wie ein Käfig um ihn herum zu schrumpfen schien.

»Marlene…«, flüsterte er, und seine Stimme brach. »Sie und Doro, sind alles, was mir noch bleibt.«

Der Unbekannte lachte leise, als würde er gefallen an Bergers Zerrissenheit finden. »Na Berger, wie entscheiden sie sich? Ich habe es Ihnen schon gesagt, ›jeder hat eine Wahl‹. Sogar Sie, Berger. Also, wer soll leben? Marlene, oder Sie.«

Pfeiffer stand etwas im Hintergrund, das Handy in der Hand, bereit, zu handeln, doch er fühlte sich gleichzeitig wie gelähmt. Die ganze Situation kam einem surrealen Alptraum gleich, aus dem er nicht wusste, wie er entkommen sollte. Marlene, das Bild der Pastorin tauchte in seinem Kopf auf, ihre ruhige, unerschütterliche Art.

Und vor ihm kämpfte Berger um sein Leben, um seine Seele.

Dann traf er eine Entscheidung. In der Hoffnung, dass die Polizei sein Handy orten könnte, stellte er, ohne große Handbewegungen zu vollziehen, an seinem Handy die Empfangslautstärke auf null, wählte die 110 und drückte den Knopf für laut mithören. Nachdem er sicher war, dass die Verbindung stand, nahm er das Handy in die linke Hand und tippte 2x mit dem rechten Zeigefinger die folgende Sequenz. 3x mal kurz, 3x Lang, 3x kurz, das internationale Zeichen für SOS.

Berger der bisher mit dem Rücken zu Pfeifer gestanden hatte, drehte sich halb zu ihm um, am ganzen Körper zitternd. Er blickte zu Pfeiffer, dann wieder auf die Waffe. Die Worte des Unbekannten hallten in seinem Kopf, wie ein Echo in einem leeren Raum. »Töte mich oder töte dich selbst.« Doch in dieser Stille konnte er plötzlich die Antwort hören. Nicht aus dem Mund des Unbekannten, sondern aus seinem Innersten, eine Erkenntnis durchzuckte ihn.

»Ich…«, sagte Berger, seine Stimme jetzt klarer. »Ich werde nicht so enden. Und Marlene auch nicht.«

Er ließ die Waffe sinken. Langsam, als würde er, immer noch, gegen einen inneren Widerstand kämpfen. Der Unbekannte starrte ihn an, als hätte er etwas Unmögliches gesehen.

Der Unbekannte versuchte, den Druck auf Berger zu erhöhen.

»Sie haben die Wahl, Berger«, sagte der Unbekannte, seine Stimme war hart, aber in seinen Augen flackerte der Funke von Unsicherheit. »Das ist Ihre letzte Chance.«

Berger drehte sich um und ging einen Schritt auf Pfeiffer zu.

»Was jetzt, Pfeiffer?«, fragte er, ohne seine Augen von der Waffe abzuwenden. Pfeiffer konnte die Entschlossenheit in Bergers Gesicht sehen, das Zögern war verschwunden.

»Jetzt machen wir es richtig«, antwortete Pfeiffer. Er wusste, dass es an ihm war, den nächsten Schritt zu tun. Denn, so kalt es auch klang, die Wahrheit hatte bereits ihren Tribut gefordert bezahlt.

Pfeifer lenkte die Aufmerksamkeit von Berger auf sein Handy in der Hand. Berger begriff ziemlich schnell.

»Sie sind ein Feigling, Berger«, rief der Unbekannte, »einer wie Sie hat keinen Platz in dieser Welt!« Doch Berger hörte nicht mehr hin. Die Worte hatten ihre Bedeutung verloren.

Pfeiffer hob nun das Handy an und richtete die Handykamera auf den Unbekannten. Der Unbekannte, dessen Blick immer noch auf der Pistole in Bergers Hand lag, hatte erst gar nicht bemerkt, dass Pfeifer ein Foto von ihm machte.

»Wir haben die Polizei gerufen«, sagte Pfeiffer ruhig und laut. Dann wanderte sein Blick zu Berger »und sie wird jeden Schritt, den du machst, verfolgen.« Die Worte waren nicht an den Unbekannten gerichtet, sondern an Richard Berger.

»Aber wieso?« Fragte der Reiseveranstalter mit einer Mischung aus Erleichterung und Verzweiflung in der Stimme. »Ich habe nichts getan!«

»Doch«, sagte Pfeiffer, »Sie haben weggesehen. Sie haben Ihr Schweigen verkauft. Genau wie wir alle.«

In diesem Moment hörte man ein Wimmern aus der Dunkelheit. Marlene, aus einem alten, fensterlosen Raum irgendwo hinter dem Waggon. Ein Geräusch, das mehr aussagte als tausend Worte. Sie lebte. Die Polizei würde sie finden.

Der Unbekannte, in der Zwischenzeit wütend und nervös, drehte sich um und versuchte, zu fliehen. Doch als er den Waggon verließ, war es bereits zu spät. Polizeisirenen heulten in der Ferne, und wenig später durchbrachen die ersten Streifenwagen die Stille des Industriegebiets. In den folgenden Minuten überschlugen sich die Ereignisse. Überall war Blaulicht zu sehen und nach wenigen Minuten wurde der Unbekannte überwältigt und festgenommen.

Was folgte, war ein Wirbel aus Geständnissen und Beweisen. Ein riesiges Netz aus Korruption und Gewalt begann sich zu entwirren. Richard Berger war am Ende seiner Kräfte, doch er würde die Last nicht allein tragen müssen. Es gab noch andere, und diese anderen würden sich bald vor Gericht verantworten müssen.

Doch für den Moment, konnte er endlich aufatmen.

»Was haben wir nur getan?«, murmelte er als die Handschellen klickten und die Polizei ihn abführte.

»Wir haben uns entschieden«, antwortete Pfeiffer. »Das ist alles.«

So endete die Jagd nach der Wahrheit. Die Antwort war nicht in einer Waffe, nicht in einem Video, sondern in der Wahl, die jeder von ihnen getroffen hatte. Ein letzter Blick in die Kamera, und das alles war vorbei.

Tage später erschien in der FGZ folgende Schlagzeile:

Bruder einer Entführten und Getöteten

Zwangs-Prostituierten übt Selbstjustiz.

… Ich hoffe, wir lernen alle etwas daraus. Wegschauen ist keine Lösung.

Christian Pfeiffer

ENDE

Berger stand da wie angewurzelt. Die Waffe hielt er nach wie vor mit beiden Händen, wie ein rohes Ei. Geblendet starrte er in den Schatten und wirkte dabei wie ein Kaninchen vor der Schlange. Ein Blinder hätte erkannt, dass der Busunternehmer in eine Art Schockstarre gefallen war. Pfeiffer wartete mit angehaltenem Atem, wie die Stimme auf die Handlungsunfähigkeit Bergers reagieren würde. Das Pochen seines Pulses hallte wie Sekundenschläge einer lauten Uhr durch seinen ganzen Körper. Alles in ihm wollte dem vor Schreck erstarrten Mann neben ihm die Waffe aus den Händen reißen und blindlings ins Dunkle feuern. Angespannt wie ein Regenschirm zwang er sich, stillzuhalten.
„Herr Berger, ich helfe ihnen und zähle jetzt rückwärts von acht bis eins.“ Marias Mörder sprach ruhig und eindringlich. „Dann machen Sie, was ich Ihnen aufgetragen habe.“
Also doch. Jetzt haben wir Dich, Arschloch. „Dorothea hasst Fliegen.“ Dieses Codewort hatten sie vorhin beim Wegfahren vereinbart. Christian hoffte, seine geraunten Worte würden Richard rechtzeitig an ihren Plan erinnern. Bergers Frau liebt Flugreisen. Genau aus diesem Grund hatten sie den absurden Satz gewählt, für den Fall, dass einer von ihnen drohte, hypnotisch beeinflusst zu werden. Richard schloss zweimal hintereinander angestrengt die Augen. Einem Außenstehenden dürfte die Bewegung nicht aufgefallen sein. Noch dazu, wenn derjenige gerade aufgefordert worden war, sich mit einer Waffe in den Kopf zu schießen. Eine unbedeutende nervöse Regung, aber zugleich ein vereinbartes Zeichen, dass Berger den Hinweis zur Kenntnis genommen hatte. Pfeiffers Recherchen zum Thema Hypnose und wie man einer solchen entgehen kann, hatten sich hoffentlich gelohnt.
„Herr Pfeiffer. Sie gefährden Marlene Romeros Leben!“ Wütend blaffte die Stimme aus dem Schatten ihn an. „Noch ein Wort und mein Angebot, Herrn Bergers Schwester zu retten, ist hinfällig.
Herr Berger, hören sie mir zu und alles wird gut.
Acht … sieben … sechs … fünf.“
Bei vier umfasste Richard den Griff der Waffe mit der rechten Hand.
„Drei … zwei.“
Bei eins hob er den Kopf in Richtung Kamera.
„Ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie ihr alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier. Ich bin ein Schwein! Ein Ausbeuter! Ein Kapitalist!“ Er hob Hand und Waffe. Pfeiffer konnte seine Zweifel nicht mehr zu Ende denken, schon löste sich mit einem ohrenbetäubenden Knall eine Kugel aus dem Revolver und es wurde stockdunkel im Waggon.
Der Journalist warf reflexartig alles, was er in den Händen gehalten hatte in die Richtung, in der er Marlenes Kidnapper vermutete. Polternd schlug etwas davon gegen die eiserne Wand und man konnte förmlich hören, wie Glas und Keramik seines Diensthandys splitterte. Ein teures Ablenkungsmanöver auf Firmenkosten. Magnus würde nicht erfreut sein. Berger zog ihn währenddessen wortlos an seinem Mantel in Richtung Schiebetür. Eng drückten sie sich gegen den harten Stahl und hielten die Luft an. Leise Schritte näherten sich von der anderen Seite. Der Mistkerl trug offensichtlich Turnschuhe, die seine Bewegungen abfederten.
Komm schon, du Wichser! Schwaches Mondlicht drang durch die offen stehende Schiebetür ins Innere. Wenn der Sauhund mit seiner Waffe hier herumballert, gehen wir über den Jordan, dachte Pfeiffer. Zwei alte Bürohengste gegen einen durchgeknallten Jungspund mit Knarre, ihr Plan hatte eindeutig Lücken. Immerhin hat Berger das Licht ausgeschossen. Wie auch immer ihm das gelungen ist. Pfeiffer zog insgeheim seinen Fedora vor dieser Leistung. Es war jetzt mucksmäuschenstill im Waggon. Offensichtlich lauerte ihr Gegner wie sie im Schatten der Stahlwand auf eine Bewegung ihrerseits. Er wusste, dass sie noch hier sein mussten. Eine Flucht wäre nicht unbemerkt geblieben, so gelenkig waren sie beide nicht, dass sie mit einem Sprung das rettende Freie erreicht hätten. Was, wenn der Typ sein Handylicht einschaltet? Ihr einziger momentaner Vorteil war, dass der Gegner nicht wusste, wo sie sich versteckten. Ohne lange darüber nachzudenken, riss Pfeiffer sich den Hut vom Kopf und schleuderte ihn in die Richtung, aus der er die leisen Schritte vernommen hatte. Ein weiterer Schuss zerriss die Stille und sie hörten, wie die Kugel ins Metall schlug, und gleich noch einmal. Querschläger! Panik lag in der Luft. Nicht nur er war zusammengefahren, der Bewaffnete hatte einen kleinen Satz gemacht und befand sich nun direkt vor der offenen Schiebetür. Sie konnten seine Umrisse sehen und wie er sich mit einer Hand an der Öffnung abstütze. Er haut ab! Dachte Pfeiffer noch. Im selben Moment bewegte sich mit Schwung die quietschende Tür. Berger musste sich mit vollem Gewicht dagegen geworfen haben. Sie erwischte den Kerl hart, ging man von dem überraschten Schmerzenslaut aus. Mindestens seine Hand ist jetzt Brei!, dachte Christian und stürzte sich geistesgegenwärtig auf den Eingeklemmten. Er erspürte einen Arm, griff mit beiden Händen danach und drosch zusätzlich sein angezogenes Knie nach, wie er es aus den alten Bud Spencer und Terrence Hill Filmen kannte. Ein weiterer Klageschrei und ein Poltern zeigten, dass er dem Verbrecher die Waffe erfolgreich aus der Hand geschlagen hatte. „Ich habe ihn!“, rief er Berger zu Hilfe und zu zweit rangen sie den Mann nieder. Vielleicht drosch er ein wenig zu hart mit Händen und Füssen auf den am Boden Liegenden ein. Obwohl es noch immer stockfinster war, sah er alles rot. „Das Schwein hat Maria auf dem Gewissen!“, schrie er unwirsch, als ihn Berger von dem wimmernden Täter fortzog.
Berger keuchte wie eine Dampflok und sprach stoßweise: „Wir haben ihn! Ich habe seine Waffe und halte ihn in Schach! Nimm mein Handy aus meiner Hosentasche und mach mal Licht! Dann ruf die Polizei!“ Immerhin schien er die Lage unter Kontrolle zu haben.
Pfeiffer tat schweren Herzens, was sein Leidensgenosse verlangte. Wir sollten ihn zwingen, sich selbst das Hirn wegzublasen! Dann machte er sich bewusst, dass sie noch immer nicht wussten, wo Marlene war. Sicher war es klug, alles Weitere der Polizei zu überlassen.

+++

Richard Berger knetete nervös seine Hände, als würde er frieren. Am gut geheizten Vernehmungsraum konnte es nicht liegen. „Ich habe diesen Klaus Töpfer nie persönlich kennengelernt. Er hat per Mail meinen Bus gechartert um Pflegepersonal von Frankfurt nach Sofia hin und her zu transportieren. Angeblich, weil seine Eltern pflegebedürftig sind und er durch deren Pfleger auf die Idee gebracht wurde. Daran ist nichts verwerflich. Der Buspreis war weder überhöht, noch hätte ich mich auf irgendwelchen Schmuggel oder gar Menschenhandel eingelassen. Was Töpfer von den Pflegerinnen verlangt hat, weiß ich nicht. Ein Flugticket kostet mindestens das Doppelte, abgesehen davon, dass zu dieser Zeit gar keine Flüge stattfanden, also habe ich mir nichts dabei gedacht. Während der Pandemie war ich froh, überhaupt einen Auftrag zu bekommen.“
Die Mordkommissarin drückte die Stopptaste des Aufnahmegeräts. „Wir werden Ihre Aussage überprüfen, Herr Berger. Es wird sie freuen, zu hören, dass wir Ihre Schwester gefunden haben. Sie ist zum Durchchecken im Spital, aber im Großen und Ganzen geht es ihr gut.“ Die junge Frau stand auf und wartete auf den Zeugen, um mit ihm gemeinsam den Raum zu verlassen.
Berger erhob sich und suchte den Blickkontakt mit der leitenden Ermittlerin. „Was wissen Sie über den Täter? Sie haben Ihn doch schon vernommen? Warum mussten Herr Töpfer und Christians Verlobte sterben?“
Marion Wesp presste die Lippen fest zusammen.
„Sie dürfen es mir nicht sagen, oder?“ So war es auch immer in den Fernsehkrimis. Resigniert schüttelte er den Kopf.
Die Ermittlerin fasste sich ein Herz: „Tobias Sauer, so heißt der junge Mann, hat den Blick für die Realität verloren. Im Prinzip begann dieses Drama wie eine Liebesgeschichte. Während der Lockdowns hat er über das Internet eine junge Bulgarin kennengelernt. Verliebt, wie er war. Hat er ihr Geld geschickt und sie ist wohl mit ihrem Bus nach Deutschland gekommen. Ursprünglich wollte sie hier als Pflegerin arbeiten. Doch nach kurzer Zeit hat sie umgesattelt und als Bardame in der Venusfalle angefangen. Wahrscheinlich lockte sie das schnelle Geld. Herr Sauer meinte sie liebte teure Handtaschen und Klamotten. Er konnte ihr diesen Luxus nicht bieten.“ Betroffen rang die Kommissarin um Worte. „Wir vermuten, Herrn Sauers Internet-Bekanntschaft war sein erstes Opfer. Sie soll sich vor einem Monat das Leben genommen haben. In wiefern dies eine freiwillige Entscheidung war, müssen unsere Psychologen erst noch herausfinden.“
Berger runzelte die Stirn. „Heißt das, dieser Kerl kommt statt ins Gefängnis in eine Klapsmühle? Der ist doch gemeingefährlich. Wo hat er überhaupt seine Hypnosefähigkeiten her?“
„Das fragen wir uns auch. Er hat dazu keine eindeutige Aussage gemacht. Er meinte, er hätte es schon immer gekonnt, sich so durch die Schulzeit und durchs Studium geschummelt.“
„Warum hat er dann nicht einfach diesem Mädchen befohlen, ihn zu lieben? Warum musste das junge Ding sterben? Und Maria? Und Herr Töpfer? War der wirklich ein Mädchenhändler, wie es in dem Kuvert stand?“
„I wo. Er war ein ganz normaler Mann. Der vielleicht mit dem überschüssigen Geld von diesem Pfleger-Pendelbus mal in die Venusfalle ging. Herrn Sauers krankes Gehirn hat sich da wahrscheinlich so einiges zusammengesponnen.“

+++

Mit offenem Mantel stand Christian Pfeiffer vor den schon etwas welken Chrysanthemen an Marias Grab. Die Sonne machte diesen Herbsttag ein wenig erträglicher. Hier bin ich wieder. Du fehlst mir so sehr. Ich habe deinen Mörder erwischt, doch den Schmerz nimmt mir die Genugtuung nicht. Was soll ich bloß tun, ohne dich. Du hattest recht. Ich werde diesen Bericht weiter verfolgen, den mir Magnus damals verboten hat. Vielleicht ist ja doch etwas an der Sache. Gib mir doch einen Tipp. Von da, wo du jetzt bist, hast du sicher nen tollen Überblick. Ich liebe dich, mein Schatz. Pfeiffer setzte den Hut, den er unruhig in den Händen gedreht hatte wieder auf und wandte sich mit überschwemmten Augen zum Gehen.

Falsches Spiel

Berger nahm die Pistole, drehte sich zu Christian Pfeiffer um und schoss mit einem lauten Knall auf ihn. Pfeiffer fiel in sich zusammen. Dann richtete Richard Berger die Waffe auf den Unbekannten.
Der sah ihn feist grinsend an. »Schon vergessen«, lachte er, »Da ist nur eine Kugel drin!«
Der Reiseunternehmer drückte erneut ab. Ein Schuss ertönte und der hochgewachsene Mann sank zu Boden.
Dort unten regte sich nun auch Pfeiffer wieder.
»Bist du völlig durchgeknallt?«, fuhr er Berger an und hielt sich den Arm, den ein Streifschuss getroffen hatte. »Warum hast du auf mich geschossen?«
»Na, um das Schwein da töten zu können«, der Reiseveranstalter warf die Waffe in die Ecke. »Als Ablenkung, denn damit hat er nicht gerechnet. Du hast ja gut mitgespielt, als du reglos auf den Boden gefallen bist!«
»Ich bin wirklich erschrocken!«, wandte Christian beschämt ein. »Lass du dich mal fast anschießen«, murmelte er noch.
»Es ist vorbei«, meinte Richard Berger. »Durchsuchen wir das Gebäude, Marlene muss hier irgendwo sein.«
»Du hast ihn doch verstanden: Jetzt wird sie niemand mehr finden! Du hast es vermasselt!«
»Woher glaubst du, kam die zweite Kugel im Lauf?«, fragte Richard seinen Begleiter und lächelte verschmitzt.
Pfeiffers Augen wurden groß. »Du warst schon vorher da«, stellte er erstaunt fest.
»Natürlich. Ich habe die Munition nachgeladen. Das war alles so von mir geplant. Und ich weiß darum auch, wo sich Marlene befindet, andernfalls hätte ich meinen Plan nicht so weit durchgezogen. Ich habe sie sprechen gehört. Sie muss in der Lagerhalle sein. Am Ende des Ganges hier rechts ist eine Tür. Dort geht es zu einem Keller. Wahrscheinlich ist sie da eingesperrt, das hat er doch so angedeutet.«
»Warum zum Teufel hast du sie dann nicht schon längst befreit?«, Christian sah ihn ungläubig an.
»Weil ich den Täter erschießen wollte und der war nicht vor Ort! Er musste jedoch sterben, sonst hätte das Ganze nie aufgehört.«
Christian nickte. »Los!«, rief er, »auf zu diesem Gang!«

Berger und der Journalist setzten sich in Bewegung, und während Pfeiffer Richard folgte, konnte er nicht umhin, an seine nächste Story zu denken.
»Titelblattreif«, flüsterte er.
»Was?«
»Ach nichts.«
Schließlich hatten sie einen langen, dunklen Gang erreicht.
»Hinter der letzten Tür ist sie«, meinte der Reiseunternehmer und sie liefen schneller.
Auf einmal flackerte das Licht.
»Was ist das?«, Richard erschrak.
»Bestimmt nur ein technischer Effekt.«
Plötzlich ertönte eine Stimme durch blecherne Lautsprecher und hallte im ganzen Gebäude wider.
»Richard Berger«, lachte der Sprecher. »Du denkst wohl, ich wäre nicht darauf vorbereitet gewesen! Doch ich trage bei derlei Korrespondenzen immer eine kugelsichere Weste.«
Dann gingen die Lichter aus und die Tür, durch den sie den Gang betreten hatte, fiel mit einem lauten Schlag ins Schloss.
Berger leuchtete mit seiner Taschenlampe in diese Richtung, aber es war keiner hinter ihnen.
Rechts und links waren jedoch ungefähr zehn Türen. Der Täter könnte jederzeit durch eine davon in den Gang gelangen.
»Wir sind verloren«, stellte Richard Berger fest.
»Solange ich lebe, kann ich mich wehren.« Der Journalist zog ein Messer aus seiner Gürteltasche.
»Nicht nur du warst vorbereitet«, sagte er zu seinem Begleiter.
Unerwartet schlugen auf einmal alle Türen miteinander auf. Berger zuckte zusammen und Christian Pfeiffer hielt das Messer hoch.
Daraufhin trat ein Schatten aus einer der Türen. Eine vermummte Gestalt. Sie lief etwa 7 Meter vor die beiden entfernt in den Gang und zog sich dann die Kapuze vom Kopf.
Berger und Pfeiffer standen wie angewurzelt und völlig überrascht vor ihr.
»Marlene«, entfuhr es schließlich Richard Berger.

»Die und keine andere«, lachte sie und zog sich die verfilzte Perücke herunter. »Meinen Partner kennt ihr ja schon.«
Der Unbekannte stellte neben ihr auf den Flur.
»Was zur …?«, für weitere Worte war Richard Berger zu perplex. Er hatte also tatsächlich ihre Stimme gehört!
»Ja, das dachte ich mir ebenso, als ich von diesen Busreisen erfuhr«, meinte Marlene Romero. »Und auch, als ich erfahren habe, wie reich mein Bruder eigentlich ist! Jedoch vor allem, wenn ich daran denke, wie wenig er mich in schwierigen Zeiten unterstützt hat!«
Berger senkte den Kopf. »Marlene«, flüsterte er. »Ja, ich habe Fehler gemacht und ich hätte dir damals helfen sollen … aber das ist doch alles kein Grund für … so etwas!«
»Das hättest du dir eher überlegen sollen!« Marlene drehte sich zu Christian Pfeiffer. »Und DU wirst sicher verstehen, wie enttäuscht ich war. Dass dir dein Job wichtiger war, als das Aufdecken dieses gewaltigen Unrechts!«
Der Journalist sah betreten auf seine Füße.
Marlene Romero warf ihrem Komplizen einen Blick zu. »Gib mir deine Waffe!«
»Willst du nicht lieber, dass ich es …«
»Nein!«
Der hochgewachsene Mann gab ihr seine Pistole und Marlene zielte auf ihren Bruder.
»Marli«, versuchte er es, dann ertönte ein Schuss und er fiel leblos zu Boden.
Christian Pfeiffer sprang mit dem Messer nach vorne, aber ein erneuter Knall ließ ihn neben Richard Berger zusammensinken.
»Der lebt noch«, meinte der unbekannte Mann emotionslos, ging zu dem Körper am Boden und stieß ihn mit dem Fuß an.
Marlene trat vor ihn und beugte sich zu ihm hinab.
»Das ist doch die Titelstory, die du wolltest«, sagte sie von oben und schoss ihm in den Kopf. »Schade, dass DU sie nicht schreibst.«

Die Titelstory wurde tatsächlich von Christian Pfeiffers Chef geschrieben, der ein paar anonyme Hinweise diesbezüglich bekam. Sie kam weltweit groß heraus, aber die Täter wurden nie gefunden.
Richard Bergers Reisebüro wurde von seinem Stellvertreter übernommen und lief ein halbes Jahr sehr gut, bis eines Tages eine unbekannte Nachricht im Postfach lag. Der neue Leiter des Reisebüros konnte sich keinen Reim darauf machen, der Inhalt ließ bei ihm jedoch sämtliche Alarmglocken läuten:

Sind Ihnen 10 000 Euro etwas wert? Dann kommen Sie um 20.05 Uhr zu folgendem Treffpunkt.

Die Koordinaten in der Nachricht führten zu einer Lagerhalle im Industriegebiet.

5

Das System

Das Abteil bot beengtes Reisen, gab aber einen Blick auf vorbeiziehende Landschaften frei. Pfeifer und Berger tauschten Erwartungen aus, die der Fremde durch stetiges Nicken goutierte, wobei unklar blieb, ob es ein zustimmendes Nicken oder nur die Unebenheiten der Strecke waren, die ihm übers Kreuz tacka tack, tacka tack, in den Halsnacken fuhren.

Die Webcam des Fremden übertrug die Szenerie. Wer auch immer an ihnen Interesse hatte, hatte keine technischen Mühen gescheut, um zu dokumentieren. Berger stand auf und ging zu Pfeifer. „Ich muss dir etwas sagen", sagte er leise. Pfeifer sah ihn an, aber Berger sagte nichts mehr.

Er zog etwas Kaltes, Schwarzes aus seiner Tasche und hielt es sich an die Schläfe. Eine Pistole.

Pfeifer schrie auf, als er sah, was Richard Berger vorhatte, und ein lautes Nein hallte durch das Abteil und zum geöffneten Zugfenster hinaus … Der Zug raste unter einer Reihe von Starkstrommasten hindurch, die sich hoch in die Luft erstreckten. Ihre Drahtseile summten mit einer derart hohen Spannung, dass einem ganz flau werden konnte.

Der Zug setzte seine Fahrt fort. Blitze, die an St. Elmos Feuer erinnerten, legten sich über die Zugwaggons und leuchteten und knisterten und tauchten alles in eine seltsame Aura, die kaum zu beschreiben war – etwas, etwas wie nicht von dieser Welt. Richard Berger drückte ab, und im selben Moment begann das Abteil zu fluktuieren. Die Wände und die Sitze begannen zu verschwimmen und sich perspektivisch zu verschieben. Pfeifer sah, wie die Realität um ihn herum zu zerfallen begann. Die Kamera zeigte noch immer die Szene, aber das Bild wurde unschärfer, verwaschen und driftete in ein unendliches Schwarz und unerträgliche Stille.

Kommt jetzt der Tod, dachte Berger, und es war ihm, als falle er in Ohnmacht.

Der Schuss Bergers verhallte im Abteil wie in einem unendlichen Universum, und als der Zug weiterfuhr, die Starkstrommasten hinter sich lassend, war wieder alles wie vorher. Nur dass Berger sich in Luft aufgelöst hatte und der Fremde enthauptet vor seinem Laptop saß. Das Kontrollicht der Webcam war erloschen.

Marlene

Der lange, dunkle Gang nahm kein Ende. Außer Atem und mit letzter Kraft ging sie weiter und immer weiter. Der Rücken schmerzte und irgendwie auch die rechte Hand. Etwas stimmte ganz und gar nicht. Langsam stieg Angst hoch, sie musste unbedingt raus hier. Sie begann zu rennen, so schnell sie konnte, stolperte, fiel hin.

Im nächsten Moment schrak Marlene hoch und stieß sich den Kopf an der Wand. Ihr Schädel brummte, und bei dem reflexartigen Versuch, mit der Hand an ihren Kopf zu fassen, wurde sie ruckartig zurückgehalten. Sie war an etwas gekettet.

Marlene wurde übel. Die Panik stieg wieder hoch und es begann in ihren Ohren zu piepen, ein Piepen, das immer lauter wurde. Einatmen - ausatmen – einatmen – ausatmen, dachte Marlene. Sie kannte das mittlerweile. Die Ohrgeräusche waren ihr Rotton, ihr Gefahrensignal, die Vorahnung von etwas Ungutem. Sie kamen, wenn seelischer Stress, ihre Sorgen, ihre Ängste oder ihr Gewissen sich an die Oberfläche drängten. Doch nun war sie dem ausgeliefert, konnte nichts tun, um sich abzulenken. Sie trat mit ihrem Fuß an die Wand und fühlte sich ein klitzekleines bisschen besser.

Der Raum war stockfinster. Die kalte, feuchte Luft ließ sie erschaudern. Sie griff nach ihrer rechten Hand, die so schmerzte und bemerkte, dass sie blutete. Sie legte sich hin, auf die stinkenden Reste einer alten Matratze, die sie glücklicherweise nicht sehen konnte. Dafür sah sie aber die Augen des Mannes, der sie am Abend zuvor auf dem Weg nach Hause plötzlich in einen Transporter gezogen hatte.

Es schmerzte sie, den Grund dessen zu kennen. „Vielleicht ist das die Strafe, die du verdient hast“, sagte Marlene zu sich selbst. Ihre Gedanken ratterten. Der Entführer schmiss ihr im Auto ein Foto hin. Sie erkannte die Frau sofort. Als ihr Bruder sie bat, ihn bei der Bustour mit einer Gruppe von Frauen zu begleiten, fragte sie nicht nach dem Grund. Es kam ihr etwas merkwürdig vor, wie anonym diese Reise, dieses vermeintlich gute Geschäft, abgewickelt wurde. Die Summe, die sie erhielten, war auch ganz schön hoch. Sie hinterfragte nicht. Marlene unterhielt sich während der Fahrt mit einer netten jungen Frau, Helena, die in ihrem gebrochenen Englisch von einer besseren Zukunft in einem besseren Land erzählte.

Sie fuhr in eine ungewisse Zukunft, in ein unbekanntes Land. Helena wurde an ein Bordell verkauft. Die Schande war größer als der des freiwilligen Todes. Also floh sie und hinterließ einen kleinen Sohn. Der Unbekannte war ihr Bruder.

Im Transporter hatte Marlene eine Wahl zu treffen. Die zwischen dem eigenen Tod und den ihres Bruders. Marlene war traurig und bereit. Sie war bereit zu sterben, um dafür das Leben ihres Bruders zu retten und für das verlorene zu bezahlen. Sie entschied sich für die ewige Ruhe und hoffte, sie würde nicht so lange auf sich warten lassen.

Kurz darauf wurde eine Luke in der Decke geöffnet und eine Taschenlampe leuchtete herein.

„Hier ist die Polizei. Marlene, sind Sie da?“

„Ja, hier“, sprach sie leise. „Hier bin ich“.

„Es wird alles gut. Haben Sie Schmerzen?“

„Meine Hand. Wie haben Sie mich gefunden?“

„Dorothea Berger hat uns informiert, dass sie erneut vom Mörder kontaktiert wurden. Sie befinden sich auf einem alten Industriegelände, das ein Herr Adrian Dobre angemietet hat. Bei ihrem Bruder sind ebenfalls Einsatzkräfte, wir konnten sein Auto orten.“

„Bei meinem Bruder?“, fragte Marlene fast tonlos, mit weit aufgerissenen Augen.


Das Video lief. Berger zitterte am ganzen Körper und sah zu Pfeiffer. Pfeiffer blinzelte mit dem linken Auge. Es war ihr Signal, das sie im Auto abgemacht haben. Eine Ermutigung zum Kampf. Lieber würden sie selber sterben, als dieses Monster weiter gewähren lassen. Maria hatte es verdient, dass sie kämpften. Marlene ebenso. Es sollte niemandem mehr so ergehen.

„Polizei. Lassen Sie sofort die Waffe fallen!“

Im gleichen Moment fiel ein Schuss, und dann fiel ein zweiter.