Offene Enden Teil 2: Schreib Teil 3

Maria

Maria wusste, dass sie nur eine Chance hatte. Sie entschied sich für den Panther, blitzschnell schoss ihr rechtes Knie in die Leibesmitte des Gegenübers. Mit der linken Hand ein kurzer Schlag. Der hagere Mann schnappte nach Luft, flog samt seiner Pistole auf das Pflaster. Ein Schuss löste sich. Der Gehweg war menschenleer, auf der anderen Straßenseite eine Frau mit Rollator, die wie erstarrt stand. Maria sah sich den schwarz gekleideten Angreifer an. Okay. Der brauchte jetzt eine Weile. Sie nahm die Waffe mit einem Taschentuch und verstaute sie in ihrer Tasche. Sie winkte der Frau und rief, dass sie die Polizei rufen würde.

Christian kam aus dem Fahrstuhl gestürzt und stieß mit Maria zusammen, die gerade ins Gebäude eilte. „Maria! Du lebst! Oh, Gott sei Dank! Diese Schweine, aber, aber…ich habe doch den Schuss gehört?“ Er nimmt sie fest in seine Arme. „Du hast den Schuss gehört?“, Maria schaute ihn fragend an. „Gleich, Maria, ich erzähle dir alles. Ich bin so froh, dich zu sehen. Wo ist der Typ?“ „Der liegt da drüben. Hat sich das jahrelange Kung Fu Training gelohnt“, sagt sie und lächelt. „Du hast ihn ausgeknockt? Wow“! Er schaut sie bewundernd an. „Hast du noch jemanden gesehen, einen, der gefilmt hat?“ „Nein. Niemanden. Die Polizei habe ich gerufen, die sind hoffentlich gleich da. Christian, was geht hier vor?“ Der hat mir wirre Sachen an den Kopf geworfen, von Kapitalistenhure bis Medienschlampe, und dass wir grausam sterben werden. Was passiert hier?“ Christian schluckt. „So ein Feigling, ich erzähle dir gleich alles, aber lass uns nach dem Mistkerl sehen. Der darf nicht abhauen“. Der Hagere lag immer noch reglos auf dem Boden. Christian erzählte ihr von der Erpressung mit den Hochladen des Videos. Von seiner Panik, es nicht rechtzeitig zu schaffen, von dem Schuss. Von den verstörenden Bildern, die das ältere Ehepaar auf dem Video zeigte.

Maria sieht auf den Mann am Boden und es schüttelt sie. Was, wenn sie nicht so schnell reagiert hätte? Dann würde sie jetzt dort liegen. „Was sind das für gewissenlose Verbrecher. Die hören doch nicht auf damit, Christian. Selbstmorde! Morde und Erpressung! Das ist eine Nummer zu groß für uns“.

In diesem Moment kam der Polizeiwagen und Christian atmete auf, denn der Mann auf dem Boden hatte sich gerade bewegt. Sie legten ihm Handschellen an, er stöhnte und sah Maria mit einem Blick an, der sie frösteln ließ. Auf der Wache machten beide ihre Aussagen.

„Ich bin Kommissar Donner. Bitte nehmen Sie Platz. Alles in Ordnung, bei Ihnen, Maria? Sie haben den Angreifer mit Kung Fu matt gesetzt? Respekt!“ Maria winkte ab. „Das war reiner Selbstschutz. Was geht hier vor, Herr Kommissar Donner?“ „Tja, das ist eine gute Frage. Wer bringt sich freiwillig um? Jetzt auch noch Mordversuch! Das hat eine neue Qualität und ist mir in den über vierzig Dienstjahren noch nicht…“

Lautes Geschrei und Poltern unterbricht ihr Gespräch. „Haltet ihn, verdammt, Meier! Meier! Hilfe!“ Ein Schrei und ein dumpfer Schlag. „Moment, bin gleich wieder da,“ Kommissar Donner verlässt das Büro. Christian guckt Maria an und sie nickt. Beide stehen auf und laufen in den Flur. Ein älterer Wachmann krümmt sich auf dem Boden. „Verdammt, er ist mir entkommen“. „Wo ist er hin“? Der Mann zittert. „Da…er ist einfach rausgesprungen!“ Sie sehen das offene Fenster. Fünfter Stock! Chaos bricht aus. Hektisch rennen Polizisten nach draußen, Kommissar Donner ebenfalls. Maria kniet sich neben dem Wachmann, legt sanft ihren Schal unter seinen Kopf. „Wo hast du Schmerzen?“ „Hier, am Hals, der Mistkerl muss die Spritze gut versteckt haben“, sagt er und wird bleich. „Ruft sofort einen Krankenwagen, schnell. Er hat ihm was gespritzt.“, Maria streichelt beruhigend seine Hand.

Christian geht in die Hocke und schaut den Verletzten an: „Keine Angst, der Arzt kommt gleich, bitte, können sie mir sagen, ob der Verbrecher noch irgendwas gesagt hat? „Ja, was komisches, er hat geschrien, dass wir alle die Strafe der schwarzen Templer erfahren würden.“ „Die schwarzen Templer“? Christian wird blass.

Mark (Teil 3 von: 10.000 Euro)

Es war zwei Jahre vor der Aktion mit dem Berger und dem Journalisten passiert. Damals hatte er nicht gedacht, dass er einmal so entschlossen sein würde. Alles auf eine Karte setzen. Der Welt zeigen, aus welchem Holz er geschnitzt ist.

Und es hatte alles mit dieser Frau zu tun. Mark würde sich sein Leben lang an die Begegnung erinnern. Er war in seiner Stammkneipe gesessen, wie immer donnerstags, mit Rudi und Ulf, seinen Kumpels, keine schönen Menschen, weder äußerlich noch innerlich, das musste er zugeben – aber es waren seine Freunde, und als seine Freunde hörten sie ihm geduldig zu, wenn er seinen Frust abließ. Über die da oben. Die Mächtigen. Die, die alles entschieden. Ulf und Rudi kapierten immer noch nicht ganz, wie ungerecht diese Welt war. Oder besser: wie ungerecht eine kleine Elite von ganz besonderen Menschen diese Welt machte. Wo blieben denn Typen wie er, wie Rudi und Ulf? Zugegeben, sie litten keinen Hunger, sie hatten alle drei Jobs, in denen man sich nicht besonders anstrengen musste, sie hatten alle eine Wohnung und ein Auto – aber sonst? Sonst waren sie nichts als kleine Lichter, denen ausgeliefert, die die Geschicke der Welt lenkten. Jedenfalls wurde ihm das immer klarer. Und es wurde ihm auch immer klarer, dass sie alle verarscht wurden. Wie hatten sie in der Schule über ihn gelacht, als er das mit den Flugzeugen herausgefunden hatte! Er hatte gar nicht lange suchen müssen, im Internet, aber man musste eben die richtigen Fragen stellen! Und er war der einzige gewesen aus seiner Klasse, der sich das getraut hatte – oder sich die Mühe gemacht hatte. Alles Schlafschafe! Aber Rudi und Ulf hatte er mittlerweile davon überzeugt, dass es den Großen Plan wirklich gab. Und welche Rolle die Flugzeuge darin spielten. Die Flugzeuge, in denen täglich Millionen von Touristen um die Welt flogen, nichts ahnend, dass sie ein Rädchen, ein winziges Rädchen in einem tödlichen Spiel waren. Ein Spiel, das eine Gruppe von Menschen unendlich reich machte. Er redete sich in Rage. Bis – ja, bis er alles, was er an jenem Abend gesagt hatte, mit einem Schlag vergaß.

Die Tür der Bar hatte sich geöffnet. Kühler Wind wehte Blütenduft herein. Eine Erscheinung trat – nein, schwebte über die Schwelle. Es war, als hätte die Natur all ihr Kraft zusammengenommen, um das schönste Wesen zu schaffen, das es je gegeben hatte, je geben würde. Mark wusste selber nicht, wie er es schaffte, sie anzusprechen. Dorothea hieß sie. Er ließ ihren Namen auf seiner Zunge zergehen wie eine Süßigkeit. Dorothea. Irgendwie war es, als würde er heimkommen. Die Komplimente kamen ihm leicht von den Lippen, und ihr Lächeln spornte ihn an. Schon sah er sich an ihrem mächtigen Busen ruhen - eine Frau mit Erfahrung, aber von einer zeitlosen Schönheit, die ihm den Atem raubte. Mit ihr würde er alles vergessen, sich treiben lassen in einem Meer aus Zärtlichkeit. Mit ihr würde er den wahren Sinn des Lebens erkunden, der über allem stand. „Was hast du gesagt?“ meinte sie. Er sah in abweisende kalte Augen. Was hatte er gesagt? Wann war aus der zärtlichen Zugewandtheit eine Mauer aus Eis geworden? Panik schoss in ihm hoch. „Was hab ich denn gesagt? Dass ich immer bei dir bleiben möchte?“

„Und ich hab dir gesagt,“ und die Kälte in ihrer Stimme verstärkte noch die ihrer Augen, „dass ich erstens verheiratet bin, und zweitens, selbst wenn ich es nicht wäre, absolut kein Interesse an dir hätte. Und jetzt möchte ich mich in Ruhe mit meiner Freundin unterhalten.“

Mark saß da, eine zerbrochene Welt zu seinen Füßen. Wie konnte das so schief gelaufen sein? Sie hatte ihn doch angelächelt. Aber das würde er sich nicht bieten lassen! Keine Frau der Welt hatte das Recht, so mit ihm zu sprechen. Hitze wallte in ihm hoch, ihm war, als explodierte etwas in seinem Inneren. Er packte die Frau am Handgelenk – und landete wenige Sekunden später unsanft auf der Straße, Hass und Ekel im Herzen. Hausverbot in seiner Stammkneipe! Das hatte sie ihm eingebrockt, diese Dorothea! Ihr Name, noch vor kurzem mit dem süßen Geschmack von zarter Schokolade, hatte sich in ätzendes Gift verwandelt.

Wenige Tage später der nächste Schock. Rudi, der alte weißhaarige gutmütige Rudi, der ihm immer geduldig zugehört hatte trotz seiner Kopfschmerzen - hatte Krebs. Ein Hirntumor! Das konnte kein Zufall sein. Nicht in Frankfurt. Nicht in jener Stadt, die den größten deutschen Flughafen beherbergte. Aber Mark würde Rudi nicht im Stich lassen, niemals im Leben! Deshalb ging er dann auch mal mit ihm mit, zur Krebs-Selbsthilfegruppe. Und dort lernte er Maria kennen.

Beitrag von: Gerd Schmidinger

Der Kommissar

Kriminalkommissar Hubert Schmeck saß in seinem Büro im Polizeipräsidium. Er kaute auf einem Kugelschreiber herum, die Zeitung mit dem Kreuzworträtsel auf seinem Schoß. Ab und an schaute er aus dem Fenster hinaus. Viel zu sehen gab es nicht. Seine Sicht ging zum Innenhof hinaus. Das einzig spannende war der Ausblick auf den Hubschrauberlandeplatz.
Schmeck war ein untersetzter Typ mit schütterem Haar. Nach seiner Scheidung vor fünf Jahren hatte er das Feuer verloren, wie einige Kollegen hinter mehr oder weniger vorgehaltener Hand tuschelten. Tatsächlich fehlte, dem einst heißesten Eisen in der Geschichte der Verbrechensbekämpfung Frankfurts zuletzt mehr und mehr die Motivation. Jüngere Kollegen und Kolleginnen drängten sich an dem einstigen »Schrecken des Bahnhofsviertel«, wie er vor zwanzig Jahren bezeichnet wurde, vorbei.
Damit hatte er sich abgefunden. Noch ein paar Jahre und er könnte vorzeitig in Pension gehen.
Der Kommissar schaute erneut von seiner Zeitung auf. Draußen auf dem Flur ging etwas vor sich. Mehrere Kollegen eilten den Gang hin und her. Hubert warf einen Blick auf seinen Monitor, das interne Mailsystem immer aktiviert. Die erste Mail pulsierte, wie die Warnblinker eines verunglückten Wagens. Das war die Eilmeldefunktion, die bei größeren Angelegenheiten an alle Dienststellen raus ging. Schmeck hatte diese art von Mail noch nicht oft erlebt in seiner langen Karriere. Das letzte mal, als ein Derby zwischen zwei rivalisierenden Fußballvereinen der Stadt zu eskalieren drohte und jemand einen nervösen Finger hatte.
Er runzelte die Stirn und klickte auf die Mail. Was er las, brachte selbst ihn aus der Ruhe. Zwei vermeintliche Selbstmorde an einem Sonntagvormittag. Ein Zufall?
Kriminalkommissar Hubert schmeck glaubte schon lange nicht mehr an Zufälle. Und die angefügten Berichte ließen den Gedanken auch keinen Raum. Der Zeuge im ersten Fall, ein Inhaber eines Reisebüros in einem der besseren Viertel der Stadt sollte, nach ersten Erkenntnissen, eine gute Stange Geld aushändigen. Nach seiner Weigerung, habe sich der Mann in den Mund geschossen, gab dieser Richard Berger zu Protokoll. Eine weitere Person habe wohl ein Video gemacht, von der fehle aber jede Spur.
Im zweiten Fall haben Passanten eine junge Frau dabei beobachtet, wie sie ein Bürogebäude in der Innenstadt ansah, eine Pistole nahm und sich ebenfalls das Leben nahm. Hier war noch nicht klar, warum. Die ersten Streifen waren jedoch bereits eingetroffen und suchten nach Spuren.
Es klopfte an seiner Tür. Kollege Schablonski steckte seinen Kopf rein. Sah man nur diesen, konnte man meinen, er kam gerade frisch aus Woodstock, mit seinen verfilzten Haaren.
»Hubert, hast du gelesen, was da draußen los ist,« fragte er aufgeregt, wie ein Welpe, der seinen ersten Schnee sieht. Es war wohl seine erste Eilmeldung.
»Ja gerade gelesen. Will der Boss uns schon sehen?«
»Er hat gerade durchgeklingelt. Kommst du?«
»Einen Moment. Geh schonmal vor.« Der Boss, der Polizeipräsident von Frankfurt, der auch sein Büro im Gebäude hatte, zog in solchen Fällen immer seine wichtigsten Kommissare zusammen. Da Schmeck noch immer einen gewissen Ruf genoss, gehörte er zu diesem Kreis, auch wenn er darauf nicht mehr viel gab. Da es aber, zum Glück, nicht oft diese Situation gab, war er natürlich dabei. Außerdem spürte er ein kribbeln, dass er schon lange nicht mehr so wahrgenommen hatte. Es fühlte sich an, wie das Erwachen einer neuen Liebe.
Er kramte seinen Notizblock aus einer Schublade. Die jüngeren Kollegen und Kolleginnen tippten alles auf Tablets oder ihre Smartphones, aber er machte lieber alles handschriftlich. Er war gerade im Begriff, sein Büro zu verlassen, als sein Telefon klingelte. Hubert ging zurück an seinen Platz und warf einen Blick auf das Display. Unbekannte Nummer.
Seltsam, wo doch gerade hier alle Nummern angezeigt wurden. Schöne, neue Welt. In seinem Bauch setzte sich ein Stein fest, der immer schwerer zu werden drohte und ihn hinunter zog. Hier stimmte etwas ganz und gar nicht.
Das Telefon klingelte geduldig weiter. Es wusste, dass er dran gehen würde.
Der Kommissar wartete noch einen Augenblick. Er wusste nicht mal warum. Hoffte er, dass der Anrufer aufgeben würde? Schließlich hob er den Hörer an sein Ohr.
»Schmeck hier. Woher haben sie diese Nummer,« bellte er in das Telefon. War auf einmal so bissig, wie zu seinen besten Zeiten.
»Aber, aber. Kriminalkommissar Schmeck, wer wird denn gleich so aufbrausend sein, weil das Telefon klingelt?« Die Stimme am anderen Ende war gelassen, mit einem leichten zufriedenen Unterton. So wie jemand, der eben genau diese Reaktion erwartet hätte. Diese Tatsache ließ bei Hubert Schmeck alle Alarmglocken schrillen.
»Wer sind sie, verdammt«, jetzt war er voll im Modus.
»Das tut im Moment nichts zur Sache, Kommissar,« die Stimme nahm einen bedrohlichen Unterton an. »Was sie jetzt wissen sollten ist, dass sie nicht das Büro verlassen werden.«
»Tut mir leid,« sagte er in einem Ton, der das Gegenteil herausbrüllte, »aber ich habe zu tun. Ich habe keine Zeit für solche Scherzanrufe.« Er war im Begriff, den Hörer auf die Station zu knallen, als die Stimme ihn in der Bewegung erstarren ließ.
»Wenn sie jetzt auflegen, sterben weitere Menschen. Und sie werden an allem Schuld sein. So, wie damals.«
Kriminalkommissar Hubert Schmeck blieb in der Leitung.

Die Polizei traf ein, aber leider zu spät.
Maria war tot und keine Ermittlung der Welt konnte sie jetzt wieder zurückholen.
Der Polizei und dem Kriminalamt ging es nun darum, dass es keine weiteren Opfer gab und was das Motiv des Täters sein konnte.
Christian Pfeiffer war dieser Grund egal. Seine Freundin war tot. Mehr musste er nicht wissen.

In der Mordaufklärung wollte man dagegen sehr viel mehr wissen.
Die Ermittlungen liefen auf Hochtouren, denn schließlich wusste man nicht, wann und auf welche Weise der Täter erneut zuschlagen würde.
»Was ist sein verdammtes Motiv?«, rief Hauptkommissar Friedrich Meyer wütend und schlug mit der Faust auf den Tisch. Das ganze Team saß seit Stunden zusammen und holte jede Kleinigkeit des Falles ans Licht.
»Vielleicht«, meldete sich eine zaghafte Stimme aus dem Hintergrund, »geht es um die Berufe.«
Der Hauptkommissar horchte auf.
»Der erste Betroffene war ein Mann, der reichlich Geld verdiente. Damit hatte der Mord zu tun. Der zweite Mann war ein Journalist, der alles tut, um eine gute Story zu bekommen.«
Friedrich zwirbelte seinen grauen Schnurrbart und nickte langsam.
»Ein hervorragender Einwand! Aber wer sind Sie und wo ist eigentlich Ihre Uniform?«
»Ehrlich gesagt habe ich nur …«
»Er ist der Bäckerlaufbursche«, Kommissar Mark Wendel schüttelte belustigt den Kopf. »Er hat unsere Donuts gebracht und wartet seit einer halben Stunde auf das Geld«.
»Ähm …«, Meyer sah sich in der Runde um. »Dennoch eine gute Idee! Verfolgen wir sie! Und gebt dem jungen Mann jetzt bitte sein Entgelt.«
Dann ging das Faxgerät auf dem großen Schreibtisch des Hauptkommissars an.
Das war an sich nichts Erstaunliches, doch als Friedrich Meyer einen kurzen Blick auf das herausgekommene Papier warf, kam ihm etwas seltsam vor.
Er zog den Papierbogen heraus und las ihn leise.
Während des Lesens konnten seine Mitarbeiter und auch der Donutsbote, der immer noch nicht sein Geld bekommen hatte, sehen, wie Meyer stetig weißer wurde.
Als er schließlich zu Ende gelesen hatte und vor der kalkfarbenen Wand gar nicht mehr zu unterscheiden war, wussten die anderen, dass dies kein normales Fax gewesen war.
Hauptkommissar Meyer fasste sich mühsam wieder und rief plötzlich hektisch: »Alle Eingänge umstellen. Keiner geht rein und raus. Das Fax kam vom Mörder. Er schlägt sofort erneut zu.«
Auf Kommando kam jeder in Bewegung und war in höchster Alarmbereitschaft.
Auf einmal warf Meyer dem Donutslieferanten einen misstrauischen Blick zu. Daraufhin zückte er die Waffe und hielt sie dem Mann vor das Gesicht.
»Und jetzt heraus mit der Sprache! Wer bist du?«
Meyer stand da, mit der Waffe in der zitternden Hand. Er schien unschlüssig.
Aber plötzlich dröhnt ein Schuss und der Bäckerbursche fiel in sich zusammen.
»Warum hast du ihn gleich erschossen?«, brüllte Kommissar Wendel entsetzt. «Es war doch noch nichts sicher!«
Meyer war mittlerweile blasser als die Wand. Er senkte seine Waffe und stotterte: «Ich habe ihn nicht erschossen.«
Dann reichte er seinem Kollegen das Fax.
Dort stand geschrieben:

*Kommissar Meyer *

Sie haben 30 Sekunden, die Ermittlungen zu stoppen, sonst stirbt der nächste Unschuldige.
Aber wie das mit den Ermittlern so ist, sehen sie in jedem einen Verdächtigen …

Angst

Wie er in das Wartezimmer vor der Intensivstation des St.Anna Krankenhauses gekommen war, hätte er später nicht mehr sagen können, ebenso wenig, wie spät es war oder wie lange er schon so saß und vor sich hinstarrte.
Er hatte nur immer einen kreisenden Gedanken: „Sie darf nicht sterben!“ Dazu klopfte sein rechter Fuß bei jedem Wort auf den Boden, aber das bemerkte er nicht.

Vorhin war er wie wahnsinnig die Treppen der Stockwerke hinuntergerannt, immer zwei Stufen auf einmal nehmend . Der rote Mantel , die Menschen , das Blut.
Maria.
„Zwei Zugänge, Volumen, Supra! Kopfwunde, Schussverletzung“ die abgehackten Worte des Notarztes hallten nach in seinem Kopf. Der schnelle Trab, in dem sie die Trage zum Rettungswagen schoben. Er konnte nur hilflos zusehen.

„Herr Christian Pfeiffer?“
Pfeiffer fuhr hoch, als hätte man ihn mit Eiswasser übergossen.
„Ja?“
„Mein Name ist Niederberger. KHK Niederberger.“
Dabei zog er einen Ausweis heraus, den er Pfeiffer hinhielt. Wir möchten Sie sprechen!“
Pfeiffer starrte den Mann und seinen Kollegen an, als wären sie zwei Zeugen Jehovas auf Missionsdienst.
„Herr Pfeiffer, können Sie mir folgen?“
„Ja.“ – „Ja“ stammelte Pfeiffer und tauchte wie aus einer Trance auf. „Ich warte auf Bescheid, wie es ihr geht. Sie wird gerade operiert.“
In diesem Moment betrat ein fast kahler Mann in hellgrünem Kasak und Hose in Gummiclogs den Raum.
„Herr Pfeiffer?“
„Ja? Wie geht es ihr?“
„Ich bin Dr. Gutmundsson. Ich habe sie sechs Stunden operiert. Die Blutung steht, ihr Zustand ist erstmal stabil. Sie hat eine schwere Kopfverletzung und bleibt vorerst in einem künstlichem Koma. Erst danach kann man sehen, ob Folgen bleiben.“ Man hört ihm die Erschöpfung, aber auch die Routine an, mit der er solche Nachrichten überbringen muss. „Wir haben alles getan, jetzt braucht sie Ruhe.“
Die Erlösung macht Pfeiffer sprachlos.
Der Arzt drückt Pfeiffer kurz die Hand und eilt zurück durch die Glastür auf der steht: IOI - interdisziplinäre operative Intensivstation.

„Dann können wir jetzt ja gehen, Herr Pfeiffer. Kommen Sie!“
Paralysiert von Stress, Angst ,Erleichterung und purer Erschöpfung lässt sich Pfeiffer mit auf das Revier nehmen. Fast eine halbe Stunde Fahrt vergeht in Schweigen.
„Herr Pfeiffer, wissen Sie warum Sie hier sind?“ Fragt Niederberger ihn, als sie sich vor einer Tasse Kaffee im Befragungsraum gegenüber sitzen.
„Ja, weil dieser Irre mich angerufen hat.“
„Welcher Irre?“
„Der auch Maria dazu gezwungen hat.“
Die Augen von KHK Niederberger sehen Pfeiffer eindringlich an. Er schweigt kurz und rührt in seinem Kaffee, dann hebt den Blick.
„Wovon sprechen Sie Herr Pfeiffer?“
Stumpf vor Entkräftung begann der Journalist zu berichten, was sich zugetragen hat. Dem Anruf, dem Ultimatum, Maria, dem Knall .
Schweigen breitet sich in dem kleinen Raum aus. Die alte Kaffeemaschine gibt im Hintergrund kleine schnorchelnde Geräusche von sich. Niederberger schaut Pfeiffer unverwandt in die Augen.

„Seit der Sache im letzten Jahr mit Ihrem Stalker-Verhalten als Journalist, sind Sie hier kein Unbekannter, Herr Pfeiffer. Die Jagd, zu der Sie geblasen hatten, endete dann ja auch tragisch. Und Ihnen soll ich glauben, dass ausgerechnet Sie gezwungen waren, diesen Exzess an Gewalt einfach so online zu stellen? Sagt Ihnen §131 Strafgesetzbuch was?“
Niederberger ist hörbar um einen professionellen Ton bemüht. Wie Zugluft durch eine Seitentür, ist dennoch Unverständnis in seinem Ton zu spüren.
Bei der Erwähnung dieser unseligen Geschichte, die ihn letztlich seine Stelle gekostet hat, sinkt Pfeiffer noch ein kleines Stück mehr in sich zusammen.
Hat er Schuld an dieser ganzen Misere?
Ist Vergeltung das Ziel, dieses Wahnsinnigen?
Da klingelt das alte orange Tastentelefon auf dem Tisch… Beide starren es regungslos an.
„Niederberger“
„Herr Kriminalhauptkommissar Fabian Niederberger?“
„Woher haben Sie diese Durchwahl? Mit wem spreche ich?“
Das Gesicht des Polizisten verliert alle Farbe. Sein Blick heftet sich auf den Journalisten.
„Machen Sie keinen Fehler!“ ruft Niederberger noch.
Langsam legt er den Hörer fast vorsichtig auf.
Weit aufgerissene Augen blicken ihn an.
„Sie sollen in 10 Minuten bei Ihrer Verlobten sein, sonst stirbt sie.“

Zum zweiten Mal an diesem Tag stürzte Pfeiffer zur Tür, in einer Geschwindigkeit, die durch pure Angst befeuert wurde.

Das Gelübde

Bin ich zu weit gegangen?, fragte sich Björn, als er direkt nach dem Schuss das Video auf dem Account der FGZ entdeckte. Nein, jeder Krieg fordert Opfer, gab er sich selbst die Antwort. Wieder dachte er an sein Gelübde, so wie er es seit fast einem Jahr jeden Morgen nach dem Aufwachen tat. Und abends vor dem Einschlafen. Der Entschluss hatte sich eingebrannt in sein neuronales Netz, war zu seiner unumstößlichen Wahrheit geworden. Er spürte eine Zuversicht wie selten zuvor in seinem Leben. Er würde dereinst nicht zu jenen Zweiflern und Zögerern gehören, die immer nur lamentierten und sich empörten und dann doch nichts taten. Nein, er würde etwas tun, das hatte er sich geschworen.
Bedächtig schraubte er den Schalldämpfer von seiner 308er Büchse, nahm den kleinen Sandsack vom Fensterbrett, der ihm als Auflage gedient hatte. Beides packte er in seinen Rucksack, während er das Gewehr sorgsam in seinem Cellokasten verstaute. Zu Hause würde er seine Lieblingssonate spielen, denn jetzt war er sich sicher, dass der Plan erfolgreich sein würde.

Kommissar Heuberger schüttelte angewidert den Kopf.
«Ist dieses Video nun endlich vom Netz? Wie kann es sein, dass so etwas Abscheuliches innerhalb einer Stunde mehr als eine halbe Million Aufrufe bekommt? In welcher Welt leben wir denn eigentlich?»
«Ja, der Verlag hat es endlich gelöscht. Aber wir wissen ja, wie das ist mit solchen Videos: Ein paar Freaks haben es sicher schon gespeichert und teilen es überall.»
«Ja, schon klar. Lassen Sie sich das Original schicken, mal sehen, ob wir ein paar digitale Spuren finden. Was haben wir sonst noch?»
«Hier, Kommissar, das kommt gerade rein, von unseren Netzschnüfflern. Ein Aufruf im Darknet: Wer sich vor laufender Kamera selbst erschießt, erhält 10.000 Euro. Für seine Angehörigen natürlich. Sollen wir dem nachgehen?»

Der Verleger ging zum Kühlschrank, öffnete die Tür, zögerte kurz. Dann griff er mit plötzlicher Entschlossenheit nach der Flasche Champagner. Kurz blickte er auf seine Armbanduhr: 12 Uhr 05. Mit einem schrägen Grinsen begann er, an dem Draht des Verschlusses zu drehen. Nach dem lauten Plopp, der wie ein Schuss klang, goss er sich die hellgelbe Flüssigkeit bedächtig ins Glas. Er nahm es in die Hand, betrachtete sinnierend die aufsteigenden Bläschen, hob es an, als würde er mit jemandem anstoßen und ließ die perlende kalte Flüssigkeit langsam über seine Zunge laufen.
Jetzt war er sich sicher, dass der Plan erfolgreich sein würde. Pfeiffer in der Online Redaktion. Amüsiert schüttelte er den Kopf. Alle waren verwundert. Dabei war es eine seiner besten Entscheidungen. Wie einfach alles gelaufen war. Von der ersten Idee bis gestern. Und natürlich heute. Wieder einmal wurde ihm bewusst, dass es Leute wie ihn brauchte in der Welt. Menschen, die in der Lage waren, schwierige Entscheidungen zu treffen. Auch wenn sie nicht populär waren. Oder gerade dann. Der zweite Schluck schmeckte noch besser. Er freute sich auf den kommenden Tag.

„Zehntausend Euro“ Schreibteil 3 von Bücherbaum

Das laute Kreischen und Schreien, das gleich darauf von der Straße herauf ertönte, vernahm Pfeiffer nur gedämpft wahr, er hastete zum Fenster und schlug mit den flachen Händen auf die Scheibe. Was er dort unten sah, brachte seinen sonst kühlen Kopf, den er eigentlich bei manch schockierender journalistischer Arbeit hatte, fast zum Bersten. Nur mit dem Gedanken beschäftigt, ob Maria noch am Leben war, rannte er völlig aufgelöst in den Flur. Normalerweise waren hier Stimmen und, wenn Türen geöffnet waren, auch das Klackern von Tastaturen und das Knarzen und Rücken von Stühlen oder hektische Schritte zu hören. Jetzt hallten hier nur Pfeiffers Keuchen und die quietschenden Laufschritte seiner gummibesohlten Schuhe durch den Flur.

Hastig stieß er die schwere Glastür zum Treppenhaus auf. Er konnte nicht erkennen, dass vor der Tür Magnus Kupfer, der Chefredakteur stand und nun fluchend beiseite sprang. Die Aufschrift „ Bitte langsam öffnen“ an der Drahtglastür, die nach außen zu öffnen war, interessierte Pfeiffer im Moment überhaupt nicht. Und wenn sein Chef ihn nicht angeschrien hätte, ob er denn irre sei, hätte er diesen auch gar nicht wahrgenommen.

Diese unerwartete und erschreckende Begegnung riss Pfeiffer aus seiner Panik. „Maria ist erschossen worden“, schrie er, „gerade draußen auf der Straße. Oh Gott, ich werde wahnsinnig“. „Du hast’se doch nicht mehr alle, Christian“, gab Magnus erbost zurück, „ich komme von draußen, da ist eine Gasflasche explodiert“. „Nein, gerade eben wurde sie erschossen, ich habe es doch gesehen“, schnauzte Pfeiffer ihn an und schubste Magnus etwas unsanft an das Treppengeländer. „Bist du jetzt völlig verrückt geworden?“. Die vermeintliche Frage von Magnus hörte Pfeiffer nicht mehr. Auch nicht seine Anweisung, sofort zurückzukommen, um mit ihm den Amoklauf am Bahnhof zu beleuchten. Pfeiffer hatte nur seinen letzten Blick auf die Pariser Straße im Kopf als er zum Fahrstuhl hastete und wie ein Irrer auf die Knöpfe drückte.

Als Pfeiffer kurz zur Besinnung kam und seinen Kopf zu Magnus drehte, sah er ihn mit hochrotem Kopf und gestikulierend am Eingang zur Redaktion stehen. Er wollte ihm nochmal seine Notsituation herausschreien aber sein Hals war wie zugeschnürt. Fast erlösend hörte er den Fahrstuhl stoppen und zwang sich durch die noch nicht ganz geöffnete Tür hinein.

Ein Mann mit Mantel und Kapuze nickte ihm kurz zu, doch Pfeiffer hatte nur Augen für den Aufzugknopf in das Erdgeschoss, den er solange drückte bis sich die Tür schloss. Der Fahrstuhl setzte sich abwärts in Bewegung und zur gleichen Zeit spürte Pfeiffer etwas auf der rechten Seite seines Körpers. „Ganz ruhig“, sagte der Kapuzenmann, „wir fahren jetzt in die Tiefgarage, bei der kleinsten Bewegung drücke ich ab und dir ergeht es genauso, wie deiner Freundin auf der Straße“. „Was wollen sie von mir und warum haben sie meine Freundin erschossen?“, fragte Pfeiffer mit leicht zitternder Stimme, die sonst sehr kraftvoll war, „ich habe doch das Video hochgeladen und trotzdem haben sie geschossen!“ Jetzt wurde er wütend und überlegte, ob er es riskieren sollte, mit seinem rechten Arm die Pistole wegzuschlagen. Eigentlich war er schnell mit körperlichen Reaktionen, dies hatte er seinem Boxtraining zu verdanken.

Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss, die Tür öffnete sich doch Pfeiffer war wie erstarrt als er seinen Blick durch den hohen Empfangsraum mit den großen Fenstern auf die Straße lenkte. Stand dort nicht eine Frau im roten Mantel und war das nicht Maria? Für ein Sekundenbruchteil war nun auch sein Fluchtreflex eingeschaltet, doch der Druck am unteren Rippenbogen schaltete ihn wieder aus. Der Knopf zum Schließen der Tür wurde vom Kapuzenmann gedrückt und fast gleichzeitig der Knopf zur Tiefgarage. „Was soll das alles? Was hat Maria damit zu tun?“ Pfeiffers journalistisches Gehirn versuchte sich etwas zusammen zu reimen. „Warten sie es ab“, hörte er die Stimme des Kapuzenmannes.

Im Großraum-Büro starrte Magnus Kupfer auf den Bildschirm mit dem Social-Media-Account seiner Redaktion, deren Shitstorms Fahrt aufgenommen hatten.

Das ist das Ende seiner Pechsträhne! Jannik Steiner war sich sicher. Diese Story durfte er sich auf keinen Fall durch die Lappen gehen lassen. Er eilte durch die spärlich besetzten Redaktionsräume des Lokalsenders Frankfurt-Aktuell, auf der Suche nach einem Kameramann. Hoffentlich war die Sonntagscrew nicht komplett im Einsatz. Banken, die sich verzockt hatten oder Konzerne in der Krise gaben zufällig gerne Pressekonferenzen, wenn die Börse geschlossen hatte.
Davon hielt er sich fern. Seit seinem eigenen Abenteuer im Aktienmarkt bei dem er seine sämtlichen Ersparnisse, seinen Job als Wirtschaftsredakteur des Frankfurter-Aktien-Report und am Ende seine Frau verloren hatte. Die Scheidung hatte ihm den finanziellen Rest gegeben. Nicht einmal die gewonnene Sammelklage gegen die Pleite-Firma hatte etwas genutzt. Da von dem Firmenvermögen, das zum größten Teil aus dem Geld von Investoren bestanden hatte, genau null Euro übrig geblieben war, gab es nichts mehr zum Verteilen.
Dabei hatte das Konzept der CuraNova AG auf dem Papier vielversprechend geklungen: Statt den Körper mit Chemie zu belasten, sollte das neue Mittel dessen Selbstheilungskräfte in den Turbomodus schalten, um Krankheiten indirekt zu bekämpfen. Das Unternehmen kursierte als Geheimtipp, bis große Investoren aufsprangen und den Aktienkurs in höchste Höhen getrieben.
Wäre da nicht einer der Aktionäre misstrauisch geworden.
Ein von diesem beauftragter Privatdetektiv fand schnell heraus, dass das Wundermittel höchstens für die Klub-Szene taugte und das Konzept nur aus den Wunschträumen und gefälschten Studien des CEOs bestand. Danach brach das Kartenhaus zusammen. Ein paar Investoren gelang es, sich auf die Rettungsboote flüchten, während der Rest wurde in die Tiefe gerissen. Ohne Begleitung einer Musikkapelle.
Seitdem verbrachte er seine Tage bei dem kleinen, aber geschätzten Sender und hoffte auf eine Gelegenheit, seine zweite Karriere zu starten. Da er niemanden hatte, der in seinem Appartement auf ihn wartete, schob er freiwillig am Wochenende Dienst. Die meisten seiner Kollegen hatten eine andere Einstellung. Er warf die Tür zu, die er ohne zu Klopfen geöffnet hatte. René war nicht da. Dabei erinnerte er sich genau, ihn zuvor gesehen zu haben. Nicht, dass er gebraucht würde. Auf dem Kanal liefen die Wiederholungen der besten Beiträge. Nur die Nachrichten waren live.
Hier würde er es nie weit bringen. Im Zentrum der deutschen Finanzwelt hatten die großen Anstalten ihren Fuß zuerst in der Tür. Bei jedem Skandal blieb ihm nur der Platz in der zweiten Reihe. Und wenn er seine Fragen stellen durfte, hatten sich die hohen Herren längst verabschiedet und ihre Assistenten zurückgelassen.
Der Rest der Berichte, mit denen er sich herumschlug, bestanden aus Unfällen, kleinen Affären in der lokalen Politik und hin und wieder ein Mord. Meist unter Verbrechern. Und es kümmerte niemand, wenn sich Kriminelle gegenseitig abmurksten.
Aber das hier war anders.
Verflixt. Auch das nächste Büro war leer. Was machten alle seine Kollegen ausgerechnet am Sonntag Mittag? In die Kirche gehen? Wenn die wüssten, was sie verpassten …
Er hatte eher aus Langeweile auf den Link in der E-Mail geklickt. Dieser hatte auf den Social-Media Account des Frankfurter Generalanzeigers verwiesen. Eine vertrauenswürdige Quelle. Dort hatte ein gewisser Christian Pfeiffer eine Videodatei hochgeladen, die es in sich hatte. Ein Mann, der sich vor der Kamera in den Kopf schießt. Unzensiert. Nichts, was man auf seiner offiziellen Seite haben will.
Instinktiv hatte er den Film sofort auf seinen Rechner gespeichert. Zum Glück – als er kurz darauf prüfte, ob es ein Update dazu gab, war der Post wieder verschwunden. Offenbar hatte es sich um einen Fehler gehandelt. Denn das bedeutete, dass es keiner von den großen Sendern mitbekommen hatte.
Ein kurzer Anruf bei einem Kontakt bei der Polizei, ob diese etwas davon wüssten, hatte ihm dieser bestätigt, dass dieser sich so zugetragen hatte. Und was diesem Pfeiffer betraf – wo hatte er den Namen schon mal gehört – berichtete ihm sein Informant, dass es vor dessen Haus zu einem ähnlichen Vorfall gekommen war. Man wisse nicht, ob es zwischen beiden Fällen eine Verbindung gibt.
Blödsinn. Was sonst? Jetzt hieß es, möglichst zuerst am Tatort zu sein. Die Adressen wollte sein Freund nicht herausrücken, doch da Jannik den vollen Namen und Beruf von diesem Pfeiffer kannte, war das kein Problem. Fehlte nur die Crew. Er überlegte einen Moment, sich selbst eine Kamera zu schnappen, als die Eingangstür aufschwang. Mira und René kamen schwatzend herein. Von der Mittagspause aus der Pizzeria gegenüber, vermutete er.
»Zum Ü-Wagen«, befahl er. »Sofort!«
Die beiden blieben verblüfft stehen. Er drängte an ihnen vorbei zum Treppenhaus.
»Was ist passiert?«, frage René, der ihm gefolgt war.
Er war Ü-Techniker und konnte auch mit der Kamera umgehen. Nicht perfekt, aber für den Zweck vollkommen ausreichend.
»Bankencrash oder Hauseinsturz?«, meldete sich Mira zu Wort, die hinter ihnen her lief.
Sie war die jüngste im Team, auffallen hübsch langen blonden Haaren, sodass man sie schnell die meisten der Interviews machen ließ. Zum Ärger der anderen Moderatoren. Einen Moment überlegte Jannik, ob sie ihm nicht die Show stehlen würde. Doch je mehr Aufmerksamkeit er der Story brachte, desto besser für ihn. Am Ende winkte ihnen beiden sogar ein Job bei einem der großen Sender.
»Eine Selbstmordepidemie«, antwortete er.
»Was?«
Das war zugegeben etwas übertrieben bei zwei Fällen. Aber zumindest an einem Vormittag. Das konnte kein Zufall sein. Er brachte beide, auf dem Weg zu einem der Ü-Wagen in der Tiefgarage, auf den aktuellen Stand. René setzte sich ans Steuer.
Während sie durch die wenig befahrenen Straßen von Frankfurt rasten, rief Jannik einen Redakteur an, um eine Liveschaltung anzumelden. Anschließend nötigte er die Betreuerin ihrer Web-Seite, eine Meldung auf der Webseite vorzubereiten. Das brachte ihn auf den Gedanken, die gängigen Newsportale auf seinem Handy zu überprüfen. Nichts. Perfekt. Aber das konnte sich schnell ändern.
»Eins kapier ich nicht«, riss ihn Mira aus seiner Konzentration. »Woher weißt du von der ganzen Sache?«
»Jemand hat mir einen Tipp gegeben.«
»So? Wer? Und warum?«
Verdammt. Sie hatte recht. Das hätte er zuerst prüfen sollen. Da waren wieder die Pferde mit ihm durchgegangen. Genau wie bei dieser todsicheren Aktie. Die E-Mail war nicht unterschrieben gewesen, so weit erinnerte er sich. Er rief sein Postfach über sein Handy auf. Da war sie. Von der Adresse qvu61039[at]kasor.com. Sagte ihm nichts. Aber da war eine neue Nachricht von demselben Absender.
›Für den Fall, dass du zu lahm warst!‹
Dazu zwei Links auf einen Cloud-Speicher. Der erste Dateiname kam ihn bekannt vor, daher klickte er gleich auf den zweiten. Mira beugte sich über seine Schulter.
Ein weiteres Video. Es zeigte eine Frau mit schwarzen Haaren, in einem roten Mantel, die vor einem Bürotower stand und nach oben blickte. Sie war blass und bebte vor Angst.
›Tut mir leid‹, hörte er eine Stimme, die er von dem ersten Video kannte. ›Dein Süßer hat versagt. Du weißt, was du zu tun hast!‹
»Oh, Scheiße!«, entfuhr es Mira, als der Schuss fiel. »Wo hast du uns da nur reingeritten, Jannik?«
»Ich kann doch nichts dafür«, verteidigte er sich. »Beschwer dich nicht. Deiner Karriere wird’s nicht schaden.«
»Sie hat sich in den Kopf geschossen. Warum hat sie das getan? Es gibt noch so ein Video, hast du gesagt?«
»Ja, das ist der andere Link.«
Jannik gab ihr das Handy. Ihre Fragen hatten ihn auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Natürlich würde ihm irgendjemand aus reiner Gefälligkeit die Story des Jahres auf dem Präsentierteller servieren. Da steckte etwas anderes dahinter. Dann der Name Pfeiffer. Wo hatte er den schon mal gehört? Und der eine Typ an der Tür im ersten Video? Der kam ihm ebenfalls vage bekannt vor? Nur wo.
»Weißt du, was das ist?«, meldete sich Mira zu Wort. »Das ist bloß ein Prank. Nichts davon ist echt. Alles gefälscht. Mit Schauspielern. Special-Effects. Und ich hab mir schon Sorgen gemacht.«
»Unsinn. Ich hab bei meinem Informanten bei der Polizei angerufen. Die sind gerade im Einsatz deswegen.«
»Klar! Denen haben sie die Videos auch geschickt. Da müssen sie ja ermitteln.«
Jannik ärgerte sich. Wenn sie recht hatte, stand er schön dumm da. Wie sollte er das dem Chefredakteur erklären? Am Ende versetzte er ihn zum Wetterbericht.
»Ich will mich ja nicht einmischen«, kam es von René. »Aber für einen Prank scheint mir das zu aufwendig.«
Der Übertragungswagen hielt mitten auf der Straße, denn diese war vollständig gesperrt. Autos parkten in der zweiten Reihe. Jannik erkannte den Bürotower aus dem Video, gegenüber der Europapark. Davor standen Dutzende Polizeiwagen und Krankenwagen mit Blaulicht.
»René, mach alles für eine Übertragung fertig. Halt die Kamera bereit!«, sagte Jannik und sprang aus dem Wagen. »Mira, komm mit! Suchen wir uns einen Platz aus. Möglichst wo man den Turm sieht, wie in dem Video.«
»Ich nehm alles zurück«, sagte die junge Frau neben ihm mit bebender Stimme. »Scheiße. Das ist echt.«
Mitten auf dem Gehweg lag eine Person auf dem Boden. Mit einem Tuch bedeckt unter dem ein roter Mantel hervorlugte. Drumherum, wie es schien, die komplette CSI-Frankfurt in weißen Ganzkörperanzügen, die die ganze Umgebung bis in den Park hinein absuchten.
Einer der Polizeibeamten eilte auf sie zu.
»Fahren Sie weiter! Das ist ein Tatort.«
Jannik zückte seinen Presseausweis. Der Polizist verzog das Gesicht.
»Bleiben Sie hinter dem abgesperrten Bereich!«, befahl er grimmig. »Keine Aufnahmen von dem Opfer oder von den Ermittlern. Infos für die Presse gibts erst auf der Pressekonferenz um 18:00 Uhr. Klar?!«
»Ja, ja«, sagte Jannik.
Aber bis zur Absperrung durfte er. Und wenn er da zufällig was aufschnappte - konnte er nichts dafür. Er beobachtete das hektische Treiben. Irgendetwas schienen die Beamten zu suchen. An der offenen Tür des Krankenwagens saß ein Mann in seinem Alter mit einer Decke über den Schultern und redete mit einigen Polizisten. Leider verstand im ganzen Trubel er kein Wort.
Genug Zeit verschwendet.
»Du stellst dich am besten da drüben hin und siehst in die Richtung!«, sagte er zu Mira. »René kann da auf den Grünstreifen gehen und von da filmen. Dann hast du den Büroturm im Rücken.«
»Jannik, ich schaff das nicht«, kam es von der jungen Frau. »Die Ärmste war kaum älter als ich.«
Er sah sich zu ihr um. Mira zitterte am ganzen Körper.
»Reiß dich zusammen!«, fuhr er sie an. »So eine Chance hat man nur einmal im Leben!«
»Dann machs doch selber!«, giftete sie zurück. »Glaubst du, ich merk nicht, was du vorhast? Du willst, dass ich genau so da stehe, wie die da.«
»Aber nein«, behauptete er und ging wieder näher zur Absperrung. »Gut stell dich eben hier vor die Bäume.«
»Zu der Leiche?«
»Dann sag wo …«, rief er, als er aus den Augenwinkeln sah, wie der Mann am Krankenwagen aufsprang.
»Nein! Ich weiß nicht, wo die verdammte Waffe ist«, schnauzte er den Beamten in Zivil an, der ihm offenbar Fragen gestellt hatte. »Ich bin sofort runter gerannt, als ich von oben gesehen hab, was passiert ist. Keine Ahnung, wo die jetzt ist.«
»Christian Pfeiffer?«, rief Jannik verblüfft.
Der Mann sah auf und einen Moment später hatte er ihn ebenfalls erkannt.
»Jannik Steiner! Was tun Sie denn hier?«
Der Beamte in Zivil warf ihm einen missbilligenden Blick zu.
»Sie kennen sich?«, fragte er.
»Ja, wir waren Nebenkläger in einem Prozess letztes Jahr«, antwortete Pfeiffer. »Aber ich verstehe nicht.«
»Ich hab heute eine E-Mail bekommen mit einem Video, was hier passiert ist«, erklärte Jannik. »Da bin ich gleich hierher gefahren.«
»Sie haben Video von der Tat?«, mischte sich der Beamte ein. »Warum haben Sie das nicht gleich der Polizei geschickt?«
»Äh …«, stammelte Jannik, als ein Handy zu klingeln begann.
Pfeiffer holte das Gerät aus seiner Tasche und hob sofort ab.
»Du Arschloch wagst es, noch mal bei mir anzurufen? Verpiss dich!«, schrie er.
Der Beamte in Zivil machte Gesten mit den Händen, um ihn zu beruhigen.
»Wie? Was?«, sagte Pfeiffer und sah zu Jannik. »Sie sollen Ihre E-Mails checken.«
»Hä?«, brachte Jannik hervor. »Die hab ich doch eben…«
»Verdammt. Der Kerl muss in der Nähe sein«, knurrte der Beamte. »Im Haus. Oder im Park. Ich lasse alles durchkämmen.«
Jannik holte sein Handy heraus. Es stimmte. Er hatte eine weitere Nachricht bekommen. Diesmal kein Video, sondern eine Textdatei. Er öffnete sie und wollte den Inhalt überfliegen, als ihn Pfeiffer unterbrach.
»Den soll Ihre Kollegin in drei Minuten auf eurem Sender vorlesen. Und die auch die beiden Videos ausstrahlen.«
»Was? Aber so schnell geht das…«
»Doch! Hier ist die Kamera«, hörte er eine Stimme. »Die Schaltung steht.«
»René!«, kreischte Mira.
Sie fuhren herum. Hinter ihm stand René. Er schien durch ihn hindurch zu blicken. In der einen Hand hielt er die Kamera. Doch alle starrten auf das, was er in der anderen hatte.
»Sie brauchen nicht mehr nach der Waffe zu suchen«, wiederholte Pfeiffer dem Beamten in Zivil, was ihm am Telefon gesagt wurde. »Der da hat sie.«
»Lies den Text vor!«, sagte René monoton und zielte mit der Pistole auf seine Schläfe. »Sonst bringe ich mich um.«
»Nein!«, rief Mira. »Spinnst du? Leg doch die Waffe hin!«
René rührte sich nicht. Er wirkte fest entschlossen.
»Tu, was er sagt!«, entschied Jannik, reichte ihr das Handy und griff nach der Kamera.

Der Journalist stürzte ans Fenster, wollte es aufreißen und stellte fest, dass jemand den Griff abgeschlossen hatte. Der Schlüssel fehlte. Also konnte er nur sein Gesicht verzweifelt an die Scheibe pressen. Er sah die Frau in ihrem roten Mantel unten halb auf dem Gehweg, halb auf der Straße liegen, ein rotes Rinnsal floss von ihr fort, die Gosse entlang und verschwand im nächsten Gully.
Pfeiffer fühlte sich wie betäubt, wollte seinen Augen nicht trauen.
»Maria«, flüsterte er fassungslos, dann stieß er sich heftig von der Glasscheibe ab, schrie, so laut er konnte: »MARIA! NEIN!«, und rannte zur Bürotür.
Ohne darüber nachzudenken, klaubte er im Vorbeieilen sein Handy vom Tisch und stieß dabei den Kaffeepott um. Sein heißgeliebter Kaffee schwappte über die Tischplatte und tropfte auf den Boden. Was für eine Verschwendung. Doch davon bekam Pfeiffer nichts mehr mit.
Er hetzte zur Treppe und raste die Stufen hinunter. Keine Zeit, auf den Aufzug zu warten. Im Rennen presste er das Handy ans Ohr und schrie hinein: »Was haben Sie getan! Warum?«
Ein leises belustigt-boshaftes Lachen drang an Pfeiffers Ohr.
»Ich? Ich habe gar nichts getan. Das ist alles nur Ihre Schuld. Hätten Sie nicht so viel kostbare Zeit sinnlos verschwendet oder wären Sie ein richtiger Online-Redakteur, der sein Handwerkszeug zumindest bedienen kann, dann könnte ihre Freundin noch leben.«
»Aber ich habe doch alles gemacht, was Sie wollten! Sie haben mich betrogen, Sie haben Maria betrogen!«, keuchte Pfeiffer und stürzte aus der Eingangstür direkt auf die Straße, wo Maria in ihrem Blut lag.
Eine Traube aus aufgeregten, sichtlich schockierten Passanten hatte sich um sie gebildet. In der Ferne hörte der Journalist die ersten Sirenen und ganz am Ende der schnurgeraden Straße blitze bereits Blaulicht.
»Hören Sie mir jetzt gut zu«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. Pfeiffer schaute sich hektisch um, versuchte, den Anrufer zu finden. »Sie erklären der Polizei gleich überzeugend, dass Sie und nur Sie schuld am Tod ihrer Freundin sind, weil Sie versagt haben. Weil Sie nicht in der Lage waren, eine ganz einfache Aufgabe zu erledigen. Und weil Sie unfähig sind, Ihren Job richtig zu machen. Deshalb hat ihre Freundin keinen anderen Ausweg mehr gesehen,…«
»Aber das stimmt doch alles gar nicht«, protestierte Pfeiffer schwach.
»…als sich zu erschießen, um alles nicht noch schlimmer zu machen«, redet der Mann unbeeindruckt weiter. »Glauben Sie mir, ich merke es, wenn Sie versuchen, sich rauszureden. Und dann werden Sie nie erfahren, warum sich ihre Freundin wirklich umbringen musste. … Und wer als Nächster dran ist.«

Kommissar Bodo Karlsen hatte seine Mühe mit dem aufgeregt auf ihn einredenden Zeugen.
Dieser Pfeiffer war beileibe kein unbeschriebenes Blatt - Karlsen hatte früher öfters mit ihm zu tun gehabt, bevor Online-Redaktionen überhaupt existierten. Es gab sogar eine Akte über ihn, aber was immer sie mal Brauchbares enthalten haben mochte, war dem Datenschutz-Wahnsinn anheimgefallen. Egal. Man musste eben mit dem arbeiten, was man hatte. Dieser Fall hatte ohnehin seinen ganz eigenen Wahnsinn zu bieten.

Karlsen fiel ein, wie Pfeiffer vor dreißig, vierzig Jahren versucht hatte, ein Interview von ihm zu bekommen. Damals, als ein junger Student bei einer Demo erschossen worden war, keine 10 Meter von Pfeiffer und etwa 50 von Karlsen entfernt. Christian Pfeiffer hatte Bodo Karlsen, damals noch Streifenpolizist, gefragt, ob der Junge überlebt hatte. Dabei hatte man an der Art der Fragen und der Körperhaltung gemerkt, wie wütend und entsetzt Pfeiffer gewesen war. Seiner Stimme hingegen war kaum etwas anzumerken gewesen, und seiner Grammatik noch weniger.

Ganz anders heute: „Sie war stockensteif vor Angst, Mann! Sie müssen un… unbedingt rausfinden, wie sie unk-… unter Druck gesetzt wurde!“ Pfeiffer sprach zu schnell, er verhaspelte sich, brach Sätze ab, begann sie wieder neu, Tränen rannen unbeachtet über sein Gesicht. So hatte Karlsen ihn noch nie gehört und gesehen. Waren es die Jahre, die ihn so verändert hatten, oder war es die Frau? Wer war diese Maria Zimmermann?

Karlsen räusperte sich. „Es gibt nicht viel, was einen Menschen dazu bringen kann, so etwas zu tun.“

„Eben!“ Stahlblaue Augen fixierten Karlsen flehentlich. „Finden Sie diesen Mistkerl. Bitte! Und sagen Sie es mir, wenn ich irgendwie helfen kann, selbst wenn ich dabei draufgehe. Ohne meine Tochter gibt es sowieso niemand mehr, dem ich fehlen würde.“

Keine Midlife-Crisis-Verliebtheit also. Das erklärte einiges. Aber was antwortete man auf so einen Satz von einem Verzweifelten?

„Dann stellen Sie man nichts Dummes an“, brummte Karlsen, „vielleicht brauch ich Sie noch.“

Diese verdammten, ausdrucksstarken Augen wieder. Der Mann verstand es, ohne Worte zu betteln. Aber er wiederholte nicht sein Angebot, sondern stellte fest: „Die haben noch nicht bekommen, was sie wollten. Die werden das wieder tun.“

Üblicherweise arbeitete das Hirn nicht so gut, wenn man unter Schock stand. Steckte Pfeiffer mit denen unter einer Decke? War das alles bisher Schauspielerei gewesen? War das überhaupt möglich? Die Tränen und alles?

Karlsen hoffte, dass man ihm diese Überlegungen nicht anmerkte und nickte nur phlegmatisch. „Ich weiß.“ Und wenn man nach dem kurzen Abstand zwischen diesen beiden Selbstmorden ging, dann würde es nicht mehr lange dauern.

Kommissar Bodo Karlsen behielt recht.

Die Kommissarin

13:00 Uhr, Polizeipräsidium Frankfurt am Main

Bereits auf dem Weg hierher hatte sich Kathie Winter zu den Geschehnissen des Tages von ihrem Kollegen Henning Yilmaz am Telefon abholen lassen. Sie bezahlte den Taxifahrer und war schon mit einem Fuß auf dem Gehweg, als sie noch einmal alles in ihrem Kopf überschlug: Lili Kaiser, fünf Jahre alt, wurde heute Nacht um drei Uhr als vermisst gemeldet, als ihre Mutter einen Blick ins Kinderzimmer warf, um auf dem Weg vom Badezimmer kurz nach dem Rechten zu schauen. Das Mädchen war spurlos verschwunden – so wie ihr Mann, was für ihn jedoch nicht unüblich war. Keine Nachricht und kein Erfolg, ihn zu erreichen, der sein Handy nur zu oft ausschaltete, wenn er bei einer seiner Affären war. Kurzerhand rief Frau Kaiser die Polizei.

Nur Stunden später – gegen neun Uhr – ging der Anruf ein, dass sich Herr Kaiser erschossen hatte. Ein völlig verstörter Augenzeuge hatte den Mord gemeldet und die ganze perfide Aktion noch einmal durchleben müssen, indem er den Kollegen im Verhör erklärte, wie Herr Kaiser zehntausend Euro von ihm forderte und sich anschließend aufgrund der Weigerung selbst erschoss. Richard Berger befand sich derzeit zusammen mit seiner Frau, die alles miterlebt hatte, in psychologischer Behandlung.

Dass die Entführung seiner Tochter und sein Suizid in irgendeinem Zusammenhang standen, war für Kathie durchaus klar, doch in welchem? Und wer war der Mann, der alles gefilmt hatte? Von ihm fehlte jede Spur – das Phantombild, das anhand von Herrn Bergers Beschreibung erstellt worden war, durchlief bereits sämtliche Datenbanken. Bislang ohne Erfolg.

Wenn das nicht schon genug wäre, tauchte plötzlich das Video vom Selbstmord in all seiner Abscheulichkeit im Internet auf und verbreitete sich seitdem viral. Die IT-Forensik hatte alle Hände voll zu tun. Und nicht nur die: Alle Beschäftigten – von KDD über OFA bis zur Pressestelle – würden heute keinen geruhsamen Sonntag erleben dürfen. So viel stand fest.

»Winter, wo bleiben Sie? Es gibt noch ein weiteres Opfer. Eine Frau. Hat sich vorm Europagarten die Kugel gegeben. Identität bislang unbekannt, aber der KDD ist dran«, schallte ihr die Stimme ihres Kollegen entgegen. »Der Typ, der das Video live gestellt hat, ist in Verhörraum zwei.«

Kathie folgte ihm, legte im Vorbeigehen lediglich ihren Mantel ab und sah sich wenige Minuten später einem Mann gegenüber, der leer vor sich hinstarrte.

»Christian Pfeiffer?«, fragte ihr Kollege in barschem Tonfall und der Mann vor ihnen schaute ausdruckslos hoch. »Yilmaz, mein Name. Das ist meine Kollegin Katahrina Winter. Sie haben das Video auf Social Media verbreitet – ohne vorher Kontakt zu uns aufzunehmen? Haben Sie öfter so glorreiche Ideen und auch nur den blassesten Schimmer davon, was sie damit angerichtet haben? Ein sehr guter Journalist scheinen Sie wohl nicht zu sein.«

Für das ungeübte Auge wirkte Henning schroff und gefühllos, Kathie kannte ihn jetzt seit fünf Jahren und wusste, dass er auch eine andere Seite hatte: eine noch viel unsensiblere. Für seine Verhältnisse schien er heute sogar ganz gut drauf zu sein.

»Er sagte, ich hätte zwei Minuten«, faselte Christian Pfeiffer kopfschüttelnd. Es war offensichtlich, dass er unter Schock stand, doch das schien Henning nicht weiter zu interessieren.

»Wer sagte, sie hätten zwei Minuten und wofür? Raus mit der Sprache, Pfeiffer!«

Kathie drängte Henning sanft zur Seite, der ihr einen wütenden Blick zuwarf, doch nichts erwiderte. Das traute er sich bei ihr zum Glück nicht. Sie setzte sich auf den Stuhl vor dem Mann, der jetzt zu ihr aufsah – seine aufgerissenen Augen blutunterlaufen.

»Würden Sie mir bitte erzählen, was heute geschehen ist, Herr Pfeiffer? Woher hatten sie das Video und wieso haben Sie es live gestellt?«, fragte sie mit einfühlsamer und dennoch bestimmter Stimme.

Er sah sie einen Moment verstört an, dann begann er zu erzählen. Kathie ließ sich nichts anmerken, doch innerlich gefror ihr das Blut in den Adern, während er die Geschehnisse so detailliert er konnte, wiedergab.

»Und dann habe ich sie dort unten stehen sehen«, schluckte er kopfschüttelnd, als hätte er noch nicht realisiert, dass das alles wirklich geschehen war. »Dabei war ich nur zweimal mit ihr aus. Sie sagte, sie wolle sich bei mir melden – bereits vor Tagen – ich wurde schon langsam ungeduldig. Ich weiß nicht, wie … sie war noch so jung. Mitte dreißig vielleicht.«

»Und ihr Name?«, konnte sich Henning nicht länger zurückhalten und mischte sich nun doch mit seinem barschen Tonfall und einer unleugbaren Ungeduld in der Stimme ein.

»Ihren Nachnamen kenne ich nicht«, hauchte Herr Pfeiffer und holte noch einmal tief Luft, bevor er weitersprach. »Maria. Sie hieß Maria.«

Kathie atmete stockend ein. Nein! Das konnte nicht sein. Das war mit Sicherheit nur ein Zufall. Sie hielt einen Moment den Atem an, bevor sie ihn wieder ausstieß, und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück. Henning tippte unterdessen eine Nachricht in sein Smartphone und Herr Pfeiffer fuhr damit fort, zu beschreiben, wie er verzweifelt versuchte, das Video so schnell wie möglich hochzuladen.

»Dafür bin ich eigentlich gar nicht zuständig. Ich bin doch kein Social Media Manager«, empörte er sich, um sein schlechtes Gewissen zu besänftigen, das ihn vermutlich mit voller Wucht heimsuchte, wie sich Kathie dachte.

Maria. Der Name hallte durch ihren Kopf in Dauerschleife und sie hielt es nicht länger aus, zog unter dem Tisch ihr eigenes Smartphone hervor und tippte eine kurze Nachricht. Die sechste in drei Tagen, wie sie in diesem Moment feststellte. Sie musste ihr jetzt endlich antworten. Denn das konnte unmöglich wahr sein. Wieso sollte ausgerechnet ihre Schwester in diese Sache verwickelt sein? Aber es passte alles, wie Kathie mit zittrigen Fingern feststellte. Maria hatte ihr vor einer Woche erzählt, dass sie jemanden datete, jemanden, der älter war als sie, was sie schelmisch grinsend betont hatte, sodass bei Kathie alle Alarmglocken schallten. Sie liebte ihre Schwester, aber diese hatte leider einen gänzlich ungesunden Männergeschmack, wie sie in der Vergangenheit mehr als einmal bewiesen hatte. Sie stritten sich daraufhin. Es herrschte Funkstille – nichts Ungewöhnliches für die Schwestern, die lediglich zwei Jahre auseinanderlagen. Nur, dass Maria sich seit drei Tagen nicht mehr meldete, obwohl Kathie sich bereits mehrmals bei ihr entschuldigt hatte, passte einfach nicht zu ihr.

Es vibrierte in ihrer Hand und erleichtert aufatmend sah sie auf dem Display, dass die Antwort von ihrer Schwester kam. Sie öffnete die App und erstarrte. ›Deine Schwester war zu neugierig. Du auch? Der Journalist steckt mit Berger unter einer Decke, auch wenn er es selbst noch nicht weiß. Kannst du herausfinden, was für Dreck sie am Stecken haben? Ich gebe dir fünf Stunden, ansonsten stirbt eine weitere Person – und die Waffe trägt deine Fingerabdrücke, Kathie! Kleiner Tipp gefällig?‹

In dem Moment, als sie die Worte las, kam eine neue Nachricht, die aus einem einzigen Foto bestand. Damit Kathie es besser erkennen konnte, hob sie ihr Smartphone näher vor ihr Gesicht und hielt die Luft an. Das Foto wurde augenscheinlich durch eine Fensterscheibe gemacht, ohne dass die abgelichteten Personen etwas davon mitbekommen hatten. Darauf zu sehen war ihre Schwester Maria, die lachend an einem Tisch im Le Petit Café Herrn Pfeiffer gegenüber saß und ihm einen Briefumschlag zuschob. Er lächelte zufrieden. Es dauerte nur einen kurzen Moment, bis Kathie erkannte, wer im Hintergrund am Tresen auf seine Bestellung wartete und dabei verstohlene Blicke zu Maria und Herrn Pfeiffer warf: der erste Tote, Herr Kaiser.

Der Finanzhai

Arthur Wagner war beflügelt. Wieder einmal hatte er sein persönliches Handicap deutlich unterboten. „Kommst du noch mit zu Loch neunzehn?“, fragte ihn sein Golfkollege, aber Arthur hatte im Büro noch etwas zu erledigen. „Tut mir leid, ein andermal, die Pflicht ruft.“ Er startete seinen roten Porsche und fuhr in Richtung Europaviertel, wo sich sein Büro befand. Er schaltete das Radio ein. Es wurde von einem Selbstmordattentat berichtet: „Auf dem Europaplatz hat sich heute eine Frau erschossen. Über die näheren Umstände ist noch nichts bekannt. Die Polizei prüft, ob es einen Zusammenhang mit den Ereignissen vom Vormittag gibt. In einem Frankfurter Wohngebiet hat sich ein siebzigjähriger Mann vor der Haustür eines Ehepaars erschossen. Auch hier ist das Motiv unklar“, hörte er die Stimme aus dem Radio sagen.

Arthur schüttelte den Kopf. Wie konnte sich jemand das Leben nehmen? Er parkte seinen Wagen und eilte ins Büro. Seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Maria. Sie sah aus wie ein Model und ihre fast schwarzen Haare beflügelten seine Fantasie. Heute würde er sie endlich wiedersehen.
„Guten Abend, Bob“, begrüßte er den Wachmann freudig. Er trällerte vor sich hin und fuhr mit dem Aufzug in den achtzehnten Stock zu seinem Büro. Was für eine Aussicht. Er stellte sich ans Fenster und schaute hinaus auf das pulsierende Frankfurt. Unter ihm breitete sich ein beeindruckendes Panorama aus, die Straßen glitzerten im Licht der Straßenlaternen, während sich die Menschen wie kleine Schatten bewegten. Majestätisch ragte die Skyline vor ihm auf. Die Dämmerung hüllte alles in ein warmes, goldenes Licht, und er spürte, wie die Stadt zum Leben erwachte. Er ließ den Blick über die Dächer schweifen und genoss das Gefühl, Teil von etwas Größerem zu sein. Arthur war stolz auf sein bisheriges Leben. Er hatte es an der Börse weit gebracht und war erfolgreich.

Er schaltete seinen Computer ein und der Startbildschirm erschien. Er gab sein Passwort ein. Nicht gerade genial, 10000 als Passwort zu verwenden. Aber das war der Anfang seines Erfolges.
Dann fiel sein Blick auf die Bar in seinem Büro, und ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Er beschloss, sich eine kleine Belohnung zu gönnen, einen Moment der Ruhe inmitten der Hektik. Seine Wahl fiel auf einen Cognac aus dem 19. Jahrhundert. Mit einer feierlichen Geste nahm er den Cognacschwenker in die Hand, seine Finger umschlossen das Glas, als wäre es ein kostbares Geheimnis.
Die goldene Farbe des Getränks schimmerte im Licht wie flüssiges Gold, und er ließ seinen Blick über die Oberfläche gleiten, die sich sanft im Glas wölbte. Der Duft von reifer Traube und ein Hauch von Vanille erfüllten die Luft und umhüllte ihn wie eine warme Umarmung. Er machte es sich in seinem Ledersessel bequem, die Polster schienen sich perfekt an seinen Körper anzupassen, und er schloss für einen Moment die Augen. Mit einem tiefen Atemzug ließ er den ersten Schluck des kostbaren Goldes auf seiner Zunge zergehen. Die Aromen explodierten in einem harmonischen Zusammenspiel, süß und doch komplex, und während der Cognac sanft in seinem Mund verweilte, spürte er, wie alles von ihm abfiel. Es war mehr als nur ein Getränk, es war ein Erlebnis, ein kleiner Moment der Flucht aus der Realität, der es ihm erlaubte, in Erinnerungen und Träumen zu schwelgen.
Da klingelte sein Handy. Er zuckte zusammen, nahm aber sofort ab, denn er erwartete einen Anruf von Maria.
„Arthur, hier“, meldete er sich. „Ich weiß“, meldete sich eine tiefe, selbstbewusste Männerstimme. Arthur war verwirrt und fragte: „Was kann ich für Sie tun?“ „Ja, da sind wir schon beim Thema. Ich habe Ihnen meine Bankverbindung gemailt. Überweisen Sie zehn Millionen oder Sie sterben. Als Entscheidungshilfe empfehle ich ihnen einen Blick unter Ihren Schreibtisch“, forderte die Männerstimme und beendete das Gespräch. Arthur beugte sich langsam vor und sah ein schwarzes Paket unter seinem Schreibtisch kleben. Bedrohlich und unheilvoll ragten Drähten hervor und ein digitaler Countdown zählte 120, 119, 118 …. Seine Gedanken rasten. Er würde das Geld nicht überweisen. „Scheiße, das wird knapp.“ Schnell schnappte er sich seine Aktentasche und verließ sein Büro in Richtung Treppenhaus. Ein Gefühl von Panik überkam ihn. „Die wollen mich umbringen, nach all der Zeit. Ich habe doch so viel Gutes für sie getan“, schoss es ihm durch den Kopf.

Er drehte sich um und sah das grelle Licht. Der Boden vibrierte, der Luftdruck stieg und sein Herzschlag beschleunigte sich ins Unermessliche. Er rannte, spürte bei jedem Schritt das Adrenalin durch seine Adern pulsieren, während ein ohrenbetäubender Knall die Stille zerriss und die Welt hinter ihm in einem Feuerball verschwand. Seine letzten Gedanken waren klar: nur noch weiter, weg von der Gefahr, hin zu einem sicheren Ort. Sollte er nach all der Zeit seinen Bruder Richard anrufen?

Der betrügerische Schlagersänger

Die Ehefrau stand in der Küche und bereitete das Frühstück zu. Das Joghurtgebäck war frisch gebacken und noch warm. Der Proteinaufstrich fertig und die Eier gekocht. Ihr Mann legte in letzter Zeit großen Wert auf gesunde und proteinreiche Ernährung. Er stand kurz vor seiner lang ersehnten „Mitternachtstraum“ Tour. Drei Monate lang würde er die Menschen in Deutschland, Österreich und der Schweiz verzücken.

Die Frau erwarte ihren Michl in wenigen Minuten. Er war in den letzten Monaten viel unterwegs gewesen. Tourvorbereitungen, Gesangstraining, Fitnesstraining, Pressetermine und Fan – Treffen standen ganz oben auf der Prioritätenliste. Michl kam immer erst spät und erschöpft nach Hause. Ihre Ehe hatte darunter gelitten, aber nach drei Monaten würde dieser Spuk vorbei sein. Dann würde die Beziehung wieder an erster Stelle stehen. So hatte er es ihr versprochen. Nur noch drei Monate. Er würde genug verdienen, um ihr jeden Wunsch zu erfüllen. Sie hätten endlich ausgesorgt.

Das Handy der Frau vibrierte. Eine Nachricht von Michl. Er würde er nicht zum Frühstück schaffen. Das Interview dauerte länger als geplant. Sie war enttäuscht.

Jahrelang war sie die Alleinverdienerin gewesen. Sie hatte alles gegeben, um ihren Mann eine Karriere als Schlagersänger zu ermöglichen, auch wenn die Anfänge nur wenig Aussicht auf Erfolg hatten. Nach ihren langen Schichten war sie zu jedem seiner Auftritte gekommen. Sie hatte ihm immer unterstützt. Nach seinem großen Durchbruch entschied sie, sich ihre Arbeit aufzugeben und stattdessen Michl zu managen. Das war eine Zeit lang gut gegangen. Doch das ständige Zusammensein hatte zu Konflikten geführt. Schließlich hatte sie den Managerposten aufgegeben, um ihrer Beziehung Luft zu verschaffen.

Nun sahen sie sich immer weniger. Aber es würde besser werden. Es musste besser werden. Sie hatte nicht ein Jahrzehnt in diesen Mann investiert, um jetzt alles aufzugeben.

Auch wenn sie kurz davor gewesen war. Vor wenigen Wochen hatte sie jemanden kennengelernt. Einen Mann, der Michl interviewt hatte. Dieser Mann hatte nicht nur Interesse an dem Schlagerstar gezeigt, er wollte auch ihre Geschichte hören. Das hatte ihr geschmeichelt. Sie tauschten Nummern aus und trafen sich einige Male. Ein gemeinsamer Kaffee, ein Spaziergang im Park und einige Textnachrichten führten dazu, dass sie sich emotional näher kamen. Aber sie war nicht bereit, ihre Ehe aufzugeben. Sie sagte Christian, dass sie sich nicht mehr treffen könnten. Jetzt zweifelte sie diese Entscheidung an. Michl hatte sie versetzt, wieder einmal.

Es läutete an der Tür. Sie war überrascht. Sie erwartete keinen Besuch und ihr Ehemann war noch bei diesem Interview. Neugierig ging sie zur Tür, aber niemand war zu sehen. Ein dicker hellbrauner Briefumschlag lag vor der Haustür. Anonyme Fanpost? Sie verzog das Gesicht. Trotz ihrer aufkommenden Abneigung nahm sie den Brief an sich und setzte sich damit aufs Sofa. Das Frühstück konnte sie auch noch in einer Minute im Kühlschrank verstauen. Der Umschlag enthielt zahlreiche Bilder. Fassungslos starrte sie den Inhalt an. Ihr Mangen verkrampfte sich und sie durchlitt die unterschiedlichsten Gefühlsregungen. Unglauben, Entsetzen, eine tiefe Traurigkeit und Wut. Sie starrte auf die Bilder. Michl, wie er eine andere Frau küsste. Michl, mit einer anderen Frau im Bett. Michl, mit seiner neuen Managerin. Es ging immer so weiter. Zuerst wollte sie es nicht wahrhaben. Die Fotos könnten manipuliert sein. Doch dann gestand sie sich ein, dass es sich hier um die entsetzliche Wahrheit handelte. Ihr Mann hatte sie belogen und betrogen. Immer und immer wieder. Bei jedem einzelnen Streitgespräch hatte er ihr versichert, dass sie ihm zu einhundert Prozent vertrauen könnte. Ihr ungutes Gefühl sei nichts anderes, als ihre eigene Unsicherheit, an der sie arbeiten müsste. Sie hatte ihm geglaubt.

Die Wut gewann die Oberhand im Wechselbad der Gefühle. Sie musste etwas machen und sie wusste auch schon genau was. Sie musste mit jemanden reden und sie wusste schon genau mit wem.

Gerade als sie Christian anrufen wollte, erhielt sie eine Nachricht von ihm. Er hatte eine neue Nummer. Sie wunderte sich kurz darüber, aber eigentlich war das im Moment das Letzte, das ihr wichtig erschien. Er wollte sie treffen. Im Europagarten.

Maria überlegte nicht lange. Das war perfekt. Es kam ihr mehr als gelegen. Sie ließ alles liegen und stehen und schnappte sich ihren roten Mantel. Sie wollte Rache. Sie würde alles ans Licht bringen, jedes einzelne schmutzige Detail. Sie wollte die Karriere und den Ruf ihres Mannes zerstören. Das „Saubermann – Image“, dass er sich so sorgfältig aufgebaut hatte, würde von der Presse in der Luft zerrissen werden. Natürlich könnte sie diese Bilder selbst posten, aber das wollte sie nicht. Maria würde nicht als eifersüchtige und betrogene Ehefrau an die Öffentlichkeit treten. Sie war hier das Opfer und diese Geschichte würde sie erzählen. Jetzt war sie an der Reihe. Die Veröffentlichung der Fotos würde sie Christian überlassen. Er hätte eine gute Story und sie würde ihre Rache bekommen. Eine Win-win-Situation. Sie stieg aufs Gaspedal und konnte nicht erwarten, am Park anzukommen.

Vierzig Minuten später war Maria tot.

Martin beeilte sich zur Arbeit zu kommen. Heute war sein großer Tag. Sein Chef hatte ihm und seinen Partner überraschenderweise einen Mordfall zugeteilt. Mehr noch, ein vermutlicher Suizid und ein vermutlicher Mordfall. Und ER war damit beauftragt worden. Martin und Patrick waren die Neuzugänge auf der Wache, sie wollten sich unbedingt beweisen. Jetzt hatte er die Chance, es allen zu zeigen. Er grinste, als er eilig auf seine Bürotür zuschritt. Patrick lehnte lässig im Bürostuhl, seine Füße langen auf dem Schreibtisch.

»Rate mal wie viele Frauen auf Männer in Polizeiuniform stehen!« Er lächelte und zwinkernde Martin dabei zu. »Diese neue APP ist der Wahnsinn!«

Noch bevor Martin etwas erwidern konnte, steckte ein älterer Kollege seinen Kopf durch die Tür.

»Morgen, Mulder, Scully«. Er nickte Martin und Patrick zu.

Martin war verärgert. Er fühlte sich von seinen Kollegen nicht ernst genommen und diese dämlichen Spitznamen machten es nicht gerade besser. Noch bevor Patrick etwas erwidern konnte, knallte Martin die Tür zu.

»Heute nicht. Keine Witze, keine Dating-Apps. Wir haben einen Mordfall.«

Patricks Mund stand offen. Er ließ das Smartphone sinken und sprang begeistert auf.

»Unser erster gemeinsamer Mord.«

»So würde ich das nicht ausdrücken«, brummte Martin. Er teilte mit Patrick kurz die Eckdaten, bevor sie sich an die Arbeit machten und die Akten lasen.

»Es handelt sich um einen vermutlichen Suizid. Männlich, weiß, mittleren Alters. Es gibt es Video von dem Vorfall. Und einen Zeugen. Der Fall steht im Zusammenhang mit einem vermutlichen Mordfall. Eine Frau wurde heute im Europapark erschossen. Auch hier haben wir einen Zeugen. Dieser hat das Video des Suizids online gepostet.«

In Patricks Hirn ratterte es. Er brauchte einige Sekunden, bis er einen sinnvollen Satz hervorbrachte.

»Und wir sollen jetzt herausfinden, wie diese beiden Taten zusammenhängen und den Täter finden?«

Martin bestätigte die Aussage mit einem entschlossenen Nicken.

“Scheiße, Scheiße, Scheiße” brüllte Pfeiffer. Abrupt drehte er sich um, wobei er den Kaffeepott vom Tisch riss und rannte zum Fenster. Der heiße Kaffee hatte sich über sein linkes Hosenbein ergossen.
Da lag sie. Maria. “Maria, Maria” stöhnte er vor sich hin und brach zusammen. Er krümmte sich, Tränen liefen über seine Wangen. Erst vorgestern hatten sie sich gesehen. Wie alle zwei Wochen, wenn Maria extra seinetwegen von Wiesbaden nach Frankfurt kam. Sie trafen sich im Bristol, wenn er mit irgendeiner fadenscheinigen Ausrede erst spät nach Hause kam. In einer Zeitung gab es immer ständig unvorhergesehen Sitzungen, wichtigen Termine, unaufschiebbare Ermittlungen … Seine Frau hatte keine Ahnung, dass er jetzt in die Online-Redaktion „versetzt“ worden war. Und er hoffte, dass sie nichts von Maria wusste, ahnte. Er fühlte sich unwohl. Maria war seine Quelle. Sie hatten sich in irgendeinem einem älteren, unscheinbaren Lokal getroffen, das seine besten Tage schon lange hinter sich hatte. Mit schummriger Beleuchtung und abgenutzten Möbeln, wie man es aus den klassischen Gangsterfilmen kannte. Der Geruch von abgestandenem Kaffee und Reinigungsmitteln lag in der Luft. Eine Stunde saß er da und wartete. Der Kaffee war grauenvoll. Es sollte sich lohnen. Er hat einen Tipp bekommen zu einem neuen Pyramidensystem mit digitaler Währung. Die Pleite von Bankman-Fried und FTX waren erst durch die Medien gegangen, deshalb hatte er diesem Treffen zugestimmt. Die Unterhaltung war nur kurz gewesen, es hatte sofort zwischen ihnen gebrannt. Im gegenüberliegenden „Hotel“ hatten sie sich ein Zimmer genommen. Nach vier Stunden und „dem besten Sex seines Lebens“ (wie sie sich es später gegenseitig immer wieder versicherten) stand er in der kalten, nebligen Luft einer kleinen Nebenstraße in Griesheim.
Die Geräusche von fernen Autos auf der Mainzer Landstraße drangen nur gedämpft durch die Stille in sein Hirn. Die einzige Laterne der schäbigen Pension flackerte und warf seinen Schatten auf den rissigen Asphalt. Irgendwo kläffte ein Hund, es roch nach Öl und abgestandenem Wasser. Was war geschehen? Mit knapp 54 stand sein sonst so biederes Leben auf einmal Kopf. Nicht nur dieser Traum einer Frau hatte ihn umgehauen, sondern die Informationen, die sie ihm mitgebracht hatte.

Jetzt lag sie da, zwei Stockwerke unter ihm auf dem Asphalt, mit nicht einmal dreißig, in einer Blutlache so rot wie ihr Mantel. Ihre schwarzen Locken umrahmten ihr immer noch bezauberndes Gesicht und die weit aufgerissenen Augen. Und er durfte nicht zu ihr, sie ein letztes Mal in den Arm nehmen. Sie hatte ihn gewarnt, dass es gefährlich würde. Warum? Warum das alles, warum war Maria jetzt tot? Was war hier los? Wer steckte hinter diesem ganzen … was auch immer … was sollte vertuscht werden?

Er riss sich zusammen und stand auf. Er konnte Maria nicht mehr helfen. Jetzt war es Zeit, für seine eigene Sicherheit zu sorgen. Er ging zu einem Wandschrank. Sein Mantel hing darin. Unten seine Aktentasche und darunter ein alter Pappkarton, in dem sich vor Jahren ein paar neue Sneakers von Nike befunden hatten. Diese waren unterdessen ausgetreten. Dazwischen ein alter Laptop und zwei Tastaturen. Er zog den Karton heraus. Obenauf lag ein Foto von Maria, wieder durchfuhr ihn eine Welle ohnmächtigen Schmerzes, sein Magen krampfte sich zusammen, ihm wurde übel.
Versunken betrachtete Christian ihr Foto. Das musste vor fünf Jahren gewesen sein, als ihren Mastabschluss in Economics and Business an der Goethe-Universität gemach hatte. Mit Auszeichung. Den Doktorhut hatte sie keck in die Stirn geschoben, ihre wundervollen Augen leuchteten über den erfolgreichen Abschluss, die Diplomierungsurkunde in ihren Händen. Im Anschluss hatte sie ihr Praktikum im Finanzministerium in Wiesbaden begonnen.
Darunter stand: ‘Für Christian’ und die Nummer von ihrem Festnetztelefon. Wie in einer alten Schnulze hatte sie ihm mit Lippenstift einen Kussmund darauf hinterlassen. Mit dem Finger zeichnete er die Kontur ihres Gesichtes nach. Trauer stieg in ihm auf, Wut, unbändige Wut … er schüttelte sich und legte das Foto beiseite, er musste sich jetzt konzentrieren. Sofort hatte er die Mappe mit den Unterlagen, welche Maria ihm mitgebracht hatte, in den Händen und blätterte die wenigen kopierten Dokumente durch. Darauf ein Post-it mit ihrer Handschrift: Projekt Kryptopolis FFM. Ein verwackeltes Foto, mit zwei Männern in Anzügen, die sich die Hand gaben. Maria gab es ihm bei ihrem letzten Treffen, nachdem sie sich leidenschaftlich geliebt hatten, intensiver als sonst. Ein Gesicht kam ihm bekannt vor. Er hatte diesen Typen schon mal gesehen, im … genau, in den Nachrichten, das war doch dieser Wirtschaftsfuzzi, aus dem Ministerium.

Da fiel ihm eine SD-Karte in den Schoß. An die konnte er sich nicht erinnern. Wer verwendet denn heute noch so etwas, war sein erster Gedanke.
Wieder an seinem Rechner stand auf dem Bildschirm „Upload abgeschlossen“. Kurz hielt er inne. Er kreist der mit der Maus und suchte den Cursor. Endlich hatte er das verflixte Kreuz erwischt, um den Browser zu schließen. Tatsächlich hatte sein Rechner einen Kartenslot für SD-Karten. Ein Fenster ploppte auf. Er durchsuchte die Daten. Fotos von Maria als junges Mädchen auf Klassenfahrt, beim Abitur … mit ihren Freundinnen auf irgendeiner Party, bei der es scheinbar reichlich Alkohol gegeben hatte …
Er stieß auf einen Ordner mit der Beschriftung „CRS“. Er ließ sich nicht öffnen, ein Passwort wurde verlangt. “Mist” entfuhr es ihm. Scheiße, Scheiße, ein Passwort, er brauchte ein Passwort. Maria würde es ihm gegeben haben. Sein Blick fiel auf das Foto. Die Festnetznummer …

»Sehen Sie’s?« fragte der mit der roten Nase. »Im Gegensatz zu Ihnen hat dieser Mann wirklich versucht, zu tun, was man ihm befahl. Trotzdem war er am Schluss der Verlierer.«

Richard Berger starrte dumpf in - was war das? Eine neue Form der Bildübertragung? Eine Art Gelglas, das Bild darin ungewohnt plastisch und darum herum ein violettes Wölkchen, und alles schwebte frei im Raum. 3D 5.0? Richard Berger hatte Kopfschmerzen, und die kamen nicht von der Übertragung des Geschehens am Europa-Park, das er gerade live mit angesehen hatte. Das Wölkchen um die Scheibe herum war violett und ein kleiner Teil seines Gehirns beschäftigte sich mit der Frage, ob die Farbe irgend eine Bedeutung hätte, aber da riss die Stimme des Rotnasigen ihn aus seinem Versuch, in all dem etwas Sinnvolles zu entdecken, an dem er sich festhalten konnte.

Es war schwer genug gewesen, diesen ganzen Erklärungen von Quantentoren und parallelen Realitäten zu folgen, nachdem die beiden Winzlinge - mit ihren Zopfmusterstrickmützen und den Zipfelschuhen hätten sie aus einem norwegischen Zwergenbuch stammen können, was ihre Glaubwürdigkeit nicht gerade förderte. Aber, wie sie behaupteten, waren sie vom Quantentransferdienst, und Richard Berger beschloss, diese Behauptung zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage zu stellen, von seinen Kopfschmerzen mal ganz abgesehen - nachdem die beiden ihn und Dorothea aus ihrem Hausflur in Frankfurt hierher in dieses … dieses … gebracht hatten. Durch eine hellblaue Wolke, das musste man sich mal vorstellen … und draußen meckerte jetzt auch noch eine Ziege. Richard Bach schloss die Augen.

Nur der Schock, den ihm das Blutbad in seinem Vorgarten versetzt hatte, hielt diese … nein, einfach nicht denken, dachte er, einfach nicht denken. Auuu! Das tat weh.

Doch genau dieser Schmerz, und die Erinnerungen an die spitzen Bemerkungen des Zwergs mit der blauen Nase, er hätte dem Fach Science Fiction vielleicht doch ein wenig mehr Interesse widmen sollen als diesen smartphone-gestützten Reality-TV-Shows, an deren Ablauf er ja nicht einmal dann etwas ändern konnte, wenn er, wie geschehen, mitten drin war - all dies hielt ihn letztendlich davon ab, jetzt doch noch durchzudrehen.

»Der einzige gewinnbringende Zug ist, das Spiel nicht mit zu spielen.«

»Wie bitte?«

»Der einzige gewinnbringende Zug ist, das Spiel nicht mit zu spielen.«

Der Rotnasige hatte geduldig und akzentuiert diese Behauptung wiederholt. Sein Kollege mit der blauen Nase nickte zustimmend.

Richard Berger blickte die beiden an, öffnete seinen Mund, und schloss ihn wieder.

»Irdische Fiktion des 20sten Jahrhunderts ist wohl nicht Ihr Ding, was?«

Es wäre nicht ganz abwegig gewesen, dem Tonfall dieser Bemerkung leichte Ironie zu entnehmen, aber bevor sein Kollege weiter auf Richard Bergers Selbstbewusstsein herumtrampeln konnte, übernahm der mit der roten Nase das Erklären selbst:

»Stephen Falken kannte dieses Wechselwirkungsgesetz bereits 1983«, fuhr der Rotnasige fort. »General Beringer hat damals wenigstens auf ihn gehört.« Er wackelte mit dem Kopf, und lächelte sparsam. »Naja«, fuhr er fort, »sie hatten Computer-Unterstützung, die schnellste, die damals verfügbar war,« Er grinste: »Militär-Ausführung. Das war ihr Glück!«

Er rieb sich die Nase, dachte einen Augenblick nach. «Andreas Eschbach hat’s ebenfalls versucht, in ‚Al Quaida‘. Wurde 2014 sogar vertont, als Hörbuch, für Leute, die sich mit dem Lesen von Kurzgeschichten schwer tun.«

»Hat aber nichts genutzt!« warf der zweite Zwerg jetzt ein, der gerade in ein Regal neben dem Kachelofen griff, wo ein Schachspiel geduldig darauf wartete, dass jemand seine Langeweile vertreiben wollte.

«Nein«, antwortete der erste Zwerg, »die Mehrheit scheint immer noch ein Faible für Extremlösungen in Reality-TV zu haben«.

Zum ersten Mal, seit sie hier waren, machte Dorothea Berger den Mund auf.

»Aber wenn so viele berühmte Leute das schon so früh wussten,
und so viele berühmte Leute das auch noch veröffentlichten …«

»Tja,«, wackelte der erste Zwerg wieder mit dem Kopf,
»… dann müssen die anderen Leute das ja immer auch noch lesen.«
Gewichtig hob er seinen rechten Zeigefinger: »Die, auf die’s ankommt!«

Er kratzte sich am Kopf.

»Stephen Walken hatte ja immerhin seinen großen, schwarzen Computer mit den vielen bunten Lämpchen …«, er schnaufte, »… das verschafft Aufmerksamkeit. Aber Buchstaben? Und Nachdenken?« Er räusperte sich: »Ich denke, wenn sie’s damals nicht verfilmt hätten, wüssten noch weniger Ihrer Zeitgenossen von dieser Möglichkeit, das Spiel auch anders zu spielen.«

Wieder runzelte er die Stirn.
»Aber«, fuhr er fort und hob erneut seinen Zeigefinger, »jetzt kommt’s drauf an,
ob da draußen nur eine dumpfe Masse Thrillgeiler vor ihren Like-Buttons hockt, oder ob genug darunter sind, die sich ein lebenswertes Leben auch ohne selbstmordvideogetriebene Handlung vorstellen können: Einen Tee trinken mit der Frau, die man geliebt hat, bevor das Geld auf der Krawatte wichtiger wurde als alles andere, oder das Gefühl glücklich müde gelaufener Beine nach einer Wanderung durchs herbstliche Voralpenland, abends dann ein Stück würzigen Bergkäse auf frisch gebackenem Brot …«

Ziemlich zufrieden blickte der Zwerg in den Sonnenuntergang, der die Landschaft vor der Sennhütte in Realität DQ11-14/fe gerade in einen rosigen Schimmer tauchte.

Der zweite Zwerg hatte sich inzwischen für das Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spiel entschieden und stellte geschäftig die Figuren auf den Tisch. Dabei kicherte er vor sich hin. Es klang fast, als wollte er den Ziegen draußen Konkurrenz machen, und wieder klang es ein kleines bisschen ironisch, als er hinzu fügte:

»Und weil das hier alles ja demokratisch abgeht, stellt sich zudem die Frage, ob die zweite Gruppe groß genug sein wird, das Ruder herum zu reißen.«

»Oder ob jetzt alle darauf warten, dass jemand diese filterkaffeearomatisierte Selbstmordserie auch noch mit dem Ukraine-Krieg verknüpft.« warf der erste Zwerg ein.

»Na, die Medien würden sich drum reißen, soviel ist sicher. Die sind ja gerade so schön in Fahrt.«

Aus dem Mund Richard Bergers klang diese Bemerkung so ungewohnt, dass seine Frau verdutzt zu ihrem Mann hinsah. Wie um zu unterstreichen, was er gesagt hatte, zerrte Richard Berger am Knoten seiner euroverzierten Krawatte, bis sie sich von seinem Hals löste. Tief atmete er auf.

Der Zwerg mit der blauen Nase seufzte. Diesmal klang es geradezu hoffnungsvoll. Sehr zufrieden schenkte sich noch eine Tasse Tee ein, bevor er grummelnd in der gelben Schachtel nach Würfeln zu suchen begann.

Hätte ihn jemand gefragt, wäre ein klares Statement gekommen, wo seiner Meinung nach der Zug hinfuhr. Aber ihn fragte ja niemand.

  1. Der Rattenfänger von Frankfurt

In den besseren Vierteln zogen die „Billigen Missionare“ weiter von Haustür zu Haustür, mit wachsendem Erfolg. Das sparte ihnen Munition und Personal, den Betuchten die Reinigungskosten. Aber warum hatten die Drahtzieher es auf bestimmte Onlineredakteure abgesehen?

Sem Spehd schob das Tablet auf der Schreibtischplatte außer Reichweite, legte die Füße hoch und zählte an den Fingern ab. Inklusive der Angebeteten hatte dieser Pfeiffer von der FGZ inzwischen auf die ganz harte Tour zwölf nahestehende Follower verloren, während der letzten zwölf Tage. Sah jedes Mal nach Selbstmord aus.

Die Lösung des Rätsels schien zum Greifen nahe. Aber sie war und blieb ein glitschiges Miststück. Apropos, er fischte ein abgegriffenes Notizbuch aus seiner Hemdtasche. Die Zähne knirschten, als er die krakelige Schrift auf dem speckigen Karopapier entzifferte.

„Ratten von Frankfurt

Ohne Gott bringen sie Schrot

Hassen, was laut kräht“

Spehd blinzelte dem Dreizeiler zu. Für einen ordentlichen Haiku zu hässlich, wie alle anderen in diesem Teil der Welt. „Rutsch mir den Buckel runter“, zischte er, winkelte die Beine an und drehte sich auf seinem Vollholzbürostuhl um sich selbst, bis zum Drehwurm.

Die Milchglasscheibe seiner Bürotür klirrte. Irgendein Rüpel wollte ohne Anklopfen die Tür öffnen. Blöd, wenn abgeschlossen war. Spehd erhob sich, wankte fünf Schritte durch sein Büro und öffnete die Tür.

Der Kerl im Flur hatte eindeutig rostige Nägel zum Frühstück. Das blinkende Neonlicht im Gang brachte den miserabel einjustierten Gesichtszügen null Vorteile.

„Spehd?“, raunte der Fremde. „Du verstehst dich aufs Schnüffeln?“

Spehd trat einen Schritt zurück und zeigte auf den Klientenbeichtstuhl auf der anderen Seite des Schreibtisches. „Setz dich oder verpiss dich. Pfeiffer.“

„Du kennst mich?“

„WLAN. Glasfaserklasse.“

„Ich bin im Arsch“, zischte Pfeiffer, trat ein und ließ sich auf dem Beichtstuhl fallen.

„Das sind sie alle, wenn sie durch diese Tür kommen und genau da Platz nehmen.“ Spehd zog eine der Schreibtischschubladen auf und zauberte einen Krug Wasser, zwei Gläser und eine dunkelgrüne Flasche auf den Tisch.

„Pastis. Bock?“

„Ist das ein Test, ob’s noch schlimmer werden kann?“

„Glückwunsch, der erste Schritt in eine neue Welt. Versau es jetzt nicht. Was willst du von mir?“

Pfeiffer beugte sich vor und zog etwas aus seiner hinteren Hosentasche. Etwas Flaches, das er vor Spehd auf den Schreibtisch knallte. Ein speckiges Notizblöckchen. Auf dem Karopapier prangte ein Dreizeiler über Ratten.

„Kapier ich nicht. Nichts davon“, erklärte Pfeiffer. „Seit die Pseudolyrik per Boten kam, wird alles jeden Tag schlimmer. Die Bullen suchen mich. Wahrscheinlich als Hauptverdächtigen, weil sie sonst niemanden haben.“

Spehd legte sein Notizblock neben den von Pfeiffer. Ein Treffen von Zwillingen. „Stammt von einem Kollegen von dir“, erklärte er nüchtern und beobachtete vor allem die Augen des potenziellen Klienten. „Die Zeilen haben keinen mehr interessiert, als sie ihn vor zwei Wochen von der Straße gekratzt haben. Pech für dich, wie es aussieht. Die Ratten kleben dir jetzt an den Hacken. Die machen weiter, bis auch du gesprungen bist. Wetten?“

„Klar, wie soll ich die verlieren?“ Pfeiffer richtete den Zeigefinger wie eine Knarre auf sein Gegenüber. „Hilfst du mir?“

„Ich sitze gerne an diesem Schreibtisch und denke mir die Welt schön. Also ein Dasein ohne Vorbeter wie dich und die anderen Pfeifen.“ Spehd zog ein Päckchen Gauloises ohne Filter aus der zweiten Brusttasche, fischte mit spitzen Fingern zwei Stängel aus der Packung und bot einen davon Pfeiffer an. Der nahm eins der weißen Stäbchen und zündete es mit einem verchromten Benzinfeuerzeug an, das auf dem Schreibtisch neben der Pastisflasche vor sich hin glänzte.

Spehd wartete still ab und sah zu, wie Pfeiffer seiner unmittelbaren Umgebung eine Smogglocke verpasste.

„Fünf ₿itcoin“, hauchte Pfeiffer heiser. „Das ist alles, was ich dir geben kann. Lieber Pleite, als diese Giftditschen am Hals.“

Sem Spehd nahm die zweite Gauloises, zündete sie mit einem Streichholz an und inhalierte den ersten Zug lange und tief. Beim Ausatmen schickte er Rauchbagels durch den freien Luftraum über dem Schreibtisch. „Siebenhundert Euro pro Tag. Plus Spesen. Im Gegensatz zu dir habe ich Prinzipien.“

Von Kiki T. Lee

Dritter Teil

Maria

Pfeiffer lag bäuchlings auf dem Teppich. Er hob den Kopf, ließ den glasigen Blick schweifen, über den wuchtigen, dunkelbraunen Holztisch, den er selber angefertigt hatte, das deckenhohe, vollgestopfte Bücherregal, die nikotingeschwängerten Fotos an der Wand. Vom Kutter aus winkte ihm Maria zu, mit wehendem Haar, frechen Grübchen und einem Dorsch in der anderen Hand. Den hatte sie vorher gefangen, für das Foto damit angegeben und sich hinterher nicht verziehen, dass sie so grausam war.
»War doch nur ein Fisch«, hatte Pfeiffer versucht sie abzulenken, aber sie hatte sich seitdem komplett verwandelt.
Wenn er sie vor Grillabenden fragte: »Was bietet man denn Exfleischessern an?«, dann antwortete sie: »Ich kann dir nur eines sagen: Hungrige Frauen sind gefährlich!«
Den Satz zitierten später viele der Freunde genüsslich und drohend zugleich. Die Damen sendeten dabei gespielt strenge Blicke. Und er, Pfeiffer, hatte sich jedes Mal selbst übertroffen, keine Mühe gescheut, seine hungrige Maria zu beeindrucken.
Zurück zum Fisch.
Dass Maria obendrein den Polizeidienst quittierte, nahmen ihr dann sogar die engen Freunde übel. Wie bescheuert sie doch sei … Die Sicherheit, die Versorgung, die ganze Leier - rauf und runter.
Obgleich sie stur blieb, hatte sie die alte Meute ruck zuck wieder an Board. Denn nur weil sie sich seit dem Erlebnis gegen alle Brutalität sträubte, hieß das sicher nicht, dass ihre Schlagfertigkeit, ihr Humor, ihre liebenswerte Seele Schaden genommen hatten. Im Gegenteil! Und nicht zuletzt war sie verdammt sexy. Leider zu jung. Oder war er nur schon zu alt?

Pfeiffer schielte auf die umgekippte Flasche, die um Haaresbreite in Reichweite lag. Wenn er den Arm ausstreckte, würde er hinkommen? War noch was drin?
Marias letzter Blick verfolgte ihn.
Jetzt fiel sein Gesicht in die verfilzten Wollfransen und er sehnte sich danach, endlich einzuschlafen. Wenigstens ein paar Stunden.
Sein Boss, Magnus, hatte recht. Der sagte wortwörtlich zu ihm: »Pfeiffer, Sie sind eine echte Pfeife!« Wegen des Uploads. Aber das Schlimmste war, dass er Maria nicht gerettet hatte. Und schon drängelte sich das Perpetuum mobile, welches er für wenige Sekunden ausgeblendet hatte, in seinem Kopf wieder nach vorne:

Klack
Die Stimme am Telefon – die Stimme im Video. Wessen?
Klack
Passwort
Klack
Fünf Sekunden
Klack
Schuss
Klack
Zu spät
Klack

Als er nach Stunden seinen Brummschädel wieder hob, sich mühsam aufrichtete und hinausspähte, sah er den wütenden Mob. Der, mit dem blutroten Plakat, entdeckte ihn sofort, stachelte die anderen an und so brüllten sie nicht mehr ins Blaue hinein, sondern direkt zu seinem Fenster im dritten Stock. Er war der Buhmann – der Überbringer der Nachricht – wenn auch höchst unfreiwillig. Und keiner von denen da unten ahnte, wen er dabei verloren hatte. Maria!

Minuten später klopfte es. Die Klingel hatte Pfeiffer längst abgeschaltet. Er war ja nicht blöd, würde garantiert nicht öffnen. Aber einen Blick durch den Spion wagte er schon. Aha, die Nachbarin. Er machte auf, sah, wie sich ihr elfjähriger Bub im Türrahmen herumdrückte.
Frau Schnurrer blaffte Pfeiffer sofort an: »Sind Sie total von Sinnen? Wie konnten Sie das nur tun? Wissen Sie eigentlich, dass die ganze Welt Sie hasst?«
Pfeiffer schluckte.
»Mein Sohn hat ihr brutales Video auch gesehen. Jetzt kann ich einen Termin beim Psychologen machen. Den bekommen wir – aber frühestens in einem halben Jahr. Sie Irrer!«
Seine Nachbarin war bis dato immer freundlich. Nicht weniger, nicht mehr.
Pfeiffer legte beide Hände zusammen, wie zum Gebet, sagte eindringlich: »Frau Schnurrer, ich habe ehrlich ein Problem. Es tut mir so leid wegen ihres Jungen. Ich muss an den Briefkasten. Würden Sie bitte? Ich gebe Ihnen den Schlüssel.«
Die Nachbarin drehte sich kurz um, schickte den Buben barsch zurück in die Wohnung. Dann flippte sie völlig aus. Pfeiffer kapierte, dass sie sich nicht beruhigen würde, und schloss sachte die Türe - vor ihrer erhitzten Nase.

Sein Telefon schien zu explodieren. Er hatte tausende verpasste Anrufe. Und Millionen von E-Mails, denn jedes Mal, wenn er versuchte, das Programm zu öffnen, verabschiedete es sich direkt nach dem Start.
Er scrollte durch die SMS-Nachrichten. Die meisten überflog er. Beschimpfungen. Beleidigungen. Drohungen. Nur eine einzige Kurznachricht wiederholte sich mehrmals, wortwörtlich. Von Magnus: »Komm sofort in die Redaktion!«
Hä? Der hat mich gefeuert. Fristlos. Weiter nach unten kann er niemanden katapultieren. Was jetzt noch? Pfeiffer fragte sich, ob er beim Packen seiner Sachen versehentlich einen Kugelschreiber eingesteckt hatte, oder sonst ein Utensil. Er grinste kurz, wurde wieder ernst und überlegte, wie er an dem Mob vorbeikäme.

In dem Moment klopfte es nochmal. Pfeiffer war mutig, linste durch den Spion. Oh, Schnurrers Sohn. Er machte natürlich auf. Basti streckte ihm die offene Hand entgegen, formte lautlos mit den Lippen das Wort: »Schlüssel« …
Erleichtert lächelte ihn Pfeiffer an und reichte ihm das silberne Stück mit dem eingestanzten Smiley. »Danke Freund!«, flüsterte er.
Kurz darauf kehrte Basti mit leeren Händen zurück. Pfeiffer hatte hinter der Türe gewartet. Der Junge schüttelte den Kopf, hielt ihm den Schlüssel hin, sagte leise: »Tut mir leid. Alles voll mit Kot.« Er zuckte mit den Schultern, lächelte schief und drehte sich um.

Pfeiffer war naturgemäß neugierig, wollte wissen, weshalb Magnus ihm schrieb.
Endlich hatte er eine Idee, wie er unerkannt das Haus verlassen würde.
Vor zwei Jahren, als er noch wer war, leitete er eine Dokumentation in Saudi Arabien. Die Redakteurin hatte sich dort ordnungsgemäß in eine Abaya gekleidet. Die schlummerte seitdem in seinem Schrank. Beinahe hätte er sie weggeschmissen. Jetzt beeilte er sich, wühlte, und fand sie in einer großen, weißen Plastiktüte.
Oh waia, wie ging das mit dem Kopfteil, dem breiten Band, wo war vorne? Irgendwie friemelte er es hin und besah sich im Spiegel. Passte. Sein Notebook und die Jacke verstaute er in der Tüte, verließ damit die Wohnung.

Vor dem Redaktionsgebäude war die Hölle los. Er hielt nicht an, fuhr hintenrum. Gerade als er aussteigen wollte, klopfte jemand energisch an die Scheibe. Pfeiffer zuckte zusammen. Polizei?
»Machen Sie auf, ich muss unbedingt mit Ihnen reden!«
Er verstand, öffnete das Fenster einen winzigen Spalt.
»Ich bin Berger. Lassen Sie mich rein?«
Pfeiffer stutzte. Hatte ihn gar nicht erkannt. Er war ja auf dem Video, durch den Türspalt, kaum zu sehen.
»Welcher Berger?«, fragte er.
»Richard Berger. Ich habe eine wahnsinnig wichtige Nachricht für Sie. Es geht um Maria.«
Jetzt winkte ihn Pfeiffer ums Auto, ließ ihn einsteigen, sah ihn erwartungsvoll an.
Berger zwang sich, nicht vorwurfsvoll zu klingen. »Ich habe versucht, Sie telefonisch zu erreichen, aber Sie gehen ja nicht ran.«
Pfeiffer erwiderte trocken: »Wundert Sie das? Woher haben Sie meine Nummer?«
»Bitte?« Berger musterte ihn irritiert. Nicht nur wegen der Abaya. »Die steht mitsamt der Adresse gleich im ersten Kommentar ihres, ähm, des Videos. Haben Sie das nicht gesehen?«
Nein, hatte Pfeiffer nicht. Seit … Seitdem weigerte er sich, nicht nur ans Telefon zu gehen, sondern auch, das Video nochmal anzusehen.
»Und das …«, Berger klopfte mit den gepflegten Fingerspitzen auf die staubige Plastikkonsole, » das Auto ist ebenfalls abgebildet. Sie haben Glück, dass Sie es damit hierher geschafft haben.«
Die gute alte Gurke, dachte Pfeiffer zufrieden; eine Allerweltskarre.
»Sonst hätte ich Sie gar nicht erkannt«, schob sein Gast hastig hinterher. »Also damit …« Er zeigte auf das kohlrabenschwarze Gewand, die Kopfbedeckung. »Das sieht irgendwie seltsam aus. Na ja, wenn man nicht so genau hinschaut …«
Umgekehrt fokussierte er Bergers Krawatte mit den Eurozeichen,
Der bemerkte es. »Von meiner Frau …«
Pfeiffer besann sich, sog Luft durch die Nase und fragte streng: »Sagten Sie nicht, Sie haben eine wichtige Nachricht?« Die nächsten sieben Worte würde er garantiert niemals vergessen.
Berger zögerte kurz, dann sagte er: »Maria hatte eine Reise bei mir gebucht …«
Pfeiffer klappte der Kiefer auf.

Von Kiki T. Lee

»Uuund Cut!«, sagte Tony, der Regisseur. Er trat vor den Greenscreen, dieser immergrünen Wand, in die sich jeder nur denkbare Hintergrund im Nachhinein einfügen ließ.
»Wir machen Schluss für heute. Gute Arbeit. Ihr wart alle große Klasse.« Tony klatschte frenetisch die Hände und drehte sich, wobei er beinahe das Gleichgewicht verlor.
Er zeigte Berger, der an einem Kaffee – von derselben Maschine, die später in der Szene vorkommen würde, nippte, den Daumen-hoch. Dorothea zwinkerte er zu. Sie standen beide hinter den Stativen mit Scheinwerfern und den Kameras.
Richard war froh, dass er nicht mehr so tun musste, als wäre Dorothea seine Frau. In ihrer Nähe zu sein, fühlte sich an, als wäre man kurz davor, ins Verderben zu rennen. So wie der Berger, dessen Rolle er verkörperte.
»Du warst gut heute«, sagte sie. Sie steckte sich eine Zigarette an und blies den Qualm vor sich her, als sie auf ihn zukam.
»Ich gebe immer mein Bestes.«
Die Zigarette glimmte auf. Sie pustete eine mächtige Wolke, dass ihr Gesicht dahinter verschwand. Als es wieder auftauchte, war etwas in ihren Augen, dass ihn schaudern ließ.
»Ich glaube, ich bin bald zu alt für diesen Quatsch. Hast du dich noch nie zu alt für etwas gefühlt, dich gefragt, wo das alles hinführen soll? Ich meine, wir sind beide nicht mehr die Jüngsten.«
»Ich bin zufrieden, wie es ist. Nicht jeder schafft es nach Hollywood Synthia«, so lautete ihr richtiger Name.
»Wie alt bist du jetzt, Richard? Vierzig? Dreiundvierzig? Aber sei ehrlich zu mir.«
»Sechsundvierzig.«
Sie hustete: »Und, ist es das, was du dir erträumt hast. Läuft alles so, wie du es dir in all den Nächten ausgemalt hast, als du mit dem Schauspielern anfingst? In einem zum Verkauf stehenden Haus in der Galgauer-Straße zu schuften, dessen Kaution unser Jahresgehalt übersteigt. Mit einem Produzenten in einem Rollkragenpullover zu arbeiten, der offensichtlich nichts von Drehbüchern versteht; der unfähig ist, auch nur einen einzigen großartigen Satz zu schreiben.«
Sie griff hustend nach einem Pappbecher und trank. »Ich will so nicht mit meinem Leben abschließen. In meinem letzten Dialog soll etwas Wunderbares passieren.« Asche fiel vor seine Lackschuhe.
»Ich nehme das Geld und mache weiter. Ich kann es mir nicht leisten, Angebote abzulehnen. Von mir aus soll Tony sich nach Abschluss mit dieser …, er versuchte, seine Hand zwischen Hals und Krawatte zu schieben, aber sie war zu dick, »… abscheulichen Krawatte auf einen Suhl stellen.«
Sie lockerte den Knoten. Sie fuhr mit ihren zarten Fingern um seinen Hals, ließ sie über seine Brust gleiten.
»Wovon willst du leben? fragte er. Er dachte an ihren Zigarettenkonsum. In jeder freien Sekunde steckte sie sich eine an. Eine Schachtel rauchte sie mit Sicherheit am Tag, sie rauchte Gitanes ohne Filter. Und sie inhalierte tief in die Lunge.
»Ich will dich nicht zu etwas drängen, aber ich habe da so eine Idee. Sie ist mir gestern im Trailer eingefallen, als ich das Drehbuch überflog«, sagte sie.
Sie nahm ihm die Krawatte ab und betrachtete sie. »Gott noch mal, wir wohnen im Trailer, Richard.«
»Macht langsam Schluss«, rief Tony, »wir haben Morgen einen langen Tag vor uns. Das wird super!«
Er winkte und stieg in sein Auto, das vor dem Haus – dem provisorischen Studio – stand. Der 64er Mustang bockte, als er den Schlüssel drehte. Es dauert eine Weile, bis er ansprang, und eine Wolke aus dem Auspuff blubberte, wie aus den Nasenlöchern von Synthia, die zittrig an der Zigarette zog, als wäre es die Erste.
»Woran denkst du«, sagte Richard.
»Wir rauben ihn aus.«
»Ausrauben? Wen?«
»Na, Tony«, sagte sie. »Wir holen uns schöne Euroscheine wie diese hier«, sie baumelte die Krawatte vor seiner Nase, »vielleicht falten wir uns am Ende eine aus echten Scheinen und hängen sie uns um den Hals. Und dann gehen wir in die Kirche und bitten um Vergebung.«
»Warum glaubst du, dass er viel Geld besitzt. Sieh dir nur sein altes Auto an.«
»Er hat geerbt. Eine gute Freundin hat’s mit gesteckt. Seine Mutter, eine wohlhabende Geschäftsfrau, die das Imperium seines Vaters übernommen hat, ist gestorben. Hast du dich nicht über seine gute Laune gewundert, die er seit Tagen hat?«
Ihm war es schon komisch vorgekommen, dass Tony in letzter Zeit nicht mehr so rasant aus der Haut fuhr. Aber er hatte es seiner eigenen Leistung zugeschrieben. Alle Szenen, in denen er mitspielte, waren schnell im Kasten.
»Bist du dabei oder nicht?«
»Was hast du geplant?«
»Wir halten uns strickt an sein Drehbuch. Keine großen Abschweifungen bis auf eine klitzekleine.«
»Wie klein?«, sagte er.
»Wir klingeln an seiner Tür, dann wirst du ihn um zehntausend Euro bitten.«
Richard schüttelte den Kopf. Dorothea ließ den Filter fallen und trat mit ihrem Absatz drauf.
»Und womit drohen wir ihm? Damit, dass wir aussteigen, wenn er ablehnt. Er wird uns auslachen.«
»Komm mit …«, sagte sie.
Er folgte ihr in den Trailer. Sie goss ihnen beiden ein Glas Single-Malt Scotch ein: billig und hochprozentig.
»Hiermit wird ihm das Lachen schnell vergehen.«
»Ist das ein Requisit?«
»Du kennst dich nicht mit Waffen aus oder? Na los, nimm sie.«
»Sie ist schwer.«
»Und sie ist geladen.«
Beinahe fiel sie ihm aus der Hand.
»Keine Sorge, Richard. Sie ist gesichert.«
»Und was dann? Soll ich sie mir wie im Drehbuch in den Mund stecken und abdrücken.«
»Nein, wie ich schon sagte, Richard, wir ändern das Drehbuch ab. Tonys Höhepunkte sind unbefriedigender als sein kleiner Schwanz. Ihnen fehlt es an Größe, wenn du verstehst. Man spürt sie einfach nicht. Sie berühren nicht das Herz.
Sie hatte es sehr präzise ausgedrückt, auch wenn er nichts über die Größe von Tonys Gemächt gehört hatte. Und auch nicht wollte.
»Du schiebst sie ihm in den Mund, während ich ihn bei den Eiern packe. Nichts sehnlicher wünscht er sich doch, seit er mich gecastet hat.
Berger errötete. Er fragte sich, ob es wirklich ein Wunsch von Tony war, oder Synthia es sich mehr wünschte, als sie zugeben würde.
Berger überkreuzte seine Beine: »Das ist verrückt«, sagte er.
»Wagemutig.«
»Die buchten uns ein.«
»Wir lassen es wie einen Selbstmord unter Drogeneinfluss aussehen. Es ist ein offenes Geheimnis. Es wissen alle. Auch ein so gutgläubiger Mensch wie du kann nicht auf beiden Augen blind sein. Halt’ mich ja nicht für dumm.
Sie ratschte das Feuerzeug und zündete sich eine Zigarette an und sagte: »Ich gehe auf die eine oder andere Weise nach Hollywood. Du kannst mitkommen oder bleiben. Nur kann ich morgen nicht am Set erscheinen.«
Als Berger an diesem Abend alleine auf dem Bett im Trailer lag und sein Leben Revue passieren ließ, wusste er, was er tun wollte. Er nahm den Hörer in die Hand und wartete.
»Hallo, Richard«, sagte eine Stimme. Husten …

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Christian Pfeiffer rannte zurück zum Fenster und sah hinunter. Und da lag sie, seine Geliebte, sein ein und alles! In einer Blutlache, die schon enorme Ausmaße angenommen hatte.

»Nein!«, schrie er laut, mit einer Stimme, die ihm selbst fremd vorkam. In Windeseile stürmte er aus dem Büro, rannte zum Fahrstuhl, nahm die Treppe, fiel ein paar Stufen hinab, rappelte sich auf, stöhnte vor Schmerz, der aber in keinem Verhältnis zu seiner inneren Wunde stand. Endlich hatte er die vielen Stufen hinter sich gebracht, verließ das Gebäude, überquerte die Straße, ohne auf den Verkehr oder das wütende Hupen zu achten.

»Maria!« Er bückte sich zu ihr hinab, nahm sie in seine Arm, besudelte sich mit ihrem Blut.

»Warum, Maria, warum nur?!«, schoss es ihm irrsinniger Weise durch den Kopf und dann ein lautes:

»Hilfe, so helft mir doch!« Passanten blieben stehen, wichen vor ihm zurück, blutverschmiert wie er aussah. Endlich griff jemand zu seinem Handy und rief einen Rettungswagen. Als diesem jemand klar wurde, dass dies kein Unfall wahr, auch die Polizei.

»Kommen Sie, stehen Sie auf!«.

»Ich kann nicht! Jemand hat meine Frau gezwungen, sich selbst zu erschießen! Einfach so!« Dann die Erkenntnis: »Und ich hätte es verhindern können!« Er brach in lautes Weinen aus und wiegte seine Frau in seinen Armen. Da näherte sich, akustisch angekündigt, die Polizei und ein Rettungswagen. Die Sanitäter eilten zu Christian Pfeiffer und blieben dann wie angewurzelt stehen. Während der eine es mühsam schaffte, den widerstrebenden Christian aus der Umklammerung zu lösen und ihn zum Rettungswagen brachte, ergriff der andere das linke Handgelenk von Maria und schüttelte anschließend den Kopf. Ein Raunen ging durch die umstehende Menge, die jetzt von den beiden Polizeibeamten zurückgedrängt wurde.

»Hat jemand etwas gesehen oder gehört?« Mit dieser Frage wandte sich der Ältere der Beiden an die Schaulustigen. »Nicht? Dann bitte gehen Sie weiter und lassen uns unsere Arbeit erledigen.«

»Herr Wachtmeister, sehen Sie mal. Hier geht gerade ein Video viral, das diesen Todesfall zeigt.« Die Passantin hielt ihm ihr Handy unter die Nase.

»Und jetzt sieht man auch einen anderen „Vorfall“ auf der online Seite einer Zeitung.«, mischte sich ein weiterer Passant ein und sein Blick streifte das Gebäude gegenüber. Er hob die Hand und zeigte hinüber: »Von dieser Zeitung da drüben.«

Hauptkommissar Stefan Jost traute seinen Augen nicht. Tatsächlich wurden hier 2 Selbstmorde dokumentiert. Er schüttelte fassungslos den Kopf.

»Bitte schicken Sie beide Dateien mit dem Hashtag 10000 € oder Selbstmord an die 110 mit der Bitte um Weiterleitung an das Polzeikommissariat 4!«, bat er die beiden Menschen, die sich soeben entfernen wollten. »Und bleiben Sie hier, damit wir Ihre Personalien aufnehmen können.« Dann begab sich Jost zum Rettungswagen und wollte den Journalisten zur Sachlage befragen. Doch der Sanitäter zweifelte an der Effektivität einer Befragung, hatte er Christian doch soeben ein starkes Beruhigungsmittel gespritzt.

»Wer ist die Frau? Und wer sind Sie? Was machen Sie hier und was haben Sie mit der Frau zu tun?«

Christian starrte Stefan Jost verständnislos an.

»Du kennst mich doch, Stefan! Und Maria hab ich dir auch schon vorgestellt.«

»Christian!, rief Jost verblüfft, »Was geht denn hier vor? Kannst du mir das erklären?«

Doch Christian brach in lautes Schluchzen aus und sackte auf dem Rand der Rettungswagentür zusammen.

»Versuchen Sie es lieber in ein paar Stunden mal!«, so der Sanitäter.

Eines musste Stefan jedoch noch wissen: »Hat sie ein Handy? Und wo ist deins? Gibst du es mir? Jetzt?«, denn er bemerkte, dass Christian in seine Hosentasche griff und die leere Hand wieder herauszog.

»Es muss noch oben im Büro liegen.«

»Ihr hattet sicher noch Kontakt kurz zuvor!?« Ein tonloses »Ja!«, gefolgt von einer erneuten seelischen Erschütterung drang an die Ohren des Beamten.

Frustriert wandte sich Jost ab.

Seine Kollegin hatte schon zwischenzeitlich weitere Polizisten angefordert, die den Tatort weiträumig absperren sollten und die Spurensicherung über Funk gerufen. Dann ließ sie sich die beiden Videos zeigen.

»Das gibt es nicht! Ich habe in der EZ vorhin mitbekommen, dass eine Frau genau diese Situation vom ersten Video schildert. Gerd und Chris sind dort vor einer guten halben Stunde hingefahren.«

Jost schaute sich ebenfalls die Videos noch einmal an. Dann warf er seiner Kollegin einen bedeutsamen Blick zu und meinte:

»Dann wollen wir mal eine Soko zusammenstellen, was denkst du, Johanna?«

»Wird uns wohl nichts anderes übrig bleiben.«, meinte sie schulterzuckend.

Sie machte ihr Funkgerät von der Uniformjacke los und ließ sich mit dem Wagen von Chris und Gerd verbinden.

»Chris, schaut euch mal das Video an, das die EZ eben erhalten hat. Da ist euer Tathergang drauf zu sehen. Und wir haben einen ähnlichen Fall.«

»Ist das wahr? Was soll das denn?«

»Keine Ahnung! Wir sollten uns später zusammensetzen und die Übereinstimmungen überprüfen. Sobald die Spurensicherung hier eingetroffen ist, machen wir uns auf den Weg ins Präsidium.«

»Verstanden. Wir schicken die Spusi sofort zu euch, wenn sie hier durch ist.«

Gemurmel drang durch das Funkgerät. »Warte mal! Die Spusi ist bereit, sich zwei zu teilen und 4 Leute machen sich gerade auf den Weg zu euch. Die Adresse haben sie schon von der Zentrale erhalten und wir sind schon auf dem Weg zurück ins Büro. Bis später.«

Johanna sah Stefan an: »Du kennst das Opfer und auch den Mann?«

»Ja, Christian ist Journalist und arbeitet seit Jahren für diese Zeitung. Er hat über alle kleinen und großen Geschehnisse im Lokalteil berichtet. Hab aber schon eine Weile nichts mehr von ihm gelesen und dachte, dass er in Rente ist.«

Stefan Jost und seine Kollegin Johanna Sommer überquerten die Straße, denn Stefan wollte im Büro der Redaktion auf jeden Fall das Handy von Christian sicherstellen. Beide zeigten sie dem Pförtner ihre Dienstausweise und fragten nach dem Büro von Pfeiffer.
»Online-Redaktion. 5. Stock!«, lautete die Antwort. Onlineredaktion?

Sie ignorierten den neugierigen Blick des Mannes und stiegen in den Lift. Dann betrachteten sie das Chaos in den Räumen und fanden das Handy neben dem schon erkalteten Kaffee. Da sie nicht wussten, wie genau Christian von der zweiten Tat erfahren hatte, zogen sie sich Handschuhe über und tüteten das einzige herumliegende Handy ein. Johanna bewegte die Maus auf dem Schreibtisch und die Onlineseite ploppte auf und bestätigte den Upload eines Videos.

»Das also wollte der Täter; Video1 über die Zeitung veröffentlichen.«, merkte Johanna an, nachdem sie kontrolliert hatten, um welche Datei es sich handelte.

»Aber zu welchem Zweck?« Stefan kratzte sich kopfschüttelnd am Kinn.

»Warum Christian? Als Online-Radakteur kann ich mir ihn gerade nicht vorstellen. Sicher das Abstellgleis der Geschäftsführung für ihn. Online sein war nämlich noch nie sein Ding, wie man an diesem alten Handy sieht. Bezweifele, das es internetfähig ist.« Johanna nickte und machte noch

machte noch ein paar Fotos vom Büro. Dann fuhren sie wieder hinunter.

»Herr Melcher, ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?« Diese Frage richtete Johanna an den Pförtner, nachdem sie seinen Namen auf dem aufgestellten Schild gelesen hatte.

»Ich, ich, ich hab den Schuss gehört und bin an die Drehtür. Doch es waren zu viele Autos unterwegs und ein Laster parkte direkt hier vor dem Eingang. Dann stürmte Christian, also Herr Pfeiffer, die Treppe hinunter und hinaus auf die Straße. Er war leichenblass und wirkte völlig konfus, denn er lief einfach blind über die Straße. Autos hupten wie wild und ich dachte schon, dass er verunglückt sei als ich den Rettungswagen hörte. Aber offensichtlich war es eine Frau, die zu Tode kam, hab ich recht?«

»Von wem haben Sie das?«

»Ich habe Passanten gefragt.«, gestand Melcher. »Es geht ja um einen alten Kollegen.«

»Okay! Ihre Personalien brauche ich noch. Wie alt sind Sie? Wie lange arbeiten sie schon hier? Adresse?« Bereitwillig gab Melcher Auskunft und die beiden Polizisten rückten wieder ab.

Als die Spusi endlich eintraf, instruierten sie diese und wiesen auch auf das Pfeiffersche Büro im Zeitungsgebäude hin. Dann stiegen Stefan Jost und Johanna Sommer in ihren Streifenwagen und fuhren zurück zur Einsatzzentrale.

Stefan sah seine Kollegin von der Seite aus an.

»Was hältst du von der ganzen Sache? Ich meine, wer ist denn so bescheuert und filmt die Selbstmorde, ohne selbst aktiv zu werden, macht sich so also wenigstens wegen unterlassener Hilfeleistung mitschuldig? Warum diese öffentliche Aufführung? Was für einen Sinn macht es? Und wer soll damit getroffen werden? Was ist das denn auch für ein komischer Betrag? 10.000 Euro; warum nicht 100.000 oder eine Million?«

»Ich kann es dir nicht sagen; jedenfalls noch nicht. Auf jeden Fall brauchen wir in der Soko auch einen Internetspezialisten, der die URL ausfindig machen kann.« Johanna fuhr sich verstört durch ihre langen, braunen Haare. »Ich hoffe nur, dass das keine Serie wird mit Nachahmern und allem drum und dran.«

»Ich bin auf jeden Fall froh, dass so zwei helle Köpfe wie Chris und Gerd mit von der Partie sind. So sind wir am Produktivsten.«

Marion Kulinna©

Zweite Chancen

»Ich glaube Pfeiffer Junior hat vor Schreck das Telefon fallen lassen. Aber immerhin hat er es davor gepostet.«

»Ja, ich melde mich später mit weiteren Anweisungen.«

»Roger that, aber kurz noch, damit ich es richtig verstehe, sein Vater war der Leiter und der lebt nicht mehr, also rächst du dich an Pfeiffer Junior?«

»Irgendjemand musste die Konsequenzen tragen.«

»Da ist ja jemand ganz schön nachtragend, huh?«

»Ich vergebe nicht, aber ich vergebe zweite Chancen, oder nicht?«

»Oho, poetisch. Ich mag wie du denkst. Nicht schlecht.«

»Behalte Pfeiffer im Auge, ich melde mich später.«

»Hey, warte, warte, kurz noch. Verrat mir eines…wie schaffst du es, dass sich diese Leute erschießen? Was hast du zu der Frau gesagt?«

»Bist du sicher, dass du es wissen willst?«

»Ja, also, was ist dein Geheimnis? Wie machst du es?«

»Wie wär’s, du kannst es direkt am eigenen Leib austesten und ich erledige den Rest allein. Oder du lässt diese Fragen sein und erledigst einfach deinen Job, mh?«

»Okay, okay, ist ja gut, ich hab ja nur…«

Der Anruf wurde beendet.

Das Wegwerfhandy fand seinen Platz an der Seite des Schreibtisches. Auf diesem ein Glas Rotwein und ein beschriebener DIN A4 Zettel, auf dem ein paar Tropfen der roten Flüssigkeit verschüttet wurden. Ein brauner Edding strich einen weiteren Namen durch.

Christian Pfeiffer, ich muss schon sagen, wie der Vater so der Sohn, wenn es darauf ankommt, jemandem zu helfen, reagieren beide viel zu spät.

Aus der Schublade des hölzernen Tisches entnahmen zwei Hände, verpackt in Lederhandschuhen, eine kleine verschlossene Metallbox. Der Schlüssel verrostet. Die Box war leer, doch mit ein bisschen Druck am Boden kam darunter ein verblasstes Foto zum Vorschein. Ein Gruppenbild, fotografiert an einem kühlen Herbsttag. Blätter versammelten sich auf dem gepflasterten Boden. Die Finger glitten über das junge Gesicht, auf dessen rechter Wange sich ein großes braunes Muttermal erstreckte.

Erinnerungen an die guten alten Zeiten.

»Da kommt HIV, vorsichtig«, die Kinder im Hof des Waisenhauses lachten laut auf und beobachteten Holland I. Voss an ihnen vorbeigehen. Ein lautes Gemurmel breitete sich aus, das anfangs überfordernd war, doch heute fühlte sich dieser kleine und schmächtige Körper stärker als je zuvor. Denn an diesem Tag konnte er diesen furchtbaren Ort endlich verlassen. »Ja, verpiss dich endlich, du Seuche«, rief der selbsternannte Anführer Rocky hinterher und blickte voller Stolz zu seinen lachenden Freunden. In seiner Lederjacke fühlte er sich noch stärker. Er hatte Macht, Kontrolle und Einfluss.

Alles was ich nicht habe, noch nicht.

Holland verblieb zufrieden stumm, denn es gab bereits einen festen Plan.

Ihr werdet alle mit mir abgeschlossen haben, mich vergessen haben, aber ich bin mit euch noch lange nicht fertig. Ab jetzt habe ich nur noch einen Sinn im Leben, und das seid ihr.

Holland blieb auf dem Weg kurz stehen und blickte dem schlaksigen Jungen neben Rocky mit einem kalten Blick über die Schulter tief in die Augen.

Du wusstest besser als alle, wie sehr ich leide, und ließt es trotzdem zu. Und ich dachte mal wir wären Freunde.

Der Blick verunsicherte den Jungen kurz. Aber das durfte er sich nicht anmerken lassen, besonders vor Rocky nicht, also schaute er schnell weg. Wenn er hier überleben wollte, musste er gute Miene zum bösen Spiel machen.

Die Schublade wurde erneut aufgezogen, die Metallbox an ihren gewohnten Platz zurückgestellt und stattdessen mit unruhigen Fingern der braune Edding zur Hand genommen. Dieser landete behutsam auf der trockenen Wange. Die Farbe fühlte sich seltsam kühl und feucht an, doch daran hatte sich die Haut schnell gewöhnt, wie schon fast, als ob sie darauf gewartet hätte. Das Endresultat war zufriedenstellender als gedacht und wurde mit einem Lächeln belohnt. Die fokussierten Augen bohrten sich in das Spiegelbild.

Wir Menschen ändern uns nicht, egal wie sehr wir es versuchen. Früher oder später werden wir von uns selbst eingeholt, und dann müssen wir die Konsequenzen tragen.

»Oder die Konsequenzen schaffen«, flüsterten die spröden Lippen, während die Handschuhe samt Edding ihren Platz in der Schublade fanden. Das Glas Rotwein in der Hand wirkte blutrot. Mit langsamen Schritten ging es eine Treppe hinunter. Die rechte Wange gerichtet zur Wand. Unten wartete bereits jemand.

Heute wirst du nicht wegschauen, mein Schatz.

»Sag mal, wie sehr liebst du mich?«, ertönte es auf halbem Wege. Die spröden Lippen noch etwas befeuchtet vom Wein.

»Wie kommst du denn jetzt darauf?«

»Ich habe eine Überraschung für dich.«

Richard blickte irritiert auf.