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Christian Pfeiffer rannte zurück zum Fenster und sah hinunter. Und da lag sie, seine Geliebte, sein ein und alles! In einer Blutlache, die schon enorme Ausmaße angenommen hatte.
»Nein!«, schrie er laut, mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. In Windeseile stürmte er aus dem Büro, rannte zum Fahrstuhl, nahm die Treppe, fiel ein paar Stufen hinab, rappelte sich auf, stöhnte vor Schmerz, der aber in keinem Verhältnis zu seiner inneren Wunde stand. Endlich hatte er die vielen Stufen hinter sich gebracht, verließ das Gebäude, überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr oder das wütende Hupen zu achten.
»Maria!« Er bückte sich zu ihr hinab, nahm sie in seine Arm, besudelte sich mit ihrem Blut.
»Warum, Maria, warum nur?!«, schoss es ihm irrsinniger Weise durch den Kopf und dann ein lautes:
»Hilfe, so helft mir doch!« Passanten blieben stehen, wichen vor ihm zurück, blutverschmiert wie er aussah. Endlich griff jemand zu seinem Handy und rief einen Rettungswagen. Als diesem jemand klar wurde, dass dies kein Unfall wahr, auch die Polizei.
»Kommen Sie, stehen Sie auf!«.
»Ich kann nicht! Jemand hat meine Frau gezwungen, sich selbst zu erschießen! Einfach so!« Dann die Erkenntnis: »Und ich hätte es verhindern können!« Er brach in lautes Weinen aus und wiegte seine Frau in seinen Armen. Da näherte sich, akustisch angekündigt, die Polizei und ein Rettungswagen. Die Sanitäter eilten zu Christian Pfeiffer und blieben dann wie angewurzelt stehen. Während der eine es mühsam schaffte, den widerstrebenden Christian aus der Umklammerung zu lösen und ihn zum Rettungswagen brachte, ergriff der andere das linke Handgelenk von Maria und schüttelte anschließend den Kopf. Ein Raunen ging durch die umstehende Menge, die jetzt von den beiden Polizeibeamten zurückgedrängt wurde.
»Hat jemand etwas gesehen oder gehört?« Mit dieser Frage wandte sich der Ältere der Beiden an die Schaulustigen. »Nicht? Dann bitte gehen Sie weiter und lassen uns unsere Arbeit erledigen.«
»Herr Wachtmeister, sehen Sie mal. Hier geht gerade ein Video viral, das diesen Todesfall zeigt.« Die Passantin hielt ihm ihr Handy unter die Nase.
»Und jetzt sieht man auch einen anderen „Vorfall“ auf der online Seite einer Zeitung.«, mischte sich ein weiterer Passant ein und sein Blick streifte das Gebäude gegenüber. Er hob die Hand und zeigte hinüber: »Von dieser Zeitung da drüben.«
Hauptkommissar Stefan Jost traute seinen Augen nicht. Tatsächlich wurden hier 2 Selbstmorde dokumentiert. Er schüttelte fassungslos den Kopf.
»Bitte schicken Sie beide Dateien mit dem Hashtag 10000 € oder Selbstmord an die 110 mit der Bitte um Weiterleitung an das Polzeikommissariat 4!«, bat er die beiden Menschen, die sich soeben entfernen wollten. »Und bleiben Sie hier, damit wir Ihre Personalien aufnehmen können.« Dann begab sich Jost zum Rettungswagen und wollte den Journalisten zur Sachlage befragen. Doch der Sanitäter zweifelte an der Effektivität einer Befragung, hatte er Christian doch soeben ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt.
»Wer ist die Frau? Und wer sind Sie? Was machen Sie hier und was haben Sie mit der Frau zu tun?«
Christian starrte Stefan Jost verständnislos an.
»Du kennst mich doch, Stefan! Und Maria hab ich dir auch schon vorgestellt.«
»Christian!, rief Jost verblüfft, »Was geht denn hier vor? Kannst du mir das erklären?«
Doch Christian brach in lautes Schluchzen aus und sackte auf dem Rand der Rettungswagentür zusammen.
»Versuchen Sie es lieber in ein paar Stunden mal!«, so der Sanitäter.
Eines musste Stefan jedoch noch wissen: »Hat sie ein Handy? Und wo ist deins? Gibst du es mir? Jetzt?«, denn er bemerkte, dass Christian in seine Hosentasche griff und die leere Hand wieder herauszog.
»Es muss noch oben im Büro liegen.«
»Ihr hattet sicher noch Kontakt kurz zuvor!?« Ein tonloses »Ja!«, gefolgt von einer erneuten seelischen Erschütterung drang an die Ohren des Beamten.
Frustriert wandte sich Jost ab.
Seine Kollegin hatte schon zwischenzeitlich weitere Polizisten angefordert, die den Tatort weiträumig absperren sollten und die Spurensicherung über Funk gerufen. Dann ließ sie sich die beiden Videos zeigen.
»Das gibt es nicht! Ich habe in der EZ vorhin mitbekommen, dass eine Frau genau diese Situation vom ersten Video schildert. Gerd und Chris sind dort vor einer guten halben Stunde hingefahren.«
Jost schaute sich ebenfalls die Videos noch einmal an. Dann warf er seiner Kollegin einen bedeutsamen Blick zu und meinte:
»Dann wollen wir mal eine Soko zusammenstellen, was denkst du, Johanna?«
»Wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.«, meinte sie schulterzuckend.
Sie machte ihr Funkgerät von der Uniformjacke los und ließ sich mit dem Wagen von Chris und Gerd verbinden.
»Chris, schaut euch mal das Video an, das die EZ eben erhalten hat. Da ist euer Tathergang drauf zu sehen. Und wir haben einen ähnlichen Fall.«
»Ist das wahr? Was soll das denn?«
»Keine Ahnung! Wir sollten uns später zusammensetzen und die Übereinstimmungen überprüfen. Sobald die Spurensicherung hier eingetroffen ist, machen wir uns auf den Weg ins Präsidium.«
»Verstanden. Wir schicken die Spusi sofort zu euch, wenn sie hier durch ist.«
Gemurmel drang durch das Funkgerät. »Warte mal! Die Spusi ist bereit, sich zwei zu teilen und 4 Leute machen sich gerade auf den Weg zu euch. Die Adresse haben sie schon von der Zentrale erhalten und wir sind schon auf dem Weg zurück ins Büro. Bis später.«
Johanna sah Stefan an: »Du kennst das Opfer und auch den Mann?«
»Ja, Christian ist Journalist und arbeitet seit Jahren für diese Zeitung. Er hat über alle kleinen und großen Geschehnisse im Lokalteil berichtet. Hab aber schon eine Weile nichts mehr von ihm gelesen und dachte, dass er in Rente ist.«
Stefan Jost und seine Kollegin Johanna Sommer überquerten die Straße, denn Stefan wollte im Büro der Redaktion auf jeden Fall das Handy von Christian sicherstellen. Beide zeigten sie dem Pförtner ihre Dienstausweise und fragten nach dem Büro von Pfeiffer.
»Online-Redaktion. 5. Stock!«, lautete die Antwort. Onlineredaktion?
Sie ignorierten den neugierigen Blick des Mannes und stiegen in den Lift. Dann betrachteten sie das Chaos in den Räumen und fanden das Handy neben dem schon erkalteten Kaffee. Da sie nicht wussten, wie genau Christian von der zweiten Tat erfahren hatte, zogen sie sich Handschuhe über und tüteten das einzige herumliegende Handy ein. Johanna bewegte die Maus auf dem Schreibtisch und die Onlineseite ploppte auf und bestätigte den Upload eines Videos.
»Das also wollte der Täter; Video1 über die Zeitung veröffentlichen.«, merkte Johanna an, nachdem sie kontrolliert hatten, um welche Datei es sich handelte.
»Aber zu welchem Zweck?« Stefan kratzte sich kopfschüttelnd am Kinn.
»Warum Christian? Als Online-Radakteur kann ich mir ihn gerade nicht vorstellen. Sicher das Abstellgleis der Geschäftsführung für ihn. Online sein war nämlich noch nie sein Ding, wie man an diesem alten Handy sieht. Bezweifele, das es internetfähig ist.« Johanna nickte und machte noch
machte noch ein paar Fotos vom Büro. Dann fuhren sie wieder hinunter.
»Herr Melcher, ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?« Diese Frage richtete Johanna an den Pförtner, nachdem sie seinen Namen auf dem aufgestellten Schild gelesen hatte.
»Ich, ich, ich hab den Schuss gehört und bin an die Drehtür. Doch es waren zu viele Autos unterwegs und ein Laster parkte direkt hier vor dem Eingang. Dann stürmte Christian, also Herr Pfeiffer, die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Er war leichenblass und wirkte völlig konfus, denn er lief einfach blind über die Straße. Autos hupten wie wild und ich dachte schon, dass er verunglückt sei als ich den Rettungswagen hörte. Aber offensichtlich war es eine Frau, die zu Tode kam, hab ich recht?«
»Von wem haben Sie das?«
»Ich habe Passanten gefragt.«, gestand Melcher. »Es geht ja um einen alten Kollegen.«
»Okay! Ihre Personalien brauche ich noch. Wie alt sind Sie? Wie lange arbeiten sie schon hier? Adresse?« Bereitwillig gab Melcher Auskunft und die beiden Polizisten rückten wieder ab.
Als die Spusi endlich eintraf, instruierten sie diese und wiesen auch auf das Pfeiffersche Büro im Zeitungsgebäude hin. Dann stiegen Stefan Jost und Johanna Sommer in ihren Streifenwagen und fuhren zurück zur Einsatzzentrale.
Stefan sah seine Kollegin von der Seite aus an.
»Was hältst du von der ganzen Sache? Ich meine, wer ist denn so bescheuert und filmt die Selbstmorde, ohne selbst aktiv zu werden, macht sich so also wenigstens wegen unterlassener Hilfeleistung mitschuldig? Warum diese öffentliche Aufführung? Was für einen Sinn macht es? Und wer soll damit getroffen werden? Was ist das denn auch für ein komischer Betrag? 10.000 Euro; warum nicht 100.000 oder eine Million?«
»Ich kann es dir nicht sagen; jedenfalls noch nicht. Auf jeden Fall brauchen wir in der Soko auch einen Internetspezialisten, der die URL ausfindig machen kann.« Johanna fuhr sich verstört durch ihre langen, braunen Haare. »Ich hoffe nur, dass das keine Serie wird mit Nachahmern und allem drum und dran.«
»Ich bin auf jeden Fall froh, dass so zwei helle Köpfe wie Chris und Gerd mit von der Partie sind. So sind wir am Produktivsten.«
Marion Kulinna©