Die Schwester
»…Das …das kann ich nicht«, hörte Pfeiffer die Stimme des älteren Mannes gespenstig leise. Fast glaubte er, den Satz nicht vollständig gehört zu haben, doch mehr hatte Berger nicht gesagt.
»Dann haben Sie sich entschieden?«, sagte der Fremde lockend.
»Nein!«, rief Berger sofort rau und mit angestrengtem Nachdruck, als hätte seine Stimme keine Kraft mehr.
Pfeiffers Gedanken rasten, drehten sich im Kreis. Er wurde sich der Kälte im Wagon bewusst, der Feuchtigkeit. Drückend. Der Venustempel. Klaus Töpfer. Sofia. Frankfurt. Ein Reiseunternehmen. 10 Tausend Euro für eine gedeckte Busfahrt. Der Zusammenhang erschloss sich ihm, doch nicht der Grund, warum sie hier zu dritt standen.
Er wagte eine Frage. »Was hätte ich herausgefunden, hätte ich weiter recherchiert?«
Der Fremde drehte langsam den Kopf von Berger zu ihm.
»Das interessiert Sie jetzt?«, sagte er kalt. Nüchtern und dann, als Pfeiffer nicht mehr damit rechnete, hörte er den Fremden leise wiederholen: »Jetzt.«
Zu spät, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Wir übersehen etwas. Wir haben etwas übersehen. Etwas, dass nicht mehr reversibel ist.
»Es … ja. Ja es interessiert mich jetzt. Muss es das nicht? Wir stehen hier mit zwei Pistolen in einem leeren Bahnwagon und diskutieren, wer sich wann erschießen soll. Ja. Es interessiert mich jetzt.«
»Mich nicht«, erwiderte der Fremde leise und nach wie vor so ruhig, als hätte er keine eigenen Karten in diesem Spiel. Hatte er wirklich keine?
»Denken Sie lieber an Marlenes jetzt, das wird nicht mehr sehr lange dasselbe sein wie Ihres.«
Berger hielt die Pistole linkisch, als wäre sie ihm lästig und zu schwer. Pfeiffer hatte mal bei einer Recherche gelesen, dass eine durchschnittliche Halbautomatik um die 900Gramm wog, deutlich mehr als er angenommen hatte.
Nicht wichtig, schalt er sich selbst, denk nach, wie konnte er an einen Hinweis kommen. Die Kamera lief. Die Sekunden verstrichen. Berger starrte ins rote Blinken, als wäre er nicht mehr länger selbst für seine Handlung verantwortlich.
Grauer Sichtbeton an Wänden und Boden. Marlene gefesselt davor. Das Video. Hier war kein Beton. Vielleicht irgendwo auf dem Gelände oder doch in einem privaten Keller? Wir brauchen den Mistkerl.
»Was garantiert uns, dass Sie uns sagen, wo sie ist, wenn … er…«, Pfeiffer verstummte, als Berger neben ihm nach Luft schnappte.
»Gar nichts. Welche Garantie hatte…«, sagte der Fremde wütend und brach dann abrupt ab. »Nehmen Sie das Video auf! Ihre Schwester stirbt!«, sagte er dann.
»Sie haben jemanden verloren«, flüsterte Pfeiffer. Berger neben ihm wimmerte.
Doch der Fremde sah ihn fest an. Und obwohl er die Züge des jungen Mannes nur erahnen konnte, erkannte er doch, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
»Glauben Sie wirklich, ich mache das hier zum Spaß?«
»Warum machen Sie es?«
»Das erzähle ich Ihnen, wenn Herr Berger sein Video aufgenommen hat. Wenn Sie es hochgeladen haben.«
Er machte einen Schritt auf Berger zu. »Richard, was ist schon der Tod? Ein kurzer Zug mit dem Zeigefinger. Sie haben es geschafft, bevor es knallt. Vertrauen Sie mir.« Zu Pfeiffers Erschütterung nickte Berger. Er korrigierte den Griff um die Pistole und hob die Waffe an seine Schläfe.
Der Fremde seufzte. »Sie müssen die Kugel noch in die Kammer laden.«
Berger nahm die Pistole runter und sah darauf, als hätte der Fremde ihm den Auftrag gegeben die Cookies auf seinem Smartphone zu löschen.
»Zum Glück müssen Sie nur einmal abdrücken«, sagte der Fremde und riss dem älteren Mann die Waffe aus den Fingern. Er schob den Schlitten der Pistole einmal nach hinten und ließ ihn wieder nach vorne schnellen. Es klickte vermeintlich vertraut.
»Jetzt.«
Berger nahm die Waffe erneut. Diesmal zitterten seine Finger.
Der Fremde wiederholte die Worte, die er sagen sollte und Berger sprach ihm nach, als stünden Sie vor einem Altar und nicht in einem verfluchten Eisenbahnwagon.
»…I…ich bin Richard Berger, ein normaler Bürger wie wir alle. Zehntausend Euro habe ich erhalten, um wegzusehen. Meinetwegen sind Menschen gestorben. Ich habe sie umgebracht mit meinem Geiz und meiner Gier…«
Er brach ab, schluckte. Seine Augen glänzten wässrig. Das Licht der Handytaschenlampe flackerte leicht, weil Pfeiffers Finger nicht mehr still waren.
Berger atmete zittrig ein, fast synchron zum unsteten Licht. »Ich bin ein ein …Schwein!… ich bin ein Ausbeuter. Ein …Kapitalist«, er flüsterte fast. Dann schloss er die Augen und sagte schnell: »Sag Dorothea…«
Doch Pfeiffer ließ ihn nicht ausreden.
Er stürzte sich auf den rundlichen Mann, riss ihm die Waffe aus der Hand und drückte ab. Der Abzug ging widerständiger, als er jemals angenommen hatte. Der Rückschlag war hart, aber erträglich. Der Knall dagegen riss an seinem Trommelfell. Es rauschte, dann sirrte ein ekelhafter Ton in seinen Ohren. Doch die Kugel war raus und irgendwo in der Wagonwand eingeschlagen. Er reagierte sofort, schmiss die Pistole aus dem offenen Wagon und schubste Berger hinterher. Der Mann strauchelte nach draußen. Pfeiffer sprang hinterher, zog ihn mit auf die Beine und huschte mit ihm zum nächststehenden Zug.
»Er wird uns töten«, brach es tonlos aus Berger heraus. Vielleicht hatte der Mann recht. Pfeiffer kletterte behände über eine Kopplung und half Berger darüber. Sie huschten zur Seite hinter den anderen Zug. Hastig schaltete Pfeiffer das Licht an seinem Endgerät aus.
»Dann war es das mit Marlene, was?!«, rief der Fremde ihnen hinterher. »Ihr seid alle gleich!«
Pfeiffer und Berger pressten sich an die Rückseite eines kalten rostigen Kontainerwagons. Es knirschte, als der Fremde aus dem Wagon sprang. Hinter dem Zug, der sie verbarg, ging er auf und ab. »Ich weiß, wo ihr seid! Ihr Feiglinge!«
»Vielleicht braucht ihr doch etwas Kontext.«
Wir brauchen seine Waffe.
»Maria kannte sie. Wissen Sie … Maria mit ihr hat alles angefangen und mit Marlene hat es aufgehört. Und mit Ihnen natürlich. Eigentlich hat es mit Ihnen angefangen, Richard. Sie haben die Busse ermöglicht. Die Entführung.«
Der Fremde drehte um, ging wieder das Stück zurück, dass er gerade gekommen war. Wie ein Wolf schritt er hinter dem Zug auf und ab.
»Maria wusste davon, sie hat Marlene von ihr erzählt. Und Sie, Pfeiffer, Sie hätten es beinahe herausgefunden. Aber das war Ihnen dann zu heikel. Marlene hat ihr nicht geglaubt. Maria war es nicht wichtig genug. Klaus hat sie ermordet. Und ich habe sie nur noch beerdigt.«
»Wen!«, rief Pfeiffer und biss sich auf die Lippe. »Scheiße«, flüsterte er entschuldigend zu Berger. Der Fremde wusste doch eh wo sie waren.
»Meine Schwester«, sagte der schnarrend.
»Ihr fünf seid schuld, dass sie tot ist.«
»Und ihr habt keine Zeit mehr«, sagte er dann und stieg einen Wagon weiter über die Kopplung. Er schwang sich regelrecht herüber, leise wie ein Schatten. Er hatte seine Waffe gezogen und hielt ihnen die Mündung entgegen. Ein schwarzer kleiner Abgrund, dachte Pfeiffer. Berger neben ihm drückte sich noch weiter gegen das Metall.
»Ich braucht ein stärkeres Incentive, habe ich recht.«
»Telefone. Auf den Boden. Los.«
Sie gehorchten, was blieb ihnen anderes übrig. Wenn es eine Sache gab, die der Fremde bewiesen hatte, dann, dass er bereit war, abzudrücken.
Sie ließen ihre Geräte auf den Schotter fallen.
Der Fremde kam auf sie zu. Die Waffe nach wie vor auf Höhe ihrer Köpfe.
»Wir spielen ein neues Spiel. Eines, wo es um Eile geht. Sie fahren«, befahl er und nickte Pfeiffer zu. Mit stelzenden, steifen Schritten gingen sie zurück zum Opel.
Da der Opel kein Fünftürer war, ließ der Fremde Berger nach hinten klettern, ehe er mit ausgerichteter Pistole auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Pfeiffer fühlte sich, als würde er sich von außen beobachten, wie er in sein eigenes Auto stieg, dass sich anfühlte, wie das eines anderen. Er startete den Motor und fuhr vom Gelände.
Sie fuhren nicht lange. Der Fremde dirigierte sie. Christian Pfeiffer wusste nicht mehr, wie diese Nacht ausgehen könnte. Ein winziger Teil von ihm fragte sich, ob er bereits zu Hause wäre, wenn er Berger nicht gestoppt hätte. Und warum hatte er es diesmal getan? Maria war tot. Er hatte versagt. Einmal wieder kam die Erinnerung wie Galle hoch, die Sekunden. Zu spät. Und dann dachte er daran, dass er diesen Gedanken vorhin gehabt hatte. Gab es etwas, dass ihn und den Fremden verband? Oder nur ihn selbst mit seiner Rolle in diesem absurden Spiel?
»Hier rein«, befahl der Fremde und Pfeiffer wäre fast an der Einfahrt in ein kleines Wohnviertel am Stadtrand vorbeigefahren. Sie hielten vor einem alten Einfamilienhaus.
»Aussteigen.«
»Wohnen Sie hier?«, fragte Pfeiffer, als sie die Stufen zur Haustür hochstolperten.
»Würde ich Ihnen das jemals sagen? Nein. Also bewegen und Klappe halten. Gleich können Sie so viel reden, wie sie wollen.«
Der Hausflur war dunkel und leer. Das Haus schien ausgeräumt worden zu sein. Überall hing der mottenartige Geruch von alten Möbeln und noch älterer Tapete. Es roch wie bei Pfeiffers Großeltern. Wie bei allen Großeltern. War es der Geruch einer Epoche oder nur der des Verfalls. Würde seine Wohnung irgendwann so riechen? …sollte er sie je wieder betreten. Den Lauf der Pistole im Rücken gingen sie zur Treppe und hinunter. Natürlich. Der Keller war nie vollumfänglich ausgebaut worden. Die Wände waren betoniert und kahl. Ein altes Fahrrad, ein Schuhregal. Einige Autoreifen und Regale mit allem, was das Leben ansammelte, was niemand je wieder gebrauchen oder wegräumen würde. Zwei Türen.
»Auf die Knie.«
Berger gehorchte sofort. Pfeiffer dagegen sah irritiert zu ihrem Erpresser.
»Los.«
Dann ging er doch in die Knie. Der Fremde trat an eine der Türen und sperrte auf. Dahinter war ein leerer Raum. Aus einer Ecke kam milchiges blaues Licht. Wie von einem Bildschirm. Der Fremde trat von der Tür weg. Hinter sie.
»Aufstehen und reingehen oder einer von euch kriegt eine Kugel ins Knie.«
Sie folgten. Tatsächlich stand in dem Raum ein Schreibtisch mit einem Laptop. Auf dem lief ein Video. Der Fremde trat zu ihnen.
»An die Wand.«
Pfeiffer stolperte über etwas am Boden. Ein winziger metallener Haken, der zu einer Metallplatte gehörte, die auf dem Boden lag. Dann erst begriff er, dass sich darunter ein Hohlraum befinden musste. Und sobald er und Berger an der Wand standen, hob der Fremde die Metallplatte an und öffnete sie, bis er sie auf der anderen Seite fallen ließ. Und in dem Hohlraum kauerte die gefesselte Marlene. Sie schnappte erleichtert nach Luft und atmete gierig ein und wieder aus.
»Marlene!«, rief Berger sofort.
Sie nickte und unterdrückte hörbar ein Schluchzen. Der Fremde zerrte sie aus dem Loch, ohne dabei die Pistole loszulassen. Dann stellte er sie ebenfalls an die Wand. Sie konnte sich mit ihren gefesselten Gliedmaßen kaum halten.
»Hier. Schluckt die.« Er schmiss ihnen drei kleine Objekte vor die Füße.
»Auf keinen FAll«, sagte Berger.
»Plötzlich mutig?«
»Sie können uns nicht zwingen.«
Der Fremde lachte so laut, dass Marlenes klagender Laut darin unterging.
»Ne. Wirklich. Ja. Kann ich nicht. Stimmt.«
Es knallte furchtbar laut. Es klirrte in Pfeiffers Ohren, dann schrie es. Aber das Schreien kam von Berger. Er ging in die Knie und klammerte seine Hände um sein Bein. Schwarz quoll das Blut in der Dunkelheit des Raums zwischen seinen Fingern hervor. Es tränkte seine Hose und lief zum Boden.
»Los. Schlucken.«
Pfeiffer bückte sich und sammelte den kleinen Gegenstand auf. Er wartete, dass Berger und Marlene ihre ebenfalls in den Mund schoben, ehe er schluckte. Kalt und kantig glitt der kleine Schlüssel seine Speiseröhre hinunter.
»Sehr schön. Mund auf.«
Der Fremde leuchtete ihn in den Mund wie in der Psychiatrie, um sicherzustellen, dass sie ihre andersartige Medikation genommen hatten. Dann machte er auf dem Absatz kehrt. »Der Schlüssel macht die Tür auf. Aber ihr habt nur eine Stunde, bis ich euch hier drin erledige. Einer von euch wird sich wohl opfern müssen. Wenn euch langweilig ist, guckt das Video.«
Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal um. »Ah, habe ich fast vergessen, die hier kriegt ihr natürlich.«
Daraufhin ließ er seine Pistole auf den Boden Fallen und daneben legte er einen 20cm langen Dolch. »Ihr werdet gefilmt. Hochladen werde ich es wohl selbst.«
Dann schloss er die Tür und das Letzte, was sie von dem Fremden hörten, war der Schlüssel im Schloss.
Berger wandte sich weinend an seine Schwester, die in die Knie ging. Noch immer blutete sein Bein viel zu stark. Pfeiffer verdrängte den Gedanken. Er ging zum Laptop und stoppte das stumm ablaufende Video. Es zeigte das Gesicht einer jungen Frau. Er spulte zurück zum Anfang und hob die Stummschaltung auf.
»Nein, gucken Sie das nicht!«, bat Marlene in seinem Rücken, doch Pfeiffer ignorierte sie. Auf dem Video blickte die junge Frau strahlend in die Kamera.
»Filmst du? Haha. Hiii«, sagte sie gedehnt und ging dann mit lockeren Schritten vor. Sie drehte sich wieder um und sah in die Kamera. »Hellooo Sofia, wir kommen!«
Sie waren in Sofia. Pfeiffer war nie in Bulgarien gewesen. Das Video brach ab. Dann folgte der Ausschnitt, den Pfeiffer soeben gestoppt hatte. Man sah das Gesicht des Mädchens im Close Up. »Ich weiß nicht, wo ich bin, Viktor. Bitte hol die Polizei, hier sind auch noch andere Mädchen, aber sie sprechen weder Deutsch noch englisch. Ich hab richtig Angst. Bitte hol mich hier raus. Track mein Handy oder so…«
Lärm brach aus und das Video wurde beendet. Was war mit ihr passiert? Der Bildschirm blieb schwarz, tauchte den Kellerraum in absolute Finsternis. Dann wurde er wieder etwas heller. Diesmal zeigte er ein kitschig eingerichtetes Schlafzimmer und erst als Pfeiffer die halbnackte Frau auf dem Bett sah, begriff er, was für ein Zimmer das war. Und wer der Mann war, der soeben reingekommen war. Das Mädchen schrie und flehte. Das Mädchen aus dem Video.
»Bitte nicht bitte. Bitte. Ich wollte nur meinen Bruder wiedersehen, wirklich. Ich habe nichts erzählt. Tut mir leid wirklich.«
»Böse Mädchen müssen bestraft werden«, schnarrte Klaus Töpfer und Pfeiffer sah weg, als der Mann zu ihr ins Bett krabbelte. Doch als sie plötzlich erstickende Geräusche von sich gab, sah Pfeiffer wieder hin. Er sah dabei zu, wie Töpfer Viktors Schwester erwürgte. Er wollte ihn stoppen, doch das Jetzt auf dem Video war schon lange vorbei.
»Oh Gott, guckt euch das nicht an!«, rief Marlene weinerlich. »Es ist furchtbar.«
Der Bildschirm wurde wieder schwarz. Zuletzt war nur der Körper der jungen Frau zu sehen. Es blieb nur eine Sekunde lang still, dann startete die Aufnahme einer Mailboxnachricht. »…Viktor. Ich hab nicht so viel Zeit. Ich habe eine Maria getroffen, ich weiß nicht genau wie sie ganz heißt, aber sie hat so eine … Pfarrerin oder so mitgebracht. Sie heißt Marlene Romaro, sie wird dich informieren und die Polizei. Ich bin nicht mehr in Sofia, ich bin wieder in Deutschland. In Frankfurt… ich muss Schluss machen. Venustempel, das heißt Venustempel.«
Dann startete das Video von vorne. Pfeiffer haute auf die Leertaste.
»Woher … wie konnte Maria sie treffen?«
»Überlegen Sie mal.«
»Und Sie?«, entgegnete Pfeiffer kalt. »Warum haben Sie nichts davon getan?«
»Ich … wusste doch nicht, dass das alles stimmt. Eine deutsche Touristin, die angeblich im Urlaub entführt und zwangsprostituiert wird?«, schnaubte Marlene bitter.
Pfeiffer hob anklagend die Brauen. »Hätten Sie ihr lieber geglaubt.«
Er nickte zum Laptop. Dann fiel ihm der Schlüssel in seinem Magen wieder ein.
Doch anstatt was zu sagen, rannte Marlene zu den beiden Waffen vor der Tür. Erst jetzt fiel Pfeiffer auf, dass sie sich mithilfe ihres Bruders von ihren Fesseln hatte befreien können. Der hockte nach wie vor an der Wand und hielt sein Bein. Doch nun beobachtete er sie beide erstaunt. Marlene richtete die Pistole auf Pfeiffer.
»Tut mir leid. Wirklich. Aber wir brauchen einen Schlüssel.«
Dann drückte sie ab. Es knallte furchtbar, doch die Kugel schlug weit neben Pfeiffer in den Beton. Zu seiner eigenen Überraschung erstarrte er nicht. Er sprang auf Marlene zu und stürzte sie zu Boden. ER landete hart auf ihr und entriss ihr die Pistole. Den Dolch behielt sie fest in der Hand. Pfeiffer strauchelte einige Schritte zurück. Er stieß gegen den Tisch und fürchtete, der Laptop könnte ausgehen und sie in Dunkelheit begraben, doch das Licht flackerte nur kurz von der Erschütterung. Die Kamera in der Ecke sah höhnisch auf sie hinunter und zwinkerte ihnen mit ihrem roten Blinken verschwörerisch zu. Eine Stunde. Er wollte hier raus.
»Wie haben Sie sie getroffen, wenn sie im Venustempel gefangen war?«
Marlene atmete schwer, sie krallte ihre Finger um den Dolch. »Maria. Ich bin häufiger dort, um den Mädchen geistlichen Beistand zu leisten. Ich mache Seelsorge!«
»Seelsorge!«
»Ja. Und Maria?«, fragte er trocken. Seine Zunge fühlte sich komisch an, als sträubte sie sich, die Worte zu formen. Marlene lächelte mitleidig.
»Nach einem Jahr Ehe schon aus. Hat Sie nie mit Ihnen darüber gesprochen?«
»Über was?«
»Sie ist dort hingegangen, um mit Frauen zusammen zu sein.«
Marlenes Worte trafen anders, dumpfer und trotzdem bitter. Er empfand keine Wut nur Müdigkeit. War es Verrat? War Maria mit diesem Mädchen zusammen gewesen? Hatte sie diese Maschinerie an Grausamkeit mit finanziert. Hatte sie sich letztlich aus Schuld suizidiert? Hätte er wütender sein sollen – weniger verzweifelt?
»Marlene«, krächzte Richard Berger von der anderen Seite. »Wir haben nur noch eine halbe Stunde.«
Sie sah zu ihrem Bruder und dann zu ihm, Pfeiffer. Und ihre Entschlossenheit fürchtete den Journalisten. Dann folgte der Zorn, überlief ihn wie eine Welle, schwappte einmal über ihn und endete in seinem Zeigefinger. Der Schuss löste sich fast aus Versehen. Er traf nicht und Marlene war in zu wenigen Schritten bei ihm. Er wich aus, doch die Klinge erwischte ihn trotzdem. Er trat nach ihr und dann hielt er die Pistole entgegen und drückte wahllos ab. Es knallte und knallte und knallte. Er schrie. Marlene schrie. Dann wurde es still. Würgend ging sie zu Boden. Sie krallte ihre Finger um ihren Körper. Blut strömte aus mehrern Wunden. Pfeiffer starrte darauf. Dann ging er in die Hocke und entwand ihren schwachen Fingern den Dolch.
»OH Gott!«, rief er. »Tut mir leid. Oh Gott, tut mir leid.«
Er weinte vor Anstrengung.
»Sie Monster!«, brüllte Berger. »Marlene! Marlene!«, er kroch mühsam auf sie zu. Pfeiffer griff die Pistole und hielt sie ihm entgegen.
»Bitte bleib liegen. Ich will das nicht tun. Bitte.«
Berger starrte ihm entgegen. Anklagend. Wie Maria. Aber beide hatten sie kein Recht dazu. Sie hatten ihn hier reingezogen. Was hatte er getan? Seinen Job verloren? Was hätte er denn tun können? Maria hätte es ihm erzählen müssen. Marlene hätte es der Polizei melden können. Es half ihm kaum, als er die Klinge auf ihre Brust setzte. Aber er musste an diesen Schlüssel rankommen.
»Das reicht«, drang es über ihren Köpfen in den Raum. Lautsprecher.
»Das reicht.«
Stille. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. In der Tür stand der Fremde. Viktor.
»Du kennst nun die Wahrheit, Christian. Mach etwas daraus.«
Mit bebenden Beinen kämpfte sich Pfeiffer in einen aufrechten Stand zurück.
»Du kannst gehen.«
Er trat auf den schlanken Mann zu. Als sie auf selber Höhe waren, drückte Viktor ihm eine SD Karte in die Hand. »Mach was draus. Ich finde dich sonst.«
Pfeiffer schaffte es nicht, etwas zu sagen. Er trat heraus. Da stand wieder das Fahrrad. Die Autoreifen. Das Regal. Er war kein Mörder gewesen, als er sie zum ersten Mal gesehen hatte.
»Berger, Sie einfallsloser Schwächling. 10 Tausend. Wie gerne hätten sie die nur bezahlt, was?«, sagte Viktor mit einem bösen Lächeln, dass Pfeiffer nur noch hörte.
In seinem Rücken zog Viktor hinter sich und Berger die Tür zu. Christian Pfeiffer stand einen Moment alleine im Kellervorraum, dann ging er die Treppe hoch.