Offene Enden Teil 2: Schreib Teil 3

Zwei Tote innerhalb von einer Stunde an einem Sonntagmorgen waren selbst für Polizeidirektorin Carla Kunze eine Herausforderung. Zumal die Selbstmorde in einem Zusammenhang standen.

Nach einer durchgetanzten Nacht brummte ihr Schädel. Vielleicht war das Ecstasy noch nicht ganz abgebaut. Sie musste endlich damit aufhören so ein Zeug zu nehmen. Abgesehen davon, dass sie nicht dabei erwischt werden durfte, war sie langsam zu alt dafür. Nächstes Jahr wurde sie 40. Auf jeden Fall wäre es besser jetzt zu schlafen, als hier an ihrem Schreibtisch zu sitzen. Müde blickte sie auf das Foto einer toten Frau im roten Mantel.

Dass neben ihr Kriminalhauptkommissar Olaf Bose stand, machte die Sache auch nicht besser. Er war der beste Profiler der Mordkommission und gleichzeitig der gefährlichste Mann hier. Sehr attraktiv, immer auf der Suche nach einem Abenteuer und psychologisch gewieft. Carla fand ihn einfach nur heiß.

Er war ganz auf den Fall fokussiert. „Der Zeuge sagt, Maria Menzel habe sich sicher nicht freiwillig getötet“

Carla seufzte. Leider entsprach sie nicht seinem Beuteschema. Sie war drei Jahre älter und nicht blond. Mühsam riss sie sich zusammen und überlegte. „Die Spurensicherung sagt, dass Maria sich aber selbst getötet hat. Genauso wie Thomas Haase vor dem Haus der Bergers. Ich frage mich nur: Warum?“

Olaf Bose beugte sich vor, nahm die Unterlagen in die Hand. Dabei streifte sein Oberarm Carla. Sie atmete langsam und tief ein. Selbst sein Geruch war verführerisch.

Olaf Bose blätterte in der Akte. „Maria Menzel und Thomas Haase arbeiteten beide bei ZetQu. Sie als Blockchain-Entwicklerin, er als Projektmanager. Beide waren ledig und kinderlos.“

Mit einer Hand zerzauste er sich die Haare. Carla lief ein heißes Schaudern den Rücken hinab. Sofort blickte sie wieder auf das Foto. „Eine weitere Frage ist, wieso wird ausgerechnet Berger erpresst? 10.000 Euro. Das ist doch lächerlich.“ Sie sah wieder zu Olaf. Er war für sie wie ein Feuer, gefährlich aber absolut faszinierend. Morgen lasse ich mich blondieren, dachte sie.

„Kannten sich die Personen?“ Bose sah Carla mit seinen intensiven grünen Augen an.

Die richtete sich auf. Brust raus, Bauch rein. Hoffentlich merkte er nicht, wie sehr sie ihn anhimmelte. „Alle sind katholisch und wohnen in der gleichen Gegend wie die Bergers. Wir befragen gerade die Kirchengemeinde.“

Sie nahm einen Schluck Wasser aus der bereitstehenden Flasche, gegen die Kopfschmerzen und zum Abkühlen. Dann fuhr sie fort: „Aber viel wichtiger ist schnellstmöglich den Mann zu finden, der die Videos erstellt. Wer weiß, was der noch plant.“

Olaf Bose hielt unverwandt den Blick auf sie gerichtet. Völlig unvermittelt sagte er: „Du hast schöne braune Haare.“ Seine raue Stimme ließ Carlas Puls schneller schlagen. Hatte sie doch eine Chance?

Fieberhaft wirbelten ihre Gedanken durcheinander. Was sollte sie antworten? Die üblichen Anmachsprüche waren riskant. Sie hatte sich nicht mühsam auf die Position der Polizeidirektorin hochgearbeitet, um die nun wegen sexueller Belästigung wieder zu verlieren. Aber sie wollte Olaf Bose unbedingt. Am liebsten jetzt, sofort.

Plötzlich klingelte das Telefon. Carla hob genervt ab. „Ja?“ Ihre Stimme klang belegt.

„Eben ging ein Notruf ein. Eine Frau hat sich erschossen. Auf der Drahtbrücke. Ein Mann hat alles gefilmt und rennt gerade Richtung Altstadt. Der Anrufer folgt ihm im angemessenen Abstand mit dem Fahrrad.“

Carla Kunze sprang auf. „Schicken Sie sofort alle verfügbaren Streifenwagen dorthin. Nehmen Sie den Mann fest.“

Helene Weißenbach hechtete auf Maria zu.
«Nein! Tu das nicht.»
Noch im Flug schaute Helene im Zeitraffer zu, wie Maria auf den Bürgersteig klatschte. Hinter ihr ein großer Fleck aus rotem Matsch. Helene rollte sich ab, so wie sie es im Self Defence Training gelernt hatte, so wie es jetzt in Fleisch und Blut übergegangen war. Ihr Zorn überwog der Trauer um ihre innig geliebte Schwester, sie griff kurz die warmen Finger und sprach ein Gebet. Dann schwor sie Maria und sich selbst vor Gott, ihn, Christian Pfeiffer, aus seinem Prinzenbunker, seinem Glaspalast zu schleifen und ihm eigenhändig seine Journalistenzunge herauszuschneiden. Dort oben stand er, hampelte mit den Händen an der blassen Scheibe herum, als wollte er sie putzen. Dabei war das Einzige, was sie ihn jemals hatte, putzen sehen, seine Kaffeemaschine gewesen. Helene streifte sich eine blonde Strähne hinters Ohr und rannte los, sprang über die betonierten Poller im Seitwärtsschwung und in der Hocke über die hohe Rotdornhecke. Ihr Atem ging gleichmäßig und fast zu ruhig. Ohne ein Wort stieß sie durch die untere Glastür und brachte mit einer kurzen Hebelbewegung den Securitymann zu Fall.
«Sorry, bleiben sie verdammt nochmal einfach liegen.»
Der gläserne Fahrstuhl, viel zu langsam. Sie würde die Stufen, drei auf einmal, viel schneller hochgespurtet sein und noch, ehe das rote Signal aufleuchtete und die Türen mit einem Ping öffneten, war sie fünf Stockwerke gerannt. Ein Pulk von Leuten stieg aus und sie entschleunigte sich etwas, um nicht so aufzufallen.
Pfeiffers Büro lag direkt vor ihr. Sie sah Schatten durch Milchglas, ein Bild, das ihr eine kurze Kindheitsassoziation einbrachte, Omas dicke Brille. Alles verschwommen, jetzt auch. Sie kniff die Augen zusammen. Der Türgriff eisig. Die Luft zu warm. Das Licht zu grell und die Menschen hier zu oberflächlich geworden. Investigativ war hier keiner mehr wirklich unterwegs. Früher, als sie hier noch ihre Abteilung leitete, gab es Reportagen, die ins Fleisch schnitten. Wahrheiten, bei denen die Zeitungen Tränen bluteten und die Leser laut Ah und Aha riefen. Da wurden nicht die falschen Leute auf offener Straße hingerichtet oder dazu gezwungen. Gott im Himmel. Dachte sie. Diese selbstherrliche Mid-Century-Figur von einem Journalisten schlich immer noch hier umher und schlürfte seinen Kaffee, wie dekantierten Wein. Er hatte immer noch nicht kapiert, dass er nicht die Eier hatte die Dinge anzugehen und Entscheidungen zu treffen. Hatte immer noch nicht kapiert, dass er hier oben nicht zu suchen hatte. Maria hätte längst auf seinen Posten sein sollen. Doch Maria lag im Rinnstein und Helene wusste warum. Aber gleich würde sie dieses Warum, ein für alle Mal auslöschen, von dieser Welt tilgen, ihm einen Freiflug hinunter an Marias Seite buchen. Letzte Worte? Fehl am Platz. Niemand wollte deine Worte zu Lebzeiten lesen, warum sollten die Letzten wichtiger sein?
Sie hörte ihren Ausbilder im Kopf, wie er sagte, Helene sie haben mehr Eier als jeder Mann, den ich hier je ausgebildet habe. Dann kam noch Gefasel von Respekt und irgend so ein Männergeschisse. Sie brauchten das eben, ihre muskelbepackten Kollegen. Ich nicht, dachte sie, Helene Weißenbach brauchte keine Lobhuldigungen, keine Urkunden kein Lametta. Nur Wahrheit, Geradlinigkeit und vor allem Gerechtigkeit. Und was sie nicht brauchte, waren Dummköpfe in Positionen, wie Christian Pfeffer. Ein Dummkopf der Gleichheit nicht von Gerechtigkeit unterscheiden konnte und genauso schrieb. Die Tür zu seinem Büro schoss auf unter ihrem Tritt. Sie knallte über den Stopper hinaus. Sie zerbarst in tausend Kleinteile, als wäre sie gesprengt worden.
«Pfeiffer», sagte sie.
«Was zum Henker tun sie hier? Sie haben Hausverbot im gesamten Laden.»
«Heute ist es so weit. Keine Ausreden mehr. Du hättest es verhindern können, doch nicht mit den Entscheidungen einer verdammten rückgratlosen Schnecke», sie schrie es hinaus wie einen Fluch. Pfeiffer zucke zusammen und presste sich rücklings an die große Fensterfront.
«Ja, du selbstgerechter Kerl, du hättest es verhindern können. Jetzt wirst du vorrücken an die nächste Position im Spiel. Und ich würde es nichtmal verhindern wollen, selbst wenn ich es könnte.»
Die Kälte der Scheiben fraß sich in seinen Rücken und die Botschaft floss wie ein Gift in sein Blut.
«Du weißt es? Du weißt, worum es geht?»
«Es geht nur um eine Entscheidung. Jeder kann es unterbrechen, doch niemand trifft diese Entscheidung ohne zögern. Ich werde sie treffen ohne zögern und ich treffe sie jetzt.»
Sie zog eine Pistole aus ihrer Gürteltasche und hielt mit beiden Händen auf ihn zu. In der rechten die Pistole und in der Linken ein Handy. «Jetzt nutze deine zweite Chance und rette wenigstens deine Familie, sie werden schon dort sein. Nur mein Video kann ihren Tod noch verhindern. Die Zeit läuft. Du hast 60 Sekunden.»
«Ahh!», schrie er, «Ahhhhh. Was? Verdammt.»
Das Wort Familie brannte sich durch sein Hirn in sein Bewusstsein. Zweite Chance, was? Was tun? Die Scheibe hinter ihm wurde von zwei Schüssen gesprengt. Die Splitter trafen ihn, regneten in den Raum und fünf Stockwerke tiefer in einem rauschenden Regen, auf die Straße. «Ich mache es dir leicht. Spring jetzt. 40 Sekunden. Denk an Iris und Ben, deine Kinder. Denk an Selma und Isolde deine arme Mutter, hat sie nicht schon genug gelitten als Kriegskind.»
«Ihr seid doch alle völlig meschugge!»
«20 Sekunden.»
«Du steckst da mit drin.»
«Wenn ich schießen muss, hast du nicht nur Maria auf dem Gewissen, sondern auch deine gesamte Familie!»
Seine Hände schoben sich vor sein Gesicht und Tränen liefen darunter heraus. Er schluchzte etwas.
«Hör auf, hör auf … ich oh mein Gott, mein Gott, meine Kinder? Ihr Teufel, ihr verdammten Teufel. Ihr verfluchten Teufel.»
Die Fertigkeit der Hände spritzte in den Raum, als er sie abrupt löste und wie ein Stein nach hinten fiel. Er hörte Helenes 5 Sekunden Botschaft, doch sie würde nicht schießen müssen. Bei zwei hörte sie es platschen und knacken. Ein Bund nasser Wäsche mit morschem Holz.
Ihr Handy filmte über den Rand der Brüstung. Unten standen drei Gestalten, zwei Männer und eine Frau. Alle trugen schwarz. Sie nickten kurz, als sie hochschauten.
Helene Weißenbach spürte die Hand ihres Ausbilders auf der Schulter, wie so oft, aber diesmal war es kein gutes Gefühl.

Der Anflug

Sebastian Kohut sah hinunter auf die Mündung des Mains in den Rhein. Diese Schleife noch, und der langsame Direktanflug auf die Landebahn Nordwest begann. Seinem Kollegen rechts von ihm sank der Kopf auf die Schulter; Stefan war nach dem langen Flug aus Tokyo eingeschlafen. Der eine zu alt, der andere zu labil, dachte Sebastian. Fliegen ist auch nicht mehr das, was es mal war. Die nehmen heute jeden.

Hinter ihm öffnete sich die Cockpit-Tür, Brigitt trat ein, die weißblonde Chef-Stewardess. Was man nicht mehr sagte, es hieß jetzt Flugbegleiterin, was Sebastian herzlich egal war. Margot drückte sich mit ihrem Silikonbusen fest an seine rechte Schulter und legte ihre warme Hand auf seine linke. »Kaffee, Sebastian? Oder lieber nachher im Sheraton?«

»Raus hier, Brigitt. Wir sind im Anflug. Vielleicht später.«

Wie ihn diese Fliegerei seit Jahren ankotzte! Zweimal die Woche diese selbstüberzogenen Managerheinis mit ihren Laptops und aufgeblasenen Egos durch die überheizte Atmosphäre zu fliegen. Die hatten keine Ahnung, wem sie da ihr Leben anvertrauten. Morgen musste er wieder einmal zu einem Assessment, einer psychologischen Überprüfung, angeblich war er suizidgefährdet. Hoffentlich warfen die ihn endlich raus! Nachdem seine Frau ihn wegen der Fliegerei und der vielen kleinen Affären verlassen hatte und sein Sohn wegen Drogen aus dem Internat auf Schloss Salem geflogen war, hatte er im Frust fast sein ganzes Geld an der Börse verzockt. Einmal war er nur gerade eben durch die Alkoholkontrolle gekommen. Das nahm die Gesellschaft alles sehr ernst. Viel zu ernst. Es war doch eh alles egal. Die Dinger flogen heute doch so gut wie von allein.

Suizid, so übel klang das gar nicht. Endlich Schluss mit dem ewigen Jetlag. Wie oft hatte er daran gedacht, die Scheiß-Maschine an einen Hang des Himalaya zu knallen und endlich wäre Ruhe. Die Frachtluke zu öffnen, wie früher beim Bund, als er eine Transall geflogen hatte, mit der das ging, und den ganzen Schwung geldgeiler Idioten mit all ihrem wichtigen Scheiß in den Pazifik abrauschen zu lassen.

Geldgeil. Da war doch was gewesen. Ach ja. Bei der Zwischenlandung in Dubai hatte er das auf dem Handy gesehen. Da hatte sich einer erschossen, weil ihm ein anderer nicht sofort zehn Riesen gegeben hatte. Und anschließend war eine Frau erschossen worden, weil ein Journalist nicht binnen zweier Minuten darüber berichtet hatte. Irgendjemand brauchte ganz dringend Geld, hatte ein Kommentator geschrieben. Viel Geld. Sebastian hatte den Artikel dazu nur überflogen. Angeblich ging es auch um Empathie; den meisten Menschen war ihr Geld wichtiger als andere Menschen. Das konnte er gut verstehen, es waren doch eh alles Idioten. Dem Journalisten war zwar eine Frau wichtiger gewesen als sein Berufsethos, und Geld war da nicht im Spiel gewesen; doch auch das war laut Kommentar eine Art Verrat an den Regeln des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewesen. Jemand, vermutlich eine Gruppe der üblichen Verdächtigen, war da schwer am Manipulieren. Fridays for Future in erwachsen und bewaffnet, dachte er.

Er hätte Stefan längst wecken müssen. Die Flughöhe lag längst unter 3000 Meter, sie waren in der kritischen Phase des Anflugs. Es galten die Sterile Cockpit Rules, die alles verbaten, was nicht strikt dem Flugbetrieb galt.

Prompt rappelte sein Handy in seiner Brusttasche. Er war zu faul und lustlos gewesen, es extra auszustellen. Handys waren ebenfalls streng verboten, aber er machte das immer, mit einem Hörer im Ohr, es konnte ja wichtig sein. Er tippte an seinen Ohrhörer, die Augen weiter auf die Instrumente gerichtet, die allerdings genau das zeigten, was der Autopilot von ihnen verlangte. Wie immer. Wozu saß er hier eigentlich noch? Die KI konnte das alles längst besser als jeder Mensch.

»Sebastian. Gott sei Dank, du gehst ran.«

Es war Mirja Köhler, seine Finanzberaterin. Die hatte ihn eine Zeitlang immer und überall erreichen dürfen. Aus verschiedenen Gründen. Allerdings war jetzt sein Geld so gut wie alle. Was wollte sie?

»Hör gut zu. Wir haben so gut wie keine Zeit. Neben mir steht ein Mann mit einem Auslöser in der Hand. Die sprengen den Commerzbank Tower in die Luft, wenn du nicht sofort tust, was die sagen. Pass auf.«

Sie waren inzwischen über Rüsselsheim. Viel Zeit blieb nicht. In Stefans Brust kämpfte der letzte Rest Pflichtbewusstsein mit dem morbiden Interesse, sich das anzuhören, was diese Verrückten wollten. Eine Männerstimme schaltete sich ein.

»Sie werden jetzt sofort ihren Kopiloten ausknocken und dann den Autopiloten ausstellen. Verriegeln Sie die Tür hinter sich. Und dann steuern sie ihren Airbus direkt ins Gebäude der EZB. So tief wie möglich. Sonst geht hier alles in die Luft. Handeln Sie. Jetzt.«

»Geht mir doch am Arsch vorbei«, Sebastian griff trotzdem schon mal nach der schweren Taschenlampe und zog sie aus ihrer Halterung. Stefan konnte er mit einem gezielten Schlag am Aufwachen hindern. »Mir scheißegal, was Sie tun wollen. Sie werden es doch sowieso tun.«

Er hörte Mirja keuchen, die sich wohl das Handy geschnappt hatte. »Sebastian, ich will nicht sterben. In der EZB sind heute sehr wenige Leute, bei uns dagegen ist alles voll mit Menschen. Hör zu. Ich habe im Namen deines Sohnes Optionen auf den Fall des Euros gegenüber dem Dollar gekauft. Er wird nie wieder Geldsorgen haben. Das ist alles, was ich für dich noch tun kann. Mach, was die verlangen! Du musst mich retten. Bitte!«

»Ich habe hier auch noch über zweihundert Schnarchsäcke an Bord, plus Personal«, hörte Sebastian Kohut sich sagen, obwohl er genau all die Pfeifen da hinten gerade eben noch liebend gern losgeworden wäre. »Und Noah kann mit Geld sowieso nicht umgehen. Warum also sollte ich das tun?«

»Letzter Aufruf«, knarrte die Stimme des Mannes. »Jetzt.«

Die Verbindung brach ab.

Sebastian stellte sein Handy aus und rüttelte seinen Kopiloten an der Schulter. »Stefan. Wir landen.«

Christian Pfeiffer setzte sich auf seinen Bürostuhl und verblieb eine halbe Stunde lang in einer Art Schockstarre, bevor er realisierte was sich soeben zugetragen hatte. Er versuchte aufzustehen, um einen Blick aus dem Fenster zum Park zu werfen, aber es gelang ihm nicht. Seine Beine versagten ihm den Dienst, nun kam seine Unsportlichkeit zum Tragen, die ihm Maria stets vorwarf.
„ Komm wenigstens einmal in der Woche mit ins Sportstudio oder lauf die paar Meter zur Arbeit. Hauptsache du bewegst dich und sitzt nicht den ganzen Tag auf deinem Hintern, Sitzen ist das neue Rauchen.“, hörte er sie sagen und das nervte ihn kolossal. Aber Pfeiffer lies sich nichts anmerken und tat so, als würde er ihre Anweisungen befolgen.
Er packte sich jeden Morgen zwei Granny Smith Äpfel, ein am Abend vorgekochtes Porridge und eine Flasche Mineralwasser in seinen Rucksack. Dann schwang er sich auf sein E-bike und radelte mit einem Fitnesstracker am Handgelenk in die Redaktion . Dort angekommen stellte er seine mitgebrachte Verpflegung den jüngeren Kolleginnen zur Verfügung, die wie seine Frau dem Gesundheit-und Fitnesswahn verfallen waren.
Er hatte seinen Filterkaffee und seine 8-10 Zigaretten, die ihn über Tag brachten, den anderen Schnickschnack brauchte er nicht.
Pfeiffer stützte sich auf seine Hände, die schwer auf dem Schreibtisch lagen. Mühsam stemmte er sie gegen die Tischplatte und stand schließlich mit seinen 1,90 m aufrecht im Büro, sein Blick fiel auf den goldenen Ring an seiner rechte Hand. Warum musste Maria ihn jeden Tag auf‘s Neue mit ihrem Plan quälen, ein gemeinsames, langes Leben aufzubauen. Er lief zum Fenster, nicht ohne seine halbvolle Tasse Kaffee mitzunehmen.
Blaue und gelbe Lichter blinkten vom Europapark herüber, die von einem Polizeiauto und zwei Krankenwagen in regelmäßigen Abständen abgeschickt wurden.
Pfeiffer war klar, das hätte nicht passieren dürfen, dass Maria nun tot auf einer Parkbank lag.
Aber vielleicht lebte sie noch, schoss es ihm durch den Kopf. Schnell lief er zum Schreibtisch und holte sein Fernglas aus der unteren Schublade. Hektisch drehte er an den Rädchen, um das Bild scharf zu bekommen, dann legte er sichtlich beruhigt das Fernglas zurück auf den Tisch. Über Marias Körper, der lang ausgestreckt auf der Bank lag, war ein dunkles Tuch ausgebreitet. Die Sanitäter waren damit beschäftigt ihren Notfallkoffer zusammenzupacken, sie sahen müde aus. Für Maria kam jede Hilfe zu spät.
Pfeiffer lief zur Kaffeemaschine und setze sich eine Kanne frischen Braunen an. Er grübelte, während ein aromatischer Kaffeeduft durch den Raum zog . Was war das gerade für eine perverse und zugleich perfekte Situation, ging es ihm durch den Kopf. Er hatte die Gabe blitzschnell auf neue Gegebenheiten zu reagieren und dieses Mal war er sich sicher, dass dies sein Glückstag war.
Er mochte Maria nach zehn gemeinsamen Jahren immer noch, aber ein weiteres Leben mit ihren ständigen Nörgeleien war seit einem Jahr keine Option mehr für ihn. So spielte der Anruf ihm in die Karten, und dass er mit diesem ganzem digitalen System in der Redaktion nicht sehr vertraut war, konnten seine Kollegen bezeugen.Er hatte eine Lösung für sein Problem auf dem Silbertablett serviert bekommen und sie genutzt, um sich seiner Frau zu entledigen. Pfeiffer spürte wie das Blut durch seine Gliedmaßen pumpte, sein Körper straffte sich und seine Kopfschmerzen verschwanden. Er war aus dem Schneider dachte er und grinste hämisch. Er ahnte nicht, dass er Teil eines perfiden Plans war….

Der Kommissar

Kommissar Frank Stahl von der Kriminalpolizei Frankfurt traf am Tatort ein. Ein Mann hatte sich selbst erschossen, nachdem er einen nichts ahnenden Mitbürger aufgefordert hat, ihm 10.000 Euro zu geben. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten den Tatort bereits genaustens unter die Lupe genommen und alle eventuellen Beweise gesichert. Das Bild, welches sich Stahl bot, war kein Schönes.

Der gepflegte Vorgarten, die sauberen Bodenplatten und direkt vor der Haustür eine große rote Pfütze. Darin lag der reglose Körper, eines älteren Mannes. In dem Notruf war von einem weiteren Mann die Rede, der alles gefilmt haben soll.

Stahl schritt vorsichtig über den Plattenweg, darauf besonnen nicht in Blut zu stehen. Er hatte seine schicken Wildleder Stiefel an, die seine Frau ihm geschenkt hatte. Der Notruf hatte ihn unmittelbar beim Sonntagsbrunch mit seiner Familie gestört. Aber so war das nun mal als Kommissar. Das Verbrechen kannte keine Sonn- und Feiertage. Stahl war gerade im Begriff zur Türe zu gehen, um das Ehepaar Berger zu den Geschehnissen zu befragen, als Laura Fischer, seine Kollegin ihm ihr Smartphone unter die Nase hielt.

„Haste das schon gesehen, Frank? Absolut absurd!“

Ohne etwas zu sagen, sah er auf den Bildschirm.

„Das erleichtert die Arbeit“, sagte er nüchtern. „So sparen wir eine Menge Zeit bei der Zeugenbefragung. Wer hat das Video hochgeladen. Der Unbekannte Filmer wird ja wohl nicht dumm genug gewesen sein, das selbst zu tun, oder?“, fragte Stahl in der Hoffnung, den Fall schnell ad acta legen zu können.

„Das war Christia Pfeiffer von der Onlineredaktion FGZ.NET“, antwortete Fischer.

„Wie kommt der so schnell an das Video? Da fahren wir als nächstes vorbei.“, beschloss Stahl.

Er hatte es immer noch nicht zur Türe geschafft, da klingelte sein Diensttelefon in der Jackentasche. „Stahl“, gab er sich dem Anrufer zu erkennen? Das Telefonat war kurz, aber es zeigte Wirkung. Sorgenfalten zogen sich über die Stirn von Frank Stahl. Die Muskeln in seinem Körper versteiften sich vor Anspannung. Den gemütlichen Sonntag mit der Famile konnte er vergessen.

„Ein weiterer Selbstmord“, berichtete er seiner Kollegin. „Eine junge Frau, auf dem Europaplatz. Ist da nicht auch die Onlineredaktion? Los wir fahren da hin!“ sagte er bestimmend.

„Was ist mit der Befragung der Bergers?“, fragte Laura.

„Das kann warten. Die laufen uns ja nicht weg und wir haben gesehen wie es passiert ist.“

Die beiden Polizeibeamten stiegen in den Dienstwagen. Mit quietschenden Reifen fuhr Laura Fischer los. Stahl kramte das Blaulicht hervor und befestigte es oben auf dem Dach des Autos. Etwa 7 Minuten später trafen sie am zweiten Tatort ein. Ein junger, etwas überfordert wirkender Streifenpolizist, versuchte eine Absperrung aufzubauen, um die ganzen Schaulustigen auf Abstand zu halten.
Stahl bahnte sich einen Weg durch das ungewünschte Publikum. „Immer diese widerlichen Gaffer“ schimpfte er und schob sich durch die Menge. In der Mitte der Menschentraube bot sich ihm das gleiche Bild wie zuvor bei den Bergers. Ein regloser Körper. Ein Loch im Kopf, wo keines sein sollte und eine große rote Pfütze.

Stahls Blick glitt suchend durch die Umgebung. Er fixierte die Fassade des hohen Gebäudes, auf dessen Dach das Logo der FGZ prangte. Eine kleine Bewegung, hinter der Fensterscheibe zog seine Aufmerksamkeit auf sich.

„He Laura, da oben, zweites Fenster von links. Erkennst du den Typen von hier?“ fragte Stahl.
„Schwer zu sagen, die Scheibe spiegelt etwas. Könnte der Journalist sein. Meinst du, er hat den Selbstmord mitangesehen?“
„Wir müssen auf jeden Fall da hoch. Der steckt irgendwie mit drin.“, gab Stahl die Direktive.
Sie nahmen den Aufzug nach oben und befanden sich kurze Zeit später in dem Großraumbüro. „Sicher dass es auf dem Stockwerk war“, brummte Stahl.
Niemand war zu sehen.

„Die Kaffeetasse ist noch heiß“, berichtete Fischer. „Wir sind richtig. Wo ist er hin?“

„Vielleicht hat er Dreck am Stecken. Wir haben uns direkt in die Augen geblickt. Er könnte abgehauen sein.“ vermutete Stahl.

Mit geschultem Auge untersuchte Fischer den leeren Schreibblock. „Gib mir mal bitte den Bleistift da drüben“, bat sie ihren Kollegen.

„Was hast du vor?“, fragte er sie.

„Hast du noch nie einen Krimi gesehen. Ich versuche herauszufinden was Pfeiffer hier notiert hat“, antwortete sie.

Sie schraffierte mit dem Bleistift über das Papier. Sofort waren einige dünne Linien zu erkennen. Darauf stand geschrieben: „Karlsstraße, verlassenes Parkhaus. 18:00 Uhr“.

Ein sanftes Grinsen zog sich über Fischers Gesicht. „Na wenn das mal keine heiße Spur ist“, sagte sie siegessicher.

Dritter Teil

                                                 Der Kommissar

Kommissar Rainer Pfeiffer ließ sich auf den Fahrersitz seines uralten Daimler fallen. Was für ein verkorkster Sonntag! Der angebliche Selbstmord, der keiner war! Der alte Graubart, der sich vor der Haustür von so einem Reisefuzzi erschossen hatte, war kurz darauf wieder quicklebendig gewesen. Das hatte dem Hausbewohner den Rest gegeben. Er hielt die Tür verschlossen, bis die Polizei eintraf. Die wirre Story, in der zehntausend Euro irgendwie eine Rolle spielten, hatte er sich mit halbem Ohr angehört. Immerhin, und das rechnete er sich hoch an, war es ihm gelungen, nicht andauernd genervt mit den Augen zu rollen. Mehr wollte er nicht tun. Also delegierte er den Fall an die Trachtentruppe. Sollten die doch auf dem Revier ein Protokoll mit dem Typ und seiner Frau anfertigen.

Er wollte gerade den Choke zur Rudolf-Diesel-Gedächtnis-Minute ziehen, als sein Diensthandy klingelte. Die Einsatzzentrale. Es gäbe da einen weiteren Selbstmord, diesmal sei es eine junge Frau. Jetzt rollte Kommissar Pfeiffer ausgiebig mit den Augen.

„Wollt ihr mich den ganzen lieben Sonntag lang veräppeln? Da fahre ich erst hin, wenn die Streifenhörnchen die Leiche ordentlich fest getackert haben! Und schickt mir vorher Fotos, die das beweisen!“

Die Einsatzzentrale versicherte ihm mit betont ruhiger Stimme, es handele sich um einen echten Selbstmord mit zahlreichen Zeugen vor Ort. Weiter ließ Pfeiffer die Kollegen nicht reden. Er drückte das Gespräch weg und machte sich auf den Weg.

Am Tatort angekommen gab er sich mit seinem Dienstausweis zwei Polizisten zu erkennen.

„Wie ist die Lage? Mit was haben wir es hier zu tun?“

„Eine junge Frau hat sich mit einem Kopfschuss das Leben genommen. Unmittelbarer Zeuge war der Vater der jungen Frau aus einem Bürofenster dort oben. Als er hier eintraf war die Leiche aber verschwunden. Passanten sagen aus, die Frau habe von einem Filmdreh gesprochen und habe sich dann eilig entfernt. Der Vater berichtet allerdings von einer Erpressung am Telefon.“

Pfeiffers Kinnlade war nach unten gerutscht, sein Mund war einen Augenblick geöffnet. Jetzt hatte er sich wieder gefasst.

„Am besten schiesse ich alles zu Klump, was irgendwie nach versteckter Kamera aussieht …“, brummelte er vor sich hin. Zu den Polizisten gewandt sagte er:“ Okay, den Vater knöpfe ich mir als Erstes vor. Wo ist er?“ Einer der Kollegen zeigte rüber zu einem Bulli der Polizei. Pfeiffer ging hinüber, klopfte ans Blech und zog die Schiebetür auf.

„Du, Christian?“

Vor ihm saß sein Bruder, das verheulte Gesicht lächelte gequält.

„Maria lebt, sie lebt!“

Bogota

›Wenn man will, geht es immer‹, war eines von Bergers Grundsätzen, wie er oft und gerne wiederholte, vor allem gegenüber Mitgliedern seiner Kirchengemeinde. Jetzt, nachdem Kommissar Gruber und seine charmante Assistentin gegangen waren, schloss er die Tür hinter sich, legte die Kette ein – man konnte ja nie wissen – und drehte sich um. Links der Sicherungskasten, der in unregelmäßigen Abständen brummte, dann das Klemmbrett und schließlich der Eingang in den Salon, geradeaus die Treppe nach oben und rechts die Küchentür, in der Dorothea stand und ein Glas Chardonnay in der Hand schwenkte. Den Gottesdienst hatte er verpasst, daran war nichts zu rütteln. Etwas, was er selbst den anderen Kirchengängern nicht verzeihen konnte. »Wenn man nur will«, wiederholte er für sich selbst und schüttelte den Kopf. Was heute passiert war, würde ihm natürlich niemand glauben. Sein Blick glitt über seine Frau, die sich mittlerweile an den Türrahmen gelehnt hatte. Sie sah erschöpft aus, der Brandyschwenker in ihrer Rechten zitterte leicht. Normalerweise wusste sie, welches Glas zu welchem Getränk passte. Nun ja sagte er sich, es ist wohl den Umständen geschuldet, er würde es nicht erwähnen.
An dieser Stelle sei erwähnt, dass sich Berger durchaus nicht der Alkoholsucht hingegeben hatte. Aber an einem Tag wie diesen, einem Tag, an dem er, es war ja wirklich nicht seine Schuld, den Gottesdienst verpasst hatte, an so einem Tag hatte er sich einen Tropfen regelrecht verdient.
Er bog also rechts in die Küche, drückte sich an seiner Anvertrauter vorbei, öffnete den kleinen Schrank unten rechts, holte ein paar Flaschen hervor und schob sie wieder hinein, bis er endlich gefunden hatte, was er suchte. Asbach-Uralt.
Mit leicht verzogener Miene öffnete er die Flasche, hielt seine Nase darüber und nahm einen tiefen Schluck. Dann noch einen. Einen Moment später trommelte eine Faust gegen die Haustür.
Da er gerade in der Küche über einer Flasche Schnaps kniete, waren seine Reflexe etwas verzögert. Er wollte gerade rufen geh hoch, geh nicht zu Tür, schließe ab und so weiter, als seine Frau schon den Türgriff in der Hand hielt. »Ja«, hörte er ihre leicht leiernde Stimme, die Klinke wurde runtergedrückt und schwupp, ein dumpfes Knirschen und die zwei Schrauben, die das Schloss der Kette hielten, kullerten in die gute Stube.
Als er auf den Beinen war, blieb er wie betäubt stehen. Eine Person stand in der Tür, ein Mann. »Ein Racheengel«, flüsterte er. »Sie sind gekommen, um mich zu holen.«
»Ein Indianer auf Kriegspfad«, hörte er die Stimme seine Frau, gleich neben seiner. Er hoffte, dass sie recht hatte.

»Sind sie Berger?«, fragte der Racheengel-Indianer.
»Ja«, antwortete Berger wahrheitsgemäß. Einen Engel belog man besser nicht.
»Was, verdammt noch mal, haben sie mit der ganzen Sache zu tun?«, brüllte der Engel ihn an. Er sah zerzaust aus, war in den besten Jahren und um seinen Hals baumelte ein Presseausweis, der ihn als Christian Pfeiffer auswies.
Berger, der die irrationale Angst hatte, in eine Salzsäule verwandelt zu werden, stahl das bauchige Glas aus Dorotheas Hand und schob es dem Fremden entgegen, der es ihm mit einer wilden Geste aus der Hand schlug. »Äh«, antwortete er, und langsam wurde ihm klar, dass es hierbei wohl nicht um den verpassten Gottesdienst ging. Natürlich schämte er sich, weil er angenommen hatte, ein Engel würde ihn holen, nur weil, na ja, was er jedoch gekonnt zu überspielen wusste. Langsam wurde ihm klar, um was es hier ging. Er musste sich wohl oder über mit den unerfreulichen Ereignissen des Vormittags auseinandersetzen.
»Meinen Sie diese Selbstmordsache?«
»Es war kein Selbstmord. Sie würde niemals, niemals hätte Marta sich«, stammelte die Person, die scheinbar doch kein Engel war. Ja, ein Indianer auf Kriegspfad, wobei man Indianer ja nicht mehr sagen durfte, wegen der Inklusion. Berger schüttelte sich kurz. Dann, ganz plötzlich, vielleicht auch eine Folge des Weinbrands, hatte er eine Art Geistesblitz. »Bei ihnen auch?« Der Indianer nickte.

»Dann komm rein, Winnetou«, singsangte Dorothea, die wohl doch etwas mehr als nur ein Glas intus hatte.
Beide Männer verstummten auf der Stelle, zwei Augenpaare richteten sich auf sie.
»Wir hatten einen Toten im Vorgarten«, sie pikste ihrem Mann mit dem Zeigefinger in den Bauch, »und jetzt kommt Old Shatterhand hier und will uns«, sie verzog das Gesicht, »skalpieren. Aber bitte nicht auf offener Straße, wo die Nachbarn uns sehen können. Komm rein.«
Sie packte den Fremden am Kragen und zog ihn in den Hausflur und dann nach links, Richtung Salon. Vor dem Klemmbrett riss der Fremde sich los. Seine Augen waren auf zwei Flugtickets geheftet, die dort mit Heftzwecken angepinnt waren.
»Sie waren in Kolumbien?« Er riss sich los.
»Ja, in Bogota. Ende 2019. Kurz vor«, er hätte beinahe ›der Koronascheiße‹ gesagt, besann sich aber eines besseren, »dem Ausbruch der Koronapandemie«, schloss er. Berger fand langsam wieder zu sich selbst. »Ich habe ein Reisebüro. Wir machen sowas manchmal.«
»Okay. Wenn ich mich kurz vorstellen kann, ich heiße Pfeiffer. Mit Doppel f. Ich glaube, das ist jetzt sehr wichtig. Wann?« Pfeiffers Stimme wurde eindringlich. »Wann waren sie in Bogota?«
»Anfang Oktober.«, antwortete Berger, dem langsam mulmig wurde.
»Zehnter Oktober? Zehnter Oktober? Am Zehnten? Ich war auch dort.« Seine Stimme hatte jegliche Farbe verloren.

Alle sahen sich an und schwiegen.

»Lufthansa, Flug LH542.« Dorothea, die sichtlich blass geworden war, brach als Erste den Fluch.
»Nein«, schrie Pfeiffer, »das kann es nicht sein. Das kann es doch nicht sein.« Er sah die beiden an. »Ich habe euch nicht gesehen. Ich habe euch nicht im Flieger gesehen. Das kann es doch nicht sein.«
»Erste Klasse«, erwiderte Dorothea, immer noch angeheitert, während sie den Fremden musterte.
Berger strich seine Börsenkrawatte glatt. »Diese ganze Sache war doch nichts als eine üble Erpressung.«
»Schweigegeld«, fügte Pfeiffer hinzu und nickte.
»Es war eher eine Flucht. Also ein Fluchtversuch.« Dorothea schenkte sich Weißwein nach.
»Ein tragischer«, bestätigte Berger.
»Korruption. Schmiergeld. Ein ganzes Flugzeug. Man man. Die hatten Nerven.« Pfeiffer griff nach seinem Handy.
»45 Millionen Pesos?«, Berger befingerte wieder seine Krawatte, »was hätten wir denn machen sollen?«

»Wir hätten ihm damals einfach das Geld geben sollen.« Seine Frau schaute in ihr Glas. »Was ist eigentlich aus ihm geworden?«
Pfeiffer schluckte schwer. »Er ist auf das Rollfeld gelaufen und hat sich erschossen. Kopfschuss.«
»Halte den Mund«, fuhr Berge ihn an. »Wir dürfen nicht darüber sprechen. Wir haben alle zugestimmt, dass wir es nie wieder erwähnen. Wir«, wollte er noch hinzufügen, doch dann klingelte Pfeiffers Android in seiner Hand. Eine Nummer, die er schon einmal gesehen hatte. Wie betäubt nahm er den Anruf an.
»Stellen sie auf laut«, forderte die tiefe, selbstsichere Stimme ihn auf. Pfeiffer drückte den entsprechenden Knopf. Alle sahen gebannt auf das rechteckige Display. »Wie ich sehe,« fuhr die Stimme fort, »sind sie jetzt alle zusammen. Das ist mehr, als ich erhofft hatte. Also, jetzt ist Zahltag. Aber zuerst: Hat euch das Video gefallen?«
»Welches Video«, flüsterte Berger.
»Das«, sagte Pfeiffer leise, »wollte ich eigentlich gerade erwähnen.«

Das Verhör

»Ich bin mir sicher«, bestätigte Richard Berger mit fester Stimme. »Das ist der Mann, der das Video aufgenommen hat.«
Kriminalhauptkommissar Klaus Mörike nickte langsam. In über fünfunddreißig Jahren als Ermittler war dies der seltsamste Fall, der ihm je untergekommen war: Ein Mann hatte sich vor dem Haus eines reichen Schnösels erschossen, weil dieser ihm keine zehntausend Euro geben wollte. Wer tut so etwas? Zu allem Überfluss hatte ein junger Mann die ganze Szene gefilmt, das Video einem Journalisten zugespielt und – davon war Mörike überzeugt – die Freundin des Journalisten so eingeschüchtert, dass sie sich das Leben nahm.
Jetzt saß der Verantwortliche auf der anderen Seite der verspiegelten Glasscheibe – zweifelsfrei identifiziert.
»Okay, Herr Berger«, sagte Mörikes junge Partnerin, Jana Falk. »Sie können gehen. Wir melden uns, falls wir noch Fragen haben.«
Mit einem Tuch wischte sich Berger den Schweiß von der Stirn, dann verließ er wortlos die dunkle Kammer.
Durch die Glasscheibe sah Mörike den Verdächtigen. Der junge Mann trug ein weißes T-Shirt, saß gebeugt da und starrte mit hängenden Schultern auf seine Hände.
»Dann mal los«, sagte Jana und betrat entschlossen den Verhörraum. Frisch von der Ausbildung und voller Tatendrang, war sie erst seit wenigen Wochen Mörikes Partnerin. Ihr Eifer war anstrengend, aber auch erfrischend.
Der junge Mann erschrak, als die Kommissare den hellen Raum betraten. Tiefe Augenringe zeichneten sein blasses Gesicht, sein Körper zitterte. Ein Junkie, dachte Mörike sofort.
»Ihr Name ist Jakob Hohlmeier«, begann Jana die Befragung.
Der Blick des Mannes wanderte unsicher zwischen ihr und Mörike hin und her, dann nickte er.
Der Kommissar holte sein Handy hervor und hielt es dem jungen Mann vor die Nase. Als der Schuss ertönte, legte Mörike das Handy auf den Tisch und schüttelte den Kopf. »Sie haben alles mit angesehen und nichts unternommen.«
»Wie?«, stammelte Hohlmeier.
»Sie haben zugelassen, dass sich Ihr Freund das Leben nimmt, es gefilmt und dann Richard Berger die Schuld gegeben.«
»Ich hab was?«, fragte Hohlmeier, sichtlich verwirrt.
»Tun Sie nicht so unschuldig. Sie haben das Video erstellt und verbreitet.« Mörike beugte sich über Hohlmeier.
Dieser starrte ihn entgeistert. »Nein … nein, das war ich nicht.«
»Es hat keinen Sinn zu lügen. Es gibt Zeugen, die sie wiedererkannt haben.«
»Ich war das nicht, bitte glauben Sie mir.«
»Es ist ihre Stimme. Ihre Anschuldigungen. Geben Sie es zu.« Mörike kam noch etwas näher.
Hohlmeier triefte vor Schweiß. »Ich … nein … das kann nicht sein.«
»Ein Menschenleben bedeutet ihnen wohl nichts. Ihr linken Zecken könnt nur kaputt machen. Ihr nennt euch Antifa, dabei seid ihr keinen Deut besser als die Faschos.«
»Klaus«, unterbrach ihn Jana. »Es reicht.«
»Ist doch wahr.«
Jana sah ihn scharf an und Mörike lies von Jakob Hohlmeier ab.
»Jakob«, sagte Jana nun mit sanfter Stimme, »erzählen Sie uns, was am Sonntag geschehen ist.«
»Ich weiß es nicht … ich kann mich nicht erinnern.«
»Wir wollen Ihnen nicht schaden. Wir wollen nur verstehen. Warum hat sich Ihr Freund vor Ihren Augen das Leben genommen?«
»Ich kenne diesen Mann nicht.«
Jana runzelte die Stirn. »Bitte, Jakob. Versuchen Sie sich zu erinnern.«
»Da ist nichts.«
»Was ist das letzte an das Sie sich erinnern können?«
»Es war Samstagabend. Ich war auf einer Party …«
»Und dann?«
»Nichts. Ich bin erst aufgewacht, als mein Chef mich angerufen hat. Er wollte wissen, warum ich nicht bei der Arbeit war.«
»Bullshit!«, rief Mörike und schlug mit der Faust auf den Tisch.
Hohlmeier zuckte zusammen. Dunkle Flecken hatten sich unter seinen Achseln gebildet.
»Wir haben keine Zeit für ihre Spielchen. Sie haben etwas zu verbergen und wir finden es heraus.«
»Klaus! Es reicht«, zischte Jana.
Mörike verschränkte die Arme. »So kommen wir nicht weiter.«
Auf einmal rumpelte etwas gegen die Tür des Verhörzimmers.
»Was zum Teufel?«, fluchte der Kommissar und wandte sich der Tür zu.
Ein Mann stürmte herein.
»Hey! Was soll das?«, wollte Mörike den Eindringling zurechtweisen. Doch er verstummte, als er die Waffe in der Hand des kräftigen Mannes sah.
»Keinen Schritt näher«, forderte der kräftige Glatzkopf.
Klaus und Jana wichen einen Schritt zurück. Der Glatzkopf sah sie ruhig an. Mörike spürte, dass das war kein gewöhnlicher Wirrkopf war.
»Lassen Sie Jakob Hohlmeier gehen, ansonsten muss ich mich erschießen.«
Mörike zuckte zusammen. Ist denn die ganze Welt verrückt geworden? Beschwichtigend hob er die Hände. »Beruhigen Sie sich. Es besteht kein Grund dazu. Legen Sie die Waffe weg, und wir reden, okay?«
Der Kraftprotz schüttelte den Kopf. »Sie lassen ihn gehen. Draußen steht ein Taxi für ihn bereit. Wenn Jakob Hohlmeier nicht innerhalb der nächsten einhundert Sekunden in das Taxi steigt, werde ich mich erschießen.«
Mörike wusste nicht was schlimmer war, die Tatsache, dass sich der Mann drohte zu erschießen, oder die, dass er dies voller Überzeugung sagte. Klaus war schon einige Mal bei Verhandlungen dabei gewesen. Leute, die drohten, dass sie vom Dach springen würden, waren unsicher, mit heißer und zittriger Stimme. Wer den Entschluss gefasst hatte zu springen, der lag bereits auf der Straße, bis Klaus am Tatort angekommen war. Dieser Mann war wirkte nicht als würde er verhandeln wollen, trotzdem musste er es versuchen. »Warum tun Sie das? Was soll das bringen?«
»Die Zeit läuft.« Der Mann tippte sich mit der Waffe gegen die Stirn.
»Lassen Sie uns reden. Warum wollen Sie sich für ihn opfern?«
»Es gibt nichts zu bereden … noch achtzig Sekunden.«
»Hören Sie mir zu. Wir können das klären, aber Sie müssen die Waffe senken.«
Der Glatzkopf schüttelte nur den Kopf und hielt sich die Waffe unter den Kiefer.
»Klaus«, flehte Jana. »Wir haben nicht viel Zeit.«
Mörike kniff die Augenbrauen zusammen. »Wo bringen Sie ihn hin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Was soll das heißen?«
»Ich werde nicht mitfahren.«
»Klaus, uns bleibt keine Wahl«, drängte Jana.
Mörike presste die Lippen zusammen. Langsam führte er eine Hand zu seinem Schlüsselbund.
Der Kräftige machte keine Anstalten. »Noch sechzig Sekunden.«
Hohlmeier stand der Schweiß auf der Stirn. Die Situation machte ihn sichtlich nervös. »Ich gehe nicht mit dem«, presste er ängstlich hervor, als Mörike die Handschellen öffnete.
»Wir gehen zusammen. Dir wird nichts passieren«, versicherte ihm Mörike, doch er war sich alles andere als sicher. So eine Situation hatte er noch nie erlebt. Ein toter Zeuge war das letzte, das er brauchte.
Mörike griff nach Hohlmeiers Hand, doch dieser zuckte zurück.
»Bitte«, forderte Jana. »Willst du, dass er sich erschießt?«
Der junge Mann starrte sie ungläubig an, dann schüttelte er den Kopf.
Jana umkreiste den Tisch und legte sanft eine Hand auf seine Schulter. »Es wird Ihnen nichts geschehen. Wir überprüfen das Taxi und er«, sie zeigte auf den Glatzkopf mit der Pistole am Kinn, »bleibt hier.«
Jakob Hohlmeier wirkte kraftlos und brachte es nicht fertig Widerstand zu leisten, als Jana ihn nach oben zog. Seine Beine zitterten so sehr, dass sie ihn stützen musste.
»Noch vierzig Sekunden.« Der Mann hatte den Finger am Abzug, fest entschlossen abzudrücken, falls ihm jemand zu nahe kam.
Jana führte Jakob hinaus, dann folgte der Glatzkopf und schließlich Mörike. Vor dem Verhörraum empfing sie eine Traube Polizisten, ihre Waffen im Anschlag.
»Nicht schießen!«, forderte Mörike. »Wir begleiten Herrn Hohlmeier zu seinem Taxi.«
Die Polizisten sahen ihn unsicher an. Auch sie waren mit den Gegebenheiten überfordert.
Langsam bewegte sich die Kolonne durch die geräumte Eingangshalle.
Immer wieder flüsterte Jana dem jungen Mann beschwichtigende Worte zu, während sie voran stolperten.
»Noch dreißig Sekunden«, sagte der Mann mit stoischer Gelassenheit.
»Lasst das Taxi überprüfen«, rief Mörike den Polizisten am Eingang zu.
»Ist sauber«, bestätigte Reinhold.
Immerhin, dachte sich Mörike. Vielleicht nahm es ja doch ein gutes Ende. »Wo bringt er ihn hin?«
»Er hat gesagt, dass er einen Anruf bekommt, sobald Hohlmeier im Wagen sitzt.«
War ja klar.
»Noch zwanzig Sekunden. Vielleicht beeilen Sie sich etwas.«
Jana griff Hohlmeier etwas fester und schob ihn voran. Sie waren jetzt am Eingang angekommen. Draußen wartete das Taxi mit laufendem Motor.
Mörike blieb stehen. »Ich will, dass er verfolgt wird«, flüsterte er Reinhold zu.
»Noch zehn Sekunden.« Der Mann wartete vor dem Eingang, umringt von einer Horde Polizisten.
Jana öffnete die Tür.
»Bitte«, flehte Jakob. »Lassen Sie mich nicht allein.«
Jana Falk, die man für ihr einfühlsames Gemüt schätzte, schob Hohlmeier tonlos ins Innere des Fonds. Dieser klammerte sich an ihr fest.
Ungeschickt versuchte sie die Umklammerung zu lösen. »Keine Sorge ich…«
»Drei.«
»… werde nicht zulassen …«
»Zwei.«
»… dass dir etwas …«
»Eins.«
»… geschieht.«
In dem Moment drückte der Taxifahrer aufs Gas. Der Motor heulte auf. Ein lauter Knall ertönte. Eine graue Wolke stob aus dem Auspuff, eine rote Wolke aus dem Kopf des Glatzkopfs.
Jakob Hohlmeier zog Jana Falk mit ins Fahrzeug.
Es folgte wildes Geschrei.
»Nein«, stöhnte Klaus Mörike, während das Taxi mit seiner Partnerin und seinem Zeugen verschwand.

Offene Enden – dritter Teil

Von Michael Fritz

2.1 In der Redaktion

Es hatte lange gedauert. Eine kleine Ewigkeit, in der sich der Nebel in Christian Pfeiffers Kopf festgesetzt hatte, ihn gelähmt und betäubt hatte. Doch als die Dunkelheit endlich von ihm wich, war er ein anderer Mann. Ein Mann mit einem klaren Ziel. Mit einer unbändigen Wut, die wie ein Feuer in ihm loderte. Maria war tot. Und die Schuldigen müssen dafür bezahlen.

Er schluckte den Schmerz herunter, verdrängte die Leere in seiner Brust und ballte die Hände zu Fäusten. Kein Platz für Mitleid. Die Schuldigen würden nicht ungestraft davonkommen. Er würde diejenigen finden, die ihr das Leben genommen haben. Es spielte keine Rolle, wie hoch der Preis war, den er dafür zahlen musste.

Christian, der als Journalist sich durch unzählige Dossiers und Akten gewühlt hatte, wusste, wie er an Informationen kam. Er kannte die Methoden: Recherche, hartnäckige Fragen, das stetige Pochen auf die Wahrheit. Und vor allem: Keine Regeln, die ihn aufhielten. Keine Schranken, die ihn bremsen konnten. Ganz im Gegensatz zu der Polizei, die sich in Formalitäten verstrickte.

Er griff nach dem Smartphone, ließ den Zeigefinger für einen Moment zögern und wählte dann die Nummer der Polizei.

2.2 Bei den Bergers

Es roch nach Regen. Der feuchte, erdige Duft vermischte sich mit der kühlen Schwere des Nebels, der die Welt in einen grauen Schleier hüllte. Das Blaulicht der Streifenwagen tanzte flimmernd durch den Dunst und tauchte die Umgebung in ein flackerndes, geisterhaftes Licht. Bevor Inspektor Haber und seine Kollegin Inspektorin Sommer den Tatort betraten, waren die Kollegen von der Spurensicherung bereits in Aktion. Der Geruch von frisch aufgebrühtem Kaffee drang aus dem Haus der Bergers.

Sommer warf einen kurzen Blick auf die Leiche, die reglos auf dem Pflaster lag, und schüttelte den Kopf. »Das hier stinkt zum Himmel«, murmelte sie, ihre Augen auf die blutigen Flecken auf den Steinplatten im Vorgarten gerichtet. »Der Schuss kam aus nächster Nähe.«

Haber kniff die Augen zusammen, als er den blutigen Pfad verfolgte, der bis zur Tür führte. »Es sieht nach einem klaren Fall aus«, sagte er, doch sein Blick blieb misstrauisch. »Ich habe nur zwei Fragen: Erstens warum das Ganze und zweitens wer hat die Leiche bewegt und wieso!«

»Inspektor«, meldete sich ein junger Polizist, der auf ihn zutrat. »Die Leiche wurde definitiv bewegt, dass warum, bin ich nicht in der Lage zu beantworten, denn unsere Leute waren es nicht. Wir waren zuerst hier. Und mein Kollege und ich, haben Frau und Herrn Berger getrennt voneinander verhört. Ich denke, Herr Berger könnte der Schlüssel sein. Ach ja, wir haben ein paar Nachbarn befragt – wenig hilfreich. Sie haben einen Streit gehört, aber niemand hat etwas gesehen.«

»Typisch«, seufzte Sommer, die sich immer wieder über das Fehlen von Augenzeugen ärgerte. »Alle hören mit, aber keiner sieht was.«

Der Polizist fuhr fort: »Die Beweise sind noch nicht eindeutig. Die Identität der Leiche und des Mannes mit dem Smartphone müssen wir noch klären.«

»Das wird unser nächster Schritt«, erklärte Haber bestimmt. »Kommen Sie, Sommer. Wir müssen mit Herrn Berger sprechen.«

Im Wohnzimmer saß Richard Berger auf der Couch. Regungslos. Sein Blick war leer, als würde er nicht einmal wahrnehmen, dass um ihn herum ein Sturm aus Polizei und Verwirrung tobte. Die Fernsehbilder flimmerten unscharf vor ihm, doch die Szenerie schien ihn nicht zu berühren. In der Küche brühte seine Frau Kaffee auf, ihre Bewegungen mechanisch, als suchte sie in der Routine Zuflucht. Für die Beamtin, die neben Ihr stand, war es ein Moment des Trostes gegen das ungemütliche Wetter draußen.

»Herr Berger«, begann Inspektorin Sommer mit ruhiger, fast sanfter Stimme. »Könnten Sie uns bitte erzählen, was passiert ist?«

Richard sah auf, als hätte er gerade erst bemerkt, dass er nicht allein war. In seinen Augen lag der Schock, als hätte das Grauen noch immer seine Spuren hinterlassen. Langsam öffnete er den Mund, seine Stimme zitterte. »Zwei Männer. Zehntausend Euro. Der Selbstmord… und der Mann, der das alles gefilmt hat.«

»Hat er sich erschossen?« Sommer fragte ruhig, aber der Ausdruck in ihrem Blick verriet, dass sie längst ahnte, was zu erwarten war.

»Ja«, flüsterte Richard, seine Stimme brach. »Er hat sich erschossen, und sein Freund hat es gefilmt. Ich kann es immer noch nicht fassen!« Seine Augen füllten sich mit Tränen.

»Hat er noch etwas gesagt? Etwas, bevor… bevor es passiert ist?«, fragte Sommer weiter, während sie die Tränen bemerkte, die Richard hastig abwischte.

»Er hat geschrien«, flüsterte Richard und verzog das Gesicht, als würde der Schmerz zurückkehren. »Er sagte, wir seien Kapitalisten… dass wir ihn mit unserem Geiz umgebracht haben.«

»Das klingt nach tiefem Hass«, sagte Haber nachdenklich und machte sich Notizen. »Wir müssen herausfinden, wer diese Männer sind.«

Gerade in diesem Moment klingelte Habers Handy. Er blickte auf das Display, seine Stirn zog sich zusammen.

»Das Revier«, sagte er, als er abnahm. »Haber … ja, Ja, ich verstehe. Wir kommen sofort.« Er legte auf. »Sommer, wir müssen los. Ich erkläre es dir unterwegs.«

Das Blaulicht warf flimmernde Schatten auf die Straßen, als das Auto durch den dichten Verkehr kroch. Haber erzählte weiter: »Es gibt einen weiteren Mord, die Kollegen sind schon vor Ort bei der Leiche der jungen Frau. Ein gewisser Christian Pfeiffer, Redakteur beim Frankfurter Generalanzeiger, hat angerufen. Es war seine Freundin, die ermordet wurde. Er wurde erpresst, ein Video ins Netz zu stellen. Ein Video, das einen Selbstmord zeigt«

»Und was hat das mit unserem Fall zu tun?«, fragte Sommer, die versuchte, das Puzzle zusammenzusetzen.

»In dem Video hört man, wie der Mann hinter der Kamera wütend wird und sagt: ‚Gebt ihm zehntausend Euro.‘«

»Das ist mehr als Zufall«, murmelte Sommer.

»Ja, das denke ich auch«, sagte Haber. »Wir fahren jetzt zu ihm.«

Als sie die Redaktion erreichten, wartete Pfeiffer schon. Keine Spur von Nervosität war ihm ins Gesicht geschrieben, nein im Gegenteil, er wirkte ruhig und fokussiert keine Anzeichen von Panik oder Schock.

»Guten Tag«, begann Haber. »Wir sind von der Kriminalpolizei. Mein Name ist Haber, das ist meine Kollegin Sommer. Sie sind Herr Pfeiffer, der uns angerufen hat?«

»Ja, das bin ich«, antwortete Pfeiffer, trat zur Seite und deutete auf die Tür. »Kommen Sie rein.«

Im Büro war es kühl.

Während alle auf den Arbeitsplatz von Pfeiffer zusteuerten, sagte Haber »Also, erzählen Sie uns doch einmal mit Ihren Worten, was passiert stund was es mit dem Video Aufsicht hat.«

Pfeiffer setzte sich und begann, die Geschichte zu erzählen. »Ich wurde erpresst. Ein anonymer Anruf, eine E-Mail von einer Wegwerfadresse, mit einem Video im Anhang. Ich sollte es innerhalb von zwei Minuten auf unserer Plattform veröffentlichen. Ich tat es, war aber zu langsam. Und dann… erschoss er Maria.« Während er sprach, öffnete er das Video auf seinem Computer und spielte es ab.

Das Bild flackerte, und sie sahen Richard Berger im Gespräch mit einem bärtigen Mann.

„Es ist alles da“, sagte er, während er das Video abspielte. Die Bilder flimmerten. Sommer starrte auf den Bildschirm und spürte, wie sich Ihr der Magen zusammenzog.

»Das ist… das ist unglaublich!«, rief sie, als sie den Moment des Selbstmords sah. »Er filmt alles!«

»Warten Sie… hören Sie das?«, fragte Haber, als er sich nach vorne beugte. Die Stimme des Mannes war deutlich zu hören: »Ihr habt ihn umgebracht mit eurem Geiz!«

»Das erklärt einiges«, murmelte Haber, als er das Video analysierte. »Das war der Auslöser für den Selbstmord.«

Pfeiffer nickte hastig. »Aber es kommt noch mehr. Nachdem ich mit Ihren Kollegen telefoniert habe, bekam ich eine weitere E-Mail. Der Unbekannte will sich mit mir treffen.«

»Und warum sollten Sie ihm vertrauen?«, fragte Sommer, während sie Pfeiffer misstrauisch musterte.

»Es könnte unsere einzige Chance sein, mehr über den Mann hinter der Kamera zu erfahren«, sagte Haber entschieden. »Wir sollten dieses Treffen zulassen.«

Pfeiffer zögerte. »Er hat Informationen über das Motiv hinter dem Mord. Ich muss ihn treffen. Alleine.«

»Das kommt nicht in Frage.«, entfuhr er Haber »Wir kommen mit, bleiben aber im Hintergrund.«

»Wo soll das Treffen stattfinden?«, fragte Haber, der den Plan schon fast vor Augen hatte.

»Im Café im Europa-Park-Rust, um 4 Uhr«, antwortete Pfeiffer.

»Drei Stunden Fahrt«, sagte Sommer, während sie auf die Uhr schaute. »Wir sollten sofort los.«

Der Verkehr war zäh, und in der Stille des Autos wuchs die Spannung. Wer immer dieser Anrufer war, er konnte der Schlüssel zur Lösung des Falls sein.

Sie kamen 15 Min vor 4 Uhr an. Haber und seine Kollegin gingen ins Café und setzten sich an einen Tisch. 5 Minuten später betrat Pfeiffer das Café.

Er schaute sich um aber an jedem belegten Tisch waren zwei oder mehr Leute. Sein 4 Uhr Termin war nicht da.

Pfeiffer fluchte »Scheiße, Wo ist er?«

»ICH BIN HIER«

Robin Hood

Dorothea Berger lenkte den Wagen – einen alten, aber zuverlässigen VW Sharan – durch den dichten Stadtverkehr. Die Straßen waren ungewöhnlich voll für einen Sonntagvormittag und die Menschen schienen brachialer als sonst zu fahren. Zweimal musste Doro bereits die Hupe betätigen, weil sich irgendein Idiot geweigert hatte, den Schulterblick anzuwenden.
Sie blickte in den Rückspiegel. Seit sie von der Polizeistation losgefahren waren, hatte Richard kein Wort gesagt, vermied es sogar, sie anzuschauen. Doro kannte diesen Zug ihres Mannes bereits. Er braucht einfach nur etwas Zeit, sagte sie sich. Dass er sich demonstrativ auf die Rückbank gesetzt hatte, machte sie allerdings etwas nervös. Was war auf der Station vorgefallen?
Sie konnte nur mutmaßen, dass der zuständige Kommissar, ein ehrgeiziger junger Mann mit dem einprägsamen Namen Nimmerfroh, ihren Richard ordentlich in die Mangel genommen hatte. Das Warum konnte sie sich jedoch einfach nicht erschließen. Schließlich war Richard hier ja eindeutig das Opfer – neben dem armen Verstorbenen selbstverständlich.
Sie hörte hinter sich ein Handy vibrieren, gefolgt von einem: »Verfluchte Scheiße!«
»Was ist los?«, fragte Doro vorsichtig.
»Die haben das Video gepostet!«
»Wer?«
»Der FGZ … auf Social-Media … ich folge denen.«
»Woher sollen die das Video haben?«
»Was weiß denn ich?« Richard Berger überlegte einen Augenblick. »Wir müssen da sofort hin! Vielleicht kann man das noch rückgängig machen.«
»Richard, jetzt lass uns --«
»Dorothea, fahr uns sofort zu dieser Scheiß-Redaktion!«, schrie Richard, sodass Doro zusammenzuckte. So hatte sie ihren Mann noch nie erlebt. Viel zu viele Schimpfwörter.
Sie setzte den Blinker und bog so scharf auf die Dillenburger Straße ab, dass sie wildes Gehupe erntete.

Zwanzig Minuten später stand das Video bereits bei dreitausend Aufrufen. Darunter fanden sich auch die ersten Kommentare:

denixe0298: Ach du Scheiße!:scream:
tactical.gal: Frankfurt einfach Krankfurt…
@r0binHood: Tod dem Kapitalismus!:money_mouth_face::point_left:

Der Sharan fuhr in die Straße vor dem Bürogebäude des FGZs ein. Dort kam die Fahrt jedoch zu einem jähen Ende; Streifenwagen blockierten die Straße, überall waren Polizisten und leiteten den aufgestauten Verkehr um. Außerdem konnte Doro zwei Krankenwagen ausmachen.
»Das darf doch jetzt nicht wahr sein!« Richard hatte sich zwischen den Sitzen zu ihr nach vorn gebeugt, um das Geschehen besser erkennen zu können. Ein Polizist kam auf das Auto zu und signalisierte Dorothea, das Fenster herunterzulassen.
»Hier gibt es kein Weiterkommen. Bitte wenden Sie das Fahrzeug und nehmen Sie eine Umleitung.«
»Darf man fragen, was passiert ist?« Doro versuchte möglichst beiläufig zu klingen.
»Dazu kann ich Ihnen nichts sagen. Sie müssen jetzt umdrehen!«
»Da hat sich Eine in den Kopf geschossen, ich hab’s auf Video!«, rief jemand im Vorbeigehen. Die Aufmerksamkeit des Polizisten richtete sich auf den Gaffer, der sein Gesicht unter einer Kapuze verbarg.
Was für ein Feigling. Filmt andere Menschen und hat selbst Angst davor, erkannt zu werden!, dachte sich Dorothea und legte den Rückwärtsgang ein. Hinter ihr ging die Tür auf. Ihr Kopf schnellte herum: Richard war aus dem Wagen gestiegen und hielt zielstrebig auf das FGZ-Gebäude zu.
»Du dickköpfiger Idiot«, sagte sie leise. Sie wendete das Fahrzeug und bog in die nächste Seitenstraße ein. Dort parkte sie in der erstbesten Lücke und stieg ebenfalls aus. Sie wollte gerade in Richtung Hauptstraße gehen, als ihr Blick an einer Parkhauseinfahrt hängen blieb. Auf dem darüber hängenden Schild stand in klaren Buchstaben ›Parkhaus – Rewe, Sauer & Söhne und Frankfurter Generalanzeiger‹. Das erhöht meine Chancen, dachte sie sich. Ich denke schon wie eine Geheimagentin. Das brachte sie kurz zum Kichern, doch sie wurde sich der Ernsthaftigkeit ihrer Situation schnell wieder bewusst.
Das Parkhaus war groß, hell und wirkte brandneu. In diesen Teil der Stadt wurde noch investiert. Doro folgte den Schildern, die den Ausgang zum FGZ-Büro markierten. Links, rechts, dann wieder links. Sie fragte sich, ob Richard es wohl zum Redaktionsgebäude geschafft hatte und ob es eine gute Entscheidung war, durch das Parkhaus zu gehen. Was ist, wenn er nicht durchgekommen ist und jetzt nach mir sucht?
Mit jedem Schritt schien ihr dieses Szenario wahrscheinlicher. Sie wollte gerade wieder umdrehen und zum Auto zurückgehen, als hinter einer Ecke eine junge Frau auftauchte. Ihr Haar war tiefschwarz, sie trug einen roten Mantel – und außerdem eine Pistole bei sich. Die Frau zuckte zusammen, als sie Dorothea bemerkte. Keine von beiden hatte damit gerechnet, jemanden hier anzutreffen.
»Ich … äh … guten Tag!« Doro drehte sich auf der Stelle um und stieß fast mit einem Mann zusammen. Er hatte eine Kapuze auf und sie erkannte sofort den Gaffer von vorhin.
»Entschuldigung!« Sie wollte sich an ihm vorbeischieben, doch der Mann packte blitzschnell ihren Arm. Seine kräftigen Finger gruben sich in ihre Haut.
»Sie hat mich gesehen!«, rief die Frau in rot.
»Was du nicht sagst«, gab der Mann zurück.
Doro wollte sich losreißen, den Mann von sich stoßen, davonrennen. Stattdessen stand sie einfach nur da, vor Angst erstarrt. Doch keine Geheimagentin.
»Schön, Sie wiederzusehen, Frau Berger. Sie werden jetzt einen kleinen Ausflug mit uns machen.« An seine Komplizin gewandt: »Hol den Wagen, Marian!«

Wenige Minuten später fuhr Dorothea Berger auf der Rückbank eines silbernen Mercedes die Straße entlang, in der sie keine halbe Stunde zuvor ihren Richard zurückgelassen hatte. Die Polizei hatte den Verkehr mittlerweile unter Kontrolle gebracht, und die beiden Krankenwagen waren bestimmt längst im nahegelegenen St. Elisabethen-Krankenhaus angekommen.
›Marian‹ fuhr den Wagen. Neben Dorothea saß ihr unerwünschter Begleiter und betrachtete sie.
»Wie gefällt Ihrem Mann das hübsche Video, das ich von ihm gemacht habe, Doro? Ich darf Sie doch Doro nennen, oder?«
Sie antwortete nicht.
»Ach bitte, lassen Sie doch das Geschmolle. Wir werden viel Zeit miteinander verbringen, da sollten wir das Beste draus machen!« Er setzte die Kapuze ab und offenbarte sein Gesicht. Blondes Haar, runde Wangen, freundliche Augen. Fast noch ein Kind, dachte Doro.
Er streckte ihr seine Hand entgegen: »Sie können mich gerne Robin nennen.«

Dann der ohrenbetäubende Knall, der die Welt in Splitter riss und Maria in die ewige Dunkelheit schleuderte. Pfeiffer riss die Augen vom Bildschirm. Mit einem Satz, der vor Wut und Verzweiflung bebte, sprang er auf. Der Stuhl, auf dem er eben noch kraftlos gesessen hatte, kippte mit einem ohrenbetäubenden Krachen nach hinten und prallte gegen die Wand. Die Kaffeetasse flog vom Tisch und daumenbreit floss braune, fettleibige Brühe auf den antiken handgewebten französischen Moiré. Pfeiffer sah es nicht. Er sah aus dem Fenster. Er musste runter zu seiner Maria, doch der Gedanke an ihren leblosen Körper, dort unten in der Rabatte, ließ eine eisige Welle der Übelkeit in ihm aufsteigen. Wie ein Blitz durchfuhr es Pfeiffer – Maria! Ihre Handtasche! Er stürmte in den Flur, die Füße hämmerten auf den kalten Fliesen. Da lag sie. Mitten im Weg, als wollte sie ihn aufhalten. Das rote Leder glänzte ihm frech entgegen, wie ein höhnischer Spott auf die Tragödie, die sich eben ereignet hatte. Es war, als wolle Maria ihm noch einmal ihre Lebensfreude entgegenschleudern, ein letztes Aufbegehren gegen die Dunkelheit, die sie verschlungen hatte. Wie eine Aura, unsichtbar, aber gegenwärtig, umgab ihn der Geruch von Maria. Er schwebte über der Tasche, kroch ihm in die Nase, legte sich wie ein kalter Hauch auf seine Haut. Es war nicht nur der Duft ihres Parfums, dieser süßliche Blumenduft, den er so liebte. Es war etwas Tieferes, etwas Animalisches, der Geruch ihrer Angst, ihrer Verzweiflung, ihrer letzten Momente. Er konnte ihn fast schmecken. Lippenstift, Taschentücher, ein halb aufgebrauchter Kaugummi – nichts Ungewöhnliches. Doch dann entdeckte er ganz in der Ecke einen kleinen zerknüllten Zettel aus Zeitungspapier. Die Finger zitterten, als er nach dem Papier griff, jeder Muskel seines Skeletts schrie „Fass das nicht an!“. Doch er musste, er musste. Kalte Tautropfen sammelten sich auf seiner Stirn. Mit zuckenden Fingern, die sich wie eisbedeckte Zweige anfühlten, näherte er sich dem Zettel. Eine unwiderstehliche Macht zog ihn an. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, löste er den vergilbten Fetzen aus dem eisernen Griff der roten Lederhandtasche, so vorsichtig, als würde er einen Faden Spinnennetz aus purem Gold aus dem Rachen eines schlafenden Löwen ziehen. Ein Zucken, ein falscher Atemzug, und die klauenbewehrte Pranke würde zuschnappen, ihn zerfetzen, den Zettel und seine Hoffnung auf immer vernichten. Mit zitternden Fingern entfaltete er das zerknitterte Zeitungspapier, doch statt der ersehnten Antworten fanden seine Augen nur einen wirren Strudel Buchstaben, die alle Hoffnung platzen ließen. Die Morgensonne, die mit ihren ersten Strahlen die Spitze des Kirchturms berührte, warf lange, unheilvolle Schatten über die Dächer, Schatten, die ihn an seine Einsamkeit, seine Verlorenheit und seine Schuld erinnerten. Er musste runter zu Maria. Musste sie noch ein letztes Mal sehen, bevor sie für immer aus seinem Leben verschwand, bevor diese Männer in Weiß sie mitnahmen, fortbrachten an einen Ort, den er nicht kennen wollte. Vollbeladene Tränen verschleierten seine Sicht, brannten in seinen Augen, als er die Treppe hinunterstolperte. Wut kochte in ihm hoch, richtete sich gegen das sinnlose Zeitungspapier, dieses wertlose Knüllpapier, das ihm keine Antworten gab und nur noch mehr Fragen aufwarf. Doch da war noch etwas … ein Gefühl des Bekannten, ein schwacher Hauch einer Erinnerung, der ihn umgab, seit er den Zettel berührt hatte. Er roch an seinen Händen. Nein, nicht der Zettel selbst, aber, aber der Geruch … Unsinn, alles Unsinn! Er schüttelte den Kopf, verdrängte die wirren Gedanken, riss die Tür auf und taumelte hinaus, der Menschenmenge entgegen, die sich um das Schrecken gesammelt hatte. Draußen heulten Sirenen, die ersten Einsatzwagen rasten mit kreischenden Reifen auf den Europaplatz. Ein Schwall von Menschen ergoss sich über den Platz, ein Strudel aus panischen Gesichtern und wild umherfliegenden Gliedmaßen. Neugier verwandelte sich in blankes Entsetzen, als die ersten Schaulustigen Marias zerschmetterten Körper erblickten. Handys reckten sich wie Pistolen in den Himmel, dokumentierten gierig jede Sekunde des grausamen Spektakels. Blitze zuckten, erhellten für einen kurzen Moment die entsetzten Gesichter, die sich um den Tatort drängten. Klickende Auslöser, surrende Kameras, ein unaufhörliches Feuerwerk digitaler Erinnerungen. Schreie gellten durch die Luft, vermischt mit dem dumpfen Aufprall von Körpern, die zu Boden gerissen wurden. Ein Mann stolperte über Marias ausgestreckten Arm, fluchte laut und riss sich los, während eine junge Frau mit Kalkgesicht sich übergeben musste. Intuitiv griff Pfeiffer nach seinem Handy. Keine neue Nachricht, kein Anruf. Er wählte die Nummer des Anrufers, die er sich eingeprägt hatte. Besetzt. Er versuchte es erneut. Besetzt. Er musste den Anrufer erreichen. Verdammten Kerl. Er drängte in die Masse, so schnell ihn seine Beine trugen, vorbei durch die gaffenden Passanten, den hupenden Autos, den blinkenden Ampeln. Er musste zu Maria, er musste … zu spät … sie trugen eben ihren Körper auf einer Bahre davon. Wie ein lebloses Püppchen schimmerte ihre blasse Haut gespenstisch im Dunst der Blitzlichter. Die Männer in Weiß hatten Maria bereits in ihren Besitz genommen. Pfeiffer wollte schreien, wollte rennen, sie aufhalten, doch seine Füße waren wie einbetoniert. Er brachte keinen Laut hinaus. Ihm blieb nur die Erinnerung an ihren letzten Blick, diesen durchdringenden, flehenden Blick, der ihn von nun an immer verfolgen sollte, der ihm sagte, dass er versagt hatte. Er hatte sie nicht beschützen können, hatte die Zeichen nicht gesehen, hatte sie alleingelassen in ihrer Angst. Doch dann, genau dort, wo Marias zerfetzte Hand zuletzt den Boden berührt hatte, entdeckte er ihn. Einen kleinen, zerknitterten Zettel aus Zeitungspapier. Fast verschluckt von dem wuchernden Grün der Katzenminze sah er ihn. Pfeiffer kniete nieder, der betörende Duft der Pflanze vermischte sich mit dem beißenden Geruch frisch aufgeworfener Erde und Geschlachteten. Vorsichtig, als könnte der Zettel zerfallen, löste er ihn aus dem Gestrüpp. Seine Augen weiteten sich. Keine Nachricht, kein letzter Gruß. Nur ein kleiner, grüner Klumpen, festgeklebt an feuchtem Papier. Pfeiffer nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger und zerbröselte ihn. Der vertraute Geruch stieg ihm in die Nase. Hanf. Hanf? Verdammt war es Hanf? Nein … es war … das war … Katzenminze? Katzenminze! Ein krampfartiges Lachen entfuhr ihm, hallte zwischen den Bäumen wider und verlor sich in den Körpern um ihn herum. Katzenminze! Als wäre das die Antwort auf all die Fragen, die ihn quälten, als könnte dieses harmlose Kraut den Schleier des Unfassbaren lüften. „Warum?“, krähte er, „Warum, Maria? Was soll mir das sagen?“ Er kniete nieder und die Hände krallten sich in die feuchte Morgenerde. Aber die Erde schwieg und gab ihm nur den süßlichen Geruch der Katzenminze zurück. „Katzenminze!“ Das Wort explodierte in seinem Kopf, zerfetzte seine Gedanken, ließ ihn aufschreien wie ein verwundetes Tier kurz vor der Flucht. Er presste die Krümel an sein Gesicht, wühlte seine Nase in das grüne Pulver, als könne er sich so in Marias Geist graben und ihre Geheimnisse einatmen. Mit der Wucht eines Erdbebens kam die Erkenntnis. Keine Erleuchtung, kein Flüstern, sondern eine brutale Detonation, die ihn von innen heraus zerriss, ihn taumeln ließ, als würde der Boden unter seinen Füßen wegbrechen. Es war der Geruch, der ihn seit Wochen verfolgte, der ihn in den Schlaf gefolgt war, der sich in seine Träume geschlichen hatte, der sich wie ein unsichtbares Netz um ihn gezogen hatte, immer enger, immer bedrohlicher. Katzenminze. Überall Katzenminze, seit Dorothea dieses verdammte Kraut in jeden Winkel des Gartens gepflanzt hatte. Sie hatte ihn eingehüllt, ihn manipuliert, ihn langsam und unaufhaltsam in den Wahnsinn getrieben.Katzenminze, kein Lockmittel mit dem Versprechen auf Ekstase, Liebe und Vergessen. Nein! Es war der Duft des Todes, es war Dorotheas Duft. In diesem Moment erkannte er die ganze Wahrheit, das unheilvolle Vorzeichen seines Untergangs.

Wie ein Schlafwandler wankte Pfeiffer zum Fenster. Er warf einen Blick nach draußen, sah eine Frau im roten Mantel auf dem Pflaster liegen.
„Maria!“, schrie er völlig verzweifelt.
Stolpernd rannte er zur Tür. Lief den Flur entlang, sah kaum, wo er hintrat. Er schlug auf den Pfeil nach unten, um den Aufzug zu rufen.
Eine Ewigkeit später ertönte endlich das Ping des Aufzugs und die Türen gingen auf. Eine weitere Ewigkeit musste Berger warten, bevor er endlich im Erdgeschoss angekommen war.
Er stürzte zur gläsernen Eingangstür. Die Dame an der Rezeption schrie: „Nein, gehen sie nicht raus, Herr Pfeiffer. Da draußen hat irgendein Verrückter geschossen, ich habe bereits die Polizei informiert!“
Er hörte ihre Worte, aber ignorierte sie. Unter ihren aufgeregten Rufen eilte er nach draußen. Stolperte über den Bürgersteig, stürzte zu Boden und riss sich die Handflächen auf. Rappelte sich wieder auf, den Blick auf den regungslosen Körper gerichtet.
Ohrenbetäubendes Hupen und quietschende Bremsen, als er auf die Straße rannte. Flüche, die er nicht verstand. Irgendjemand versuchte, ihn aufzuhalten.
Endlich fiel er neben Maria auf die Knie. Den Schmerz, den der Aufprall auf dem Gehweg verursachte, nahm er nur wie durch Watte wahr.
Durch den Tränenschleier sah er alles nur verschwommen und undeutlich. Er krallte die Finger verzweifelt in ihren roten Mantel. Sein Weihnachtsgeschenk, das ursprünglich karmesinrot gewesen war, hatte sich durch das viele Blut dunkler gefärbt.
Neben ihr lag eine schwarze Pistole, mit der sie sich in die Brust geschossen hatte. Sie musste ihr beim Sturz aus der Hand gerutscht sein.
Marias schwarzen Haare lagen wie ein Totenkranz um ihren Kopf ausgebreitet auf dem Bürgersteig.
Ihre braunen Augen starrten teilnahmslos an Pfeiffer vorbei.
Moment mal! Maria hatte stechend blaue Augen!
Pfeiffer riss sich zusammen und blinzelte die Tränen aus seinen Augen. Er zwang sich, das Gesicht genauer anzusehen.
Wie unendlich groß war seine Erleichterung, als ihm klar wurde, dass nicht Maria vor ihm lag. Die Wangenknochen waren zu kantig, die Augen hatten die falsche Farbe und der Haaransatz war zu weit hinten. Allerdings hielt seine Erleichterung nur einen kurzen Augenblick, denn die Tatsache, dass es nicht Maria war, warf einige Fragen auf: Wer war die Tote und warum hatte sie sich umgebracht? Und warum hatte sie sich mit dem Mantel solche Mühe gegeben, wie Maria auszusehen?
Pfeiffer stand mit zittrigen Knien auf, als sich auch schon heulende Sirenen näherten.
Sanitäter schauten nach der Toten, stellten fest, dass sie nichts mehr tun konnten, und riefen den Leichenwagen. Polizisten sperrten den Tatort ab, verscheuchten alle Schaulustigen und baten Pfeiffer, ihnen die Geschehnisse zu erklären.
Er saß nun mit zwei Uniformierten in seinem Büro bei einer Tasse seines geliebten Kaffees und beendete mit dünner Stimme seinen Bericht.
„Der Anrufer machte mir klar, dass Maria sterben würde, wenn ich nicht sofort das Video hochladen würde. Also tat ich natürlich was von mir verlangt wurde, um meine Freundin zu retten.“
Der Polizist, der sich als Stetwig vorgestellt hatte, unterbrach ihn: „Sie sagten vorhin, Sie hätten aus dem Fenster gesehen und dort die Frau als ihre Freundin Maria erkannt. Ist ihnen da nicht aufgefallen, dass sie gar nicht Maria ist?“
„Nein, herrje. Ich befand mich in einer emotionalen Ausnahmesituation. Ich habe nur den roten Mantel und die schwarzen Haare gesehen. Aus der Entfernung sah sie eben wie Maria aus.“
„Hätten Sie das Video hochgeladen, wenn man Ihnen nicht gedroht hätte, dass ihre Freundin stirbt?“, fragte nun der zweite Polizist, dessen Name Pfeiffer bereits wieder vergessen hatte.
„Nein, natürlich nicht!“, brauste Pfeiffer auf. „Ich bin doch kein Armateur, der ohne irgendwelche Fakten und Hintergrundwissen ein Video hochlädt, das einen Mord zeigt!“
Stetwig schaltete sich ein. „Es liegt also nahe, dass jemand Sie glauben machen wollte, ihre Freundin stirbt, damit sie ohne Fragen zu stellen das Video hochladen!“
„Ja, so muss es wohl sein!“, stimmte Pfeiffer zu. „Derjenige hatte damit ja auch Erfolg.“
„Sie erwähnten vorhin, dass die Stimme aus dem Video und die des Anrufers dieselbe war. Sind Sie sich da ganz sicher?“
„Ja, ich habe sie eindeutig erkannt.“
Die Polizisten nickten und einer machte sich eine Notiz auf seinem Tablet.
„Noch eine letzte Frage. Standen Sie jemals in Kontakt mit extremistischen Gruppen oder Vereinigungen? Entweder privat oder wegen ihrem Beruf?“
Einen kurzen Moment zögerte Pfeiffer. Doch dann dann sagte er langsam, wie um sich selbst zu überzeugen: „Nein… Nein, nicht, dass ich wüsste!“
Sie fragten Pfeiffer noch nach einigen Details, und er antwortete so genau, wie er konnte. Dann verabschiedeten sie sich, baten ihn aber, sich zu ihrer Verfügung zu halten. Außerdem versicherten sie ihm, dass sie sich um das Video kümmern würden. Dann waren sie weg.
Auf einmal kam Pfeiffer der Co-Working Space viel zu leise vor. Er wünschte sich, er wäre nicht der Einzige hier im Büro.
Er überlegte kurz, ob er nach Hause gehen sollte, aber dann schaltete er doch lieber seinen Bildschirm an.
Er öffnete die Seite, auf der er das Video hochgeladen hatte. Er versuchte, ob er das Video wieder löschen konnte, aber das war nicht möglich. Das würde also wirklich die Polizei erledigen müssen.
Eher zufällig scrollte er auf der Seite nach unten und ihm fielen einige Kommentare zu dem Video ins Auge:

#VerdammteKapitalisten

#GeldWichtigerAlsMenschenleben

Kapitalistenschwein. Ich werde dich finden, du Arschloch und dich kalt machen!

Er überflog noch weitere Kommentare und die meisten waren im selben Ton gehalten. Alle veröffentlich unter Synonymen, die keinen Rückschluss auf die eigentlichen Personen zuließen.
Auf einmal kam Pfeiffer das ganze seltsam vor. Zwei Selbstmorde in nur zwei Stunden. Eine Person, die scheinbar mit beiden verbunden war, von der man aber nur eine Stimme kannte. Ein Video, dass einen der Selbstmorde bezeugte. Und dazu dann noch der Zusammenhang mit Kapitalismus und den Hasskommentaren im Internet.
Pfeiffer war schon lang genug Journalist, um zu wissen, wann er eine spannende Story vor sich hatte. Und diese hier schrie regelrecht danach, aufgeklärt zu werden!

Der nächtliche Besucher

Die Sonne war längst untergegangen, während Aaron Lindinger immer noch mehr oder weniger planlos in seinem Wohnzimmer hin und her ging, ab und zu einen Zeitungsartikel oder ein Papier mit handschriftlichen Notizen vom Boden aufhob und es anschließend wieder zurück in die heillose Unordnung zurückfallen ließ, die das Parkett des Raumes bedeckte. Das etwas altmodisch eingerichtete Zimmer wirkte mit den, überall am Boden verteilten, Zei-tungsschnipseln, Bildern und sonstigen ›Hinweisen‹ wie das Klischee der Stube eines Detektivs – oder Serienmörders. Wenn man dem Schild neben der Haustür Glauben schenken konnte, handelte es sich um ersteres. Es besagte: »Aaron Lindinger – Privatdetektiv«.
Lindinger selbst wirkte auch recht passend wie das Klischee eines Detektivs aus einem klassischen Kriminalroman: Er war lang und hager, trug ein braunes Hemd mit einem cremefarbenen Pullunder darüber, einen kurzen braunen Bart, sowie eine Baskenmütze im gleichen Farbton des Hemds, die er sogar zu Hause anhatte, weil sie die praktische Nebenfunktion besaß, seine wilden Haare in eine halbwegs ordentliche Form zu zwingen. Da er gerade nicht an einem Fall arbeitete, hatte er sich wieder einmal der verhassten Aufgabe zugewandt, ein wenig Ordnung in sein Arbeitsmaterial zu bringen. In Wirklichkeit war es jedoch nicht mehr als eine bloße Augenauswischerei, bei der er versuchte, so viel Zeit wie möglich totzuschlagen, bis irgendwann doch ein neuer Fall kam.
Lindinger seufzte, ließ sich auf das Ledersofa sinken und klappte seinen Rechner auf, um zum dutzendsten Mal seine E-Mails zu überprüfen, in der Hoffnung, jemand hätte ihn mit einem neuen Fall beauftragt. Es war bloß eine Nachricht im Spam-Ordner mit einer Wegwerfadresse. Er öffnete sie aus reiner Langweile, in Erwartung einer wilden Geschichte (die E-Mail-Betrüger schienen neuerdings eine Art bessere Schriftsteller geworden zu sein). Dann stutzte er. In der Nachricht war kein Text, sondern nur drei beigefügte Dateien. Die erste war ein PDF-Dokument und hieß: »Akte Selbstmordfall«, die anderen beiden waren Video-Dateien und trugen die Namen: »Beweisvideo 1« und »Beweisvideo 2«.
»Sowas«, murmelte Lindinger. »Sollte sich der Herr Inspektor doch einmal erbarmt haben und mir einen neuen Fall zukommen lassen?«, sagte er spöttisch lächelnd. Die Vorstellung, sein Rivale Inspektor Hartmann würde ihm Beweismaterial zu einem Fall zuspielen, schien noch unmöglicher, als dass Lindinger es einmal schaffen würde, das Wohnzimmer in Ordnung zu bringen. Vor allem, da er nun sah, dass die Informationen in dieser Akte, die er mitt-lerweile geöffnet hatte, keinesfalls zur Weitergabe bestimmt waren. Darin war der gesamte Tatbestand der rätselhaften Selbstmordfälle beschrieben, von denen er bereits in den Nachrichten gelesen hatte.
Rasch glitten seine Augen über den Text. Sein geübter Blick saugte alle Informationen auf: Der erste Vorfall hatte sich vor der Haustür eines gewissen Richard Berger abgespielt. Dieser hatte vorgegeben, zwei fremde Männer hätten 10 000 Euro von ihm verlangt. Als er nicht auf die Forderung eingegangen sei, habe der ältere sich erschossen, während der jüngere alles aufnahm. Als die Polizei jedoch wenig später eintraf, fehlten sowohl von dem jüngeren Mann, ebenso wie von der Leiche jede Spur. Nur die Blutlache war noch zu sehen. Berger hatte keine Möglichkeit, den, von ihm geschilderten, Tathergang zu beweisen.
Wenig später ereignete sich jedoch der zweite Vorfall: Dem Journalisten Christian Pfeiffer wurde die Aufnahme des Selbstmords per E-Mail zugespielt, welche die Tat so zeigt, wie Berger sie beschrieben hatte. Als der Journalist nicht schnell genug auf die Forderung des Absenders einging, die Aufnahme auf dem Social-Media-Account der Zeitung hochzuladen, hatte sich nach Angaben Pfeiffers noch jemand erschossen, und zwar im Hof des Gebäudes. Eine gewisse Maria Ficht, doch auch hier wurde keine Leiche, sondern bloß eine Blutlache gefunden.
Als Lindinger mit der Akte fertig war, sah er sich die beiden Aufnahmen an. Die erste war jene, die auch bereits an Pfeiffer gesendet worden war und deren Inhalt er aus der Akte kannte. Die zweite war von der Ferne aufgenommen und zeigte eine Frau in einem auffälligen roten Regenmantel. Es musste sich um Maria Ficht handeln. Die Aufnahme endete in einer ähnlichen Szene, wie die vorherige, doch war der Vorgang von der Ferne nicht ganz so gut zu erkennen. Lindinger grübelte. Was konnte das alles bedeuten?
Plötzlich klingelte das Mobiltelefon. Sein Herz machte einen Sprung. Hastig nahm er das Te-lefon zur Hand und drückte auf Annehmen.
»Lindinger.«
»Haben Sie meine Nachricht erhalten?«, erklang eine tiefe Männerstimme. Lindinger erkannte sie sogleich als die Stimme aus dem Video.
»Das nenne ich mal mit der Tür ins Haus fallen«, antwortete er mit der ihm eigenen Gelassenheit. »Wenn Sie die Nachricht mit dem Anhang meinen, der sich wahrscheinlich gar nicht in Ihrem Besitz befinden dürfte, dann lautet die Antwort: ja.«
»Ebendiese.«
»Dann war es also doch nicht der Herr Inspektor.«
Die stimme lachte. »Ganz bestimmt nicht. Ich hoffe Sie haben mich erkannt?«
»Ich bitte Sie! Ich bin Detektiv«
»Gut, dann wissen Sie sicherlich, dass ich an einer Schwäche für Countdowns leide.«
»Den Eindruck habe ich tatsächlich gewonnen. Darüber, ob Sie oder andere darunter leiden, könnte man allerdings diskutieren.«
Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte erneut. »Wie schön, dass Sie so einen kühlen Kopf haben. Den werden Sie noch brauchen, Herr Aaron Lindinger. Kommen wir zum Punkt: Wie Sie sicherlich schon erraten haben, stelle ich auch an Sie eine Forderung. Die schlechte Nachricht zuerst: Ihre Aufgabe ist weit schwerer zu erfüllen als jene ihrer Vorgänger.«
»Ich bin ganz Ohr.«
»Ich beauftrage Sie damit, die rätselhaften Selbstmordfälle aufzuklären. Sollten Sie versagen, so wird sich erneut jemand das Leben nehmen.«
»Und wer, wenn ich fragen darf?«, fragte Lindinger nach wie vor mit gelassener Stimme, doch sein Herz pochte wie wild.
»Das werde ich Ihnen nicht verraten, Herr Lindinger. Ich glaube jedoch hinreichend klargemacht zu haben, dass ich nicht bluffe.«
»Keine Sorge, ich bin vollends überzeugt. Nur warte ich noch immer auf die gute Nachricht.«
»Die gute Nachricht ist, dass Sie weit mehr Zeit haben werden als ihre Vorgänger. Ich gebe Ihnen von jetzt an genau drei Tage, um den Fall zu lösen. Viel Glück!«
Lindinger wollte eben etwas fragen, doch der Anrufer hatte bereits aufgelegt. Der Detektiv lehnte sich zurück und strich sich langsam über den Bart, während in seinem Kopf die Gedanken rasten. Doch auch diesmal sollte ihm keine Zeit zum Nachdenken vergönnt sein, denn mit einem Mal war das Licht aus. Lindinger erschrak, als er plötzlich im Dunkeln saß, doch fasste er sich schnell wieder – es musste ein Stromausfall sein. Er wollte gerade wütend etwas gegen das Stromnetz ausstoßen, doch die Worte blieben ihm im Hals stecken - da war jemand an der Haustür!
Mit klopfendem Herzen hörte Lindinger, wie der Knauf ganz leise und vorsichtig gedreht wurde. Sein Revolver! Er brauchte seinen Revolver. Doch wo war der bloß? Unglaublich be-dacht darauf, keinen Laut von sich zu geben, tastete er die Tischfläche ab. Er hatte doch auf dem Tisch gelegen! Die Tür schwang langsam einen Spalt auf, dann erblickte er für einen Augenblick einen Schatten im Türrahmen. Lindinger gab weiterhin keinen Ton von sich. Wo war die Waffe bloß? Er hatte doch bereits die ganze Tischfläche abgetastet!
Dann hörte er es rascheln. Der Unbekannte war auf das Papierchaos getreten und hielt inne. Lindinger rührte sich nicht. Nach einigen unendlich langen Momenten ging der Unbekannte weiter. Wegen der Papiere konnte Lindinger jeden Schritt hören. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Die Person war mittlerweile in der Mitte des Raumes angelangt und hielt inne. Lindinger vernahm leises Atmen. Dann seltsame Geräusche. »Was tut er?!«, schoss es ihm durch den Kopf. Was auch immer es war, der Jemand war damit fertig und ging wieder zurück zur Tür. Da! Endlich bekam Lindinger den Revolver zu fassen – er hatte doch am Tisch gelegen. In dem Moment sah er wieder kurz den Schatten zur Tür hinaushuschen.
Er griff sich sein Handy, sprang auf und rannte zur Tür, während er die Taschenlampe an-schaltete. Er riss die Tür auf, stürmte hinaus und schrie: »Hände hoch!« … Nichts. Er ließ den Lichtkegel über die Umgebung streifen und die herbstlichen Bäume warfen ein unheimliches Schattenspiel auf den Boden, doch weit und Breit war niemand zu sehen. Wie konnte das sein? Da blitzte etwas rot im Lichtschein auf. Lindinger ging langsam darauf zu, sich andauernd vorsichtig umblickend. Es war ein Regenmantel, der an seinem Gartenzaun hing – einem jener unguten Metall-Konstrukte, an denen man nur zu leicht hängenblieb. So musste es auch dem Einbrecher ergangen sein, weshalb dieser aus dem Mantel schlüpfen musste, weil er sich nicht schnell genug hatte befreien können.
Aaron Lindinger erkannte den Mantel sofort. Es war ebenjener, den die Frau im Video getragen hatte. »Großer Gott«, sagte er leise. »Was in aller Welt geht hier vor?«

Offene Enden – dritter Teil
Zehntausend Euro

Online

von Jens Skowronek

Du warst zu spät … zu spät! … zu spät! In endloser Wiederholung schien sich dieser Satz in Christian Pfeiffers Gehirn förmlich einzubrennen. Er zerdrückte den leeren Kaffeebecher und feuerte ihn auf den abgewetzten Klappsitz an der Wand gegenüber.
»Herr Pfeiffer?«
»Entschuldigung, sind Sie Herr Pfeiffer, der Mann von Maria Pfeiffer?«
Christian sah erschrocken nach rechts. Dicht neben ihm stand ein schlanker, großer Mann in einer grünen Chirurgen-Montur und blickte ihn fragend an.
»Ja, bin ich.«
»Dann habe ich gute Nachrichten für Sie«, antwortete der Mediziner. »Ihre Frau hatte großes Glück, die Operation ist gut verlaufen. Ein glatter Durchschuss. Nur zwei Zentimeter weiter rechts und wir hätten Sie womöglich nicht retten können.«
»Sie … sie wird nicht sterben?«, antwortete Pfeifer mit brüchiger Stimme.
»Nein, keine Sorge, Ihre Frau bleibt Ihnen erhalten. Wenn die Wundheilung gut verläuft, ist sie in einer Woche wieder daheim.«
»Das ist ja, das ist ja … ich kann Ihnen gar nicht sagen …«
»Alles gut, Sie müssen gar nichts sagen. Freuen Sie sich einfach.«
»Darf ich zu ihr?«
»Leider noch nicht. Ihre Frau bekommt starke Beruhigungsmittel und braucht jetzt Ruhe. Sie können frühestens heute Abend zu ihr. Rufen Sie am besten vorher auf der Station an. Ihnen und Ihrer Frau alles Gute.« So leise wie der Arzt gekommen war, entschwand er mit raschen Schritten hinter einer Automatiktür.
Pfeiffer sackte auf dem Besucherstuhl zusammen, stütze den Kopf auf seine Arme und ließ allen angestauten Emotionen ihren Lauf.

»Christian?«
»Was?«, Pfeiffer schreckte hoch. Er musste eingeschlafen sein.
»Christian, was ist mit Marie?«
Aus verquollenen Augen sah Pfeiffer hoch. »Ach Du bist es, Magnus.«
»Sag schon, was ist mit ihr?«, drängte sein Chef.
»Nur ein glatter Durchschuss, keine wichtigen Organe verletzt, sie wird wieder«, antwortete Pfeiffer im Stenogrammstil. Er hatte gerade so gar keine Lust mit irgendjemandem zu reden, schon gar nicht mit dem großen Magnus.
»Echt, das freut mich total!«
»Und mich erst«, entgegnete Pfeiffer einsilbig.
»Schöne Grüße von Allen soll ich übrigens ausrichten.«
»Danke.«
»Ähm … Christian. Ich weiß, das ist jetzt sicher nicht der richtige Augenblick. Aber was hat das auf sich mit diesem Wahnsinns-Video, das Du da hochgeladen hast?«
»Magnus, Du hast recht.«
»Wie? Was meinst Du?«
»Es ist nicht der richtige Augenblick!«, knurrte Pfeiffer.
»Schon gut, schon gut. Ich meine ja nur. Über 300.000 Klicks in zwei Stunden hatten wir noch nie. Das geht viral, das wird der ganz große Knaller!« Magnus Schallers Augen glänzten wie im Fieber.
»Ich scheiß auf Deine Klicks, Magnus!«
»Heh, komm schon. Du bist doch Vollblut-Journalist. Erzähl mir nicht, das Du nicht auch schon die ganz große Story witterst.«
»Hau einfach ab und lass mich in Ruhe!«
»Ok, dann macht es eben Elias und Du bist raus. Tut mir leid, Christian. Und mit raus meine ich ganz raus!«
»Dein ernst?«, Pfeiffer starrte seinen Noch-Chef an.
»Mein ernst!«
»Das Du ein mieses Schwein bist, wusste ich schon, aber ein solches Granatenar…«, abrupt unterbrach ihn das Klingeln seines Handys.
»Pfeiffer«, meldete er sich.
»Ich weiß, wir kennen uns«, antwortete eine tiefe Männerstimme. »Gehen Sie zu Ihrem Rechner!«
»Tja das wird nichts. Ich habe keinen mehr«, entgegnete er mit Blick auf Magnus.
»Wie bitte?« Pfeiffer war, als wäre da so etwas wie Unsicherheit herauszuhören.
»Sind Sie etwa gekündigt worden?«
»So wie es aussieht ja.«
»Ich glaube, das wird sich Ihr Chef anders überlegen.«
»Das besprechen Sie am besten gleich selbst mit ihm«, sagte Pfeiffer und reichte Magnus Schaller das Telefon.
»Äh, ja. Schaller hier.«
Das Gespräch war kurz und einseitig, denn sein sonst so eloquenter Chef steuerte lediglich stotternd abgehakte Satzfragmente bei. »Hier nimm!«, hielt er Pfeiffer schließlich mit zitternder Hand das Telefon hin. »Er will, dass Du weitermachst. Nur Du, niemand anderer.«
»Ah ja, interessant«, antwortete Pfeiffer.
»Ok, Du bist wieder im Spiel. Aber mach jetzt. Der Kerl meint es ernst!«
»Leitender Redakteur Politik überregional?« Pfeiffer sah Schaller herausfordernd an.
»Ja doch, alles was Du willst, aber mach!« Schweißperlen standen seinem Chef auf dem roten Gesicht.
Pfeiffer nahm das Handy. »Ich höre«, sagte er.
»Das wäre dann geklärt«, sagte die tiefe Stimme. »Sehen Sie sich das neue Video auf ihrem Handy an. Als Online-Redakteur werden Sie ja wohl einen mobilen Mail-Zugang haben.«
»Seit eben Chef Politik überregional Sie Arschloch!«, antwortete Pfeiffer und wunderte sich selber über seine Reaktion.
»Wir können es auch lassen«, antwortete die Stimme gelassen, »ganz wie Sie wollen. Aber beschweren Sie sich dann nicht über die Folgen.«
»Schon gut, ich mach es.«
Pfeiffer öffnete die Mail App. Der Absender war unverkennbar wieder eine Wegwerf-Adresse mit einem Link. Pfeiffer klickte. Wieder ein verwackeltes Handy-Video. Ein Haus, zwei Männer. Von dem hinter der Kamera sah er nur die Füße, der andere ein älterer Herr mit grauem Haar. Er schien Angst zu haben. Sie klingelten, die Tür öffnete sich. Das Video zeigte einen schlanken Mann mit gepflegtem Vollbart in einem edlen Dreiteiler. »Was wünschen Sie«, fragte er, dann schwenkte die Kamera auf den älteren Herren. Pfeiffer musste schlucken, denn er wusste, was folgen würde.
»Geben Sie ihm zehntausend Euro«, hörte er die Stimme seines Anrufers. »Sie haben das Geld und er braucht es.«
»Warum sollte ich?«, fragte der Hausbesitzer mit sonorer Stimme.
»Wenn Sie mir keine zehntausend Euro geben, bringe ich mich um«, schrie der ältere Mann verzweifelt.
»Nein! Und bitte verlassen Sie jetzt mein Anwesen.«
Der Schuss war leiser, als Pfeiffer ihn in Erinnerung hatte, trotzdem zuckte er heftig.
Der Mann mit dem Handy, sein Anrufer, schrie erneut das, was Pfeiffer schon kannte: Geiz … Schwein … Ausbeuter … Kapitalist!«, dann war das Video zu Ende.
»Also, Herr Pfeiffer, Sie kennen sich ja schon aus. Laden Sie das Video auf den Account Ihrer Zeitung. Sie haben zwei Minuten. Die Zeit läuft.«
»Sie werden doch nicht wieder jemanden niederschießen, wenn ich zu spät bin?«
»Ich hoffe, das ist dieses Mal nicht nötig.«
»Wer sind Sie?«
»Sie haben noch 120 Sekunden.«
Pfeiffer gab mit zitternden Fingern den Account seiner Zeitung ein. Die Netzverbindung war nicht gut, die Seite baute sich nur nach und nach auf.
»Auf wen richten Sie gerade Ihre Pistole?«, fragte er.
»Das werden Sie in ein paar Minuten im nächsten Video sehen. Sie haben es in der Hand, in welchem Zustand die Person dann ist. Ich verrate Ihnen nur soviel: Sie kennen auch diese Person gut. Sie lässt Sie übrigens schön grüßen und ausrichten, Sie mögen sich beeilen.«
Das Passwort hatte er zum Glück noch im Kopf. Bei 20 Sekunden schob er die Datei vom Download-Ordner in den Browser.
Bei fünf Sekunden war das Video hochgeladen.
Bei drei Sekunden drückt er auf veröffentlichen.
Pfeiffer schloss die Augen und wartete auf den Schuss.
»Sehr knapp, wirklich sehr knapp, Herr Pfeiffer. Morgen, wenn wir uns wieder hören, sollten Sie sich besser etwas mehr beeilen«, sagte die Stimme.
Pfeiffer schaute auf sein Handy. Gespräch beendet stand da.

Das Mädchen
»Volltreffer! Was für’n Headshot!« Loro senkte ihre Pumpgun und sprang seitlich weg vom Fenster. Ein Mutant weniger, ihr Puls raste. Mit nur einem Schuss hatte sie dieses rote Etwas plattgemacht. Und das auf die Sekunde genau. Das musste ihr erst mal ein Player nachmachen. Sie hatte die Quest fast geschafft, jetzt musste sie nur noch unbemerkt aus der Festung gelangen und dann weiter zum Zielpunkt, ohne sich erwischen zu lassen. Die Waffe ließ sie liegen, so wie es der Master befohlen hatte. Sie nahm noch einen Schluck Elixier aus ihrem Inventar, dann stürmte sie ins Treppenhaus und eilte vier Stockwerke nach unten. Niemand kam ihr entgegen. Durch eine Hintertür gelangte sie nach draußen, wo ihr der eisige Herbstwind entgegen blies. Sie zog ihr Halstuch über Mund und Nase und blickte sich um. Die Straße war wie leergefegt. Ihre Mustang Cross, ein orangefarbenes Moped aus den 70ern stand noch vorm eingeschlagenen Schaufenster der Reiseagentur Berger. Sie zog ihren gehörnten Helm über ihre pinken Haare und schwang sich auf den Sattel. Bevor sie losfuhr, schielte sie nach rechts oben zur Map. Der rote Zielpunkt pulsierte südlich von ihrer aktuellen Position am Europagarten. Bis dorthin musste sie es in nur fünfzehn Minuten schaffen, ohne von den Warlords aufgespürt zu werden. Sie trat auf den Kickstarter, beugte sich nach vorn und schoss mit Vollgas vorbei an rauchenden Ruinen und Barrieren aus Stacheldraht. Von Weitem sah sie das Portal leuchten. Sie beschleunigte, fuhr hindurch, Fanfaren ertönten, Sterne blitzten auf, ein Dopamin-Shot vom Feinsten. Sie hatte es geschafft: Loro war ins nächste Level aufgestiegen, vom Sniper zum Assassinen. Noch während der Fahrt loggte sie sich aus dem Game aus. Plötzlich sah Frankfurt wieder aus wie Frankfurt und statt Warlords und Dämonen liefen ganz normale Menschen durch die Stadt. Ein Sonntag wie jeder andere, konnte man meinen.
Zuhause angekommen, lief sie auf direktem Weg ins Bad und entfernte die AR-Linsen aus ihren Augen. »Mama, Papa!«, rief sie, bekam aber keine Antwort. Sie ging ins Wohnzimmer. Mamas Rasseköter saß winselnd auf dem Perserteppich neben einem stinkenden Häufchen. Sie kramte einen Hundekotbeutel aus der Küchenschublade und entfernte das Malheur. Wo zum Henker steckten ihre Eltern? Loro versuchte, sie auf ihren Handys zu erreichen, wurde aber beide Male mit der Mailbox verbunden. Heute morgen hatten sie wieder mal gestritten. Was bildeten die sich ein, ihre Tochter mit dem Köter alleine zu lassen? Ob ihnen was passiert war? Orpheus’ Winseln riss sie aus ihrem Gedankenstrudel. Mit einem Stöhnen nahm sie die Leine vom Haken und ging Gassi.
Als sie zurückkam, waren ihre Eltern immer noch nicht da und auch nicht, als es schon dunkel wurde. Dass ihre Mutter länger wegblieb, war nichts Neues. Sie kam sonst immer mit einem dämlichen Grinsen auf den Lippen nach Hause und man musste nur eins und eins zusammenzählen, um zu wissen, was Sache war. Eins plus eins macht zwei. Ihr Vater musste an Diskalkulie leiden, wenn er nicht schnallte, dass Mama einen Lover hatte. Aber wo trieb sich Papa heute den ganzen Tag herum? Um sich abzulenken, ging Loro ins Bad und friemelte die AR-Linsen aus dem Döschen mit der Aufschrift Scheinwelt. Mit dem Zeigefinger setzte sie die gewölbten Scheiben auf ihre Hornhaut und blinzelte ein paarmal. Ein neuer Auftrag vom Master war jetzt genau das Richtige, um auf andere Gedanken zu kommen. Gerade, als sie das Game starten wollte, klingelte es. Seufzend schlürfte sie zur Tür.
Kommissar Marco Rieder erschauderte, als ein Mädchen mit pinkfarbener Stachelfrisur vor ihm stand. Das arme Ding war kaum älter als seine sechzehnjährige Tochter. Suicide Soldiers las er auf ihrem Shirt, darunter eine schwer bewaffnete Mangafigur und das Logo des Frankfurter Startups Scheinwelt. Hatten die nicht kürzlich wegen schlechter Presse Konkurs angemeldet?
»Guten Abend, Rieder mein Name, das ist mein Kollege, Kommissar Hohmann. Und du bist?«
»Loreen Francke.« Ihre Stimme zitterte, als ahne sie, was er zu sagen hatte.
»Können wir deinen Vater sprechen?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ist nicht zuhause.«
»Wo ist er denn gerade?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung, geht nicht ans Handy.«
»Wohnen deine Großeltern vielleicht in der Nähe oder andere Verwandte?«, fragte Hohmann.
Sie schüttelte den Kopf. »Sind sie tot?«
Rieder starrte sie entsetzten an. Wie abgebrüht war dieses Mädchen?
»Dürfen wir erst mal reinkommen?«, fragte Hohmann.
Sie nickte stumm und trat zur Seite.
Im Wohnzimmer begrüßte sie ein aristokratisch anmutender Windhund mit wedelndem Schwanz.
»Orpheus, sitz!« Das gazellenhafte Tier machte kehrt und legte sich mit einem fast menschlichen Seufzer in sein Hundebett. Das Mädchen ließ sich in einen Designersessel plumpsen, auf dem sie aussah wie ein Fremdkörper. Die beiden Kommissare setzten sich ihr gegenüber auf die dazu passende Ledercouch.
Rieder holte tief Luft, als wolle er untertauchen. »Loreen, wir müssen dir leider etwas mitteilen. Etwas … naja … etwas sehr Trauriges.« Er wünschte sich, Hohmann würde übernehmen. Normalerweise war er routiniert, wenn es um Todesnachrichten ging, aber hier saß ihm ein junges Mädchen gegenüber, fast noch ein Kind.
»Sind sie tot?«, fragte sie noch einmal.
»Deine Mutter, es geht um deine Mutter, Maria Francke«, stammelte Rieder.
Das sah ihn erwartungsvoll an. Erst jetzt fielen ihm ihre lilafarbenen Augen auf. Bunte Kontaktlinsen? Was es heutzutage alles gab!
Hohmann räusperte sich. »Loreen, ich muss dich das jetzt fragen: trug deine Mutter heute einen roten Mantel?«
Sie nickte. Eine Träne kullerte über ihre Wange. Dumm war die Kleine nicht. Rieder konnte den Anblick nicht ertragen und schaute zur Seite. Sein Blick fiel auf ein gerahmtes Foto, das auf dem Sideboard stand. Vater, Mutter, Kind — das Bild einer heilen Familie. Ein süßes Mädchen mit blonden Zöpfen, eine bildhübsche Frau und ein Mann mit leicht ergrautem Bart. Ihm stockte der Atem. Dieses Gesicht hatte er heute schon einmal gesehen, in dem Video, das ihm vorhin dieser Journalist gezeigt hatte. Es war derselbe Typ, der sich heute Morgen vorm Haus der Bergers erschossen hatte.
Von Katharina Schütz (Sifaka)

Neuer Mitspieler

Tod, genauer gesagt Tod 49-069-217, starrte auf den Körper von Maria Peppel, die sich so eben selbst erschossen hatte. Man hatte sie vor die Wahl gestellt, sich entweder auf Geheiß hier zu eine Kugel in den Kopf zu jagen oder zuzulassen, dass ihr Baby ertränkt wurde. Dazu hatte sie nur ein gefälschtes Video erhalten, doch weil sie die Kita nicht hatte erreichen können, hatte sie es geglaubt und sich nun geopfert.
So eine Verschwendung.
Weniger Meter entfernt erhoben sich Schreie und ein Körper fiel an der Fassade des nahen Bürotowers vorbei, schlug mit einem dumpfen Knacken auf die Straße.
Christian Pfeiffer, der nicht hatte verhindern können, dass seine Tochter starb, und alle Hoffnung auf Versöhnung mit ihr verloren hatte, hatte schnelle Konsequenzen gezogen.
Ebenso eine Verschwendung.
Tod seufzte und schnitt mit seiner Sense Maria Peppel aus ihrem Körper. Ihre Seele warf er in den Erntekorb auf seinem Rücken, dann glitt er unbemerkt durch die Menge besorgter Bürger und sensationslüsterner Schaulustiger, die sich um beide Suizide scharten. Auch Christian Pfeiffer landete in seinem Korb. So, wie Gerhard Fidsche bereits darin gelandet war, als er keine 10.000 Euro erhalten hatte, und wie Richard Berger darin landen würde, wenn sich das vor nicht mal einer Minute hochgeladene Video auf Social Media verbreitete und die digitale Hetzjagd begann.
Suizide, dachte Tod und verzog das Gesicht. Suizide schmeckten immer nach Verzweiflung. Kein guter Snack. Warum war ausgerechnet er auf diesem Posten gelandet, der hauptsächlich für Selbsttötungen zuständig war? Keine Spur von der Ekstase einer Verfolgungsjagd, kein schöner Crunch von knackigem Horror, stattdessen manchmal sogar eine süßliche Prise friedvoller Erlösung.
Widerlich. Er hatte die Nase voll. Er wollte mal wieder was anderes. Wie wäre es also, wenn er mal bei dem Urheber dieser ganzen Verzweiflung vorbeischaute? Störte bestimmt keinen, wenn er eine so verdorbene Seele vor ihrer Zeit pflückte. Die Menschen wären glücklicher, er hätte mal wieder was anderes zum Knabbern – vielleicht sogar ein wenig fluffigen Wahnsinn – und wenn er es geschickt anstellte, würde sein Boss nicht mal was davon mitbekommen.
Ja, doch, dachte Tod 49-069-217 und lächelte in sich hinein. Das klang nach einem Plan. Es wurde Zeit, dass jemand den Rachefeldzug der Selbstmorde unterband.
Er schwang fröhlich seine Sense herum und machte sich auf den Weg.

Die Hauptkommissarin

Während Richard Berger völlig apathisch und am ganzen Körper zitternd in seinem Wohnzimmer saß und Christian Pfeiffer in der Redaktion hemmungslos schluchzend in Tränen ausbrach, saß Beate Zack mit ihrem Mann gemütlich beim Sonntagsfrühstück in ihrer Küche. Noch ahnte sie nichts von dem Unglück der beiden Männer, auch wenn sich das bald ändern sollte. Jetzt aber genoss sie ihren freien Tag. Sie gehörte eher zur Sorte Morgenmuffel, deshalb frühstückten ihr Mann Rolf und sie sonntags meistens erst dann, wenn andere schon ihr Mittagessen vorbereiteten. So auch heute. Sie biss genüsslich in ihr Marmeladenbrötchen und störte sich nicht daran, dass Rolf, der ihr gegenüber saß, sein Buch las. Seit er in Rente war, las er sehr viel. Meist Agenten- oder Psychothriller, die so spannend waren, dass er selbst in den ungünstigsten Zeiten zu seinem Buch griff. Doch plötzlich schien ihm etwas einzufallen, was wichtiger war als sein Thriller. Er sah auf und blickte Beate mit seinem schelmischsten Grinsen an.

„Hast du heute eigentlich schon dein Kreuzchen in deinem neuen Rentventskalender gemacht?“, fragte er. Beate musste unwillkürlich lachen. Rolf hatte ihr vor zwei Tagen zum Geburtstag einen selbst gemachten Kalender geschenkt. Aber nicht etwa einen mit Fotos und anderen Erinnerungen. Nein, er war aus schnöder weißer Pappe, etwa DinA4 groß. Darauf hatte er fein säuberlich mit Lineal und Geodreieck 100 Kästchen gezeichnet und mit Zahlen zwischen 1 und 100 versehen. Die Zahlen waren aber nicht chronologisch angeordnet, sondern durcheinander, wie bei einem Adventskalender, deshalb auch der Name. Das Kästchen in der Mitte war größer als die anderen und sprang einem förmlich ins Auge. Dort stand in neonpinken Großbuchstaben RENTE, darunter klebten eine kunterbunte glitzernde Torte mit Kerzen und ein glitzernder Teddybär mit Geschenk auf dem Schoß. Beate konnte sich sichtlich vorstellen, wie ihr Mann Emily mit Schokolade und Keksen bestochen hatte, um die Sticker von ihr zu bekommen. Ihre 3-jährige Enkeltochter liebte Sticker über alles und teilte sie nicht gerne.

„Das habe ich glatt vergessen, ich hole es sofort nach“, sagte Beate lächelnd. Sie stand auf, nahm sich einen Stift und ging zum Kühlschrank, an dem sie den Kalender mit Magneten befestigt hatte. Während sie die Nummer 98 suchte, kam sie jedoch ins Grübeln. Manchmal schien es ihr, als freute sich ihr Mann mehr auf ihren Ruhestand als sie selbst. Doch dann verwarf sie den Gedanken wieder. Sie freute sich auch auf ihren Ruhestand. Punkt. In dem Moment klingelte im Flur das Festnetztelefon. „Ich gehe ran“, sagte Beate, „ich stehe ja sowieso schon.“ Während sie aus der Küche ging, sah sie aus dem Augenwinkel, wie Rolf sich wieder in sein Buch vertiefte. Als sie im Flur ankam und auf die Anzeige des Telefons blickte, zögerte sie kurz. Sie kannte die Handynummer nicht, trotzdem hob sie ab.

„Beate Zack. Hallo?“

Am anderen Ende der Leitung hörte sie ein Rauschen und dann eine tiefe, selbstbewusste Männerstimme.

„Beate Zack höchstpersönlich. Was für eine Ehre.“

Beate Zacks Nackenhaare stellten sich auf. Sie erkannte die Stimme nicht, aber der Tonfall des Mannes ließen bei ihr alle Alarmglocken schrillen. Zu oft hatte sie in ihrer bisherigen Laufbahn als Kriminalhauptkommissarin mit Psychopathen zu tun gehabt. Sie konnte nicht erklären, was genau an diesem Tonfall anders war, aber ihr Gefühl hatte sie in der Hinsicht noch nie betrogen. Sofort schaltete sie in ihren Polizisten-Modus.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“, fragte sie ernst und nicht minder selbstbewusst, während sie gleichzeitig ihr Smartphone in die Hand nahm, was direkt vor ihr auf der Kommode lag. Sie nahm das Telefon kurz vom Ohr und tippte die angezeigte Nummer des Anrufers in ihr Handy, um sie an ihren Kollegen Mark Peters zu schicken mit der Bitte um sofortige Prüfung. Peters klebte quasi an seinem Handy und reagierte immer sofort – hoffentlich auch jetzt.

„Das wird nichts bringen. Meine Nummer ist nicht zurück zu verfolgen“, sagte der Mann, als hätte er gesehen, was Beate Zack gerade machte. In dem Moment kam eine Nachricht, dass die Nummer zu einer sehr alten Prepaid Karte gehörte und somit tatsächlich keiner Person zugeordnet werden konnte. Auf Peters war Verlass.

„Einen Versuch war es Wert, meinen Sie nicht? Also, was wollen Sie?“, sagte Beate unbeeindruckt.

„Wissen Sie, Ihr Ruf eilt Ihnen voraus. Sie haben die größte Aufklärungsquote in Ihrer Abteilung. Aber ich habe gehört, Sie gehen bald in Rente, also wollte ich Ihnen vorher noch einen besonders schönen Fall schenken. Einen sehr persönlichen Fall, um genau zu sein. Sie werden in exakt“, er machte eine kurze Pause, „einer Minute und 14 Sekunden einen Anruf auf Ihr Handy bekommen.“

Beate schaute unwillkürlich auf ihre Armbanduhr und verfolgte den Sekundenzeiger.

„Und woher wollen Sie das so genau wissen?“

„Ach, ich habe meine Quellen und Möglichkeiten. Auf jeden Fall werden Sie zu einem, nein, eigentlich zu zwei Tatorten gerufen. Ach so, das wissen Sie ja noch gar nicht: Es gab leider zwei Tote. Selbstmord.“ Das leider betonte er mit einer Süffisanz in der Stimme, die zeigte, wie sehr er diese Situation genoss. Er kicherte fast, als er Selbstmord sagte. In Beate zog sich alles zusammen vor Wut und Ekel.

„Und Sie werden sich wundern – an beiden Tatorten werden Sie alte Bekannte wiedersehen. Aber keine Sorge, nicht die Toten – nur die Zeugen, naja, eigentlich sind sie keine Zeugen, sondern die Schuldigen, wenn Sie mich fragen. Hätten sie einfach gemacht, worum sie gebeten wurden, wäre keiner gestorben. Aber vielleicht schauen Sie sich das Ganze selber an.“

In dem Moment zeigte das Vibrieren ihres Handy den Eingang einer Nachricht an. Es war ein Link zur Website des Frankfurter Generalanzeigers. Sie klickte darauf. Es öffnete sich ein Video. Beate sah Richard Berger, wie er durch den Spalt seiner eigenen Haustür guckte. Ihr wurde schlecht. Rolf und sie waren schon ewig mit Richard Berger und seiner Frau Dorothea befreundet – Rolf und er hatten mehrere Jahre lang zusammen in der gleichen Bank gearbeitet, bevor Richard vor zehn Jahren aus dem Nichts heraus eine Umschulung gemacht und ein Reisebüro eröffnet hatte. Rolf hatte damals vermutet, dass es daran lag, dass er einiges an Geld bei Aktiengeschäften verloren hatte und den Spott der Kollegen nicht ertragen hatte. Jetzt sah Beate zu, wie jemand drohte, sich umzubringen, wenn Richard ihm keine 10.000 Euro gibt. Dann erschoss sich der Mann tatsächlich vor laufender Kamera. Beate hatte schon sehr viel Schlimmes in ihrem Beruf gesehen, trotzdem zuckte sie beim Schuss und dem umher spritzenden Blut leicht zusammen. Gleichzeitig fragte sie sich, wie der Frankfurter Generalanzeiger so ein Video hochladen konnte.

„Christian Pfeiffer war so nett und hat das Video für mich hochgeladen. Leider nicht in der vorgegeben Zeit, deshalb hat sich seine geliebte Maria umgebracht – also Sie sehen, es war jeweils nicht meine Schuld“, beantwortete der Mann auch schon ihre unausgesprochene Frage. Noch ein Name, den Beate kannte. Christian Pfeiffer hatte vor kurzem einen Artikel über Rolfs Bank geschrieben, in dem er krude Hypothesen aufgestellt hatte, dass einige Mitarbeiter der Bank in den letzten Jahrzehnten Geschäfte mit Menschenhändlern und dem organisierten Verbrechen gemacht hätten. Nichts davon konnte er beweisen, er stützte sich auf vage Indizien und Quellen, die sich im Nachhinein als unglaubwürdig herausstellten. Es hatte in den Medien einige Wellen geschlagen, und so viel sie wusste, wurde Pfeiffer daraufhin in die Online-Redaktion versetzt, wo er nur noch unwichtige Themen behandeln durfte.

„Was wollen Sie?“, fragte Beate Zack noch einmal.

„Ich will, dass Sie ermitteln - und zwar nicht so schlampig wie der werte Herr Pfeiffer. Auf Journalisten ist einfach kein Verlass.“ Der Mann schnaubte abfällig. „Und ein kleiner Tipp: Suchen Sie nicht nach mir. Das bringt nichts. Mich werden Sie nicht finden. Fangen Sie lieber bei Ihrem Mann und seinem Kumpel Richard an. Die haben nämlich viel mehr Leichen zu verantworten als Sie sich vorstellen können.“

Bevor Beate irgendetwas darauf erwidern konnte, vibrierte ihr Handy. Sie schaute auf ihre Uhr. Es waren genau eine Minute und 14 Sekunden vergangen, seitdem sie das letzte Mal drauf geschaut hatte. Der Mann am Telefon hatte bis auf die Sekunde genau recht gehabt.

„Ich lasse Sie dann mal arbeiten“, sagte er und legte auf.

Beate Zack nahm den zweiten Anruf entgegen und hörte mit halbem Ohr zu, wie ihr die Zentrale kurz und knapp berichtete, was sie schon wusste. Der Kollege bat sie - trotz ihres freien Tages – zur zweiten Leiche in der Nähe des Europaparks zu fahren, weil die Kollegen von der Bereitschaft sich nicht zweiteilen konnten und bereits auf dem Weg zu Richard Berger waren. In Beates Kopf rasten die Gedanken durcheinander. Konnte dieser Psychopath Recht haben? Hatte ihr Mann krumme Geschäfte gemacht? Im ersten Moment klang es so absurd, dass sie eigentlich lachen müsste. Doch dann dachte sie an den Tag zurück, als der Artikel in der Zeitung erschienen war. An diesem Tag wirkte Rolf seltsam nervös. Er schob es auf die bevorstehende Darmspiegelung zur Krebsvorsorge, die er ein paar Tage später hatte. Als sie ihn auf den Artikel ansprach, sagte er, es seien Lügenmärchen, Fake News, auf die der Generalanzeiger reingefallen sei. Das würde alles im Sand verlaufen. Aber sie hatte damals schon ein seltsames Gefühl gehabt. Da sie aber mitten in einem Fall steckte, der Generalanzeiger sich kurze Zeit für den falschen Artikel entschuldigte und Rolf auch wieder der Alte wurde, hatte sie nicht weiter darüber nachgedacht – bis jetzt. Als sie aufgelegt hatte, ging sie in die Küche zurück und sah nachdenklich zu ihrem Mann, der fragend von seinem Buch aufsah. „Ich muss weg, es gab zwei Tote“, sagte sie. Dabei versuchte sie unauffällig, sein Gesicht zu studieren – er wirkte freundlich und unschuldig, wie immer. Wie der Mann, der ihr einen Rentventskalender gebastelt hatte, der liebevoll mit seiner Enkelin spielte, der ihr, seit er in Rente war, jeden Abend Essen kochte. Konnte dieser Mann wirklich in illegale Machenschaften verstrickt gewesen sein? War er imstande, mit skrupellosen Menschenhändlern und Banden zusammen zu arbeiten? Eigentlich müsste alles in ihr Nein schreien. Es war schließlich ihr Mann, sie kannte ihn schon ewig. Aber mit Schrecken stellte sie fest, dass ihr Bauchgefühl das Gegenteil sagte. Und auf ihr Bauchgefühl konnte sie sich bisher eigentlich immer verlassen. Es verunsicherte sie zutiefst. War es möglich, dass sie ihren Mann, mit dem sie seit 38 Jahren verheiratet war und zwei Kinder hatte, gar nicht wirklich kannte? War sie all die Jahre blind gewesen? Sie, die so viele Verbrecher und Psychopathen hinter Gitter gebracht hatte? Es gab nur eine Möglichkeit, es herauszufinden. Sie verabschiedete sich von ihrem Mann und machte sich entschlossen auf den Weg zum Europapark, um das zu tun, was sie am besten konnte: Ermitteln.

Annas Entschluss

Er umarmte Dorothea von hinten und presste sie fest an sich. Er küsste erst ihre Schulter, dann ihren Hals, ihr Ohrläppchen. Sie liebte das, brauchte es wie die Luft zum Atmen. Er spürte ihr erregtes Zittern durch seine schusssichere Weste.
Dorothea drehte sich in seiner Umarmung. „Ach Ulrich!“ seufzte sie, bedacht darauf, ihn nicht bei seinem echten Vornamen anzusprechen. Noch nicht.
„Pssst“, machte er und strich sanft über ihren Rücken, „Samuel hat alles im Griff. Du wirst sehen, in einer Woche liegen wir am Strand auf Tuvalu und alles ist vorbei!“
Durch das Fenster sah er wie die Jungs aus dem zweiten Van stiegen und sich ans Werk machten.

Am Montagmorgen loggte sich ein neuer Autor auf der Webseite Daktylos ein. Er hatte nicht die geringste Absicht, sich hier auch nur in irgendeiner Form am gerade laufenden Schreibwettbewerb zu beteiligen, trotz dass auch er seine Brötchen mit Schreiben verdiente. Aber eben nicht mit so krudem Zeug, wie diese selbsternannten Hobbyautoren, sondern mit wahren Dramen. Dramen wie dem, in das er seit kurzem selbst involviert war. „Gockel“, die Suchmaschine für Investigativjournalisten hatte ihn hergeführt. Er nahm einen tiefen Schluck echten Kaffees, nicht einen von dieser dünnen Hafermilch-Latte-Brühe, die sich die hippen Youngster hier reinzogen.
Maria lächelte ihm zu. Neila saß auf ihren Schoss und malte in einem Paw-Patrol-Bilderbuch. Nie wieder würde er die beiden allein lassen. Und die Schweine, die ihnen gestern diesen Schrecken eingejagt hatten, würde er zur Strecke bringen, einen nach dem anderen. Gleich zuallererst diesen von Eschenbach!
Die Beretta, die sie noch in der Hand gehalten hatte, als er endlich bei ihr auf der Straße war, lag auf Christian Pfeiffers Schreibtisch. Nur mühsam hatte er sie ihr aus der Hand winden können. Nachdem er sie in die Jackentasche gesteckt hatte, waren sie losgelaufen, quer über die Straße, zu ihrem Auto. Auf dem Gehsteig lag der Typ, der Maria hierhergebracht hatte, in seinem Blut. Sie hatten keinen Gedanken an ihn verschwendet, wollten nur sofort nachhause, um nach Neila zu sehen. Sie war in Ordnung, Gottseidank. Marie hatte ihre Tochter umarmt und er die blutigen Überreste des Mannes in einen großen Müllsack gestopft. Danach hatte er noch die Wohnung so gut es ging, gesäubert, während Maria die notwendigsten Sachen packte.

In der Wiener Berggasse saßen Doktor Froid und seine Tochter beim Frühstück. Der alte Gelehrte studierte die neueste Ausgabe der „Harvard Psychiatric Review“, während sich Anna am Laptop durch die Website der Tageszeitung „Der Standard“ scrollte und schließlich auf jene der FAZ weiterklickte. Ihr sonst so rosiger Teint wurde mit einem Mal leichenblass, die Stirn legte sich in Falten und ihr Atem stockte.
„Was ist mit dir, Liebes?“, fragte der Professor mit besorgtem Blick, „Wieder Probleme mit dem Sudoku?“
Anna schüttelte den Kopf. Schweigend drehte sie den Laptop zu ihrem Vater und hätte dabei um ein Haar die Tasse mit dem Schlagobers vom Tisch gewischt. „Er hat es tatsächlich getan!“, sagte sie tonlos.
Professor Froid warf einen Blick auf die Webseite, die ihm, der nach wie vor an klassische Zeitungen aus echtem Papier gewohnt war, deutlich Schwierigkeiten machte. Aber schließlich fand auch er, was ihm seine Tochter zeigen wollte.
„In der Tat bemerkenswert!“, ließ er sich zu einer seiner seltenen emotionalen Äußerungen hinreißen und zog die Augenbrauen hoch.
„Ich kann es einfach nicht glauben Papà“, rief Anna aus. „das muss ein dummer Zufall sein!“
„Es gibt keine Zufälle, mein Kind“, wendete der Alte ein, „nur das Unbewusste!“
„Dennoch“, erwiderte die junge Frau, „Herr von Eschenbach ist einfach nicht der Typ für so eine Tat!“
„Naja, zumindest hat er aber diesbezüglich eine recht rege und auch überaus erfolgreiche Fantasie!“
„Nein, nein und nochmal nein!“, bestand Anna auf ihre Zweifel. „Und überhaupt, sieh mal hier, wer diesen Fall bei der Frankfurter Kripo übernommen hat: Samuel Jacobsen und Johann Drehstrom. An die wirst du dich ja noch erinnern können!“
„Selbstverständlich“ gab Professor Froid zu, „die Interpol zog mich vor einigen Jahren bei, um ein psychiatrisches Gutachten über diese beiden deutschen Ermittler in einem sehr heiklen Fall zu erstellen. Aber da kam nie wirklich was raus dabei.“
„Doch jetzt ermitteln sie in dieser Suizidsache, die unser Klient vor drei Wochen im Voraus beschrieben hat. Da läuft doch was ganz gewaltig krumm, Papà!“
Professor Froid sah seine Tochter lange an. Er war schon lange genug in seinem Metier, um zu ahnen, dass Anna sich in diesen deutschen Schriftsteller verliebt hatte. Ganz klare Sache von Übertragung und Gegenübertragung!
„Und, was sollen wir jetzt tun, Kind?“
„Ich nehme das nächste Flugzeug nach Frankfurt. Äneas wird Hilfe brauchen. Es liegt doch mehr als nahe, dass der Verdacht auf ihn fallen wird, nachdem er seine Kurzgeschichte auf diese Webseite gestellt hat. Immerhin hat er damit mehr als zweihundert andere Schreibende auf eine Idee gebracht. Vielleicht sogar Jacobsen und Drehstrom selbst!“
„Du willst nach Frankfurt?“, rief ihr Vater aus, „Ausgerechnet jetzt, wo wir nächste Woche den großen Psychoanalytiker-Kongress haben?“
„Ja, will ich“, antwortete Anna bestimmt, „den Kongress schaffst du ohne mich auch, aber Herr von Eschenbach wird das nicht allein durchstehen!“
„Dein Hang zur Forensik in allen Ehren, Anna, aber …“ Er vollendete den Satz nicht, wissend dass, wenn sich Anna einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, sie das auf jeden Fall durchführen würde. Nichts konnte sie aufhalten.

Samuel biss langsam in den Burger. Auf die schmierige Soße, die zwischen den Hälften des Buns herausgepresst wurde, an seinen Fingern langsam entlang glitt und schließlich auf den Tisch tropfte, achtete er nicht.
Was zur Hölle war schiefgelaufen? Wieso hatte sich die Frau dieses Online-Fuzzis nicht selbst die Birne weggeschossen, sondern die Waffe auf Willi Bruhs gerichtet? Und dann sogar abgedrückt? Sie musste doch wissen, dass ihre Tochter in der Hand von Arno Weisseneck, den alle nur den „Ork“ nannten, war. Arno selbst hatte man noch am Sonntagabend in einer Mülltonne gefunden. Kehle aufgerissen bis zum Brustbein runter! Ob das ein Hund war, hatte er noch Doktor Birne den Chefpathologen, den das BKA umgehend aus Münster eingeflogen hatte, gefragt. „Auf keinen Fall“, hatte der geantwortet, „den Verletzungen nach war das etwas viel Größeres. Ein Bär. Mindestens!“
Ein Bär in Frankfurt, Schwachsinn, dachte Samuel. Sie hatten die Pfeiffers wochenlang observiert. Die hatten nicht mal einen Goldfisch! Was aber richtete dann einen zwei Meter großen, einhundertdreißig Kilo schweren Kerl, der gefühlt schon eine halbe Kleinstadt über die Klinge springen ließ, so zu? Ein fünfjähriges Kind?
„Ich will große Rachetaten an denen vollführen, die da versuchen meine Brüder zu vergiften und zu vernichten und mit Grimm werde ich sie strafen, dass sie erfahren sollen: Ich sei der Herr, wenn ich meine Rache an ihnen vollstreckt habe“, sagte er gefährlich leise zu Johann Drehstrom.

Nachdem Anna die Wohnung überstürzt verlassen hatte, öffnete Professor Froid noch einmal den Laptop. Das Passwort Annas – „Papas Zigarre“ – wusste er ja, es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen. Die Webseite der FAZ war noch offen, dahinter ein weiterer Tab, der direkt auf die Autorenwebseite „Daktylus“ führte. Noch einmal las der Professor das Konvolut von Eschenbachs, das nun, wie Anna bereits berichtet hatte, von über 200 Fortsetzungen anderer Autoren ergänzt worden war.
Froid überflog einige der Beiträge und fand die meisten durchaus gewöhnlich für das Genre, in dem sein Klient tätig war. Da spritzte Gehirnmasse zuhauf an Wände, Darmschlingen kollerten über Treppen, Leichenteile lagen in Vorgärten herum. Der Professor schüttelte müde sein Haupt. Gewiss waren die Menschen, die solches schrieben, keine bösen Menschen, die das auch in der Realität zu Wege brachten, ja mehr noch – wahrscheinlich hatten sie sogar Hemmungen einen simplen erigierten Phallus halbwegs korrekt zu beschreiben oder darüber zu lesen. Nein, von denen traute er niemand diese Tat zu, von der die FAZ und mittlerweile sicher auch schon der Boulevard berichtete.
Aber dann stockte er.
Es war kein besonderer Beitrag, der ihn innehalten ließ, sondern der Name eines Autors, ein Pseudonym natürlich, aber dennoch weckte das jenen Teil in seinem Lobus temporalis, in dem das Erinnerungsvermögen sitzt. Kürbis. Wo hatte er diesen Namen schon mal gehört? Kürbis, Kürbis? Aber natürlich! Wie ein Blitz schlug die Erkenntnis in seinem Gehirn ein: Primarius Hartmut Kürbisovic, ein emeritierter Professor für Neurolinguistik, der seit Jahren die krude Theorie der Beeinflussung von Massen durch künstliche Intelligenz nachweisen wollte und der bis dato von der Internationalen Psychotherapeutischen Gesellschaft deswegen ausgelacht wurde! Wollte der nicht am Kongress nächste Woche genau darüber referieren? Und hatte der nicht versprochen, noch während dieses Referates den Beweis seiner absurden Thesen zu erbringen? Und zwar in Echtzeit?
Die Synapsen in Professor Froids Gehirn liefen heiß. Noch während der üble Verdacht in ihm zur festen Gewissheit wurde, tastete er nach seinem Notizbuch. Mit zitternden Händen durchwühlte er den Adressteil der Kladde. Schließlich hatte er gefunden, wonach er suchte und griff zum Telefon. Drei Versuche benötigte er, weil ihm in der Aufregung die Vorwahl von Deutschland entfallen war, aber dann hatte er es endlich geschafft.
„Hallo?“ meldete sich am anderen Ende eine freundliche Frauenstimme.
„Ja, äh. Hallo, hier spricht Professor Froid aus Wien. Fräulein Supergirl? Ich benötige ihre Hilfe! Rasch!“

© Gschichtldrucker/ Christian Luksch

Zehntausend Euro – Teil 3

Magnus Fedderson lehnte sich genüsslich zurück. Es war ein herrlicher Vormittag. Sein gestriger Feldzug durch das Frankfurter Nachtleben hatte ihm eine hübsche Eroberung ins Bett gezaubert. Nach vielen sehr lebendigen Stunden und einem kurzen Nickerchen hatten sie ein spätes Frühstück genossen.
Vor zehn Minuten war die Schönheit, an deren Namen er sich beim besten Willen nicht erinnern konnte, ohne Drängen auf ein Wiedersehen gegangen.
Noch immer schmeckte er den innigen Abschiedskuss auf seinen Lippen. Warm, weich mit einem Hauch Kirschmarmelade. Magnus lächelte und schenkte sich eine weitere Tasse Kaffee ein.
So unverständlich er diese Art zu leben früher empfunden hatte, so ausgiebig zelebrierte er sie nun selbst. Es war ein spätes Geschenk des Himmels, dass Gitte nach 20 gemeinsamen Jahren gegangen war. Dank seiner lukrativen Nebenbeschäftigung war es Magnus möglich gewesen, sie auszuzahlen und das Haus zu behalten.
Nach einigen Monaten des Leidens hatte er festgestellt, dass es durchaus reizvoll war, statt einer Ehefrau stetig wechselnde Damen in seinem Bett zu haben. Sein gutsituiertes Auftreten öffnete ihm nahezu jede Tür. Die Ladys flogen ihm nur so zu. Selten bat eine um ein Wiedersehen. Magnus hinterfragte das nicht. Er genoss.
Und eben diesen Genuss wollte er nicht mehr hergeben. So war sein anfänglicher Nebenerwerb schleichend zur Pflicht geworden. Sein Chefposten beim Frankfurter Generalanzeiger wurde lästig. Aber aufgeben konnte er ihn nicht. Zu gut war die Deckung, zu praktisch die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen.
Als ausgerechnet Christian Pfeiffer anfing, in eben jenen lukrativen Gefilden zu schnüffeln, hatte Magnus diesen Vorteil zu schätzen gelernt. Christian Pfeiffer war ein grandioser Journalist. Das war das Problem. Beinahe hatte er das Konstrukt durchschaut, umschiffte eine Anweisung nach der anderen und kam der Wahrheit gefährlich nahe.
Doch Magnus Fedderson war mächtig. Mächtig genug, um seinem alten Freund die Grenzen aufzuzeigen. Dass Christian nun in der Online-Redaktion versauerte, geschah ihm recht. Er hatte zu tief geschürft.
»Sowas ist nie gut«, murmelte Magnus zu sich selbst. Er beschloss, die Grübelei mit einer heißen Dusche abzuspülen und den Rest des Sonntags die Seele baumeln zu lassen. Einmal nicht an das verdammte Geschäft denken. Vielleicht spazieren gehen, einen Film schauen und zeitig ins Bett.
Das, so sagte sich Magnus Fedderson, hatte er sich verdient.
Als er frisch geduscht ins Schlafzimmer ging, um sich etwas zum Anziehen herauszusuchen, brummte sein Handy. Widerwillig nahm er es und schaute aufs Display. Auf dem Social-Media-Account der Zeitung war ein Video hochgeladen worden. Hashtag #helftmir?
»Was?«, murmelte Magnus, »Wer denkt sich denn so nen beschissenen Hashtag aus?«
Brummend zog er die Augenbrauen zusammen und klickte auf den Link. Ungläubig schaute er das Video an. Das konnte nicht echt sein.
»Geben Sie ihm zehntausend Euro. Sie haben das Geld und er braucht es.«
Diese Stimme. Magnus kannte sie. Er kannte sie sehr gut. Seine Augen weiteten sich. Nach einer kurzen Schockstarre überschlugen sich die Ereignisse.
Magnus Fedderson loggte sich auf der Webseite ein, löschte das Video, loggte sich aus. Dann warf er ein paar Sachen über und rannte aus dem Haus.
Sein Wagen parkte in der Einfahrt. Sein Ziel. Seine Rettung. Er hechtete den Weg entlang, so schnell es sein ausladender Körper erlaubte. Etwas streifte seine Beine, brachte ihn zum Stolpern.
Noch zwei Meter. Noch einer.
Unsanft schlug ihn etwas gegen die Karosse. Der Aufprall drückte Magnus die Luft aus der Lunge. Magensaft füllte seinen Mund. Er hatte einen Beigeschmack von Kirschmarmelade.
Bevor sein Hirn verarbeiten konnte, was geschah, wurden Magnus Arme nach hinten gedreht. Jemand zog ihm etwas Schwarzes über den Kopf. Er wollte sich wehren, aber der Griff war eisern.
Dann war die Stimme direkt an seinem Ohr.
»Ich weiß, du willst dein Geheimnis für dich behalten. Doch es ist wichtig, dass jeder Mensch die Chance hat, Zeuge zu sein.«
Magnus erstarrte.
»Was willst du?«, presste er hervor.
Ein leises Lachen. »Du weißt, was ich will.«
Magnus schüttelte ruckartig den Kopf. »DAS kann ich dir nicht geben.«

»Da haben wir Zwei Tote und auch zwei Zerstörte. Alles nur … weil Magnus nicht hörte.«, sang die Stimme leise in sein Ohr.

Särge

Renate Billenstedt wusste sich nicht anders zu helfen und nahm einfach die ganze Küchenrolle aus der Spülküche mit. Sie lief schnellen Schrittes zurück und begann die Teepfütze aufzuwischen, welche sich über ihren Schreibtisch verteilt hatte. Ihre Teebecher bekam kurz zuvor ganz plötzlich einen Sprung und alles ergoss sich über die Post des Tages. Das war nicht wirklich schlimm, aber in letzter Zeit irgendwie typisch. Seit einigen Wochen schien sie Missgeschicke geradezu anzuziehen. Ihr Malheur mit der Tasse, zuvor die Sache mit den Urnen – und das waren nur die neuesten Pannen einer ganzen Reihe.
Sogar ihrem Chef fiel das auf.
Ab sechzig geht es bergab mit dem Glück, nicht wahr?
Humor war nie wirklich seine Stärke.
Sie warf gerade die triefenden Beilagen der Tageszeitung in den Papierkorb, als sie die Türglocke hörte. Kundschaft womöglich. Nachdem sich Renate ihre Kleidung zurechtgezupft hatte, ging sie zum Eingangsfoyer.
Dort standen zwei Männer. Ihr war sofort klar, dass etwas nicht stimmte. Einer von ihnen hielt ein Smartphone vor sein Gesicht.
Er zog etwas aus seiner Jackentasche. Dann folgten Blitz und Donner.
Für einen kurzen Moment kam ihr dieses klickende Geräusch in den Sinn, das Ihre Tasse gemacht hatte, als sie aus heiterem Himmel diesen Riss bekam. Das war so typisch. Sie lächelte noch, als sie auf dem Boden lag.
Danach schwebten unfertige Gedanken wie Seifenblasen empor, ließen die Erde hinter sich und zerplatzten gemeinsam. Dann war nichts mehr.

Gergő Wenzel genoss es, zur Abwechslung einmal selbst zu schießen. Er hielt sein Smartphone hoch, filmte und drückte ab.
Ein zweckdienlicher Mord, so willkürlich wie die Zahl Zehntausend.
Nichts ist besser als ein schockierender Stream, um die Welt bei der Stange zu halten. Von dem Moment an, als er das Beerdigungsinstitut in Heusenberg betrat und sein Phone zur Hand nahm, war alles live.
»Sich an Trauernden zu bereichern ist schweinisch und gehört mit dem Tode bestraft!«, kommentierte er anschließend – laut, aggressiv, fast schon pathetisch.
Show und Drama.
Er drehte seine Kamera zur Seite. Christian Pfeiffer kam ins Bild, der schweigend neben ihm stand.
Was hatte dieser geweint, als er neben seiner Maria kniete – und wie wütend war er, als er realisierte, das er nur einen Tag später von eben demjenigen entführt wurde, der seine Geliebte dazu bringen konnte, sich selbst zu erschießen.
Das war sehr stimulierend.

Ja, die Welt war schön für Gergő Wenzel.
Er erlebte gerade diesen Anfang von etwas Größerem, das auf ihn wartete.
Zuvor jedoch lagen Aufgaben vor ihm.
Es hatte Christian Pfeiffer den Upload seines Videoclips zu verdanken. Dadurch konnte der Generalanzeiger zur initialen Plattform werden.
Sein Stream war kaum noch abschaltbar, denn jeder Aufruf kaperte kaskadenartig ein neues Gerät. Ein echter Internethit.
Der Virus, der sich nicht versteckt, ist eben der versteckteste Virus, Herr Pfeiffer.
Gergő schien tatsächlich zu einem nigerianischen Prinzen zu werden, der sich alles nimmt. Was für eine Ironie.
»Christian, bist du nicht auch dieser Meinung?«
»Ja, sicher«, antwortete dieser matt. Er sah zerzaust aus. In seinem Blick lag dieser Touch von Fatalismus, den Gergő so liebend gerne in Menschen sah.
»Kannst du dir vorstellen, warum wir hier sind?«
»Nein. Ich will nur, dass alles aufhört.«
»Das Schönste am Menschen ist der Sinn für Eigenverantwortlichkeit, wusstest du das, Christian?«
»Nein.«
»Ohne diesen Sinn würden wir alle auf Müllhalden leben. Wir wären einfach nur Wesen, die dort scheißen, wo sie essen.«
Christian schwieg. Er hatte Tränen in den Augenwinkeln, die sich weigerten zu trocknen.
Gergő deutete zu einer Tür auf der linken Seite.
Sie gelangten über den Hinterhof in ein Lager, wie vermutet. Dort angekommen standen sie vor Särgen.
»Du hast die Wahl. Suche dir einen aus.«
»Auf keinen Fall!«
»Aber sicher doch. Einfach hineinlegen.«
Er öffnete einen der Eichensärge, die auf den Boden standen. Dieser schien die richtige Größe zu haben.
»Nein. Ich will das nicht.«
»Das ist völlig unerheblich. Wo bleibt dein Verantwortungsgefühl, Christian Pfeiffer? Das Ganze ist ein Akt menschlicher Würde. Du weißt, es ist unvermeidbar.«
Gergő sah, das sich Christian in die Hose uriniert hatte. Wenn du keine echte Kontrolle mehr über dich selbst hast, bleiben dir nicht einmal mehr die eigenen Körperflüssigkeiten.
»Du bist doch irre. Das mache ich nicht. Maria! MARIA!«
Christian stakste wie in Zeitlupe auf den Sarg zu und legte sich hinein, obwohl er es eigentlich nicht wollte.
Er bekam den Revolver in die Hand gedrückt.
»Sei so freundlich und zähle laut und langsam von fünfzig bis null. Danach erschießt du dich einfach. Am besten durch deinen Gaumen.« Gergő klopfte ihm ermunternd auf die Schulter. »Kannst du sie sehen? Maria. Dort drüben.«
Wenzels Worte waren wie Zigarettenrauch. Christian sog diesen willig ein – seine Augen weiteten sich und sahen dabei in eine Ferne, die nur er allein beschreiten konnte.
Der Sarg wurde verschlossen. Gergő stellte sein Smartphone auf ein Ministativ.
Erdmöbelwatch.
»… 42,… 41,… 40, …«
Zeit zu gehen.

Gergő setzte sich ins Auto.
Nach dem Anschnallen fiel der Schuss.
Das Streaming-Publikum wurde nicht enttäuscht, wenngleich es nicht viel zu sehen gab.

Schon bald sollte es weitergehen.

Als Nächstes galt es, seinen Akbasjavér zurückzubekommen. Dieser wurde ihm vor nicht allzu langer Zeit gestohlen.

Er fuhr los, hin zur Asservatenkammer der Staatsanwaltschaft in Frankfurt.