Offene Enden Teil 2: Schreib Teil 3

Andreas Eschbachs Tipp für eure Fortsetzung des zweiten Teils:

Um diesen Anfang weiterschreiben zu können, muss man vor allem zunächst eine Theorie entwickeln, was sich hinter dem Geschehen verbirgt, d.h., was wirklich passiert ist und warum, wer dahinter steckt und was diejenigen mit ihrem Vorgehen für Ziele verfolgen.
In den meisten der ersten Fortsetzungen kann man solche Theorien erkennen, und es sind durchaus ziemlich verschiedene Erklärungen. Sobald nun die Fortsetzung gekürt ist, muss man sich mit weiteren Episoden entweder in der Erklärung bewegen, die diese postuliert – oder aber eine Erklärung finden, die HINTER der ersten Erklärung stecken kann (also: man denkt, es steckt A dahinter, der B erreichen will, doch dann stellt sich heraus, dass auch A getäuscht wurde von C, der D erreichen will).

Wie wirst du die Geschichte fortsetzen? Schreib, was als nächstes passiert …

Offene Enden – zweiter Teil

Der Journalist

von @montypillepalle

Der Anruf erreichte Christian Pfeiffer in der Büroküche der Redaktion. Er sah auf das Display seines Tastentelefons. Es war nicht die Nummer von Maria. Milde enttäuscht legte er das Gerät auf die Küchenzeile. Wahrscheinlich ein Spamanruf. Alle wichtigen privaten Nummern hatte er eingespeichert und berufliche Anrufe gingen auf sein Dienst-Handy ein, auf diese ebenso teure wie fragile Mischung aus Glas und Aluminium. Mitglieder der Online-Redaktion mussten jederzeit online sein, hatte man ihm gesagt. Pfeiffer schüttelte den Kopf. Die Online-Redaktion. Das würde er Magnus nie vergeben. Online-Redaktion und das nach all den Jahren.
Er griff die Packung Kaffeepulver und füllte damit eine vergilbte Filtermaschine, ohne Löffel und nach Augenmaß. Hauptsache stark. Das Handy klingelte nervtötend, er blockte den Anruf ab und kümmerte sich weiter um sein Lebenselixier. Sein Kaffee war keine Kunst, er war ein Instrument, eine Medizin und in dieser Haltung unterschied sich Pfeiffer von seinen neuen Kollegen, die aus der braunen Suppe ein Lifestyle-Produkt machten. Wer keinen Flat-White trank, war outdated, das hatte er schnell begriffen. Um sein eigenes Outdated-Sein trotzig zu unterstreichen, hatte Pfeiffer deshalb vor drei Monaten die kleine Filtermaschine mitgebracht. Sie war ein Symbol des alten Geistes, eine Verbündete aus Zeiten, da in der Redaktion der Kaffee literweise getrunken worden war und die Konferenzräume den kalten Odeur von harter Arbeit und Zigarettenrauch verströmt hatten. Pfeiffer betätigte den Knopf und die Maschine röchelte los. Ein Anachronismus wie er selbst, Abgrenzung von der Generation Siebträger mit ihren Ungetümen aus Chrom.
Das Telefon klingelte erneut. Er nahm das Handy und hielt es unschlüssig in der Hand. Vielleicht doch Maria, die von einer neuen Nummer aus anrief, aber nein, das war unwahrscheinlich. Obwohl.
»Pfeiffer«, meldete er sich.
»Ich weiß«, antwortete eine Männerstimme. Sie klang tief und selbstsicher. »Christian Pfeiffer vom Frankfurter Generalanzeiger. Onlineredaktion, FGZ.NET. Gehen Sie zu Ihrem Rechner.«
»Wer sind Sie? Woher haben Sie meine Privatnummer?« Der Kaffee lief tröpfchenweise durch.
»Das tut nichts zur Sache, Christian Pfeiffer. Aber ich habe da etwas für Sie. Eine große Story. Interessiert? Dann gehen Sie zu ihrem Rechner.«
Pfeiffer hob die Augenbrauen. Klang nach einem Wichtigtuer, womöglich ein Scherzanruf seiner neuen Kollegen. Seiner ›Kolleg*Innen‹, wie sie selber sagten. Andererseits, dachte er, sollte kein Journalist auflegen, wenn jemand von einer großen Story sprach, am wenigsten er selbst. Und immerhin war der Kaffee fast durchgelaufen.
»Also gut, warten Sie einen Augenblick«, sagte er, schob sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und goss sich das braune Glück in einen Pott.
»Beeilen Sie sich, wir haben beide nicht viel Zeit. Sehen Sie in Ihre Emails.«
Pfeiffers Augenbrauen wanderten noch weiter Richtung Stirn, er nahm den Kaffee und ging ins Großraumbüro, nein, in den Coworking-Space. Er setzte sich an seinen Lieblingsplatz, direkt nebem dem Fenster und mit Ausblick auf den langgezogenen Europagarten. Die Bäume, die rings um dieses grüne Rechteck angeordnet waren, trugen erste herbstlich gelbe Blätter. Eine Oase inmitten grauen Steins.
Er war allein, als er den Bildschirm anschaltete und sich anmeldete. Im Coworking-Space gab es an einem Sonntagvormittag keine Coworker, die waren unterwegs oder saßen im Homeoffice. Er öffnete das Email-Programm. Neben zahllosen ungelesenen Nachrichten ploppte die Mitteilung einer neuen Mail auf, Absender qvu61039[at]kasor.com. Eine Wegwerf-Adresse, darin ein Link zu einem Cloudspeicher.
»Sie wollen, dass ich auf einen unbekannten Link von einer Spam-Adresse klicke?«
Die Stimme am Telefon lachte leise. »Ich bin kein nigerianischer Prinz, der Ihnen 3 Millionen Dollar überweisen will. Sie werden ein Video herunterladen. Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.«
Einen Moment zögerte Pfeiffer. Wie ironisch, wenn ausgerechnet er, der vom großen Magnus in die Online-Redaktion strafversetzt worden war, einen Virus herunterlud. Aber eine Story war eine Story. Er klickte. Ein kurzer Download, das Virenprogramm blieb stumm, dann öffnete sich ein Video. Eine gute Minute lang, aufgenommen im Hochkant-Format, wie diese ganzen grässlichen Social-Media-Schnippsel. Leicht verwackelt sah er ein Haus, zwei Männer schritten darauf zu, einer unsichtbar hinter der Kamera und ein älterer Graubart. Sie klingelten und nach kurzem Warten wurde die Tür eine Handbreit geöffnet. Das Bild zoomte auf den verdutzten Hausbesitzer. Ein rundliches Gesicht mit fliehendem Haaransatz war im Türspalt zu erkennen, dazu ein Sonntagsanzug und eine lächerliche Krawatte, die ihm vom Hals baumelte. Pfeiffer erkannte goldene Euro-Zeichen auf grünem Grund, als hielte der Hausherr sich für den Wolf of Euro-Wallstreet. Dann schwenkte die Kamera auf den Alten. Es folgte ein Dialog, ein absurdes Gespräch.
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, hörte Pfeiffer plötzlich die Stimme seines Anrufers auf dem Video. »Sie haben das Geld und er braucht es.«
Ihm wurde der Mund trocken, er ahnte, worauf dieses Video hinauslief, wusste es, bevor er den Schuss hörte und das Blut sah.
»Wo ist das aufgenommen worden? Und wann?« Seine Stimme war ruhig, professionell, jahrzehntelang trainiert, die freie Hand hatte automatisch nach Kugelschreiber und Block gegriffen.
»Das werden Sie erfahren«, sagte die Anruferstimme. Dieselbe, die auf dem Video den Hausbesitzer anschrie. »Doch zuerst tun Sie mir einen Gefallen. Laden Sie das Video auf dem Social-Media-Account Ihrer Zeitung hoch. Den Hashtag überlasse ich Ihnen, Christian Pfeiffer.«
»Sie sind verrückt!«
»Nein. Und sie haben zwei Minuten. Die Zeit läuft.«
»Auf keinen Fall«, sagte Pfeiffer mit aller Endgültigkeit, zu der er fähig war.
»Ich dachte mir, dass Sie so reagieren. Doch es ist wichtig, dass jeder Mensch die Chance hat, Zeuge zu sein. Noch eine Minute und fünfundfünfzig Sekunden.«
»Sagen Sie mir, wer Sie sind.«
»Später. Zuerst etwas anderes. Wenn Sie in exakt 110 Sekunden das Video nicht hochgeladen haben, wird sich noch eine Person erschießen. Ihre Entscheidung, Christian Pfeiffer.«
Auf dem Computer-Bildschirm war das Ende des Videos als Standbild zu sehen. Der Grauhaarige mit einem roten Loch, wo vorher sein Mund gewesen war, inmitten einer Blutlache. Pfeiffer spürte, wie sein Atem schneller ging, wie der Magen sich zusammenkrampfte.
»Wer? Wo?«
»Das sind gute Fragen, wenn man noch eine Minute und vierzig Sekunden Zeit hat«, sagte die Stimme im Telefon. »Blicken Sie doch mal aus dem Fenster, direkt hinunter zur Straße vor dem Europapark. Sehen Sie die Frau im roten Mantel?«
Er stand auf, spähte hinab und suchte die Straße ab. Sein Atem erzeugte einen kleinen Kondensbeschlag auf der Scheibe. Dann fand er sie, eine Frau, roter Mantel, schwarze Haare. Sie verharrte steif in aufrechter Pose und erinnerte Pfeiffer an ein Mannequin.
»Sehen Sie genau hin«, sagte die Stimme. »Sie braucht ihre Hilfe, sonst lebt sie nur noch exakt 84 Sekunden. Doch lassen Sie mich nachhelfen.«
Einen Augenblick später hob die Frau zögerlich ihren Kopf, sah den Bürotower hinauf, in dem Pfeiffer stand. Ihr Blick schien über die Glasfassade zu gleiten und blieb an ihm hängen. Sie sah ihn an, die Wangen bleich. Sie zitterte am ganzen Körper.
»Maria«, keuchte er.
»Oho, sie haben sie erkannt!«, sagte die Stimme. »Dann genießen Sie noch eine Minute lang den Anblick oder laden Sie das Video hoch.«
»Sofort«, antwortete Pfeiffer, »alles, was sie wollen.« Er öffnete den Browser, gab die Website ein. Unendlich langsam baute sie sich auf. Er tippte den Accountnamen, verschrieb sich, klickte mit der Maus an die falsche Stelle. Das Passwort, er kannte es, hatte es sich irgendwo aufgeschrieben, obwohl das verboten war. Wo war der verdammte Zettel? Er brauchte es nie, Posts setzten die jungen Kollegen ab, nicht er.
»45 Sekunden.«
»Ich mache es, ich mache es«, schrie er in den Hörer.
Bei 30 Sekunden fand er den Zettel. Bei zwanzig hatte er das Passwort eingegeben.
»Wo lädt man hier ein Video hoch, Scheiße, verfluchte Scheiße«, murmelte er.
»Sind Sie kein Online-Redateur, Christian Pfeiffer?«, fragte die Stimme höhnisch. »15 Sekunden.«
Er fand den richtigen Knopf auf der Website bei 12 Sekunden. Bei fünf Sekunden schob er die Datei vom Download-Ordner in den Browser.
Bei einer Sekunde war das Video hochgeladen und er drückte auf veröffentlichen.
Bei null hörte er den Schuss.
»Bedauerlich«, sagte die Stimme im Telefon. »Ihr Journalisten kümmert euch nicht um die Probleme der Menschen. Und wenn ihr es doch tut, dann nur aus Eigennutz und zu spät.«
Pfeiffer fiel das Handy aus der Hand, es prallte auf den Schreibblock, hüpfte zur Seite und blieb neben dem Kaffeepott liegen, der stumm vor sich hin dampfte.


Postet hier ab Sonntag, den 01.12. um 16:00 Uhr, wie die Geschichte weitergeht …

Mit hochgeschlagenem Mantelkragen stand Christian Pfeiffer an Marias Grab, den abgewetzten Fedora tief in die Stirn gezogen, die Hände in den Taschen. Es regnete, wie so oft in den vergangenen Tagen. Dicke Tropfen prasselten auf die Chrysanthemen herab, die Marias Mutter erst gestern vor den Grabstein gelegt hatte.
„Es war nicht deine Schuld, Christian.“ Sanft hatte die alte Dame ihre Hand auf seinen Unterarm gelegt.
Sie hatte recht. Doch nicht jede Wahrheit fühlte sich auch wahr an. Und dass die Polizei dem eigentlichen Täter noch keinen Schritt nähergekommen war, machte es nicht besser. Immer wieder durchlebte Pfeiffer diese letzte Sekunde. Träumte sie, atmete sie, schmeckte sie bitter auf seiner Zunge, spürte sie brennend in seiner Brust. Die Sekunde seines Versagens.
„Ich werde eine Weile nicht kommen, Maria“, sagte er leise. „Ich muss etwas erledigen. Für dich. Für mich.“
Er würde Maria erst wieder besuchen, wenn ihm gelungen war, was er sich vorgenommen hatte. Oder wenn man ihn neben sie zur Ruhe legte. Auch das war ein mögliches Ergebnis der Nachforschungen, die er heute beginnen würde, da machte er sich nichts vor. Doch forschen würde er. War er nicht Journalist?
Er wandte sich ab, ging zu seinem Auto und zog den verknitterten Zettel mit der Adresse aus seiner Tasche.

_

„Kaffee?“, fragte Frau Berger. „Ich kann Ihnen Cappuccino, Espresso, Latte Macchiato…“
„Nein, einfach Kaffee, bitte. Ohne alles.“ Aufmerksam sah Christian Pfeiffer sich im bergerschen Wohnzimmer um. Es hier bis auf das cremeweiße Ledersofa zu schaffen, hatte ihn einiges an Überredungskunst gekostet.
„Sie wollen also mit mir sprechen, von Opfer zu Opfer“, sagte Herr Berger, der ihm gegenübersaß. Mit einem Ausdruck tiefer Müdigkeit in den Augen.
„So ist es.“
„Die eigentlichen Opfer waren wohl der Mann mit dem Bart und Ihre Freundin, Maria.“
„Ja. Das ist richtig. Dennoch … stimmt es nicht, dass man Sie belästigt, seit dieses Video viral gegangen ist? Die Kommentare in den Social Media können Sie vielleicht ignorieren. Doch ich sah Reste von Eiern und Sprühfarbe an Ihrer Fassade. Ich kann mir vorstellen, dass Sie sich kaum noch vor die Haustür wagen. Dass nichts mehr ist, wie es war.“
Das kleine Schaudern, das sich durch Bergers Schultern zog, sagte Pfeiffer, dass er ins Schwarze getroffen hatte.
„Letzte Woche wollten wir zum ersten Mal wieder essen gehen.“ Frau Berger setzte die Kaffeetassen auf den Glastisch. „Da hat jemand Richard erkannt und nannte ihn einen Mörder. Aber das ist er nicht. Können Sie ihm das klarmachen?“
„Ich hätte das Geld gehabt, Dorothea. Hier in unserem Safe. Für Notfälle.“ Herr Berger wirkte kurz etwas verloren und seine Frau streichelte ihm mitleidig über die Schulter.
„Ich kann Ihnen ebenso wenig Absolution erteilen, wie Sie mir, Herr Berger.“ Pfeiffer griff nach dem kleinen Notizblock in seiner Innentasche. „Aber ich will für Gerechtigkeit sorgen, indem ich die Wahrheit aufdecke. Sie haben von Angesicht zu Angesicht mit dem Täter gesprochen, darum fange ich hier an. Ich habe einige Fragen vorbereitet und …“ Er hielt inne, als es an der Tür klingelte, und ihn beschlich ein ungutes Vorgefühl.
Dorothea ging, um aufzumachen, und kam nur Augenblicke später zurück ins Wohnzimmer. Mit einem kleinen, braunen Päckchen. Es hätte vor der Tür auf dem Plattenweg gelegen.
Ihre Hand zitterte ein wenig, als sie es auf den Salontisch legte. Vorsichtig, als könnte es jeden Augenblick in die Luft gehen. Das bange Vorgefühl schien nun auch die Bergers erfasst zu haben.
„Hatten Sie etwas bestellt?“ Pfeiffer kannte die Antwort schon, ehe seine Gastgeber den Kopf schüttelten. Auf dem Päckchen stand ja nicht einmal eine Adresse.
Ohne noch lange zu zaudern, riss er es auf und fand einen USB-Stick.
„Bring ihm doch mal den Laptop, Dorothea“, sagte Berger erstaunlich gefasst. „Er arbeitet in einer Online-Redaktion und ist Experte für sowas.“
Experte, ja genau. Da war es wieder, dieses bittere Brennen. Eine Sekunde. Wäre er eine Sekunde schneller gewesen … Nein, diese Gedanken nützten jetzt nichts. Um den Inhalt eines USB-Sticks zu öffnen, war er jedenfalls Experte genug.
Zwei Dateien. Pfeiffer klickte auf das Word-Dokument und las die erste Zeile.
An Richard Berger und Christian Pfeiffer
Sein Herzschlag beschleunigte sich. Die Furcht des Jagdwilds, die erwartungsvolle Aufregung des Jägers. Er empfand beides gleichzeitig. Sein Feind war ihm einen Schritt voraus. Wusste, wo er war, und ahnte sicherlich warum. Würde vielleicht erneut versuchen, ihn zu benutzen, wie ein grauenhafter Puppenspieler. Doch diesmal war Pfeiffer darauf vorbereitet und gewillt, alles zu riskieren.
„Nein“, flüsterte Frau Berger, die gemeinsam mit ihrem Mann über Pfeiffers Schulter gebeugt mitlas.
Eine Adresse stand dort. Irgendwo im Industriegebiet. Zusammen mit der Aufforderung, pünktlich um 20:05 dort zu sein. Er und Berger beide. Es folgte die wenig überraschende Warnung, keine Polizei hinzuzuziehen.
Seine Gedanken rasten. Waren er und Richard Berger keine zufälligen Opfer? Gab es etwas, was sie verband, und hatte der Täter nur darauf gewartet, dass sie endlich zusammenfinden würden? War diese ganze Sache vielleicht persönlicher, als er gedacht hatte?
Er klickte auf die zweite Datei. Ein Video diesmal.
Da war eine graue Betonwand. Schnelle, flache Atemgeräusche, die nichts Gutes erwarten ließen. Die Kamera schwenkte zu einer Frau. An Armen und Beinen gefesselt lag sie am Boden, den Mund mit Panzertape zugeklebt, die Augen weit aufgerissen vor Angst. Ihr Haar war verfilzt und ihr Kleid beschmutzt, als wäre sie schon länger in Gefangenschaft.
„Oh Gott!“, rief Dorothea.
„Marlene!“, riefen Pfeiffer und Berger gleichzeitig. Dann sahen sie sich fassungslos an.

Der Lügner

»Cause I’m a wild god flying and a wild god swimming
And I’m an old, sick god dying and crying and singing«

Eine gute Woche nach der Veröffentlichung des Videos saß Christian Pfeiffer im Wohnzimmer seiner Zwei-Zimmer-Wohnung in einem alten Ikea-Sessel und starrte auf das Weinregal in der Ecke. Er hatte dort Mineralwasserflaschen einsortiert, er kaufte nur solche aus Glas, der Optik wegen. Die Anlage spielte Wild God von Nick Cave in Endlosschleife, als wäre in den kryptischen Textzeilen ein tieferer Sinn verborgen, einer, der ihm helfen konnte auf seiner Suche. Das Lied endete und begann von neuem.

»Once upon a time a wild god zoomed
All through his memory, in which he was entombed.«

Eingesperrt in ein Grab aus Erinnerungen, dachte Pfeiffer. Erinnerungen an die Zeit, da das Regal Weinflaschen beherbergt und jede Woche eine preisgegeben hatte. Erfolgreiche Zeiten, bis aus einer Weinflasche zwei geworden waren, dann drei und er irgendwann aufgehört hatte, sie einzusortieren, weil sie billig waren und schnell getrunken. Nie wieder, dachte er, nie wieder, und seine Finger zitterten.
Er stand auf, ging in die Küche und machte sich Kaffee, so stark, dass der Löffel in der Tasse stehen konnte. Das hatte Maria manchmal gesagt, wenn sie ihn besuchen kam.
»Willst du damit Tote aufwecken, Papa?«
Nie wieder würde er sie im Stich lassen. »Sie ist am Leben«, diesen Satz wiederholte er in seinen Gedanken, immer noch am Leben, und die gottverdammte Polizei hatte keine Ahnung, wo sie war. Seit einer Woche hing er am Telefon, wartete täglich auf dem Revier, wurde abgespeist und als Bitten und Drängen vergeblich geblieben waren, hatte er mit schlechter Presse gedroht. Nun, das war längst eine leere Drohung geworden. Konstantin Magnus hatte ihn heute Morgen rausgeschmissen. Nicht offiziell natürlich, er hatte bezahlten Sonderurlaub bekommen, aber das war nur eine Galgenfrist, bis die Aufregung sich legte. Christian Pfeiffer war die Karriereleiter rückwärts herunter gerutscht und es war ihm egal. Solange Maria zurückkam.
Mit der Kaffeetasse in der Hand suchte er im Flur nach seinem Notizbuch, fand es in der Manteltasche und durchkämmte die Telefonnummern. Ein Kontakt bei der Polizei fiel ihm ins Auge, nicht aus Frankfurt, sondern aus Offenbach, aber das konnte reichen. Ein Gefallen für eine frühere Gefälligkeit. Zehn Minuten später saß Pfeiffer im Auto, im Navi die Adresse des Hotels, in dem die Bergers untergetaucht waren.

»He was a wild god searching for what all wild gods are searching for
And he flew through the dying city like a prehistoric bird.«

Frankfurt hing an diesem Dienstagnachmittag in einer frühherbstlichen Wolkentristesse fest, es nieselte, als Pfeiffer in die Stuttgarter Straße im Bahnhofsviertel einbog. Für einen wohlhabenden Reiseveranstalter war es ein ärmliches Hotel, in dem sich Richard Berger und seine Frau Dorothea einquartiert hatten. Wie geschaffen für Geschäftsleute, denen die Firma nur eine bescheidene Unterkunft zahlen wollte, aber auch nur ein paar Schritte vom vierten Frankfurter Polizeirevier und dem Bahnhof entfernt. Schutz und Flucht, dachte Pfeiffer, die Bergers schienen Angst zu haben. Und das zurecht. Obwohl es schon nach wenigen Minuten vom Account der FGZ gelöscht worden war, war das Video viral gegangen, hundertfach kopiert, neu gepostet. Die Behörden hatten alle Hände voll zu tun, die öffentlichen Kanäle zu kontrollieren und trotzdem war die Adresse der Bergers publik geworden. Über so viel Reichweite und Aufmerksamkeit konnte jeder Journalist neidisch werden. Der Anrufer hatte gewusst, was er tat und was er auslösen würde. Er hatte seine Opfer sorgfältig gewählt, daran zweifelte Pfeiffer nicht, wenn er sich auch keinen Reim darauf machen konnte, was dieser Verrückte ihm genau vorwarf. »Ihr Journalisten kümmert euch nicht um die Probleme der Menschen. Und wenn ihr es doch tut, dann nur aus Eigennutz und zu spät.« Das war ähnlich unspezifisch wie die Tirade gegen Richard Berger, nachdem der Bärtige sich erschossen hatte und doch musste darin irgendein Hinweis stecken.
Pfeiffer stellte sein Auto am Straßenrand ab und betrat das Hotel, als wäre er ein gewöhnlicher Gast. Er schritt durch das Foyer, vorbei an einer grauen Sitzecke, nickte der Rezeptionistin zu und nahm dann die Treppen hinauf in den dritten Stock. Zimmer 319, sein Kontakt bei der Offenbacher Polizei hatte sich als nützlich erwiesen. Er klopfte.
»Wer ist da?«, wollte eine Männerstimme wissen.
»Christian Pfeiffer. Ich bin der, der gezwungen wurde, das Video zu veröffentlichen. Das andere Opfer dieses Verrückten. Lassen Sie uns reden, Herr Berger.«
Sekunden verstrichen.
»Machen Sie auf. Sie werden niemanden finden, der Ihre Situation besser versteht.« Das Schloss klackte und die Tür öffnete sich ein Spalt breit.
»Das letzte Mal war es eine schlechte Idee, einem Fremden zu öffnen«, sagte das runde, bleiche Gesicht des Reiseveranstalters. Er trug keinen Anzug und erst recht keine alberne Euro-Krawatte mehr, sondern eine schlichte Jeans und ein zerknittertes, graues Polo-Shirt.
»Ich werde Sie weder filmen noch mich erschießen«, sagte Pfeiffer, dem der kleine untersetzte Mann mit den nervösen Augen mit einem Mal seltsam unsympathisch war. Er konnte nicht sagen, was es war, aber irgendetwas an Richard Berger verströmte den Gestank von Schuld, einer unbeglichenen Schuld, die sich hinter einer glattgebügelten Vorstadtmiene verbarg. Nach kurzem Zögern und nachdem er seinen Gast von Kopf bis Fuß beäugt hatte, machte der Reiseveranstalter Platz und trat zur Seite.
»Sie sind also der Mann, der mein Leben ruiniert hat«, sagte Berger, der mit verschränkten Armen vor dem Kleiderschrank stehen blieb. Er wirkte nervös und seine abwehrende Haltung unsicher. »Wollen Sie etwas trinken?«, setzte er hinzu, als spürte er, dass seine Eröffnung zu weit gegangen war. »In der Minibar gibt es Bier.«
»Nein, danke. Wo ist Ihre Frau?«
»Beten, seit ein paar Stunden schon. Wie jeden Tag. In einer Kirche auf der anderen Seite des Bahnhofs. St. Antonius, glaube ich. Sie kann das Hotel verlassen, sagt die Polizei, weil sie nicht mit auf dem Video war. Aber das wissen Sie natürlich, Sie haben die Aufnahme schließlich als Erster gesehen.«
Wieder klang Berger anklagend, als wäre alles Übel Pfeiffers schuld. Der hob die Augenbrauen, wie er es immer tat, wenn ein Mensch etwas Absurdes sagte. Oder etwas Dummes.
»Hätten Sie das Video nicht hochgeladen, wäre alles gut«, fuhr Berger fort. »So kann ich mein Geschäft dicht machen. Niemand bucht Flugreisen bei jemandem, der von einem Verrückten verfolgt wird. Von den Hasskommentaren ganz zu schweigen.«
Kein Wort von dem Toten, keines über das Los seiner armen Frau, dachte Pfeiffer. Das Erste, was dieser Richard Berger ihm gegenüber beklagte, war das Geld, das er verlor.
»Ich wurde gezwungen, das Video hochzuladen.«
»Habe ich gehört und Sie können ruhig wissen, dass ich die Geschichte Ihrer Tochter nicht glaube«, unterbrach Berger, der zwischen den Sätzen immer wieder kaum merklich mit dem Kopf nickte, als wollte er sich selbst bestätigen. »Die Polizei hat mir alles erzählt.«
»Und das wäre?«
»Dass Ihre Tochter nur in die Luft geschossen und dann die Waffe fallen lassen hat. Eine Schreckschusspistole. Vielleicht steckt sie ja mit diesem Verrückten unter einer Decke? Sie wollte sich gar nicht umbringen, ist stattdessen in einen Van gestiegen und abgehauen.«
Sie wurde entführt, du dummes Arschloch, wollte Pfeiffer erwidern, doch dazu war er zu professionell.
»Was ist mit den zehntausend Euro? Warum haben die beiden ausgerechnet zehntausend von Ihnen verlangt?«
»Keine Ahnung, wirklich«, antwortete Berger.
Pfeiffer wusste, dass er log. »Denken Sie nach«, sagte er mit Nachdruck und trat einen Schritt auf sein Gegenüber zu. »Das war keine zufällige Summe. Was ist mit Ihren Geschäften?«
»Was soll damit sein? Denken Sie, ich hätte alle Bücher im Kopf? Ich glaube es ist besser, Sie gehen zurück zu Ihrer Zeitung, wenn Sie nach Geschichten suchen.«
Richard Berger wollte zur Zimmertür treten, doch Christian Pfeiffer versperrte ihm den Weg. Ärger stieg in dem Journalisten auf, Wut auf den selbstsüchtigen Lügner. Es ging um Maria und dieser kleine, feiste Feigling hockte in seinem Hotelzimmer, war zu nichts nütze und warf noch mit Anschuldigungen um sich.
»Ich brauche Antworten, Herr Berger und ich gehe nicht ohne.«
»Und ich sage, Sie verlassen sofort dieses Zimmer.« Die Tonlage des Reiseveranstalters wurde eine Spur höher, doch das nahm Pfeiffer nur unterbewusst war. In seinem Kopf begann Nick Cave zu singen.

»Oh, well, he’s moving through the flames of anarchy
And he’s moving through the winds of tyranny
And the sweet, sweet tears of liberty.«

Noch ein Schritt näher, dann schlug Pfeiffer zu. Er war kein Boxer, hatte nie Kampfsport betrieben, doch er legte seine ganze Wut in seinen Arm. Schmerz zuckte durch seine Faust, Richard Berger taumelte zurück, prallte gegen den Kleiderschrank, dessen Türen gefährlich an den Rahmen knallten. Pfeiffer setzte nach, packte ihn am Kragen.
»Zehntausend Euro. Ich will wissen, warum es zehntausend waren und erzähle mir keine Scheiße mehr darüber, dass du ruiniert bist oder dich nicht erinnerst.«
Pfeiffer wusste nicht, was er getan hätte, wenn sich Berger weiterhin geweigert oder sogar gewehrt hätte, doch in diesem Moment klingelte sein altes Tastentelefon. Er ließ von Berger ab, diesen aber nicht aus den Augen. Eine unbekannte Nummer erschien auf dem Display, Pfeiffers Hand zitterte leicht, als er die grüne Hörertaste drückte. Der Anrufer legte sofort auf. Sekunden später traf eine SMS ein.
Christian Pfeiffer, es freut mich, dass Sie und Herr Berger sich endlich kennen gelernt haben. Wir sollten uns zu dritt unterhalten. Keine Polizei. 50.08685303817953, 9.131339658336437
PS: Grüße von Maria. Und geben Sie Herrn Berger einen dicken Kuss von seiner Frau.

»Widerlich.« Albert Schrunzke, Dezernatsleiter der Kripo Frankfurt, verzog angewidert den Mund, ehe er den Kaffee in den Spülstein spuckte. »Selbst das kriegen die heute nicht mehr hin. Sabrina! Wer von den Jungspunden hat diesen abartigen Kaffee gekocht?«
»Keine Ahnung, Chef. Vielleicht der Büropraktikant.« Sabrina Kappes, seit Jahren Schrunzkes rechte Hand, war seine Ausbrüche gewohnt. Als persönliche Sekretärin wusste sie stets, was zu tun war.
»Ich laufe schnell rüber zum Sternbecher und hole Ihnen einen schönen Mocca Latte.«
»Danke, Sie sind die Beste.«

Albert verschwand in sein Büro, warf eine Akte quer über den Schreibtisch und griff verärgert zum Telefon.
»Klümpelka? Zu mir, und zwar pronto!« Warum habe ich nur Idioten in meiner Abteilung?
Du hast sie dir selbst zusammengestellt, mein Lieber. Die Stimme seiner verstorbenen Frau schnitt durch seine Gedanken wie ein altes, ausgeleiertes Band. Seit drei Jahren war Gisela tot, doch sie ließ ihn einfach nicht in Ruhe. Nicht einmal hier, in diesem verfluchten Büro.

»Chef, da bin ich.« Michael Klümpelka, Schrunzkes erster Ermittler, stand stramm wie ein Soldat im Türrahmen.
»Menschenskind, Klümpelka! Nehmen Sie den Stock aus Ihrem Hintern und erklären Sie mir lieber, was da draußen für eine Scheiße passiert – und warum wir keinen Schritt weiter sind! Erst die Bergers, dann die Geliebte des Zeitungsfritzen Pfeiffer, und jetzt das!« Albert schob ihm das Frankfurter Tagblatt hin. Zwei Seiten voller Vorwürfe, garniert mit einem Foto, das Klümpelka zeigt, wie er kopfüber auf dem Bordstein neben dem zerfetzten Kopf der Leiche erbricht.

»Wir machen uns doch lächerlich! Und ich will verdammt noch mal wissen, wer meine Stadt terrorisiert!«, brüllte er aufgebracht. Sein Kopf lief rot an wie eine überreife Tomate, während er sich mit einem Stofftaschentuch schnaufend den Schweiß von der Stirn wischte.
»Es tut mir leid, Chef. Wirklich, mir war einfach übel und…«
»Ach, seien Sie ruhig. Vor einer halben Stunde hat das LKA angerufen, die wiederum von Europol informiert wurden. Was glauben Sie, was die mir erzählt haben?«
»Europol? Aber warum…?« Michael verstummte. Sein Blick wanderte aus dem Fenster hinter Schrunzkes Schreibtisch.
»Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Um Gottes willen«, ächzte Klümpelka. »Sehen Sie doch!«

Vor dem Eingang des Kommissariats hatte sich eine Menschentraube gebildet. Handybildschirme leuchteten in der winterlichen Morgensonne. In ihrer Mitte stand Sabrina Kappes. In der rechten Hand hielt sie einen Kaffeebecher, um Hüfte und Brust jedoch spannte sich ein Sprengstoffgürtel. Die rote LED des Auslösers blinkte rhythmisch wie ein höhnischer Puls.

Schrunzke riss das Fenster auf: »Sabrina, bewegen Sie sich nicht. Ich komme!«, brüllte er.
»Nein! Bleiben Sie, wo Sie sind. Bitte.« Ihre Stimme zitterte. »Es muss so sein. Ich bin schuldig. Geben Sie ihnen, was sie wollen.«
»Aber was wollen die denn?«, schrie Klümpelka und fingerte nervös an seinem Waffenholster, als könnte seine Heckler & Koch die Bombe entschärfen.

Das Telefon schrillte. Michael zuckte zusammen, Albert riss den Hörer an sich.
»WAS?!«, donnerte er ungehalten.
»Salve, Signor Commissario. Hören Sie mir gut zu: In zehn Minuten wird Sabrina sich in die Luft sprengen – und dabei vermutlich ein paar Menschen sowie Teile Ihres Präsidiums mitreißen. Das Ganze wird live und weltweit auf allen Social-Media-Plattformen übertragen.«
»Sie Saukopf! Wenn ich Sie erwische, dann Gnade Ihnen Gott!«
»Gott existiert hier schon lange nicht mehr. Halten Sie die Klappe und hören Sie zu: Holen Sie alle beschlagnahmten Waffen und 50.000 Euro aus der Asservatenkammer und packen Sie diese in eine Reisetasche. Um genau 9:50 Uhr übergeben Sie die Tasche an Sabrina. Wenn nicht, geht sie hoch. Und wagen Sie es ja nicht, Ihre Beamten nach draußen zu schicken oder das SEK einzuschalten. Sie haben keine Ahnung, mit wem – oder besser gesagt, womit – Sie es zu tun haben. Und, Commissario? Beten Sie für Europa.« Der Anrufer legte auf.

Die gespenstische Stille hallte in Schrunzkes Ohren wie ein Donnerschlag. Sein Blick wanderte zur Wanduhr. Tic, tic, tic, tic… Es war 9:41 Uhr.

Zur gleichen Zeit in Florenz, Italien:
Commissario Luca Piera genoss seinen ersten Morgenkaffee. Gemütlich legte er die Füße auf den Schreibtisch und schaltete den Fernseher ein. Ein rotes Laufband mit der Aufschrift »Eilmeldung« erregte seine Aufmerksamkeit. Hastig wechselte er zu den Nachrichtenkanälen.
»No, no, mamma mia!« Der Kaffeebecher rutschte ihm aus der Hand und ergoss sich über die verstreuten Akten auf dem Tisch. Die aufgeregte Stimme des Nachrichtensprechers überschlug sich, während eine Live-Kamera auf den Vatikan schwenkte. Auf dem Balkon des Papstes stand Erzbischof Culcia – eine Handgranate im Mund, die rechte Hand fest am Stift. Hinter ihm flatterte ein grellgelbes Banner mit der Aufschrift: Ich bekenne mich schuldig. Salve, Satan! Europa wird brennen!
Piera griff ächzend zum Telefon. »Capitano? Wir haben ein Problem…«

User @Bommel/Tanja

Pfeiffer saß wie erstarrt auf seinem Stuhl, die Augen auf den Bildschirm gerichtet, wo das Video nun öffentlich einsehbar war. Innerhalb von Sekunden begannen die ersten Kommentare einzutreffen – einige schockiert, andere zynisch, manche wütend. Sein Puls raste, seine Gedanken schwirrten. Was hatte er da gerade getan? Maria!

Das Handy vibrierte auf dem Tisch, ein dumpfes Summen gegen die Holzoberfläche, als ob ein stummer Vorwurf an die Oberfläche dringen wollte. Er griff danach, hielt es in der Hand, als wäre es ein brennender Gegenstand, den er aber nicht loslassen konnte.

»Gute Arbeit, Christian«, sagte die Stimme. Sie klang jetzt fast sanft, fast lobend. »Ich wusste, dass Sie die richtige Wahl sind.«

»Sie Bastard«, stieß Pfeiffer hervor. Seine Stimme zitterte vor Wut und Verzweiflung. »Was wollen Sie von mir? Warum haben Sie das gemacht?«

Die Stimme lachte leise. »Das ist erst der Anfang. Sie wollten doch immer eine große Story, nicht wahr? Jetzt haben Sie sie. Und Ihre Rolle darin ist noch nicht zu Ende. «

»Was meinen Sie?« Pfeiffer stand abrupt auf, der Stuhl kippte hinter ihm um. Er starrte aus dem Fenster, suchte die Straße ab, doch die Frau im roten Mantel – Maria – war verschwunden. Stattdessen tauchten mehrere Polizeifahrzeuge mit Blaulicht am Rand des Europagartens auf.

»Ich meine, dass Sie jetzt Teil des Spiels sind, Christian«, sagte die Stimme kühl. »Und es hat gerade erst begonnen. Halten Sie Ihr Handy bereit. Ich werde mich melden.«

Bevor Pfeiffer antworten konnte, war die Leitung tot. Er starrte auf das Display, als könnte er die Stimme durch bloßen Willen zurückholen. Doch das einzige Geräusch im Raum war das leise Tropfen des Kaffees aus der Filtermaschine. Sein Blick fiel zurück auf den Bildschirm. Das Video hatte inzwischen tausende Klicks, die Kommentarspalten explodierten*. »Was für eine kranke Welt!« – »Ist das echt?« – »Schweine-Kapitalisten!«*

Dann poppte eine neue E-Mail auf. Wieder ein Fake-Absender.

Betreff: »Willkommen in der nächsten Runde.«

Er zögerte. Aber er konnte nicht anders und öffnete die Nachricht. Ein weiterer Link. Darunter nur ein Satz:

»Die Wahrheit ist gefährlich. Bist du mutig genug?«

Er spürte, wie ihm das Herz in der Brust pochte. Ein Teil von ihm wollte den Computer abschalten, alles ignorieren, die Polizei kontaktieren. Doch ein anderer Teil, der Journalist in ihm, konnte nicht widerstehen. Er klickte.

Das Video, das sich diesmal öffnete, zeigte wieder den Eingang des Hauses von R. Berger. Aber die Perspektive war anders. Es war eine Überwachungskameraaufnahme, die offenbar auf die Gartentür gerichtet war. Zwei Männer betraten den Garten. In dieser Ansicht konnte man nun auch denjenigen sehen, der das Ganze mit seinem Handy filmte und deshalb im anderen Film selber natürlich nicht zu sehen gewesen war. Er sah irgendwie vertraut aus … er … Was zur Hölle!?

Pfeiffer zoomte hinein. Sein Herz ließ einen Schlag aus, als wäre es ebenfalls damit beschäftigt, zu begreifen: Der Mann mit der Kamera sah aus wie … wie er selbst!

Sein Handy vibrierte erneut. Eine Nachricht. Diesmal nur drei Worte:

»Wem kannst du trauen?«

Die Welt um ihn begann zu verschwimmen. Ein Deep-Fake! Ein perfides Spiel, in dem er die Hauptfigur war – oder ein Bauernopfer?

Pfeiffer stand vor der Entscheidung: Verfolgt er die Story alleine weiter? Mit allen Risiken? Oder meldet er sich sofort bei der Polizei? Was würde die von seiner Rolle in dem neuen Film halten? Dem Film, den er auch noch selber hochgeladen hatte.

Er griff nach dem Handy, starrte auf die Nachricht, sein Finger schwebte über dem Display. Das Coworking-Space war still, nur das Summen und Tropfen der Kaffeemaschine begleitete ihn, wie der monotone Rhythmus einer Herz-Lungen-Maschine einen Sterbenden auf einer Intensivstation.

Dann traf er eine Entscheidung.

© writers_headroom /Sebastian Steffens

Maria

Pfeiffers Tränen tropften in den Kaffee. Mit einem Mal hatte er alle Zeit der Welt. Erloschen die Liebe seines Lebens, vorbei der Druck, vergessen die Anschuldigungen, Maria, geliebte Maria. Das Requiem in seinem Kopf manifestierte sich. Mit verquollenen Augen schleppte er sich nach Hause.

Bei einem Glas Whiskey dachte er über seinen Beruf nach. Seit Jahren schrieb er über Personen, deren Schicksal ihn nicht im Geringsten berührte. Tragödien hinterherrennen, sensationslüstern berichten, der Erste sein, hautnah dabei. Auf einmal war er Jäger, Augenzeuge und Gejagter, alles in einer Person. Er sah die Schlagzeilen direkt vor sich. Journalist hat Freundin auf dem Gewissen – Jetzt ist er selbst dran – 10.000-€uro-Vlogger hält Klatschreporter Spiegel vor.
Pfeiffer schaltete den Fernseher ein. Auf allen Kanälen dieselben Nachrichten. Wenige Stunden nach den beiden Taten. In den sozialen Medien überschlugen sich die Kommentare der Meinungsapostel. Der Reisegeizhals hat es nicht anders verdient. Der hat doch gar keine Ferienreisen verkauft. Gepostet wurde nur zu Richard Berger. Eigenartig, dachte er, schüttete sich noch einen Whiskey ein, leerte das Glas in einem Zug und kippte gleich noch einen hinterher.
Ihm wurde schwindelig. Nicht nur wegen der Drinks. Die Eilmeldung auf NewsTiWi sprang ihm förmlich ins Gesicht: Erste Details zum 10.000,- €-Drama bekannt – Reiseveranstalter könnte der seit Monaten gesuchte Kopf einer Schlepperbande sein – Verdacht erhärtet sich. Ihm fiel die Kinnlade runter.
Maria hatte aus ihrer Nebenbeschäftigung ein Geheimnis gemacht. »Sei nicht so neugierig. Es sind bloß ein paar Stunden in der Woche, im Büro, Telefondienst.« Mehr hatte sie ihm nicht verraten wollen. Sie wird doch nicht für diesen Berger gearbeitet haben? Nein. Unmöglich. Doch warum sonst hätte sich der Vlogger ausgerechnet Maria schnappen sollen?

Susanne Kowalsky

Kapitel 3

Als Kriminalhauptkommissar Teudnach am Tatort Berger ankam, war die Leiche bereits unterwegs zur Rechtsmedizin. Der Tatort zeigte das gewohnte Bild. Am Gartenzaun und auf der Straße Schaulustige, mehr oder weniger aufdringlich. Vor der Haustür und im Vorgarten Mitarbeiter der Spurensicherung in weißen Ganzkörper-Plastikanzügen und blauen OP-Überziehschuhen. Sie sammelten Gegenstände ein und fotografierten.
Kleine gelbe Hütchen mit Nummern markierten wichtige Spuren.

»Chef.« Kriminalhauptmeister Werner begrüßte ihn mit einem Nicken. »Mojen, Werner. Was Neues über den Flüchtigen?« Werner verneinte. »Die Kollegen befragen weiterhin die Anwohner, bisher scheint aber keiner wirklich was gesehen zu haben.«

Während Teudnach sich auf das Haus zubewegte, brachte ihn Werner auf den aktuellen Stand. »Nachdem Frau Berger uns verständigt hatte, zog sich das Ehepaar in das Schlafzimmer im ersten Stock zurück. Beim Eintreffen der Kollegen waren beide leicht geschockt, aber vernehmungsfähig. Beide gaben an, dass ihnen die zwei Männer vollkommen unbekannt seien. Von dem zweiten Mann, der den Vorfall gefilmt haben soll, fehlt jede Spur. Er muss sich zügig entfernt haben, bevor die ersten Nachbarn auf den Vorgang aufmerksam wurden.Die Beschreibung lautet auf Jeans, Lederjacke, eventuell Kunstleder. Ungefähr einsachtzig groß, um die 25 Jahre, Hauttyp hell, Haare mittelblond, kurz geschnitten. Keine besonderen Merkmale.Ich hab’s in die Fahndung gegeben.«

»Danke, Werner. Machen sie hier bitte weiter, ich seh’ mir die beiden mal an.« Gerade als Teudnach die Treppe zur Haustür hochging, vibrierte sein Smartphone. Eine unbekannte Nummer. Er meldete sich, ließ dabei den Blick zurück über den Plattenweg schweifen.

»Klaus? Klaus, bist du das? Ich bin’s. Christian. Klaus, bitte…bitte, du musst mir helfen! Kannst du kommen? Sofort? Bitte! Es ist was Furchtbares passiert.«
Teudnach runzelte die Stirn. Christian Pfeiffer war ein alter Bekannter. Ein Journalist, den er eigentlich als eher unaufgeregt und pragmatisch beschreiben würde. Was konnte ihn so aus der Bahn werfen? Teudnach war sofort klar, dass es sich um etwas wirklich Außergewöhnliches handeln musste.

»Was ist passiert, Christian?« Teudnach hatte bereits umgedreht und ging schnellen Schrittes auf KHM Werner zu. Während er der verworrenen und aufgeregten Schilderung Pfeiffers zuhörte, gab er seinem Kollegen Anweisungen. »Ich muss zu einem Notfall. Mehrsen soll alles so schnell wie möglich digitalisieren und aufbereiten, wir treffen uns später im Büro.« Werner nickte bestätigend und wandte sich wieder dem Tatort zu.

»Ich komme zu dir. Bist du in der Redaktion?« »Nein, ich bin bei Ahmed im Grill. Oh Gott, das darf doch alles garnicht wahr sein. Maria…« Der Rest ging in einem Schluchzen unter.

Teudnach war beim Wagen angelangt und setzte sich auf den Beifahrersitz. Der Fahrer sah ihn fragend an. »Schillerpassage, so schnell es geht. Mit Blau und Martin.« Der Fahrer nickte und trat aufs Gas.

Über Funk erfuhr Teudnach, dass es vor einer Viertelstunde eine Tote vor der Redaktion des Generalanzeigers gegeben hatte. Eine junge Frau, Personalien unbekannt, war auf der Straße gegenüber des Gebäudes einer Schussverletzung erlegen. Teudnach atmete durch. Das musste diese Maria sein, von der Pfeiffer gesprochen hatte. Er hoffte inständig, dass dieser nichts mit der Tat zu tun hatte.

Er wies den Fahrer an, direkt vor Ahmed’s Grill zu halten und zu warten.

Als er eintrat, schlug ihm der Geruch von Döner entgegen. Der Grill war gut besucht, fast alle Tischchen besetzt und mehrere Wartende vor der Kochtheke. Dahinter war Ahmed in seinem Element. Lachend, scherzend, mit dem Messer spielend gab er seine gewohnte Show. Aus dem Lautsprecher tönte orientalische Popmusik, vielfältige Stimmen versuchten Unterhaltungen zu führen.
Teudnach fühlte sich zuhause hier. Viele Jahre lang war das sein Treffpunkt mit einigen Freunden gewesen. Christian Pfeiffer war einer davon.
Ahmed hatte offenbar auf ihn gewartet. Mit einem schnellen Seitenblick wies er nach hinten. Teudnach verstand. Er schlängelte sich Richtung Toiletten, ging aber daran vorbei und durch eine Tür, die hinter einem Vorhang verborgen war.

Hier fand er Pfeiffer. Emira, Ahmeds Frau, stand neben ihm, eine Hand beruhigend auf seiner Schulter. Vor ihm ein Tablett mir Tee und Mandelgebäck, beides offenbar unberührt.

»Klaus! Endlich!« Teudnach erschrak innerlich über den Zustand seines Freundes. Christian wirkte zerrüttet. Die Haare wirr, die Hände zitterten und sein Blick eine Mischung aus Verzweiflung, Unverständnis und reiner Panik. Emira grüßte kurz und verließ den Raum. Teudnach zog sich einen Stuhl heran, setzte sich Pfeiffer gegenüber und nahm dessen Hände zwischen seine.

»Christian. Sieh mich an. Ich muss dich etwas fragen.« Pfeiffer versuchte, seinen Blick auf Teudnach zu fixieren. Immer wieder irrten seine Augen umher, mal nach außen, mal nach innen gerichtet.

»Christian. War das deine Maria, auf der Straße vor dem Generalanzeiger? Ist sie die Tote?« Ein Schluchzen und ein Nicken. »Christian. Sieh mich an. Hast du was mit ihrem Tod zu tun?« Erneutes Nicken. »Ich bin schuld. Ich hab sie umgebracht. Ich hätte das Video…ich bin schuld! Ich bin schuld, Klaus!«

»Erzähl mir erstmal genau, was passiert ist. Du kanntest die Tote. Weißt du wie sie hieß und wo sie wohnte?«

»Maria«, antwortete Pfeiffer schwach. »Maria Berger. Sie ist gerade erst von einer Recherche zurückgekommen und wohnt bei einer Freundin. Ihre Eltern wohnen irgendwo in Sachsenhausen, auf dem Bonzenberg.«

Anachronica/Sigrid Heinz

»Wenn ich noch ein einziges Wort über diesen Richard Berger und seine Frau Dorothea lesen muss, kriege ich einen Anfall!« Kriminalkommissar Bernhard Mause zerknüllte ein eng beschriebenes Blatt und warf es in Richtung Papierkorb. »Schreibwettbewerb – pah! Solche Aktionen stammen doch aus dem letzten Jahrhundert.«
Sein Kollege Horst Kellermann sammelte es umgehend wieder auf. »Hey, das sind Beweisstücke, jetzt reiß dich gefälligst zusammen und mach deinen Job.«
Kriminalkommissarin Judith Balkow seufzte nur und angelte sich ein neues Blatt vom Stapel. »Soll dir nie was Schlimmeres passieren.«
»Ist doch wahr«, beschwerte sich Mause weiter. »Wo man hinschaut, läuft die Welt aus dem Ruder, aber wir dürfen uns mit so einem popligen Schreibwettbewerb rumschlagen und Beiträge sichten. Als ob sich da der Täter finden würden. Soko Zehntausend, das ist doch echt ein Witz!«
»Hättest du lieber einen Bombenanschlag in einem voll besetzten Fußballstadion?«, erkundigte sich Kellermann. »Wir haben hier vielleicht nicht den spektakulärsten Fall, doch wenigstens nur ein einziges Opfer.«
»Aber dafür Hunderte von Fortsetzungen zu dieser haarsträubenden Startszene mit dem Selbstmord. Als ob das im richtigen Leben so ablaufen würde.«
Alice Föhring, ebenfalls Kriminalkommissarin, nickte eifrig. »Sehe ich genauso, wer würde sich denn heute noch mit läppischen Zehntausend Euro zufrieden geben?«
»Es ist ja nur eine Geschichte, und dafür finde ich die Idee gar nicht mal so schlecht«, meinte Balkow. »Tatsächlich sind eine Menge richtig guter Beiträge dabei, ich gebe dir aber recht, so langsam kommt einem das Thema aus den Ohren. Egal, es gibt sonst keinerlei Anhaltspunkte, also müssen wir da durch. Gründliche Polizeiarbeit eben.«

Die Tür flog auf und ein uniformierter Kollege schleppte einen Wäschekorb voll weiterer ausgedruckter Seiten herein. »Soko Zehntausend? Dann ist der hier für euch. Wünsche frohes Schaffen.« Er grinste und schloss die Tür, bevor ihn die nächste Mause’sche Papierkugel treffen konnte.
»Was zum Geier ist das denn?« Kellermann schluckte. »Mir schwant Grauenvolles.«
»Nicht nur dir«, sagte Föhring. »Ich fürchte, das sind die Wettbewerbsbeiträge der nächsten Runde.«
»Echt jetzt? Das können die doch mit uns nicht machen. Ab morgen bin ich krank, ach was, ab sofort.«
»Mause, wenn du das durchziehst, stecke ich dem Boss, dass du …«

Die Tür öffnete sich erneut. »Leute, bitte etwas mehr Professionalität!« Kriminalhauptkommissarin Ilsa Lauenburg, die Leiterin ihrer Ermittlungsgruppe, erschien auf der Bildfläche. »Macht mal die Fenster auf und kocht frischen Kaffee. Und dann bitte ein ausführliches Briefing – wo stehen wir und was gibts Neues?«

Balkow machte den Anfang. »Wir haben ein Mordopfer: Heiner Pappelbach, einer der drei Leiter der Wortgetreu-Schreibakademie und außerdem Juror beim Sturmwind-Schreibwettbewerb. Todesursache: ein kräftiger Stich in die Halsschlagader, wahrscheinlich mit einem Füller.«
»Tatort: das Büro des Opfers, Todeszeitpunkt irgendwann in der Nacht zum Samstag. Entdeckt wurde das Opfer am Sonntagvormittag von Silke Heyer, einer Mitarbeiterin und mit-Jurorin. Darüber hinaus keine Zeugen, keine Spuren, kein garnichts. Wir tappen sowas von im Dunkeln, dass uns nur noch die verdammten Wettbewerbsbeiträge bleiben«, führte Kellermann weiter aus. »Die gehen wir gerade durch, was natürlich absolut nichts bringt.«
Lauenburg nickte. »Ab sofort wird es etwas bringen, vorhin ist nämlich in der Akademie so eine Art Bekennerschreiben eingegangen. Hört mal her:«

233 Beiträge alleine in der ersten Runde des jährlichen Sturmwind-Wettbewerbs. 232 davon stammen von Anfängern, Dilettanten, Nichtskönnern, Möchtegernautoren und sonstigen Stümpern, nur ein einziger wurde von einem wirklichen Könner verfasst: Meiner!
Aber wusste die restlos bornierte Jury das zu schätzen? Nicht im Mindesten!
Ich habe mir deshalb erlaubt, diesen Missstand anzuprangern, zugegebenermaßen auf eine etwas blutige, jedoch sehr wirkungsvolle Weise.
Damit die Aktion auch weiterhin die nötige Aufmerksamkeit erhält, werde ich ab sofort in jeden meiner Beiträge versteckte Hinweise auf meine Identität in die Handlung einbetten, die der intelligente Leser zusammentragen und auswerten möge. Schluss mit der Ignoranz, ich verlange die mir zustehende Anerkennung!
Werde ich nicht entdeckt, stirbt pro Woche ein weiteres Jurymitglied. Sollte der Wettbewerb vorzeitig abgebrochen werden, sehe ich mich leider gezwungen, die gesamte Jury zu eliminieren.

Sie ließ das Blatt sinken. »Fällt euch dazu irgendwas ein?«
»Außer, dass da jemand einen gewaltigen Sprung in der Schüssel hat?« Balkow schüttelte den Kopf. »Nee. Das kann man doch unmöglich ernst nehmen.«
»Leider nimmt dieserJemand die Sache todernst«, meinte Lauenburg, »deswegen bleibt es uns leider nicht erspart, uns auch weiterhin durch sämtliche Einsendungen durchzugraben. Natürlich läuft parallel das volle Programm, Spusi, Zeugen, Motive, Hintergründe und so weiter, aber ich habe den Verdacht, dass uns das nicht wirklich helfen wird.«
Das gesamte Team seufzte geschlossen auf.
»Gibts dabei wenigstens was Tolles zu gewinnen, oder warum sonst macht der Typ so einen Bohei?«, wollte Kellermann wissen.
Föhring kramte in ihren Notizen. »Außer der Ehre bekommt der Gewinner pro Runde eine Version ihres Schreibprogramms. Ein richtig gutes sogar, aber deswegen gleich einen Mord zu begehen …«
»Menschen sind schon aus weit geringeren Anlässen umgebracht worden«, sagte Balkow.
»Es geht ihm nicht um irgendeinen Preis, sondern um Anerkennung, das hat er doch klar und deutlich geschrieben«, sagte Mause. »Dass er sich dazu ausgerechnet so was aussucht … wie auch immer, jetzt stellt sich die Frage, ob wir schlau – und schnell – genug sind, seine Hinweise zu entschlüsseln.«
»Seine, oder ihre. Euch ist schon klar, dass der Täter genausogut eine Täterin sein kann?«
»Alice, lass bitte endlich diese bescheuerte Genderei«, begann Lauenburg, doch dann stockte sie. »Sorry, du hast natürlich absolut recht, hier hat die weibliche Form ihre Berechtigung.«
Kellermann kaute am Ende seines Stiftes. »Ich weiß nicht, jemanden mit einem Füller zu erstechen, das klingt mir eher nach einem Mann.«
Judith Balkow wühlte bereits im Wäschekorb mit den neuen Beiträgen. »Scheiße, das werden Überstunden ohne Ende. Immerhin eine gute Nachricht: Es geht nicht mehr um die Bergers, ab jetzt rückt der Journalist Christian Pfeiffer in den Mittelpunkt.«
»Natürlich, der aus der letzten Gewinnerstory. Wenigstens etwas, der war eh viel interessanter als die Bergers«, meinte Mause.
»Dann müssen wir jetzt nicht nur einen echten Mordfall lösen, sondern auch noch einen fiktiven?«, staunte Föhring. »Haben die Fälle überhaupt irgendwas gemeinsam?«
»Einen restlos durchgeknallten Täter«, meinte Kellermann. »Und nein, wir müssen nur den echten Fall lösen, der andere wird so nach und nach von den Teilnehmern des Wettbewerbs entwickelt.«
»Verrückte Idee, könnte aber Spaß machen«, fand Möhring.
Plötzlich zog Balkow eine einzelne Seite heraus. »Leute, ich hab hier was, das sollten wir uns näher ansehen.«

„Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert.“

Patrick Nowak saß auf einer Parkbank und beobachtete das Fenster, von dem Pfeiffer auf die Frau im roten Mantel starrte. Sie lag rücklings auf dem kalten Boden und blickte mit starren Augen in den blauen Himmel.

„Okay, er ist unterwegs. Du kannst aufstehen.“

Die junge Frau, die eine verblüffende Ähnlichkeit mit Pfeiffers Geliebten hatte, war eine Prostituierte und hatte sich über die leicht verdienten fünfhundert Euro gefreut. Langsam stand sie auf und richtete ihre Kleidung.

„Gib Gas, er ist gleich da.“

Pfeiffer war schnell, aber als er unten ankam und aus der Tür rannte, war die Frau bereits verschwunden. Patrick beobachtete, wie der Journalist auf den großen Platz lief und sich panisch umschaute. „Maria!“, brüllte er immer wieder verzweifelt und hetzte hilflos zwischen den Bäumen hin und her. Es dauerte eine Weile, bis er realisierte, dass man ihn hereingelegt hatte.

Patrick wartete geduldig, bis Pfeiffer wieder ins Gebäude gegangen war, und stand auf. Er war stolz auf sich. Er hatte sein Opfer mittels psychischer Erpressung, durch eine Kombination von Drohung und Zeitdruck, zu einer schnellen Handlung gezwungen. Er hatte den Journalisten über Monate hinweg beobachtet. Er kannte ihn wie einen alten Feind, konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. Für Pfeiffer gab es nichts Wichtigeres als seine Maria, mal abgesehen von seiner antiquierten Kaffeemaschine. Jetzt gerade würde er versuchen, seine Geliebte telefonisch zu erreichen. Patrick konnte es förmlich sehen, wie er erleichtert auf seinen Stuhl sank. Wie er sich nach dem befreienden Gespräch mit ihr einen neuen Kaffee brühte. Wie er irgendwann begriff, was er getan hatte.

„Tja Pfeiffer, du Pfeife. Das Video ist jetzt online und du kannst es nicht mehr rückgängig machen.“

Selbst wenn er es wieder aus dem Social-Media-Account der Zeitung löschen würde, wäre es mittlerweile hundertfach geöffnet worden. Die Leute hätten es kopiert oder weitergeleitet. Die Verbreitung war nicht mehr aufzuhalten. Das Video ging viral. Die Dinge würden nun ihren Lauf nehmen. So, wie Patrick es geplant hatte.

Er spazierte gemütlich Richtung Festhalle und nahm dort die U4 Richtung Enkheim. Seit dem Upload war mittlerweile fast eine Stunde vergangen. Genug Zeit, um sich im Netz zu verbreiten. Patrick wählte bewusst einen gut besetzten Waggon und lauschte genüsslich den Kommentaren der Fahrgäste, die gerade mit ihren Handys das schockierende Video betrachteten.

„Krass, hast du das schon gesehen?“

„Dieses miese Schwein.“

„Boah, der lässt den Alten für zehn Riesen Hops gehen.“

„Den sollte man an den eigenen Ei …“

„Yvonne, was sind das denn für Sprüche.”

„Ist doch wahr, Mama.“

Patrick lächelte zufrieden. Niemand würde ihn erkennen, ihn mit dieser Sache in Verbindung bringen. Er selber war auf der Aufnahme nicht zu sehen. Darauf hatte er geachtet.

Der Schauspieler mit dem grauen Bart hatte seinen Job mit Bravour erledigt. Für seinen Zwei-Minuten-Auftritt wollte er zweitausend Euro haben. Der Preis war fair, schließlich war auch eine gewisse Vorarbeit nötig gewesen, damit alles realistisch wirkte. Und bei Gott, das war es. Berger war viel zu irritiert gewesen, um genau hinzuschauen. Er hatte nur gesehen, was offensichtlich für ihn war. Die Drohung, der Schuss, das Blut – das reichte aus, um ihn in Panik geraten zu lassen. Zum Schluss noch ein wenig Stress machen und ihn anbrüllen, um auch den letzten Rest an klarem Verstand zu vernebeln.

Berger hatte bestimmt schnell gemerkt, dass die Szene nur gestellt war. Immerhin lag niemand in seinem Vorgarten. Für Patricks Plan spielte das keine Rolle. Bis zum Abend würden zigtausend Menschen gesehen haben, was für ein mieses Arschloch Berger war. Er hatte vor laufender Kamera entschieden, dass ein Mensch keine zehntausend Euro wert ist. Als freiwillige Zugabe hatte er sogar noch dazu aufgefordert, der Mann solle sich gefälligst auf der Straße erschießen.

Es lief perfekt, sogar viel besser als geplant. Alleine die Krawatte mit den Eurozeichen war Gold wert. So einen grandiosen Zufall hätte niemand planen können.

„Bald weiß jeder, was für ein mieses Schwein du bist.“ Patrick schaute durch das Fenster des U-Bahn Waggons in die Schwärze des Tunnels. „So schwarz, wie deine Seele“, murmelte er.

Patrick kannte Richard Bergers dunkles Geheimnis. Dieser hatte am Abend seiner eigenen Hochzeit im volltrunkenen Zustand eine junge Kellnerin vergewaltigt. Er hatte sie unter einem Vorwand nach draußen gelockt und hinter einen Strauch gezerrt. Damit sie nicht schreien konnte, hatte er ihr mit einer Hand die Kehle zugedrückt, während er mit der anderen Hand seine Hose öffnete. Anschließend hatte er noch gedroht: „Kein Wort. Wenn du jemandem davon erzählst, komme ich wieder. Dann wirst du beide Hände am Hals spüren.“

Sie hatte ihn trotzdem angezeigt, aber dem ehrenwerten und streng katholischen Sohn eines angesehenen Geschäftsmannes aus guten Frankfurter Kreisen hatte man mehr geglaubt als der polnischen Aushilfskraft. Diesen Abend hatte die junge Frau nie vergessen können, ihre Seele hatte tiefe Wunden behalten. Das traumatische Ereignis hatte Folgen. Nachdem sie das ungewollte Baby zur Welt gebracht hatte, ging sie zu Berger und forderte finanzielle Unterstützung.

„Was willst du hier, du polnische Nutte“, hatte er sie begrüßt.

„Geld, ich brauche Geld.“

„Hast du vergessen, dass Du Dir das nur ausgedacht hast?“ Berger hatte hämisch gelacht. „Die Anwälte meines Vaters haben dir doch klargemacht, dass du keinerlei Ansprüche hast.“

„Bitte, ich brauche zehntausend Euro für mein Kind. Für dein Kind. Damit komme ich eine Weile zurecht. Du hast das Geld und ich brauche es dringend.“

„Bist du bescheuert? Ich zahle doch keine zehntausend Euro für dich und deinen Balg. Verschwinde schleunigst, sonst rufe ich die Polizei.“

Drei Tage später fand man die junge Frau tot in ihrer Wohnung. Sie hatte sich mit einer Pistole in den Mund geschossen.

„Du hättest besser bezahlt, Vater. Damals wie heute.“

(C) Koebes / Helmut Jakob

Opferspiele

Es knallte und sie erschrak wider Willen, obwohl sie den Schuss erwartet hatte. Es war zugleich ihr Startschuss. Noch im Laufen zog sie sich den In-ear Stöpsel aus dem Gehörgang, knöpfte den roten Wollmantel auf und zog ihn aus. Als gleich darauf der dunkle Renault am Rand der Pariser Straße unter den Bäumen hielt, riss sie die Tür auf und sank, aller Eile zum Trotz, anmutig in den Beifahrersitz. Während der Wagen erst über die Europa-Allee, dann gen Süden die Stadt verließ, nahm sie die schwarze Langhaarperücke ab und verstaute sie zusammen mit dem Mantel in einer leeren Reisetasche, die sie auf den Rücksitz warf.

»Ich habe vor Aufregung total gezittert! Hat er mich auch wirklich gesehen?«, fragte sie den Fahrer, »Die Entfernung bis hoch zum Bürofenster war größer, als ich erwartet hatte!« Sie klappte den Kosmetikspiegel herunter, um sich mit den Fingern ihren blonden Bob zurechtzuzupfen.

»Da bin ich mir sicher!«, sagte der Fahrer und lachte. »Und jetzt erwartest du dein restliches, nennen wir es – Honorar?«

»Nur was du mir versprochen hast! Ich hab´ alles genau so gemacht, wie du´s erklärt hast. Glaubst du, er mir diese andere Frau abgekauft?«

»Ja, Süße, du warst brillant! Genauso genial wie meine Stimmwandler-App und der digitale Knall! Hätte er gleich nach dem ersten Schock aus dem Fenster geschaut, hätte er was gesehen?«

»Rein gar nichts, denn ich hatte mich schon in Luft aufgelöst. Aber du willst mir noch immer nicht verraten, warum du dem Typ diesen Streich gespielt hast?« Sie klang jetzt ein wenig maulig. »Immerhin ist dir der Spaß tausend Euro wert. Und du musst echt sauer auf diesen Pfeiffer sein, um ihn dermaßen zu erschrecken!«

Tanja nervte. Er kannte sie aus dem ›Etablissement‹, in das es ihn in der Zeit der qualvollen Trennung verschlagen hatte. Er mochte sie, weil sie eine hinreißende Figur hatte und ihn äußerlich an seine Maria, ja, das würde sie immer bleiben, erinnerte. Aber Tanja hatte weder Marias Intellekt noch ihre sinnliche Alt-Stimme, und er reagierte allergisch auf hysterisch hohe Tonlagen. Für Tanja würde ihm bald eine Lösung einfallen müssen. Erst mal zahlen und sehen, wie sich die Dinge entwickeln. Doch auf längere Sicht ist ihr Gequatsche zu anstrengend und zu gefährlich.

Er kannte sich aus im Milieu. Es ist gut, sich als Journalist mit allen, besonders mit den einfachen, Leuten gut zu stellen. Ihre Augen und Ohren sind Gold wert. So wie dieser verlebte Obdachlose, den er am Bahnhof aufgelesen, und der für wenige Euro seine einsame, verwundete Seele dem Teufel verkauft hatte. Der war, obwohl seine Jugend mindestens vier Jahrzehnte zurücklag, so vertrauensselig gewesen, dass man sich wunderte, wie er auf ›der Platte‹ überleben konnte. Hatte er ja auch nicht! Er war von einem Scherz ausgegangen, als er sich auf Geheiß den Revolver in den Mund gesteckt und abgedrückt hatte. Okay, ein paar Scheinchen hatten seinen Glauben zusätzlich gefestigt. Ein fataler Irrtum, den er nicht einmal hatte bedauern können, so schnell war es gegangen! Aber das entsetzte, teigige Gesicht von dem alten Berger war das Opfer wert gewesen. Vom Video mal ganz zu schweigen! Jetzt ist es für jeden sichtbar auf den Social-Media-Account des ›Generalanzeigers‹ hochgeladen worden. Ausgerechnet von dem lüsternen Bock, der Evolutionsbremse Christian Pfeiffer. Dem Kaffee-Gourmand, dem Nachrichten-Fossil. Wut loderte auf, die Sorte, die ihm schon Löcher in die Magenschleimhaut gebrannt hatte. Wut auf ihn und auf sie – Maria. Seine Maria, seine Frau.

»Ist was, Schatz?«, fragte Tanja mit ihrer Diskantstimme, »du bist plötzlich so still. Denkst du wieder an sie?«

Was sollte er sagen? Dass er eines Abends im Sommer, als er nochmal kurz in die Redaktion gekommen war, um sein vergessenes Diktiergerät zu holen, Geräusche aus der Büroküche gehört hatte, die ihn an das Schnaufen und Grunzen balzender Igelmännchen erinnert hatten? Und er so Zeuge von etwas geworden war, das ihn fast hatte durchdrehen lassen? Überraschung! Keine Igel! Marias nackter Arsch leuchtete, einer reifen Aprikose gleich, im Licht der untergehenden Sonne; neben ihr das, sich röchelnd abmühende, Relikt einer Filterkaffeemaschine. Hinter Maria stand der nicht minder keuchende Christian Pfeiffer in eindeutiger Aktion, während er nahm, was ihm und sich nicht gehörte! Über dem Akt hatte eine Aromamixtur aus Pheromonen und bitterem Kaffee gelegen, weshalb er sich bis heute ekelte, wenn er dieses Gesöff nur roch. Doch anstatt vor Ort eine Szene zu machen, hatte er sich zu innerer Distanz und Beherrschung gezwungen. War unbemerkt und wie ein misshandelter Köter davongeschlichen und hatte seine Wunden geleckt. Als sie zu verschorfen begannen, feilte er an seinem perfiden Plan.

Phase eins war die Versetzung Pfeiffers in die Online-Redaktion gewesen. Für ihn, seinen Vorgesetzten, ein Klacks. Er wusste, wie sehr er den Job hassen würde! Zu Phase zwei hatten die Bergers gehört. Doch das war erst die Ouvertüre gewesen, nur eine Art Betäubungsspritze, denn der kommende Schmerz würde trotzdem kaum auszuhalten sein! Auch seine Frau würde für diese Demütigung bezahlen müssen. Das Beste zum Schluss!

Maria Berger-Krumm, die Immer-noch-Gattin von Magnus Krumm und Adoptivtochter von Dorothea und Richard Berger, in deren Augen er nie gut genug war! Nicht einmal zur Hochzeit waren sie gekommen. Ihrer Meinung nach mangelte es ihm an Gottesfurcht und Geld. Deshalb waren sie ihm das erste Mal begegnet, ohne zu wissen, wer er war.

»Erde an Magnus?«

»Was soll schon sein. Frag nicht so viel. Hast du Lust auf einen neuen Schabernack? Ich leg auch noch was drauf!« Sie waren inzwischen südlich der City im Grünen. Magnus drosselte das Tempo, bog in einen Weg des Frankfurter Stadtwalds ab und blieb nach wenigen Metern stehen. »Mach mal das Handschuhfach auf, und gib mir die Pistole. Jetzt guck nicht wie ein paralysiertes Kaninchen! Die ist nicht geladen. Aber nimm den Mantel und die Perücke mit. Wir machen nur ein kleines Video. «

»Okay, bin dabei!« Tanja freute sich. Vielleicht würde sie dank des Geldsegens bald aus der winzigen Wohnung des versifften Mehrfamilienhauses in eine schickere Lage Frankfurts umziehen können. Etwas Kleines, am liebsten etwas außerhalb. Naturnah, das wäre herrlich! Sie liebte den Wald.

© Heather

Schema F

Im sterilen Treppenhaus des frisch renovierten, interdisziplinären Forschungstraktes stieg Dr. Sibylle Martínez müde die stählernen Stufen hoch. Selbst wenn ihr regelmäßig – so auch heute – spätestens in der dritten Etage die Luft wegblieb, kam eine Fahrstuhlfahrt für sie nicht mehr infrage. Zu oft war sie in der Vergangenheit mit einem ihr mehr oder weniger gut bekannten Kollegen in der kleinen, fensterlosen Kabine hinaufgefahren und hatte die misstrauischen Blicke ertragen, die sie nun seit fast einem Jahr in den Fluren des Instituts ständig begleiteten. Noch immer versetzte es ihr einen Stich, wenn sie daran dachte, wie sich der Umgang mit ihr von heute auf morgen verändert hatte. Respekt und Anerkennung angesichts ihrer akademischen Leistungen waren Skepsis und Argwohn gewichen. Anfangs hatte es vereinzelt noch ein mitleidiges Schulterklopfen oder neugierige Fragen gegeben, aber da sie keine davon je beantworten wollte oder konnte, gehörte dies nun der Vergangenheit an.

Das Treppenhaus hatte sie in der Regel ganz für sich allein. Dr. Martínez blieb kurz stehen, um einen Blick aus einem der bodentiefen Fenster heraus auf den östlichen Campus zu werfen. Die Sonne tauchte Wege, Wiese und die Sitzbänke in ein angenehmes warmes Licht. Personen standen in kleinen Gruppen zusammen, unterhielten sich, lachten und trennten sich winkend wieder voneinander.

Er könnte mitten unter ihnen sein. Wenn sie besser aufgepasst hätte, könnte er jetzt dort draußen stehen und mit seinen Kommilitonen über die letzte Vorlesung oder die nächste Prüfung plaudern? Sie wusste es nicht. Ihr wacher Geist, der sich in ihrem Berufsleben als so nützlich erwiesen hatte, quälte sie nun unaufhörlich mit Fragen nach dem Wie und nach dem Warum. Fragen nach der Schuld und nach dem Auslöser, den sie einfach nicht finden konnte.

Oben vor ihrem Büro wartete schon Jannek, ihr langjähriger Assistent, auf sie. Er balancierte drei Kaffeebecher in der einen und einen Stapel Hauspost in der anderen Hand.

»Guten Morgen. Die Dekanin ist heute außer Haus, daher habe ich mir erlaubt, Ihren Donnerstagstermin schon für heute einzuladen.« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

»Danke, Jannek.« Dr. Martínez nickte anerkennend. Sie hatte ihm eingeschärft, diskret vorzugehen, wenn sie sich Nachforschungen widmete, die beim besten Willen nichts mit ihrem eigentlichen Forschungsgebiet zu tun hatten. Solange sie die üblichen Vorlesungen weiterhin hielt und wenigstens kurz bei den wichtigsten Gremiensitzungen auftauchte, ließen sie ihre Vorgesetzten weitgehend in Ruhe.

»Um wie viel Uhr kommt der Journalist?«, fragte Dr. Martínez, während sie durch ihr Büro zu den Fenstern schritt, um Sauerstoff in den stickigen Raum zu lassen.

»Er müsste in circa zehn Minuten da sein«, entgegnete Jannek und schob einen der Kaffeebecher über den Tisch auf sie zu. Er arbeitete inzwischen seit über drei Jahren für sie und war einer der wenigen Menschen im Gebäude, in dessen Gegenwart sie sich halbwegs normal fühlte. Ein großer Pluspunkt war, dass ihn das Getratsche im Institut nicht die Bohne zu interessieren schien.

»Ich habe Ihnen vorhin eine Mail weitergeleitet«, sagte Jannek. »Angehängt ist eine Aufnahme von dem Tod der Frau, aber diesmal aus einer anderen Einstellung. Dorian aus der IT hat sie über einen seiner Kontakte beschaffen können.«

Dr. Martínez fuhr hastig den PC hoch, setzte ihre randlose Lesebrille auf und sah sich das Video an. Leider machte es nicht den Eindruck, als könnten sie durch die veränderte Perspektive neue Erkenntnisse gewinnen.

»Vielleicht zeigen Sie die Aufnahme gleich dem Journalisten«, schlug Jannek vor.

»Ich glaube nicht, dass sich ein Video vom Tod seiner Freundin als Eisbrecher eignet«, erwiderte Dr. Martínez mit hochgezogener Augenbraue. »Wer will so etwas schon sehen«, fügte sie leiser hinzu. Ihr Blick wanderte zu der Fotografie, die links neben ihrem Schreibtisch auf dem vollgestopften Bücherregal lehnte. Da stand er, am Tag seines Abiballs, den Arm um sie gelegt und ein Lächeln im Gesicht. War er damals glücklich gewesen? Sie vermochte es nicht mehr zu sagen. Es kam ihr vor, als hätte die stolze Mutter auf dem Foto nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit der Frau, die ihr täglich aus dem Spiegel entgegenblickte. Die schlaflosen Nächte, die sie mit Grübeln verbrachte, zollten langsam ihren Tribut.

Ein Klopfen an der Tür riss sie aus ihren Gedanken. Die Klinke wurde zögerlich heruntergedrückt und ein Mann, vielleicht ein paar Jahre älter als sie, trat herein. Er trug ein knitteriges, braunes Sakko und friemelte fahrig an dem Griff seiner schwarzen Aktentasche herum.

»Sie müssen Herr Pfeiffer sein«, begrüßte Dr. Martínez ihren Gast, »schön, dass Sie gekommen sind. Mein Name ist Sibylle Martínez, mit meinem Assistenten Jannek hatten Sie ja bereits Kontakt. Bitte, setzen Sie sich doch.«

»Ich weiß, wer sie sind«, sagte der Journalist und nahm auf einem der ledernen Besucherstühle Platz.

»Mit Milch und Zucker oder lieber schwarz?«, fragte Jannek und deutete auf die beiden übrigen Kaffeebecher.

»Schwarz, danke«, erwiderte Christian Pfeiffer und nahm den Pappbecher ungelenk entgegen. Er räusperte sich. »Also, Sie wollen mit mir über die Sache sprechen?«

»Ja. Wir hatten gehofft, dass wir uns gegenseitig weiterhelfen können. Wie Sie offenbar schon wissen, habe ich ein persönliches Interesse daran, der Sache auf den Grund zu gehen«, erklärte Dr. Martínez. »Ich habe gehört, dass Sie sich ebenfalls mit Nachforschungen beschäftigen, daher-«

»Woher wissen Sie das?«, unterbrach sie Pfeiffer mit gerunzelter Stirn.

»Als Journalist werden Sie sicher Verständnis dafür haben, dass ich meine Quellen nicht immer preisgeben kann«, erwiderte Dr. Martínez. »Irre ich mich, was Sie betrifft? Haben Sie mit der Sache bereits abgeschlossen?«

»Nein, das könnte ich nicht«, gab der Journalist zu und nahm einen kleinen Schluck aus dem Kaffeebecher. Missbilligend verzog er das Gesicht. »Na ja, ich nehme an, es spricht nichts dagegen, sich auszutauschen. Aber mir wäre es lieber, wenn wir unter vier Augen sprechen.«

Dr. Martínez warf Jannek einen entschuldigenden Blick zu. Ihr Assistent griff sich einen der Ordner mit Studienleistungen, die dringend korrigiert werden mussten, und verließ ohne Widerworte den Raum. Sie machte sich in Gedanken eine Notiz, ihm bei Gelegenheit eine Gehaltserhöhung anzubieten.

»Wir sammeln seit fast einem Jahr Hinweise, recherchieren, prüfen Zeugenaussagen und untersuchen sämtliche Aufzeichnungen der Vorfälle, die wir in die Finger bekommen«, sagte Dr. Martínez. »Doch je tiefer man gräbt, desto mehr Fragen tauchen auf. Es ergibt einfach keinen Sinn. Und die Polizei ist keine große Hilfe.«

»Es läuft immer nach demselben Schema ab«, meinte Christian Pfeiffer. »Außer bei Maria. Sie passt nicht ins Bild, oder?«

Dr. Martínez nickte. »Richtig, sie war das einzige weibliche Opfer. Und auch das einzige mit einer persönlichen Beziehung zu einer Person, der gedroht wurde.«

»Denken Sie auch, dass sie der Schlüssel zu allem sein könnte?«, fragte er.

»Das hoffe ich«, stimmte Dr. Martínez ihm zu. »Deshalb habe ich mich an Sie gewandt.«

»Verstehe«, murmelte er. »Ich habe in Marias Vergangenheit gegraben und bin dabei auf etwas gestoßen. Meine einzige heiße Spur bisher.«

»Das ist immerhin eine mehr, als ich nach all der Zeit aufzuweisen habe«, seufzte sie.

»Sagt Ihnen …«, Christian Pfeiffer zögerte, »sagt Ihnen der Name Chromortia etwas?«

»Nein, leider nicht.«

Er wirkte enttäuscht.

»Sie müssen mir versprechen, dass die Informationen, die ich Ihnen gebe, diesen Raum nicht verlassen. Sie dürfen darüber mit niemandem sprechen. Auch nicht mit Ihrem übereifrigen Assistenten da draußen. Geben Sie mir Ihr Wort!«, forderte er sie nachdrücklich auf.

»In Ordnung. Ich werde mit niemandem außer Ihnen darüber sprechen.« Dr. Martínez blickte ihn gespannt an. War das nun endlich der Durchbruch, auf den sie so lange hatte warten müssen?

Der Journalist öffnete seine Aktentasche, zog ein Handy mit einem zersplitterten Display und ein unscheinbares graues Heft hervor und legte beides auf dem Tisch ab.

»Was Sie gleich hören, wird Ihnen aber nicht gefallen«, meinte er.

„Wer ist bitte Christian Pfeiffer?“

Bundesinnenminister Jürgen Rietmann saß aufrecht an seinem Schreibtisch, die Hände zu einer Raute geformt, den Blick starr auf den Assistenten gerichtet, der seine übliche Sonntagmorgen-Routine – das akribische Durcharbeiten der Aktenberge – unterbrochen hatte. Der Assistent stand unsicher im Raum, ein iPad in den Händen, und zögerte, bevor er sprach.

„Christian Pfeiffer ist Redakteur bei FAZ Online, Herr Minister“, sagte er mit brüchiger Stimme. „Er hat vor wenigen Minuten ein Video veröffentlicht.“

Der Assistent trat näher, drückte auf Play und hielt das iPad dem Minister hin. „Sie sollten es sehen.“

Die Aufnahme zeigte eine Wohnsiedlung. Im Hintergrund ragten die Hochhäuser Frankfurts auf. Zunächst schien nichts ungewöhnlich: Die Kamera schwenkte auf einen Vorgarten, dann auf ein Haus, aus dem ein Mann trat. Er wurde von einer anderen Person angesprochen, die zehn Tausend Euro forderte – andernfalls würde er sich selbst töten.

Ein schneller Kameraschwenk. Rietmanns Gesicht erstarrte. Der Mann auf dem Bildschirm war Paul Keller. Sein Lebensgefährte.

„Das kann nicht sein“, murmelte Rietmann. „Paul ist auf Dienstreise in der Schweiz!“ Doch der Mann im Video sah ihm erschreckend ähnlich. „Wie alt ist die Aufnahme?“

„Die Metadaten zeigen: Heute, 9:23 Uhr, Frankfurt“, erklärte der Assistent. „Apple iPhone 16 Pro. Keine Bearbeitung. Ultra-Weitwinkel, Blende f1.8, 4K…“

„Genug!“, unterbrach Rietmann, als Pauls Stimme wieder im Video erklang. Pauls Schultern waren hochgezogen, die Bewegungen fahrig, die Augen glasig. „Ich brauche zehn Tausend Euro! Sonst bringe ich mich um.“

Rietmanns Atem stockte. „Zehn Tausend Euro? Von wem wollte er das Geld?“

„Richard Berger“, erklärte der Assistent leise. „Herr Keller forderte das Geld von einem Richard Berger.“

„Richard Berger?“, Rietmann schaute ungläubig, „Ich kenne einen Richard Berger in Frankfurt. Ein Banker…“.

„Ja, ein ehemaliger Bänker im Vorruhestand. Er besitzt das Haus, vor dem sich Paul, Herr Keller…“ Der Assistent brach ab und holte tief Luft.

Das Video zeigte, wie Paul einen Schritt zurückwich, in seine Tasche griff und eine Waffe zog. Rietmann hielt den Atem an. „Nein…“, flüsterte er.

Ein Schuss ertönte. Paul sackte zusammen. Die Kamera wackelte, dann wurde das Bild schwarz.

Rietmann saß wie erstarrt und kämpfte mit der Fassung. „Was wissen wir?“ Seine Stimme klang tonlos.

„Bisherige Indizien deuten darauf hin, dass es tatsächlich Herr Keller ist“, antwortete der Assistent. „Die Laborbefunde stehen aber noch aus. Zudem gibt es Hinweise auf eine Gruppe, die sich ‚Die Schafe‘ nennt.“

Rietmanns Kiefer spannte sich. ‚Die Schafe‘? Welch ein Hohn!

Vor Jahren hatte er als Kommunalpolitiker in Frankfurt eine Allianz gegründet: Banker, Unternehmer, Staatsanwälte – darunter auch Richard Berger. Sie nannten sich ,Die Hüter‘. Ihr Ziel: die Gesellschaft schützen, Fake News bekämpfen, Radikale stoppen, den sozialen Zusammenhalt stärken. Doch irgendwann lief alles schief. Sie nahmen Geld aus dubiosen Quellen, zu viel Geld. Und als sie erkannten, dass sie sich mit mafiösen Kreisen eingelassen hatten, war es zu spät. Mehr oder weniger kleine Gefallen wurde ihr Preis.

Als Rietmann sich geweigert hatte, weiter mitzuspielen, erpresste man ihn: wöchentlich zehntausend Euro oder man würde seinem Umfeld etwas antun. Und nun waren die Drohungen zur grausamen Realität geworden.

„Gibt es irgendwelche Verdächtigen?“, fragte er scharf.

„Wie schon gesagt, Christian Pfeiffer“, antwortete der Assistent. „Er hat als Erster über Aktionen berichtet. Er scheint Kontakte zu haben. Außerdem betreibt er eine Website, auf der er das Finanzsystem kritisiert und von einer Gruppe Namens ‚Die Hüter‘ schreibt. Und immer wieder fällt dort die Summe: zehntausend Euro.“

Rietmann ballte die Fäuste. „Ich will Antworten“, sagte er fest. „Sofort.“

Der Assistent zögerte. „Was sollen wir tun?“

Rietmann betrachtete das Standbild von Paul. Dann hob er den Kopf.

„Nachrichtensperre über Paul“, befahl er kalt. „Personenschutz zu meiner Mutter und meinen Geschwistern.“

Rietmann fuhr sich gestresst durch die Haare „Und holen Sie Pfeiffer!Sondereinsatzkommando. Die Redaktion der FAZ wird gestürmt. Seine Website verschwindet.“

Als sein Assistent bereits das Büro verlassen wollte, stoppte ihn Rietmann. Er zog einen Zettel hervor, schrieb sechs Namen darauf, darunter Richard Berger, und reichte ihn seinem Assistenten.

„Es sind keine Schafe, mit denen wir es zu tun haben, sondern Wölfe“, sagte er leise. „Rufen Sie diese Männer an. Sagen Sie ihnen, dass sich die Hüter wieder treffen müssen. Unverzüglich.“

Der Schuss dröhnte in seinen Ohren. Pfeiffer sah wie festgefroren aus dem Fenster. Die schweren Atemzüge ließen die Scheibe beschlagen. Maria lag regungslos in der Mitte des Europaparkes. Ihre Arme und Beine standen in unnatürlichen Winkeln vom Rest ihres Körpers ab. Alles, was er sah, war rot. Das Rot des Mantels verschwamm mit dem des Blutes, welches sich wie ein Gemälde über die Plattenleinwand aus Beton ergoss.

Pfeiffers Gedanken drehten sich im Kreis. Er hatte das Gefühl, den Boden unter seinen Füßen zu verlieren. Mit festem Griff umklammerte er das Nächstbeste, dass er zu fassen bekam. Den dampfenden Kaffeepott. Er schien vollkommen apathisch, während sich seine Bewegungen in der Routine verloren. Das heiße Gebräu rannte ihm zu schnell die Kehle herunter, doch er spürte den Schmerz nicht. Sein Körper fühlte sich taub an. Maria. Sie war tot. Warum sie?
Das brummende Geräusch seines Mobiltelefons riss ihn abrupt in die Gegenwart zurück. Dieses verfluchte Gerät, dessen einzige Aufgabe darin zu bestehen schien, den Menschen die Zeit zu rauben oder ihr Leben in die Sinnlosigkeit zu treiben. Es hatte ihm Maria genommen. Pfeiffer sehnte sich danach, das fragile Konstrukt an die Wand zu werfen, doch er vermochte es nicht. Die unangenehm vertraute, unbekannte Nummer auf dem Display paralysierte ihn für einen Moment. Das Handy vibrierte mehrfach, bevor er den Hörer abnahm.
„Sie Mörder! Warum haben Sie sie umgebracht? Warum sie?“ schrie er verzweifelt.
„Das sind viele gute Fragen, Christian Pfeiffer“, antwortete die Stimme am anderen Ende der Leitung ruhig. „Hab ich das? Oder waren Sie das? War es Ihr Zögern? Es ist schon verrückt welche Streiche unser Kopf und unsere Augen uns spielen können. Schauen Sie hinaus!“

Zögerlich wandte sich Pfeiffer wieder dem Fenster zu. Erneut sah er nur Rot. Die roten Betonplatten hoben sich vom tristen Grau der Stadt ab, standen im Kontrast zum Grün des Parkes. Aber etwas war anders. Kein Körper. Keine Maria. Nur das tiefrote Blut und ein heller Fleck, auf dem sie vor wenigen Sekunden noch gelegen hatte. Wo war sie?
„Wo ist sie? Was haben Sie mit ihr gemacht?“, brüllte Pfeiffer in sein Handy.
„Sind Sie bereit, Christian Pfeiffer?“, überging die Anruferstimme seine Fragen.
„Bereit wofür? Was wollen Sie von mir?“ blaffte er den Anrufer an.
„Das war erst der Anfang! Ich bin mir sicher ab jetzt werden Sie kooperativer sein. Richard Berger, der Mann aus dem Video war nur der erste Dominostein. Es geht weiter, Christian Pfeiffer. Es müssen Entscheidungen getroffen werden. Die Story muss erzählt werden. Das ist Ihre Aufgabe. Denken Sie an Maria.“
„Was ist das für ein perverses Spiel?“, fragte Pfeiffer jetzt mit deutlich ruhigerer Stimme. Professioneller als zuvor. Der Kaffee wirkte. Der Journalist in ihm gewann die Kontrolle zurück. Seine Gedanken überschlugen sich, doch die Richtung, in die sie rasten, war die Richtige.
Ein leises Klicken, dann war die Leitung tot. Keine weiteren Antworten. Nervös betätigte Pfeiffer in stoischer Regelmäßigkeit die Mechanik seines Kugelschreibers. Ein Geräusch, das ihm beim Nachdenken half. Stift und Schreibblock. Die zwei mächtigsten Werkzeuge eines guten Journalisten. In unglaublichem Tempo schrieb Pfeiffer alle ihm bekannten Informationen auf den kleinen Notizblock. Die seltsam ästhetischen Hieroglyphen auf dem Block waren nur für ihn lesbar. Ähnlich wie die Handschrift eines Arztes zogen sich die feinen Linien über das Papier. Eine gute Stunde später hatte er die Blätter gefüllt und das Gefühl, Richard Berger bereits besser zu kennen als sich selbst.

Ein helles „Pling“ seines Rechners brachte Pfeiffer wieder in die Welt der modernen Technik zurück. „Jetzt entscheiden ihre Leser“, lautete der Betreff einer weiteren Wegwerf E-Mail Adresse. „Teile das Live-Video. Die Zeit läuft. Eine Stunde, 100.000 Euro, sonst wird er sterben.“ stand in der Nachricht. Darunter ein blau unterlegter Link.
Mit zittrigen Fingern klickte Pfeiffer. Er schluckte. Auf dem Video sah man einen spärlich beleuchteten Raum. Darin befand sich nichts außer einem Stuhl. Ein junger Mann mit Designeranzug saß darauf. In seinen Händen hielt er eine Pistole.

Mit kurzen Pausen dazwischen wiederholte er immer wieder denselben Satz: „Zahlen Sie, bitte! Sonst muss ich mich umbringen.“ In der linken oberen Ecke tickte ein Countdown erbarmungslos herunter. 59:49. 59.48. 59.47. Daneben leuchtete eine grausam niedrige Zahl 0,00€. „Was für ein krankes Schwein“, dachte Pfeiffer laut.

Wie sollte er weitermachen. Die Polizei anrufen? Das Video teilen und das perfide Spiel einfach mitspielen? Er hatte keine andere Wahl. Maria. Lebte sie noch? War sie die Nächste, wenn er sich weigern würde? Er kopierte den Link und teilte ihn auf dem Social-Media-Account der Zeitung. 8.749 Kommentare. Das Zwischenergebnis des Shitstorms, den das erste Video herbeigeführt hatte. Das würde ihn seine Karriere kosten, dessen war Pfeiffer sich sicher. Doch er hatte keine andere Wahl. Er klickte den Button. Das Video war live.

Erst Berger, dann Pfeiffer. Rückgratlose Versager.
Er stieß den Teller von sich, zu angeekelt von der ach so weltoffenen und rücksichtsvollen Gesellschaft, um auch nur einen weiteren Bissen herunterzubringen. Einzig seinen Flat White hatte er geleert.
»Na, na, Leon, was ist denn los? Schmeckt es dir etwa nicht?«
Mit aller Macht drängte er die Wut hinter eine kalte Mauer aus Selbstbeherrschung zurück. So wie er es immer tat. Sein gezwungenes Lächeln entging der Frau mit dem ausgehärmten Gesicht und den trüben Augen, die ihm gegenüber am Küchentisch saß.
»Ich glaube, ich habe mir gestern den Magen verdorben«, log er und schob den Teller ein Stück weiter in ihre Richtung.
Sie seufzte, griff nach ihrer Gabel und schob sich eine Portion seines kaum angerührten Kartoffelbreis in den Mund.
»Aus dir wird nie etwas, wenn du weiterhin isst wie ein Spatz.«
»Ach, Oma.« Er verdrehte die Augen und tätschelte ihre faltige Hand.
»Ja, ja, die Jugend von heute. Nun geh schon, hast sicher Besseres zu tun als deiner alten Großmutter beim Essen zuzuschauen.«
Er schenkte ihr ein Lächeln. Ein aufrichtiges Lächeln. Etwas, das ebenso selten geworden war, wie der Eisbär in der Arktis.
»Ich würde dir lieber beim Essen zusehen, als mich an meine Hausaufgaben zu setzen. Aber du weißt ja …«
»Immer am Arbeiten. Heute ist Sonntag, du solltest dich lieber mit deinen Freunden treffen. Wenn deine Eltern noch …«, sie ließ den Satz in der Luft hängen, als hätte er nicht auch im halbgaren Zustand die Durchschlagskraft einer Pistolenkugel.

Als Leon sein Zimmer betrat, zuckte sein Blick zu den drei Computermonitoren auf dem Schreibtisch. Der neueste Instagram-Post der FGZ.NET leuchtete ihm entgegen und seine Laune hob sich, als er durch die Kommentare unter dem Video scrollte. Ein weiterer Bildschirm zeigte das Bild der gehackten Kamera vor dem Gebäude des Frankfurter Generalanzeigers. Die Traube aus Polizisten und Schaulustigen hatte sich zerstreut, von der Leiche waren kaum mehr als ein paar angetrocknete Blutreste übrig. Leon empfand kein Mitleid. Nur ein Gefühl leiser Genugtuung, das durch die eisige Leere in seinem Inneren sickerte.
Geizige Bonzen.
Inkompetente Journalisten.
Korrupte Polizeibeamte.
Er griff nach einem der Wegwerfhandys und öffnete die Nachrichtenapp. Seine Finger flogen über den Touchscreen, eilten seine Gedanken hinterher, die sich auf ein einziges Ziel konzentrierten – Gerechtigkeit.

Wenn Sie möchten, dass Ihr kleines Hobby unter Verschluss bleibt, gehen Sie um 14.15 Uhr zum Börsenplatz und halten Sie Ihre Handykamera bereit. Alle weiteren Instruktionen bekommen Sie vor Ort.

Er hängte das Video an, das er aus der Datenbank seines zukünftigen Kameramanns ausgegraben hatte und drückte auf senden. Keine 5 Minuten später piepte das Handy.

Ich werde da sein.

Es war lächerlich einfach, geeignete Kandidaten für sein Vorhaben zu finden. Und genau das war das Abscheuliche an der Sache. Leons Nase kräuselte sich unwillkürlich, als hätte er etwas Schlechtes gerochen. Den fauligen Gestank menschlicher Verderbtheit, der ihm seit dem Tag in der Nase hing als man seine Eltern … Das selbstgefällige Lächeln des Kommissars flackerte vor seinem inneren Auge auf und er biss die Zähne so fest zusammen, dass es knackte. Es war Zeit, mit den Spielchen aufzuhören und ernst zu machen.
Leon griff nach seinem Headset, drückte auf das kleine Symbol der Voice-Changing-KI, aktivierte den Störsensor, der eine Zurückverfolgung des Anrufs verhinderte und wählte die Nummer.
»Mertens«
»Ich weiß.« Leon legte ebenso viel Selbstsicherheit in seine Stimme, wie er es bei seinem Gespräch mit Pfeiffer getan hatte. Den Rest erledigte die KI. »Kriminalkommissar Friedrich Mertens, seit 28 Jahren im Dienst und noch immer kein Hauptkommissar.« Leon schnalzte missbilligend mit der Zunge.
»Wer spricht da? Was wollen Sie?«
»Sie haben 15 Minuten Zeit, um zum Börsenplatz zu gehen und dem Mann, der Sie dort ansprechen wird ein Statement über Ihre Arbeit für den Frankfurter Geldwäschering abzugeben.«
»Sind Sie irre? Was für ein Scherz ist das bitteschön? Und wie zur Hölle kommen Sie an meine Privatnummer?«
»15 Minuten«, wiederholte Leon, »oder alle Mitarbeiter, die sich auf dem Börsenparkett befinden, werden sterben.«
»Sie sind ja völlig durchgeknallt.«
Leon konnte beinahe den Speichel Mertens auf seinem Gesicht spüren, als dieser ihn anbrüllte.
»Dann drehen Sie sich mal um.«
»Sie-«
Leon sah auf den dritten Bildschirm, beobachtete den bulligen Kommissar, der nach kurzem Zögern einen Blick über seine Schulter warf - und erstarrte.
»Kein Kontakt zu Kollegen. Aber das Spiel kennen Sie ja sicher.«
»I-i-ich … werde da sein.«
Leon legte auf und wechselte vom Bild des geschockten Kommissars zu dem eines Codes, der den gesamten Bildschirm ausfüllte. Seine Verbindung zur Zentralverriegelung, der Telefonanlage und den Börsencomputern. Er fügte dem Bildschirm einen weiteren Code hinzu – der Überwachungskameraloop aktivierte sich automatisch in fünf Minuten.
Dann tippte er eine letzte Nachricht in das Handy:

Alles ist vorbereitet, du kannst loslegen.

Das Endgame hatte begonnen …

Als Pfeiffer das Polizeirevier verließ, wehte ihn ein kalter Wind an. Er schlug den Mantelkragen hoch und suchte nach einer Zigarette. Ein Mann kam hinter ihm aus dem Gebäude und überholte ihn. Im Vorbeigehen blickte er Pfeiffer an. Sein Gesicht war so leer und blass, wie Pfeiffer sich fühlte.
Der Mann war schon ein gutes Stück die Straße herunter, als Pfeiffer ihn erkannte.
Er warf die Zigarette auf den Boden und ging in die gleiche Richtung. An der Bushaltestelle setzte der Mann sich auf einen der Sitze. Pfeiffer setzte sich daneben. Zum zweiten Mal trafen sich ihre Blicke. Beide Gesichter waren gezeichnet von dem Horror, den sie erlebt hatten.
„Sie sind der Mann auf dem Video, nicht wahr?“, fragte Pfeiffer. „Und ich vermute, Sie wurden auch bis eben von der Polizei verhört?“
Der Mann nickte.
„Ich denke, wir sollten reden.“

Zwanzig Minuten später in einer Bahnhofsspelunke. Beide Männer tranken schlechten Kaffee. Erzählten sich die Erlebnisse des Tages. Schwiegen.
„Warum?“, fragte Berger schließlich. „Warum ich? Warum wir? Warum diese sinnlosen Taten?“
Ja, warum, dachte Pfeiffer. Warum Maria? Warum jetzt? Warum nicht irgendwann in den vielen Jahren der Einsamkeit, in denen ihm alles egal gewesen war? Warum kam der Faustschlag in den Magen genau in dem Moment, als Maria den Eispanzer um seine Seele weggetaut hatte? Warum, du dreckiges Schicksal? Und warum stellst du dich nie, damit man dir auch mal in den Sack treten kann?
Laut sagte er: „Lassen Sie uns davon ausgehen, dass die Morde für den Täter durchaus einen Sinn ergeben. Wenn wir diesen Sinn entschlüsseln, finden wir den Mann vielleicht.“
„Wie soll man denn entschlüsseln, was in so einem kranken Gehirn vor sich geht!“
„Was wissen wir schon alles über den Täter? Denken Sie nach, Berger!“
Wieder Schweigen.
Dann sagte Berger: „Er ist wütend. Sehr wütend.“
„Ja“, sagte Pfeiffer. „Er ist voller Hass. Und jedenfalls nicht nur auf die Leute, die er umgebracht hat. Wahrscheinlich nicht mal in erster Linie auf die, sondern auf uns.“
„Auf uns? Ich hab ihm nichts getan, Sie vielleicht?“
„Er hat jedenfalls versucht, mich komplett zu vernichten“, sagte Berger. „Mich als Menschen und als Journalisten lächerlich zu machen. Und Maria war …“ Er stockte. „Maria war mir sehr wichtig. Das muss er gewusst haben.“
Berger nickte. „Ich hatte auch das Gefühl, dass er mich persönlich zerstören wollte. Nicht mit der Kugel, sondern moralisch. Mich als abgrundtief schlechten Menschen darstellen wollte. Aber warum?“
„Wir wissen weiterhin“, sagte Pfeiffer, „dass der Mann sehr gut organisiert ist und planvoll vorgegangen ist. Das mit mir und Maria war ein Geheimnis. Niemand wusste davon. Er schon. Das heißt, er muss mich zuvor überwacht haben. Sie wahrscheinlich auch.“
Berger wurde rot und biss sich auf die Lippen. Er sah nun noch unglücklicher aus.
„Wir wissen weiterhin“, sagte Pfeiffer, „dass der Mann deutlich jünger ist als Sie und ich. Was immer wir ihm getan haben, es muss in den letzten zwanzig Jahren geschehen sein. Plusminus. Mehr fällt mir nicht ein.“
„Etwas haben Sie vergessen“, sagte Berger. „Wir wissen noch etwas über den Mann. Er ist brutal und gefährlich. Sehr gefährlich.“
Auf der Straße vor dem Fenster versuchte ein Crack-Junkie ihren Dealer herunterzuhandeln. Weinen, Schreien, Zerren an der Jacke, als der sich nicht darauf einließ.
Pfeiffer sah ihnen eine Weile gleichgültig zu, dann sagte er: „Okay, die entscheidende Frage ist jetzt: Was ist die Schnittmenge zwischen uns beiden? Was haben Sie und ich gemeinsam, das uns mit dem Täter verbindet?“
„Ich habe keine Ahnung“, sagte Berger. „Ich habe Sie noch nie im Leben gesehen.“
„Ich Sie auch nicht“, sagte Pfeiffer. „Und Sie wissen, was das bedeutet?“
„Was bedeutet es?“
„Striptease. Wir beide. Jetzt.“
Berger blickte ihn verständnislos an.
„Wenn die Verbindung zwischen uns nicht offensichtlich ist, dann liegt sie irgendwo im Detail verborgen. Das heißt, Sie und ich, wir werden uns jetzt unser Leben erzählen. Von Anfang an. Jahr für Jahr und mit schonungsloser Offenheit. Bis wir die verborgene Verbindung finden. Nur so finden wir auch diesen Dreckskerl, verstanden?“
Wieder wurde Berger rot, aber er nickte.

„Stopp!“, rief Pfeiffer eine halbe Stunde später. „Was haben Sie gerade gesagt?“
„Dass ich nach Frankfurt gewechselt bin, nachdem mein erstes Reisebüro in Karben so gut lief, dass ich …“
„Sie hatten ein Reisebüro in Karben?“
„Ja, wie ich sagte: meine erste Selbständigkeit.“
„Ich hab mal in Karben gearbeitet. Volontariat bei so einem Lokalblatt.“
Berger blickte auf. „Ich sehe trotzdem noch nicht die Verbindung. Hab ich vielleicht mal in dem Blatt inseriert?“
„Wo war Ihr Reisebüro? Ich brauche die genaue Adresse?“
Berger sagte es ihm.
Pfeiffer schüttelte langsam den Kopf. „Ich glaube es nicht“, sagte er. „Nach so langer Zeit…“
Dann blickte er Berger ins Gesicht und begann zu erzählen: „Damals, als Sie Ihr Reisebüro aufmachten, wollte ich ein großer investigativer Journalist werden. Ich war nicht zimperlich. Hab überall rumgeschnüffelt und in die Pfanne gehauen, wen ich konnte. Journalistische Standards? Hab mir da so die eine oder andere Nachlässigkeit zugestanden. War ja noch in der Ausbildung. Und hab nur für so Provinzblätter geschrieben, bei denen es nicht so genau genommen wurde. Jedenfalls hab ich in Karben mal so einen Imbiss öffentlich verrissen.“
„Oh nein“, sagte Berger. „Doch nicht etwa…“
„Eben der“, sagte Pfeiffer. „Ich hatte eine Nacht lang gekotzt, nachdem ich dort gegessen hatte. Am nächsten Morgen bin ich hin und hab mir jeden Hygienemangel notiert, den ich finden konnte und mir noch ein paar ausgedacht. Und dann einen gepfefferten Artikel geschrieben, der einen kleinen lokalen Aufruhr ausgelöst hat. Und das Ordnungsamt auf den Plan gerufen hat. Ich hab das weitere nicht verfolgt. Mein Volontariat war vorbei. Aber ich habe später gehört, dass der Imbiss schließen musste. Hatte das damals als großen Erfolg gebucht. Und dann völlig vergessen. Ich hätte nicht gedacht, dass mich das je wieder einholen würde.“
Berger blickte ihn fassungslos an. „Dass der Imbiss plötzlich schließen musste, war meine Chance auf die Selbständigkeit“, sagte er. „So günstige Räumlichkeiten hätte ich sonst nirgends bekommen.“
„Kann man Ihnen ja nicht vorwerfen“, sagte Pfeiffer.
„Nun, ich war vielleicht etwas hart gegenüber dem Vorbesitzer“, fuhr Berger fort. „Es gab damals ein Treffen mit ihm, der Vermieterin, dem Ordnungsamt und mir. Der Imbissbetreiber, Vossen war sein Name, hat gefleht und gebettelt, dass er noch eine Chance bekäme. Der Mann vom Ordnungsamt blieb hart. Vossen sollte seine Ausstattung nachrüsten. Zehntausend Euro hätte ihn das damals gekostet. Das Geld hatte er nicht. Er hat sogar mich angebettelt, es ihm zu leihen. Wollte mir Zinsen dafür zahlen, wenn sein Geschäft wieder laufen würde.“
„Sie haben ihm das Geld nicht geliehen?“
„Pah. Da hätte ich das Geld auch in den Müll werfen können. Die Spelunke warf ja so schon nichts ab. Der Mann musste schließen. Ich habe der Vermieterin angeboten, die Renovierung des Ladens komplett zu übernehmen und bekam den Zuschlag als Nachmieter. Wochenlang habe ich Tag und Nacht geschuftet, um den Laden auf Vordermann zu bringen. Der Fettgestank hängt mir heute noch in der Nase.“
„Es scheint, wir haben die Verbindung, die wir gesucht haben“, sagte Pfeiffer.
„Aber der Täter war nicht Vossen. Der müsste ja heute so alt sein, wie wir. Der Täter war ein junger Mann.“
Pfeiffer holte sein Handy heraus. „Ich habe Vossen nie gesehen“, sagte er. „Sie schon. Schauen Sie sich das Video noch mal an, ob sie ihn wiedererkennen.“
„Ich sagte doch, der Täter ist viel zu jung“, sagte Berger.
„Nicht der Täter“, sagte Pfeiffer. „Der andere.“
Berger blickte angestrengt auf den Bildschirm. Dann wurden seine Augen groß. „Er ist viel älter. Und viel fertiger“, sagte er. „Aber ja, der Mann, der vor meiner Haustür erschossen wurde, könnte Vossen sein.“
„Das macht schon wieder keinen Sinn“, sagte Pfeiffer. „Bis jetzt dachte ich, Vossen ist der, der einen Grund hat, sich an uns zu rächen. Aber jetzt ist er auch ein Opfer. Das will mir nicht recht klar werden.“
„Eins ist jedenfalls klar“, sagte Berger. „Es gibt noch zwei weitere Menschen, die damals involviert warten. Die Vermieterin und der Typ vom Ordnungsamt. Wir müssen sofort die Polizei informieren.“
„Nein“, sagte Pfeiffer. „Noch nicht. Lassen sie uns unsere Hypothese erst noch überprüfen.“

Pfeiffers Wagen war nicht für Observationen geeignet. Zu alt, zu klein und zu unzuverlässig. Und ohne Standheizung, was sich jetzt in den frühen Morgenstunden bemerkbar machte. Pfeiffers Blase drückte und er stieg aus dem Auto, um sich an einem Baum zu erleichtern. Er machte sich keine große Mühe, sich zu verbergen. Die Straße war menschenleer. Und wenn ihn doch jemand beobachtete, würde er denken, dass er aus dem Pflegeheim auf der anderen Straßenseite entlaufen war. Ein verbrauchter alter Sack, der nicht mehr an sich halten konnte. So sah er jedenfalls aus, wenn er in den Autorückspiegel blickte.
In dem Pflegeheim lebte Frau Siegmund, die ehemalige Vermieterin der unglückseligen Räume, die einmal ein Imbiss und dann ein Reisebüro gewesen waren. Und eines der nächsten potentiellen Opfer des verrücken Killers.
Es hatte eine Weile gedauert, bis er Berger davon überzeugt hatte, dass sie sich hier erst mal ohne die Polizei umsehen sollten. Sie waren jeder in seinem eigenen Auto nach Karben gefahren, einem Vorort von Frankfurt, und hatten sich die beiden Personen aufgeteilt, die sie überwachen wollen. Es hatte Pfeiffer nur einen Anruf in der Redaktion des Lokalblattes gekostet und sie hatten die Adressen von Frau Siegmund und Herrn Claus bekommen, der ehemaligen Vermieterin und des Beamten vom Ordnungsamtes. Während die alte Dame nun im Pflegeheim lebte, war Claus zum Chef der Behörde aufgestiegen. Und während Pfeiffer nun vor dem Pflegeheim Wache hielt, stand Berger vor einem Reihenhaus am Rande des Ortes.
Pfeiffer griff in die Manteltasche und fühlte nach dem Revolver, der darin steckte. Er wollte hier keine Hypothese überprüfen, wie er es Berger weisgemacht hatte. Er wollte das Schwein, das Maria auf dem gewissen hatte, selbst erledigen. Das war keine Aufgabe für die Polizei. Das war seine eigene, verdammte Pflicht.
Sein Handy klingelte. Es war Berger. Pfeiffer nahm das Gespräch an: „Alles klar, bei Ihnen?“
„Nein“, flüsterte es am anderen Ende. „Hier ist gar nichts klar. Mein Gott, sie müssen sofort kommen!“
„Was ist denn Los, verdammt?“, sagte Pfeiffer.
„Unsere Hypothese stimmt“, klang eine entsetzte Stimme aus dem Handy. Aber es ist komplizierter, als wir gedacht hatten. Oh, Gott, bitte kommen Sie schnell!“
Dann wurde die Verbindung unterbrochen.

Kapitel 3. Noah.
„Es ist die Liebe, die uns erschafft und uns zerstört. Die Liebe ist die einzige Kraft, die dazu imstande ist…“
Zu der Zeit als Christan Pfeifer wie ein Besinnungsloser gegen das bruchsichere Glas in den Räumen seiner Redaktion hämmerte, starb Maria, auf der asphaltierten Straße, nah Europapark. Ihre pechschwarze Locken flogen in dem Wind, sobald ihr Kopf auf dem harten Boden aufschlug. Die Pistole fiel mit einem dumpfen Geräusch aus ihrer Hand und blieb neben dem schlaffen Körper liegen. Sie hatte zarte Finger mit akkurat lackierten Nägel in der Farbe passen zu ihrem Mantel, deren weiches Kaschmir nun ausgebreitet in dem sommerlichen Staub lag.
Sie sieht aus wie ein roter Schmetterling, dachte Noah. Er warf das Handy zur Seite und stieg aus seinem Versteck. Mit wenigen schnellen Schritten erreichte er auf dem Boden liegende Frau. Der Pistole schenkte er nur einen desinteressierten Blick zu. Die sterbende Frau bekam mehr Aufmerksamkeit.
Er beugte sich zu Maria und sah einen Herzschlag lang in ihre schöne, große Augen, bis deren Strahlen allmählich verblasste. Eine Träne hinterließ glitzernde Spur auf ihrer blassen Wange. Noah streckte seine behandschuhte Hand und wischte die Träne weg, dann schloss er Marias Augenlider, für immer.
Danach drehte er sich schnell um und sah nach oben. Zu dem Fenster, hinter dem Pfeifer wie ein gehetztes Tier umher rannte. Noahs schmale Lippen zuckten verächtlich, sobald sich deren Blicke trafen. Der Journalist erstarrte hinter dem Glas und fing an zu schreien. Durch die geschlossene Scheibe drang kein Ton hindurch, doch man sah den Mund von dem Mann, der sich öffnete und wieder schloss. Noah ahmte ein paar Mal die Mundbewegungen von Pfeifer nach, wie ein Fisch der nach Luft schnappt und genoss die Verwirrung auf Pfeifers Gesicht. Dann drehte sich zu Maria und rief nach Hilfe. „Sie hat sich umgebracht! Rufen Sie schnell die Polizei, ich habe schon den Krankenwagen gerufen!“ Schrie er den Fußgenger zu. Dass Maria, keinen Krankenwagen mehr brauchen wird, wusste Noah natürlich. Doch lenkte dieser Satz die Aufmerksamkeit der Menschen ab.
Um Maria versammelte sich bereits eine kleine aufgeregte Passantengruppe und Noah nutzte die Gelegenheit, um sich zu fliehen.
Sein Apartment am Rande der Stadt, erreiche er erst spät abends, während das künstliche, gelbe Licht der Laternen bereit angefangen hat die Welt mit Sepiafarbe zu kolorieren. Sein Hund Sell, ein großer, brauner Ridgeback, wartete schon ungeduldig auf ihn.
„Hast du Hunger?“ Fragte er ihn beim Eintreten. „Natürlich hast du Hunger.“ Antwortete er sich selbst. Er lies den Pappkarton, den er mitgebracht hat auf den Boden gleiten und ging in die Küche. Die Futterschüssel von dem Hund füllte er mit braunen, streng riechenden Kroketten und goss etwas Wasser drüber. „Es war ein langer Tag.“ Sagte Noah zu dem Vierbeiner und stellte die gefüllte Schüssel in Größe einer Salatschale, auf den schmutzigen Boden.
Sell wedelte mit dem Schwanz und wartete auf die Erlaubnis zu fressen. Noahs Blick blieb auf dem Hund haften, doch er sah ihn nicht. Stattdessen sah er wieder die Augen von Maria, umrandet von dichten, schwarzen Wimpern und ihr Kaschmir-Mantel, und dachte, dass sie wie ein roter Schmetterling aussah. Traurig fragte er sich, ob diese Opfer wirklich notwendig waren. Und eine innere Stimme flüsterte zu ihm: „unvermeindlich“. Er schloss die Augen und hörte zu, wie sein Herz in seinem Brustkorb schlug, wie ein Uhrwerk regelmäßig und friedlich.
Das leise Winseln von dem hungrigen Hund ries Noah aus der Versunkenheit. Er gab Sell die Erlaubnis zu fressen und erblickte den mitgebrachten Karton, der immer noch auf dem Boden lag.
Er hob den Pappkarton und schüttelte ihn leicht. Das Klappern im Inneren der Schachtel bereitete ihm eine Freude. Er wiegte den Karton wie ein Baby in der Hand und brachte ihn schaukelnd zu einem großen Regal, das wie ein Altar geschmückt war.
Noah entfernte das transparente Klebeband mit einem Ruck ab und sah eine kleine Filtermaschine mitten in einem Haufen Papierschnipsel liegen. Das Gerät war alt und hatte einen Sprung in dem Korpus. Noahs Finger berührten die Blutflecken an der Stelle, wo die Verkleidung gesprungen war. Das Gerät strömte ein intensives Kaffe-Geruch aus und erinnerte Noah daran, dass er selbst heute kein Kaffe getrunken hat.
Doch diese Maschine wird nie wieder das braune Gebräu ausspucken. Sie bleibt für immer ein leeres, totes Gefäß, so wie ihr ehemaliger Besitzer.
Noah schob er die Maschine behutsam ins Regal, zu einem wie ein Weihnachtskugel aussehendem Gegenstand, das in Wirklichkeit ein Knoten war. Ein Knoten, gebunden aus einer grünen Krawatte, mit goldenen Eurozeichen darauf.
Ein Objekt fehlte noch in der Sammlung. Daran dachte Noah, als er sich von dem Regal abwandte und in sein Arbeitszimmer ging.
Der spärlich möblierter Raum wirkte unspektakulär. Hochinteressant war allerdings die Wand. In der Mitte der Wand war ein Baum gemalt. Die Geldscheine, stellten die Blätter dar. Es waren allesamt Eineuro Scheine, die mit langen Nadel an dem Putz der Wand befestigt waren. Wenn jemand diese nachgezählt hätte, hätte sich eine Summe von genau zehntausend ergeben. Doch außer Noah und Sell war Niemand in diesem Raum gewesen. Niemand außer den beiden, bekam den Baum und die Bilder, die neben den Scheinen klebten, je zur Gesicht.
An der Stelle, wo der Baum einen dunklen Stamm hatte, hangen diverse Papierblätter. Unterlagen, Karten, Fotografien. Mittig sah man ein kariertes Blatt Papier auf dem drei Namen standen.
Noah holte roten Edding und betrachtete die kurze Liste aufmerksam. Berger, Pfeiffer, Offenbach, waren drei Namen, die auf dieser Liste standen.
Berger war bereits durchgestrichen, neben Pfeifer stand ein dicker Punkt, Offenbach war mit einigen Stricken umkreist.
Noah strich den Name Pfeiffer entschieden durch. Einmal, dann noch ein Mal. Urplötzlich rammte er den roten Stift mit einer Wucht gegen die Wand, dass die Spitze abbrach und die Kunststoffhülle splitterte. Ein Splitter blieb in seiner Haut stecken und er zog es langsam heraus. Sell der aufgesprungen war und ihn besorgt beäugte, roch das Blut und fing an, die Tropfen auf dem Boden abzulecken. Noah beobachtete ihn eine Weile, dann drehte er sich wieder zu der Liste. Er berührte den Namen Offenbach mit dem Zeigefinger und hinterließ einen blutigen Abdruck.
“Die Fuchse sind raus, es wird die Zeit, einen Löwen zu jagen.“ Sagte er. Dann sah er seinen Hund an, der ihn nicht aus den Augen lies. „Nun Sell, was meinst du. Wollen wir einen Löwen jagen?“ Her Hund entblößte eine Reihe scharfer, weißer Zähne und hechelte. Ja, diesmal jagen wir einen Löwen, dachte Noah. Und wir werden nicht aufhören, bis er tot ist. Selbst wenn, es womöglich unsere letzte Jagd sein wird.
Sein Handy klingelte.

Maria

Zuvor …

Maria öffnete die Haustür.

Ein junger Mann stand davor, der sie ernst ansah.

„Hallo, ich bin ein Mitarbeiter von Christian. Er möchte, daß Sie sich ein Video ansehen.Sie wüßten Bescheid,er sollte sich inzwischen gemeldet haben.“

„Bescheid? Nein,angerufen hat niemand.Vielleicht eine Nachricht auf dem Handy. Ich habe noch nicht nachgesehen.“

„Kein Problem“,erwiderte der Fremde, “ich habe das Video hier.“

Er hielt ihr sein Handy entgegen, auf dem ein Standbild zu sehen war.“Sehen Sie es sich einfach kurz an“.

Etwas irritiert nahm Maria das Handy an. Wenn es von Christian kam, war das ja in Ordnung. Anschließend konnte sie ihn immer noch anrufen. Oder der junge Mann würde hinterher erklären, was Christian von ihr erwartete.

Sie startete das Video.

Zwei Männer, einer nicht sichtbar, da er das Video drehte, sowie ein älterer Herr, der an einer Haustür erschien, nachdem der Filmer geläutet hatte.

Ein Dialog entspann sich, wie er irrer nicht sein konnte. Maria dachte zuerst an eines der vielen Spaß-Videos, die im Netz kursierten, jedoch passte der Tonfall des Gesprächs nicht zu einem lustigen Clip.

Als sie dann in Großaufnahme sah, wie sich der andere Mann erschoss, zuckte sie zusammen und hätte beinahe das Handy fallen lassen. Reaktionsschnell griff der Fremde zu und nahm es ihr ab.

Maria war geschockt und genauso sah sie den Fremden auch an. Sie wartete auf eine Erklärung.

Sollte sie die Polizei rufen? Einfach zurück ins Haus und abschließen? Oder Christian anrufen! Ja, er hatte den Mann ja geschickt, oder?

Statt dessen blieb sie stehen und hörte den Mann reden.

„Ich werde Ihnen jetzt sagen,was Sie für mich tun werden“,begann er. „Sie werden mich begleiten, und wenn ich es Ihnen sage, werden Sie sich erschießen.“

Beinahe hätte sie gelacht, aber die Situation war alles andere als komisch. Was verlangte dieser Kerl von ihr? Der kam doch niemals von Christian.

„Wer sind Sie? Sie kommen doch nicht von Christian,das ist doch Irrsinn.“

Der Fremde lächelte kurz. „Eine kleine Notlüge,ich gebe es zu. Aber Sie müssen ihm trotzdem bei etwas helfen,nämlich dabei, zu überleben. Wenn Sie sich nicht erschießen,wird nämlich er sterben. Ihre Entscheidung.“

Und jetzt stand sie also gegenüber dem Bürotower, in dem Christian arbeitete, die Hände in die Manteltaschen vergraben und einen Revolver umklammert, dessen Griff von ihrem Handschweiß feucht war.

Auf der anderen Straßenseite stand ER und telefonierte. Mit Christian, aber das konnte sie auf die Entfernung und durch den Verkehrslärm nicht hören.

Zögerlich hob sie den Blick, hinauf zu Christians Fenster und erschauerte, als sie ihn dort sah.

Im selben Moment war er auch schon wieder verschwunden.

Der Fremde sah zu ihr herüber, machte auf sich aufmerksam.

„Wenn ich das Zeichen gebe,nehmen Sie den Revolver,stecken ihn in den Mund und drücken ab“, hatte er gesagt, „dann bleibt Christian am Leben.“

Sie zitterte. Jeden Moment konnte er ihr das tödliche Zeichen geben.

Würde sie sich wirklich für Christian erschießen? Vielleicht war doch alles nur ein böser (ein sehr böser) Scherz?

Aber wenn sie es nicht tat, hatte sie ein Leben auf dem Gewissen. Es konnte doch nicht wirklich so enden? Sie wollte sich nicht töten, und doch …

Das Zeichen!

Ihr Herz übersprang einen Schlag, dann zog sie die Hand mit dem Revolver aus der Tasche …

…und bei null hörte er den Schuss.

Christian fiel das Handy aus der Hand. Hatte er bis zuletzt die winzige Hoffnung gehabt, alles wäre nur ein böser Scherz, so hatte ihn der Schuss gnadenlos vom Gegenteil überzeugt.

Er rannte zum Fenster, wollte es eigentlich nicht sehen, nicht wahrhaben, Aber er brauchte Gewissheit.

Schwer stützte er sich auf die Fensterbank, blickte hinunter auf die andere Straßenseite und sah sie.

Maria.

Stand da, hielt den rechten Arm ausgestreckt und zielte mit einem Revolver auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dann fiel die Waffe aus ihrer kraftlos gewordenen Hand, sie sank auf die Knie und erlitt einen Nervenzusammenbruch.

Während die Passanten nach dem Schuss Abstand zu ihr genommen hatten, versammelten sie sich auf der anderen Seite um den Mann, der reglos auf dem Pflaster lag.

Polizeipräsidium Frankfurt am Main

„Kolleeeeegen!“, Hauptkommissar Walther unterstützte seinen Ordnungsruf mit einem Klatschen in die Hände. Langsam ebbten die Stimmen ab und Walther schaute zufrieden in die Runde. Es kam nicht häufig vor, dass er sich in der Form in Szene setzte, aber die Diskussion drehte sich nun schon eine Weile im Kreis.
Er war nicht dafür bekannt, einen autoritären Führungsstil zu pflegen. Das hätte auch nicht zu ihm gepasst. Knapp 1,70m gross, um die Hüfte breiter als um die Schultern und dazu mit einem Haarkranz um das lichte Haupt, sah er aus wie ein gemütlicher Opa. Dabei war er gerade mal Ende 40 und seine einzige, spät geborene Tochter soeben erst in der Pubertät angekommen. Enkelkinder waren somit noch lange nicht in Sicht.
Seine körperliche Konstitution hätte auch fast seine Polizeilaufbahn verhindert. Was hatte er sich durch den 3000m Lauf gequält. Auf der letzten Rille konnte er dann mit Mühe und Not die Normzeit unterbieten. Und heute? Bräuchte er nur das deutsche Sportabzeichen vorzeigen und hätte sich das alles gespart. Die Welt war definitiv nicht gerecht. Den damaligen Kommentar seiner Frau, einer passionierten Hobbyläuferin, dass sie die Strecke in seiner Zeit gerne als Warmlaufübung vor einem Intervalltraining absolvierte, ignorierte sein Gedächtnis dabei geflissentlich.
Dafür waren seine Denkleistungen umso erstaunlicher. Kein Team in der Mordkommission des Polizeipräsidiums Frankfurt am Main hatte eine so hohe Aufklärungsquote wie seines. Und aufgrund der konstanten Auftragslage beschäftigen sich dort einige Teams mit Mordaufklärungen. Sein Instinkt gepaart mit starken analytischen Fähigkeiten, führte ihn dabei fast immer auf die richtige Fährte. Aber das heute hier schien solch ein „fast“-Fall zu sein.
Niemand im Team hatte eine Idee zu Motiven oder Motivationen. 10000 Euro sind sicher viel Geld, auch für einen verbeamteten Kommissar einer Mordkommission, aber dafür jetzt schon das zweite Todesopfer?
Im Wesentlichen drehte sich die Diskussion bis soeben um die Frage: „die oder wir“. Überliess man Team Kusewitter den Fall, denn die hatten ja schliesslich beim Berger bereits angefangen zu ermitteln? Oberkommissar Matthias Malzahn repräsentierte die Fraktion „die“. Er hatte dabei wohl vor allem das Spiel seiner SGE gegen den VfB im Kopf. Wenn sie jetzt anfingen, in den Fall einzutauchen, konnte er sich schon langsam Gedanken machen, an wen er denn sein Ticket noch los würde. So kurz vor Spielbeginn dazu.
Seine Kollegin Valerie Kaminski dagegen war durch den Tod der Frau tief erschüttert und hoch motiviert, sofort in die Ermittlung zu starten. Wenn Matthias mal wieder den Allerwertesten nicht hochbekam, war ihr das herzlich egal. Kusewitter hat doch keine Ahnung. Ihm die Fälle zu überlassen, bedeutete, die Akten gleich in den Schrank mit dem Aktenzeichen „XY Ungelöst“ zu packen. Nein, das würde sie nicht zulassen!
Aber jetzt schauten die Streithammel zu ihrem Chef und erwarteten gespannt, auf wessen Seite er sich denn schlug.
Walther dagegen ging gar nicht auf die Frage ein. „Mir erschliesst sich die Sache einfach nicht“, sinnierte er. „Wieso erschiesst sich jemand vor der Haustür im Höchst und wieso eine zweite Person kurze Zeit später im Europaviertel. Und das nur weil das Video vom ersten Vorfall ein paar Sekunden zu spät im Online-Portal von diesem Käseblatt hochgeladen wurde?!“
Malzahn trommelte mit den Fingern auf dem Tisch und schaute ungeduldig zwischen seinen beiden Kollegen hin und her. „Hannes, ich verstehe, dass das ein interessantes Rätzel für dich ist. Aber das ist Kusewitters Fall. Der war schon bei dem Berger vor Ort, hat die stundenlang vernommen. Wir können ihm doch jetzt nicht einfach so reinfunken“. Mit einem Seitenblick auf Valerie, die zum Sprechen ansetzte, fügte er an „natürlich berührt mich das auch, aber wir können doch nicht immer die Welt retten wollen!“
Valerie rollte mit den Augen. „Ja klar interessiert dich das, nicht ganz so sehr, wie die Frage, wer bei Eintracht heute der zweite Torhüter ist, aber es berührt dich…“. Spöttisch musterte sie ihren Kollegen. „Ich habe auf jeden Fall Brkcic schon einmal gebeten, ein paar Fakten zur Toten zusammenzutragen. Er hat zwar jede Menge Anfragen auf dem Tisch, aber wollte sich zwischendurch Zeit nehmen für uns. Vielleicht bringt uns der Weg ein wenig weiter.“
„Konnte er deinen Rehaugen nicht wiederstehen?“, versuchte Malzahn sie aufzuziehen.
„Klappe!“, konterte Valerie kühl. Sie hatte keine Lust, sich mit ihrem attraktiven Äusserem aufziehen zu lassen.
Auch im Jahr 2024 hatte es Frau in der von männlichen Alphatieren und Super-Egos durchsetzten Frankfurter Polizeibehörde noch immer nicht einfach. Dass sie gleichzeitig mit Malzahn zur Mordkommission gestossen war und erst 2 Jahre nach ihm zur Oberkommissarin befördert wurde, war ein Skandal. Sie hatte sich damals nirgends beschwert. Ihre Karten wären nicht so schlecht gewesen, denn der Leistungsausweis konnte nicht die Grundlage für diese Behandlung gewesen sein. Stattdessen hatte sie bei der Arbeit noch mehr Gas gegeben. Irgendwann kam Mann dann nicht mehr an ihr vorbei. Wenn sie dann wirklich mal einen kleinen Vorteil aus ihrer Geschlechtszugehörigkeit ziehen konnte, nicht einmal für sie persönlich, hatte sie keine Lust, sich ausgerechnet von Malzahn dumm kommen zu lassen.
„Leute! Bleibt mal bitte bei der Sache.“, mischte sich Walther wieder ein und kam auf Malzahns Einwand zurück. „Kusewitter kann das nicht alleine mit seiner Truppe machen. Ich weiss noch nicht, was uns erwartet, aber das war noch lange nicht alles. Da können wir uns sicher sein. Wir müssen unbedingt heraus bekommen, worum es hier wirklich geht“ Er legte seine Stirn in Falten, stand auf, nahm einen Stift in die Hand und trat zum Flipchart.
„Richard Berger, Christian Pfeiffer, Maria Kamps, unbekannt 1, unbekannt 2“ kommentierte er die Namen, die er auf das weisse Papier schrieb.
„Du hast Dorothea Berger vergessen“, warf Valerie ein.
„Genau du hast Recht“ nickte Walther und fügte Richard Bergers Frau hinzu. Dann malte er eine Linie von Maria zu „unbekannt 1“. Eine Zweite verband Berger und Pfeiffer. „Wo ist die Verbindung? Gibt es eine Beziehung unter den Toten? Oder zwischen den Zielpersonen?“
„Wer sagt uns, dass es überhaupt solch eine Verbindung gibt?“, hakte Malzahn ein, der eingesehen hatte, dass er mit seiner Verweigerungshaltung gegen seine Kollegen nicht ankam. „Vielleicht war das nur Mittel zum Zweck? Er hatte es eigentlich auf Berger abgesehen und um Aufmerksamkeit zu bekommen, hat er dann Pfeiffer benutzt.“
Valerie schüttelte den Kopf „Glaube ich nicht. Das wäre doch arg heavy. Er hätte das doch nur irgendwo hochladen brauchen und das hätte sich wie ein Lauffeuer von selber verbreitet, ohne das jemand hätte was machen müssen“.
„Das kann sein“ erwiderte Matthias Malzahn. „Aber wenn du es selber hochlädst, hinterlässt du natürlich viel mehr Spuren. Ausserdem könnte es gut sein, dass dann der Contentfilter bei den Plattformen zuschlägt und du gar nicht so weit kommst.“
„Haben wir denn hier keine Chance über den Cloud-Speicher an die Person ranzukommen?“ überlegte Walther. Online Medien waren jetzt nicht so seine grösste Stärke.
„Theoretisch schon, aber erstens dauert das, bis die die Daten rausrücken. Dazu reicht für diesen Dienst eine nichtssagende Email-Adresse als Identifikation und hochgeladen wurde das garantiert mit VPN, Proxy und was weiss ich… Keine Chance.“ antwortete Malzahn.
„Was ist eigentlich mit den Beteiligten? Den Bergers und Pfeiffer?“ fragte Valerie. „Können wir die nochmal vernehmen?“
„Die Bergers können wir nicht vernehmen, die gehören Kusewitter! Davon rede ich doch die ganze Zeit Mensch!“ sprang Malzahn direkt wieder an. „Ausserdem werden die mittlerweile psychologisch betreut.“
„Was sollen die uns auch Neues sagen? Wir wissen doch gar nicht, was wir fragen wollten.“ Walther winkte ab und schritt vor dem Flipchart auf und ab. „Die Verbindung ist nicht zufällig! Davon bin ich fest überzeugt. Der Schlüssel ist Berger… oder vielmehr jemand im Hause Berger“, präzisierte er.
„Und es geht nicht um Geld“, warf Valerie ein. „Dafür ist der Betrag zu lächerlich. Hier will sich jemand rächen und zwar so, dass Berger nie wieder auf die Beine kommt.“
„Damit könnest du Recht haben“, stimmte Malzahn zu. „Alles andere ist…“
Er kam nicht dazu weiterzusprechen, weil Valerie in dem Moment aufstöhnte. „Ach du scheisse“, murmelte sie, während sie die Informationen in der Mail von Brkcic las. „Maria Kamps, geboren 1983 in Frankfurt am Main als Maria Elisabeth Berger, 1986 aufgrund häuslicher Gewalt aus dem Gewahrsam der Eltern genommen, adoptiert 1988 von Marion und Egbert Kamps.“
Malzahn hörte mit dem Trommeln auf, lehnte sich in seinem Stuhl zurück, fuhr mit den Händen durch seine kurzen braunen Haare, verschränkte sie hinter dem Kopf und murmelte, während sein Blick im Nichts festhing, „Na grossartig…“. Ob er jetzt die neu eingetroffene Information meinte, oder das soeben in weite Ferne gerückte Fussballspiel, war nicht genau zu erkennen.
Walther löste sich aus seiner Starre, ging zur Tür und drückte den Griff nach unten. „Ich hole jetzt Kusewitter.“