Offene Enden Teil 2: Schreib Teil 3

#GierTötet

Die grauen Wolken über Frankfurt spiegelten die Stimmung von Kommissarin Lea Wenzel wider, als sie den Tatort verließ. Sollte der Selbstmord dieser Frau eine Nachricht an sie gewesen sein? Er war genauso verstörend, wie der auf der Schwelle von Richard Bergers Haus wenige Stunden zuvor. Beide wurden von jemandem gefilmt, der Vorwürfe schrie und beide wurden im Netz veröffentlicht.

#GierTötet lautet der Hashtag, der die einzige Verbindung zwischen beiden Vorfällen darstellte. Was sollte das bedeuten? Und was hatten die zehntausend Euro damit zu tun? Bei dem Gedanken an die Geldsumme entwich Lea ein banger Seufzer. Sie fühlte sich ertappt. Ihre Hände begannen zu zittern. Schnell steckte sie diese in die Taschen ihrer Jacke, um die unkontrollierte Reaktion zu verbergen, und ging in Richtung ihres Wagens. Die Presse lauerte bereits an der Absperrung, Geier mit Kameras. Sie konnte die Fragen schon hören: »Was verbindet die beiden Toten? Gibt es einen Täter?« Gekonnt ignorierte sie die Belagerung.

Im Präsidium war der Ton angespannt. Ihre Kollegin Nadja schob Lea einen Ausdruck hinüber. »Wir haben das Handy geortet, wovon das zweite Video live ins Netz gestellt worden war. Es muss sich in einer der verlassenen Lagerhallen im Industriegebiet befinden.«

»Vielleicht ein Ablenkungsmanöver? Der Täter wird doch nicht so blöd sein, oder?« fragte Lea mit möglichst sachlicher Stimme. Sie konnte Nadjas Gegenwart immer noch nicht ertragen, seit diese ihre Beziehung beendet hatte – ohne eine Erklärung, einfach per WhatsApp. Und wenn sie beruflich zusammenzuarbeiten mussten, tat Nadja so, als wäre nie etwas zwischen ihnen gewesen. Lea verstand das nicht und unter die Enttäuschung mischte sich mehr und mehr Wut auf die Frau.

»Das werden wir bald wissen«, antwortete Nadja mit einem verschmitzten Lächeln während sie zum Schrank ging und sich eine beschusshemmende Weste überzog. »Ich werde das mit dem SEK-Team überprüfen. Du solltest dir den Journalisten noch einmal vornehmen.« Sie band sich ihr blondes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen.

Lea nickte nur, nahm die Akte und zog sich an ihren Schreibtisch in dem Großraumbüro zurück. Das war typisch Nadja. Immer die Heldin spielen. Soll sie doch, dachte Lea und betrachtete die Fotos in der Akte. Sie liebt die Gefahr. Aber auf ihrer Weste sollte statt Polizei besser #GierTötet stehen, dachte sie grimmig. Die toten Augen des ersten Opfers starrten sie an. Dann blätterte sie weiter zum zweiten Opfer, betrachtete jedoch nicht die Frau, sondern die Handtasche, die neben ihr auf der Straße lag.

Lea stupste den Kopf des Wackeldackels an, der ihren Schreibtisch zierte und ein Geschenk von Nadja war. Dann erhob sie sich und machte sich auf den Weg zum Vernehmungsraum. Durch die Scheibe erkannte sie diesen Journalisten Christian Pfeiffer am Tisch sitzen mit verheultem Gesicht und den Kopf auf die Hände gestützt. Er benötigte eigentlich einen Psychologen, doch dafür war jetzt keine Zeit. Alle Zeichen sprachen dafür, dass der Selbstmord seiner Freundin nicht der letzte gewesen war.

Lea trat ein.

Pfeiffer schreckte hoch. »Haben Sie schon eine Spur?«, fragte er mit bebender Stimme. Immer noch den Tränen nahe.

»Dazu kann ich Ihnen im Moment noch nichts sagen«, antwortete sie kühl. »Wir benötigen noch einige Informationen.«

Pfeiffer nickte und blickte sie mit seinen geröteten Augen an wie ein verschrecktes Kaninchen.

»Können Sie sich erklären, wie das zweite Video über ihren Account hochgeladen werden konnte?«

»Wahrscheinlich hat er mich gehackt, als ich sein Video runterlud.«

»Habe Sie denn kein Virenschutzprogramm?«

»Klar haben wir das. Aber ich stand unter Druck. Verstehen Sie?« Pfeiffer wurde sichtlich aufgeregter. »Ich hab’s verkackt!«, schrie er.

»Beruhigen Sie sich. Soll ich Ihnen etwas zu trinken bringen lassen? Kaffee? Wasser?«

»Was soll der Scheiß hier?«, schrie Pfeiffer weiter. »Marie hätte sowas nie getan! Nie!« Er ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken und schluchzte laut.

»In der Handtasche Ihrer Freundin haben wir zehntausend Euro gefunden. Können Sie sich das erklären?«

»Ich habe keine Ahnung«, seufzte der Mann und begann wieder zu weinen.

Lea schloss ihre Wohnungstür auf. Der Tag war verwirrend gewesen und beängstigend. Das konnte alles nicht möglich sein. Es war ein Alptraum. Wieso passierte ihr das? Sie drückte auf den Knopf der verchromten Kaffeemaschine, wählte ihr Profil und dann einen Latte Macchiato. Das Mahlwerk setzte sich krächzend in Gang, die Milch schäumte zischend in das Glas und dann folgte der Kaffeeshot. Mit zitternden Finger nahm sie das Glas und stellte es auf den Tisch. Ihre Nervosität steigerte sich jedoch ins Unermessliche und sie hielt es nicht länger aus. Mit klopfendem Herzen ging sie ins Schlafzimmer, öffnete den Kleiderschrank, räumte einige Kartons heraus und zog den doppelten Boden zur Seite. Dann holte sie das Kästchen hervor und nahm es mit in die Küche. Sie platzierte es neben das Kaffeeglas und öffnete es – fast feierlich.

Es war leer.

Nadja, du Bitch! Wo sind die zehntausend Euro?, schoss es durch ihren Kopf. Hatten die heutigen Vorfälle etwas damit zu tun? Das war niemals eine spontane Serie von Verzweiflungstaten. Es war sorgfältig orchestriert. Aber …?

Ihr Handy vibrierte und sie zuckte zusammen. Ihr Puls schoss hoch. Eine unbekannte Nummer erschien im Display.

»Wenzel,« sagte sie knapp.

»Kommissarin Lea Wenzel,« begann eine tiefe Stimme am anderen Ende, ruhig und fast freundlich. »Sie ermitteln im Fall #GierTötet, nicht wahr?«

Lea erstarrte. »Wer spricht da?«

»Jemand, der alles weiß.«

»Wenn Sie etwas wissen, dann kommen Sie in die Dienststelle und machen Sie eine Aussage,« antwortete sie möglichst kühl.

Ein leises Lachen. »Sie können mit dem Spiel aufhören. Ich habe Ihnen etwas geschickt. Sehen Sie nach.«

Lea öffnete mit zitternden Fingern ihre Mails. Eine neue Nachricht. Kein Text, nur ein Anhang: ein Video. Mit zögernder Hand klickte sie es an. Es war ein Live-Feed. Das Bild zeigte einen dunklen Raum, vielleicht eine Lagerhalle, und in der Mitte saß eine Frau mit gefesselten Händen, weinend und mit einer Pistole an der Schläfe.

»Das ist Ihre Kollegin Nadja, nicht wahr?« sagte die Stimme am Telefon.

Leas Herz setzte aus. »Wenn Sie ihr etwas antun, bringe ich Sie um!«

»Beruhigen Sie sich, Kommissarin. Das hier liegt allein in Ihren Händen. Ich werde Ihnen gleich erklären, wie Sie sie retten können. Aber seien Sie gewarnt: Der Preis könnte hoch sein.« Die Stimme ratterte einige Instruktionen herunter und Lea hatte das Gefühl, in einem dunklen Moor zu versinken. Entsetzt starrte sie das Handy an. Dann wanderte ihr Blick zur Dienstwaffe, die auf ihrem Tisch lag.

Das Video lief weiter. Nadja sah auf, ihre Augen voller Angst. »Lea … bitte … tu es nicht!«

Mit zitternden Händen nahm Lea die Waffe auf und setzte sie an ihre Schläfe.

Die Tochter

Michaela Klein schaute aus dem Fenster. Die Umgebung rauschte vorbei und machte sie schläfrig. Das Handy in ihrer Hand vibrierte. Noch eine Nachricht. Es stand nicht still, was aber auch kein Wunder war, nachdem, was gerade los war. Ein weiterer Mord war passsiert. “Nächste Station Frankfurt Hauptbahnhof,” klang es durch die Lautsprecher. Sie schaute auf den Bildschirm und ging die Nachrichten durch, die sie die letzten Minuten versucht hatte zu ignorieren. Sie wurde von der Seite angerempelt und konnte ihr Handy gerade noch festhalten, bevor es zwischen ihrem Rucksack auf dem Boden verschwunden wäre. Ein leise gemurmeltes “Sorry.” hörte sie von der Seite. Sie schaute nicht auf, sondern starrte gebannt auf die Nachrichten, die sich unheilvoll über den Bildschirm ihres Handys stapelten. Die meisten Mitteilungen waren von ihrer Freundin Susanne. Andere waren aus irgendwelchen unwichtigen Gruppenchats, die sie unbedingt endlich stumm schalten musste. “Hast du deine Mutter schon gesprochen?” war die letzte Nachricht. Nein, das hatte sie noch nicht. Und das würde sie erst machen, wenn sie dem Revier einen Besuch abgestattet hatte. Sie würde die alten Kollegen sehen und müsste viele Fragen beantworten. Ein Ruck ging durch den Zug, als er anfing zu bremsen. Der Typ neben ihr stand auf, um im Gang neben dem Sitz zu stehen. Viele im Abteil machten es genauso, obwohl sie erst in 5 Minuten am Bahnhof sein würden. Durch die Bewegungen wurde es noch stickiger, wie es in dem Abteil sowieso schon war. Michaela hatte also noch genug Zeit, um Susanne zu antworten. “Nein, das mache ich später.” antwortete sie. “Soll ich mitkommen?” kam prompt zurück. Michaela wollte schon ja antworten, als sie zögerte. Nein, das musste sie alleine machen. Sie hatte ihre Eltern seit Jahren nicht mehr gesehen. Und nachdem, was da an der Haustür ihres Elternhauses passiert war, musste sie alleine mit ihnen sprechen. Die Bilder, die sie über den Tatort gesehen hatte, waren grauenvoll gewesen. Sie war Polizistin geworden, um diese Dinge zu verhindern. Und jetzt war sie selbst betroffen. Wer waren diese Männer gewesen? Die Polizei tappte im Dunkeln. Und der Mord an der Tochter des Journalisten passte da auch nicht rein. Der Zug machte wieder einen Ruck und blieb mit quietschenden Bremsen stehen. “Was soll das schon wieder?” hörte sie jemanden im Gang rufen. “Aufgrund einer Störung auf dem Gleis wird sich unsere Weiterfahrt um wenige Minuten verzögern. Wir bitten um Ihre Entschuldigung.” tönte es aus den Lautsprechern. Brrrrr, brrrrr. Das Handy vibrierte in ihrer Hand. Sie wollte jetzt nicht mit Susanne telefonieren. Als Michaela auf den Bildschirm schaute, stand dort “unbekannt”. Sie drückte den Anruf weg. Wieder brummte das Handy los. Normalerweise ging sie nicht an ihr Handy, wenn dort eine unbekannte Nummer anrief. Aber sie musste warten, also ging sie ran. “Hallo Michaela Klein. Ich muss schon sagen, ich war verärgert, dass es so schwer war, sie zu finden und dann auch noch zu erreichen.” Das kann jetzt nur ein schlechter Scherz sein, dachte sie. “Sie haben sich verwählt.” antwortete sie automatisch, bevor sie realisierte, dass der Anrufer sie mit ihrem Namen angesprochen hatte. “Nein, das glaube ich nicht. Oder sollte ich besser Michaela Berger sagen? Da ich jetzt Ihre Aufmerksamkeit habe, sollten wir darüber reden, warum ich anrufe. Sie werden mir 10.000 Euro über PayPal schicken oder der Mann, der gerade vor dem Zug steht, wird sich umbringen. Ich schicke Ihnen jetzt die Adresse. Sie haben 2 Minuten Zeit.” Sie wurde wieder von der Seite angerempelt, als der Typ, der die ganze Zeit neben ihr gesessen hatte, sich wieder neben sie setzte. Ihr Instinkt und ihre Erfahrung als Polizistin sagten ihr, dass das kein Scherzanruf war. Ihre Handynummer hatte niemand, außer ihre engsten Freunde und ein paar Arbeitskollegen. Sie versuchte klar zu denken, was bei der Aussicht, dass jemand vor dem Zug mit einer Waffe stand, schwer war. Aber sie konnte auch nicht irgendjemandem 10.000 Euro überweisen. Sie brauchte Beweise. Sie stieß den Typen neben sich zur Seite. “Ich muss sofort den Zug verlassen. Das ist ein Einsatz!” Der Typ starrte sie mit großen Augen an. Die ganze Zugfahrt hatte sie ihn nicht angesehen. Ob es wirklich derselbe Typ war, konnte sie nicht sagen. Es dauerte eine quälend lange Sekunde, bis er aufstand und ihr Platz machte. Die anderen Fahrgäste machten ebenfalls mehr oder weniger bereitwillig Platz, als Michaela Klein sich mit dem Handy am Ohr den Weg zu dem nächsten Ausgang quetschte. Innerlich betete sie, dass es doch ein Scherzanruf war. An ihrem Ohr hörte sie “Tick, tack. Die Uhr tickt.” Das Handy quetschte sie zwischen Schulter und Ohr ein, während sie mit beiden Händen den schweren Hebel der Notverriegelung herunterdrückte. Mit einem Ruck gab die Tür nach, schwang nach außen auf und Michaela konnte sich mit einer Hand gerade noch an der Tür festhalten. Sie baumelte mit einer Hand an der Tür und hielt in der anderen das Handy fest. Sie orientierte sich kurz und sprang auf die Füße. Mit zitternden Händen hielt sie das Handy wieder an ihr Ohr. “1 Minute. Ich muss schon sagen, von Ihnen als Polizistin hätte ich das nicht erwartet. Sie lassen für 10.000 Euro einen Menschen sterben. Aber wie der Vater, so die Tochter.” “Ich brauche mehr Zeit!” keuchte Michaela in das Handy, als sie nach vorne Richtung Lok sprintete. Und dann sah sie ihn. Den Mann, der vor der Lok stand und sich eine Waffe an den Kopf hielt. Die ersten Sirenen eines Polizeiwagens drangen an ihr Ohr. 10.000 Euro wollte der Anrufer für ein Menschenleben. Sie war nicht zur Polizei gegangen, wenn ihr ein Menschenleben nicht viel mehr Wert wäre. Warum 10.000 Euro? Die Summe nagte an ihren Gedanken, aber sie konnte darüber nicht nachdenken. Sie stellte das Handy auf Lautsprecher und öffnete die PayPal App. “Noch 15 Sekunden.” sagte die Stimme über den Lautsprecher. “Ich habe es gleich!” Sie war panisch. Obwohl sie für diese Situationen ausgebildet sein sollte, konnte sie nicht verhindern, dass sie ihr Handy krampfhaft festhalten musste, weil sie so stark zitterte. Sie kopierte die Adresse in die App und gab als Summe 10.000 ein. Sie betrachtete die Daten nicht, die ihr die Kreditkarten App zur Kontrolle anzeigte, sondern drückte nur auf Bestätigen. Die zusätzliche Bestätigung über die Kreditkarte kostete sie Sekunden, die sie nicht hatte. Ihr ging durch den Kopf, ob sie “Freunde und Bekannte” als Ziel für die Überweisung ausgewählt hatte. Sie wusste es nicht mehr. “5 Sekunden.” hörte sie über den Lautsprecher. “Ich habe überweisen!” rief sie und schaute auf den Mann vor sich. Es passierte nichts. Sie deaktivierte den Lautsprecher und nahm das Handy wieder ans Ohr. Ihr Atem ging schwer. “Vielleicht habe ich mich in Ihnen getäuscht, Michaela Klein. Ich hatte ihrem Vater die Chance gegeben, aber er hat das Menschenleben gewählt. Eine Schuld ist eine Schuld. Sie haben die Schuld beglichen. Jetzt können wir zusammen anfangen, das Unrecht aus der Welt zu schaffen.” Michaela sah, wie Polizisten dem Mann vor ihr Handschellen anlegten. Sie hörte “Tuut, tuut.” am Ohr. Der Anrufer hatte aufgelegt.

Polizeioberkommissar Stephan Rabenhof rieb sich mit beiden Knöcheln die Augen. Seine Schicht hatte vor fünfeinhalb Stunden begonnen; ein ruhiger Sonntag – zumindest in den ersten zweieinhalb Stunden. Jetzt wünschte er sich, heute Morgen einfach im Bett geblieben zu sein.

Seit zehn Minuten war er von der Befragung Richard Bergers und seiner Frau zurück; und gerade hatte er den Anruf beendet, in dem er von einem zweiten Todesfall erfahren hatte. Noch ein angeblicher Selbstmord, wieder höchst verdächtige Umstände. Das zweite Opfer war eine Frau: Maria Gauber. Kopfschuss. Ihr Lebensgefährte hatte sie identifiziert. Gleich nachdem er ein Video des ersten Selbstmords auf der Social-Media-Seite des „Frankfurter Generalanzeigers“ hochgeladen hatte.

Rabenhof schluckte, das heruntergeladene Video starrte ihn von seinem Bildschirm heraus auffordernd an. Das Originalvideo war von der Plattform gelöscht worden, nach vierundzwanzig unerträglichen Minuten online. Chefredakteur Magnus Anders persönlich hatte das Video entfernt. Aber wer weiß, wie viele Leute es schon gesehen und heruntergeladen hatten?
Widerstrebend klickte Rabenhof auf den Startknopf. Der Ablauf war genau wie Berger ihn beschrieben hatte. Das Haus von Berger, er selbst mit seiner lächerlichen Krawatte, die Forderungen des graubärtigen Mannes, Bergers Weigerung, der Schuss, die Vorwürfe.

Die Kollegen von der Spurensuche waren noch mit dem ersten Tatort beschäftigt; die Leiche war bereits in die Gerichtsmedizin transportiert worden. Berger und seine Frau waren auf der Wache, ein Kollege erstellte gerade mit Bergers Hilfe ein Phantombild des tatverdächtigen jüngeren Mannes. Rabenhofs Partner, Dennis Kosmann, war unterwegs zu Christian Pfeiffer, dem Redakteur, der das Video veröffentlicht hatte.

Das Telefon klingelte erneut. Rabenhof zögerte einen Augenblick – schon wieder ein Mord? – aber es war die Nummer der Spurensicherung.

„Rabenhof hier“, meldete er sich.

„Das ist ja eine schöne Scheiße hier, Stephan“, antwortete ihm Hermann Ziegel von der Spurensicherung, „aber ich will dir eben die ersten Erkenntnisse durchgeben. Also: Das Opfer ist männlich, weiß, zwischen fünfzig und sechzig Jahre, circa eins achtzig groß, Identität noch ungeklärt. Er hat keine Brieftasche oder Ausweispapiere bei sich; jedoch konnten wir Schuhabdrücke sicherstellen, die zum Profil des Opfers passen. Es hat ja die ganze Nacht geregnet. Unsere Jungs waren sorgfältig beim Betreten des Grundstücks und wir haben zwei ausgezeichnete Schuhspuren zum Haus, die höchstwahrscheinlich dem Täter und dem Opfer gehören. Leider führt keine der beiden Spuren wieder vom Haus weg; der Täter muss über den Rasen verschwunden sein.“

Rabenhof hörte das Bedauern in Ziegels Stimme.

„Nichtsdestotrotz werden wir dem nachgehen. Die Tatwaffe ist verschwunden; höchstwahrscheinlich mitgenommen. Die Hülse ist am Hinterkopf ausgetreten und wurde sichergestellt, neun Millimeter, könnte von einer Glock sein. Aber richtig feststellen können wir das erst im Labor, also versteif dich nicht zu sehr darauf.
Fingerabdrücke wurden sowohl auf der Klingel, als auch an der Gartentür sichergestellt. Mit etwas Glück die vom Täter selbst. Genaueres, wenn die Leiche untersucht wurde. Nach der Obduktion wissen wir hoffentlich mehr.“

Rabenhof bedankte sich und legte auf.

„Fingerabdrücke“, murmelte er. Nun – zumindest an der Klingel würden sie nur die Abdrücke des Opfers finden – im Video war deutlich zu sehen, wie der graubärtige Mann geklingelt hatte. Vielleicht am Gartentor… Aber das hielt der Kommissar für unwahrscheinlich. Vielleicht an der Hülse selbst? War der Täter bereits beim Laden der Waffe vorsichtig gewesen?

Die Abdrücke der Schuhe hielt er für potentiell sehr nützlich – immer unter der Voraussetzung, dass seine Kollegen den Spuren folgen konnten…

Rabenhof rieb sich erneut die Augen, dann gab er sich einen Ruck. Also, was hatte er?

Der mutmaßliche Drahtzieher war laut Bergers Beschreibung männlich, weiß, circa eins fünfundsiebzig groß, schlank, schwarzes oder dunkelbraunes Haar, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, Deutscher. Er trug Jeans und eine Jacke aus Lederimitat. Seine Stimme hatten sie ebenfalls, vom Video. Schaudernd rief er sich die Worte ins Gedächtnis: „Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“

Das erste Opfer war ein älterer Mann, grauer Bart, um die fünfundfünfzig, ebenfalls weiß. Keine weiteren besonderen Merkmale. Deutscher, wie man auch im Video hören konnte.

Das mutmaßliche Ziel schien Richard Berger zu sein.
Berger war männlich, weiß, achtundfünfzig Jahre alt und Inhaber eines Reisebüros. Nicht arm, bei weitem nicht, aber auch nicht einer der reicheren Bürger Frankfurts. Gehobener Mittelstand, schätzte Rabenhof. Nicht erfolgreich an der Börse, wenn er sich an die schluchzende Aussage von Dorothea Berger recht erinnerte.

Wo war das Motiv? Was wollte der Täter erreichen?
„Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.“
Habgier? Immerhin sprach die Geldforderung dafür. Aber warum dann bei Berger? In Frankfurt gab es eindeutig lohnendere Ziele. Wie wahrscheinlich war es für den Täter gewesen, dass Berger auf die Forderung eingehen würde? Rabenhof wurde das Gefühl nicht los, dass dem Erpresser durchaus klar gewesen war, dass Berger die Forderung ablehnen würde. Schließlich hatten die Männer eine Waffe dabei und führten die angekündigte Tat unmittelbar nach Bergers Absage aus. Und die Tat wurde gefilmt. Der Upload auf Social Media war wahrscheinlich fest geplant gewesen.

Warum hatte das Opfer nicht gezögert, sich zu erschießen? Seine Angst und Nervosität waren im Video sichtbar gewesen. Laut Bergers Aussage hatte er gezittert. Kein typisches Verhalten für jemanden, der seinen Selbstmord freiwillig geplant hatte.
Die Chance stand hoch, dass das Opfer zu der Tat gezwungen wurde. Wurde seine Familie bedroht? Seine Frau, seine Kinder? Hatte er sich deswegen ohne zu zögern erschossen?
Sollte sich das als wahr herausstellen, hieß das mit ziemlicher Sicherheit, dass es neben dem Filmer noch mindestens einen weiteren Täter gab. Dieser hielt womöglich gerade die Familie des Opfers in Geiselhaft…

Das Klingeln des Telefons riss den Kommissar aus seinen Gedanken.

„Rabenhof am Apparat.“

Die Stimme seines Partners, Dennis Kosmann, antwortete: „Dennis hier. Ich bin jetzt mit der Befragung von Christian Pfeiffer durch, das ist der Redakteur, der das Video hochgeladen hat. Der Rettungsdienst bringt ihn jetzt ins Krankenhaus, er hat einen schweren Schock.

Das Opfer ist eine gewisse Maria Gauber. Identität eindeutig bestätigt. Sie hatte ihre Papiere dabei. Sie war die Lebensgefährtin von Pfeiffer; sechsundvierzig Jahre alt, ein Kind.“

Rabenhof hörte ein schweres Seufzen.

„Kopfschuss, sie hat sich die Pistole in den Mund gesteckt. Neben ihr lag die Schusswaffe, eine Glock 17. Keine Kugeln mehr im Magazin, die letzte hat sich das Opfer durch den Schädel gejagt. Waffe und Patronenhülse habe ich sichergestellt. Ebenso das Handy; anscheinend hatte sie es bis zum Schuss am Ohr. Vermutlich war am anderen Ende der Täter, der ihr Anweisungen gegeben hat. Der Notarzt hat bestätigt, dass das Opfer sofort tot war.“
Kosmann ließ ein weiteres Seufzen los.
„Das Smartphone ist gesperrt; ich kann erst Auskünfte zum Anrufer geben, wenn es im Labor entsperrt wurde.

Jetzt pass auf, Pfeiffers Aussage gibt uns ein paar wichtige Anhaltspunkte:

Er meint, er wurde auf seinem Privathandy angerufen, ein altes Nokia-Telefon. Noch mit Tasten. Ebenfalls sichergestellt. Den ersten Anruf habe er weggedrückt, weil er die Nummer nicht erkannt hat. Aber die Nummer war sichtbar, der Anrufer hat sie nicht unterdrückt. Ich kann sie im Anrufverlauf aufrufen, schreib mit-„ Rabenhof kraxelte auf seinem Schreibtisch nach einem Stift, „-017450081427. Eine Handynummer, gib die mal in die Datenbank ein. Zumindest den Anbieter finden wir auf jeden Fall heraus. Selbst, wenn der Besitzer der Rufnummer gefälscht ist, oder das Handy gestohlen wurde, kann uns der Anbieter die IP-Adresse des Handys nennen und den Mast, der die Nachricht aufgenommen hat. Das schränkt das Gebiet schonmal ein.

Den zweiten Anruf nahm Pfeiffer an, aus Neugierde, wie er gesagt hat. Er hat die Stimme erkannt; es ist der Mann, der dieses verfluchte Video gefilmt hat. Der Mann am Telefon hätte von einer ‘großen Story‘ gesprochen und einer E-Mail, die er Pfeiffer geschickt hätte.

„Haben wir die E-Mail-Adresse?“ Rabenhofs Stimme klang ruhig, aber sein Herz pochte schnell.

Ja, aber es ist eine Wegwerf-Adresse: qvu61039[at]kasor.com. Darin ein Link zu einem Cloud-Anbieter. Leider nicht deutsch…“, Rabenhof hörte die Resignation in der Stimme seines Partners, „das wird schwierig, die Anbieter dazu zu bewegen, die IP-Adressen herauszugeben… Setz trotzdem jemanden darauf an, vielleicht haben wir ja Glück.

Rabenhof schrieb die E-Mail-Adresse und die Domäne des Links auf einen Block.
„Weiter!“, forderte er dann seinen Partner auf.

„Pfeiffer hat das Video gesichtet und sich zuerst geweigert, es auf dem Social-Media-Kanal der Zeitung hochzuladen. Dann bekam er ein Ultimatum – entweder, er lädt das Video innerhalb von zwei Minuten hoch, oder noch jemand würde sich erschießen. Ab hier kam das Opfer Maria Gauber ins Spiel. Der Anrufer zeigte ihm Maria, und konnte ihm glaubhaft deutlich machen, dass sie sich in Gefahr befand-„

„Wie?“, unterbrach Rabenhof, „Hat sie mit Pfeiffer gesprochen? Hat sie irgendwas gesagt?“

„Nein, er war im Gebäude und sie auf der Straße, die beiden hatten nur Blickkontakt. Pfeiffer sagt, der Täter habe ‘nachgeholfen‘ und daraufhin hätte er Marias Gesicht erkannt.
Pfeiffers Widerstand kippte in dem Moment um. Er versprach, das Video hochzuladen, verhaspelte sich dann aber beim Prozess und…“

Dennis Kosmann zögerte.

„Er hat es nicht rechtzeitig geschafft.“

Die darauffolgende Stille fühlte sich kalt und schwer an.

Kosmann sprach etwas stockend weiter: „Pfeiffer hat unter Weinkrämpfen beteuert, dass er nur noch eine weitere Sekunde gebraucht hätte, nur noch eine. Er hörte noch, wie der Täter ihm vorwarf, Journalisten würden nur aus Eigennutz handeln und den Menschen nicht helfen wollen. Es sei denn, man zwinge sie dazu. Danach hat Pfeiffer das Handy fallengelassen.

Das letzte, was ich aus ihm noch herausbekommen habe, war, dass der Täter scheinbar bereit war, mindestens seinen Namen zu nennen – nachdem das Video hochgeladen wurde.“

Kosmanns Stimme klang verbittert als er sagte: „Als ich Pfeiffers Telefon sichergestellt habe, war das Gespräch beendet.“

Rabenhof stöhnte und ließ seinen Oberkörper schwer gegen die Lehne seines Bürostuhls fallen. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. In diesem Augenblick fühlte er sich unfassbar müde. Und er hasste seinen Job. In Momenten wie diesem hasste, hasste, hasste er seinen Job! Dann stutzte er.

„Warum hat Pfeiffer ein Tastentelefon? Wer benutzt sowas noch?“

Am anderen Ende der Leitung gab es ein kurzes, offensichtlich verblüfftes Schweigen.

„Das werde ich in Erfahrung bringen. Als nächstes befrage ich den Chefredakteur Anders. Ich melde mich wieder.“ Damit legte Kosmann auf.

Rabenhof rief bei den Kollegen der Informations- und Kommunikationstechnik an und gab Handynummer, E-Mail-Adresse und den Cloud-Anbieter weiter. Den kompletten Link zur Cloudplattform würden sie später von Kosmann kriegen. Er hoffte, dass die Computer-Fuzzis schnell Ergebnisse liefern würden.

Dann besann er sich auf das, was er soeben gehört hatte.

Der Täter war derselbe, der auch beim ersten Tatort dabei gewesen war. Er hatte das Videomaterial des ersten Selbstmords auf einer Cloud-Plattform hochgeladen und dann einen Journalisten gezwungen, dieses Video zu veröffentlichen und zu verbreiten.

Die Zeit zu handeln war denkbar knapp bemessen, aber es war nicht unmöglich gewesen, die Forderung in der genannten Zeit umzusetzen.
Mhm, genau wie bei Berger. Eine Forderung, die theoretisch zu erfüllen gewesen wäre. Aber dennoch das sichere Gefühl, dass ein Scheitern sehr wahrscheinlich und damit definitiv beabsichtigt war…

Das zweite Opfer war eine Frau mittleren Alters. Eine Verbindung zu dem Journalisten lag eindeutig vor – sogar eine enge Verbindung. Ein Kind. Bedrohte man ihr Kind? Hatte auch sie sich deswegen – ohne zu zögern – in den Kopf geschossen?

Alarmiert rief Rabenhof seinen Vorgesetzten, Polizeihauptkommissar Lebrandt an und teilte ihm die Befürchtung mit, dass unter Umständen die Familie des ersten Opfers und das Kind des zweiten Opfers in Gefahr seien.
Lebrandt reagierte sofort: Er würde der Kriminaltechnik Beine machen, die Identität des ersten Opfers musste unbedingt schnellstmöglich festgestellt werden. Für das Kind schickte er ein paar Leute vom Schutz zu der Adresse von Maria Gauber.
Ein wenig beruhigt beendete Rabenhof das Gespräch.

Bei der zweiten Tat war das Ziel Christian Pfeiffer gewesen. Journalist. Definitiv geeignet für die Aufgabe, das Video zu verbreiten.

Rabenhof war überzeugt, dass Pfeiffer absichtlich ausgewählt wurde. Der Täter musste die privaten Handynummern von Pfeiffer und Gauber im Voraus ermittelt haben. Aber warum? Wer war Pfeiffer? Er brauchte mehr Informationen über den Mann.

Die beiden Opfer hatten keine erkennbare Beziehung zueinander, noch konnte man von ähnlichen Merkmalen sprechen. Ein Mann weit über fünfzig, keinerlei Beziehung zu Berger, mit ungeklärter Identität. Eine Frau, um die fünfundvierzig, direkte Beziehung zu Pfeiffer.

Nein, er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass er sich hierbei eher auf die Ziele konzentrieren musste. Berger und Pfeiffer. Was hatten sie gemeinsam?

Beide waren männlich, weiß, deutsch, hatten sogenannte respektable Berufe. Berger war fast sechzig, wie alt war Pfeiffer? Näherte sich sein Alter dem seiner Lebensgefährtin an?
Berger war wohlhabend, scheinbar hatte er sein Geld aber ehrlich erwirtschaftet. Das musste aber noch überprüft werden. Hatte Berger etwas zu verbergen? Und wie sah es mit Pfeiffer aus? Wie war es um seine Finanzen bestellt?

Das Vorgehen der Taten war bei beiden Fällen ähnlich: Überstürzte Kontaktaufnahme zu den Zielen, Drohung, Zeitdruck, das Scheitern beinahe fest eingeplant.
Berger war noch mit dem Tod eines Fremden erpresst worden, Pfeiffer bereits mit dem Tod einer nahestehenden Angehörigen.

Rabenhof griff erneut zum Telefon und fragte nach einer möglicherweise vorhandenen Akte von Christian Pfeiffer. Er war ziemlich sicher, dass eine existierte – Pfeiffer war Journalist. Bestimmt hatte die Polizei schon mit ihm zu tun gehabt.

Inzwischen konnte das Tatmotiv „Habgier“ und „Räuberische Erpressung“ Rabenhofs Meinung nach ausgeschlossen werden. Zehntausend Euro hätten viel leichter und unauffälliger von jemand Reicherem als Berger eingefordert werden können. Mehr sogar, wenn ein Reicher mit dem Leben eines Familienmitglieds erpresst worden wäre. Und dazu noch das Video, das so offensichtlich den vermeintlich schändlichen Kapitalisten-Charakter Bergers offenbaren sollte.

Der Kommissar spielte noch einmal das Video ab. Sie haben ihn umgebracht! Sie Kapitalist!
Etwas ähnliches hatte doch auch Pfeiffer berichtet? Eigennutz und mangelnde Hilfe gegenüber der Bevölkerung, es sei denn, man wende Zwang an.
Das hier war eine Botschaft.

Sollte das das Motiv sein? Radikaler Idealismus? Terrorismus? Eine Anprangerung bestehender gesellschaftlicher Strukturen? Rechts- oder linksextrem?
Aber warum nur zehntausend Euro fordern? Sollte die Schwelle niedrig genug sein, dass sie in den sozialen Netzen Empörung auslösen sollte? Zehntausend Euro für ein Menschenleben…

Rabenhof war ziemlich sicher, dass jeder vernünftige Mensch diese Forderung abgelehnt hätte. Er selbst hätte es bestimmt abgelehnt. Wer rechnet damit, dass eine solche Erpressung echt sein würde? Dass einem selbst so etwas passieren würde?

Das Telefon klingelte erneut, Kosmann hatte die gewünschten Informationen: „Pfeiffer ist siebenundvierzig Jahre alt und arbeitet seit sechzehn Jahren beim "Frankfurter Generalanzeiger“. Vor knapp fünf Monaten hat er sich mit einem anderen Redakteur überworfen. Anders hat ihn dann in die Online-Redaktion versetzt. Für Pfeiffer eine Degradierung, laut Anders ist Pfeiffer kein bisschen technikaffin. Daher auch so ein Backstein als Privatgerät. Wahrscheinlich hatte er deswegen solche Probleme beim Upload des Videos. Keine Ahnung davon, wie man sowas macht…“

Kosmann redete noch weiter, aber Rabenhof hörte nicht mehr zu.

Pfeiffer wurde ausgewählt, ein Video auf Social Media hochzuladen, obwohl er kein technisches Know-How mitbrachte. Warum war er dann ausgewählt worden? Wäre nicht einer seiner jüngeren, technikbegeisterten Kollegen die bessere Wahl gewesen, wenn es um die Verbreitung der Nachricht ging? Sollte Pfeiffer scheitern? Sollte Maria Gauber um jeden Preis sterben, unabhängig von Pfeiffers Entscheidung?
Dazu noch Pfeiffers Alter… Berger und das erste Opfer waren im vergleichbaren Alter gewesen. Dazu Pfeiffer und das zweite Opfer. Ebenfalls vom Alter her nah beisammen.

Rabenhof wimmelte Kosmann ab; er würde die Zeugenaussagen lesen, sobald sein Kollege wieder im Büro war.
Was wäre passiert, wenn Berger die Tür gleich wieder geschlossen hätte? Oder wenn er und seine Frau bereits auf dem Weg zur Kirche gewesen wären? Hätte der alte Mann trotzdem sterben müssen? Hätten dann Täter und Opfer einfach bei jemand anderem geklingelt und diesem Jemand diese ungeheuerliche Forderung gestellt?
Was, wenn Pfeiffer nicht an sein Privathandy gegangen wäre? Einmal hatte er das Gespräch weggedrückt, wäre Maria auch dann gestorben, wenn Pfeiffer keine Chance gehabt hätte, sie zu retten? Oder wäre der schwarze Peter weitergereicht worden, an einen von Pfeiffers Kollegen? Hätte der Täter auch hier eine Geisel gehabt, die sich hätte erschießen können?

Mit einem Mal hatte Rabenhof ein ganz eigentümliches Gefühl; als ob er das alles schonmal erlebt hätte. Aber das war unmöglich; so einen Fall hatte er noch nie gehabt –er würde sich erinnern… Fast kam ihm das Ganze wie ein Spiel vor; ein krankes, verrücktes, widerliches Spiel. Der Täter wollte allem Anschein nach ein Spiel spielen. Und offensichtlich war es nicht gewollt, dass seine Gegner ihre jeweiligen Runden gewannen…

Der Kommissar rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte das schreckliche Gefühl, eine Uhr ticken zu hören, die unbarmherzig die Sekunden bis zur nächsten Tat herunterzählte.

Die Wahrscheinlichkeit, dass es vorbei war, ging gegen Null. Der Täter hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Das Video war von der Plattform gelöscht worden, aber die Nachricht war deutlich:
Mit Berger hatte es einen Angriff auf die deutsche Bevölkerung, oder besser – das Bürgertum – gegeben.
Mit Pfeiffer einen Angriff auf die deutsche Presse.
Das nächste logische Ziel wäre die deutsche Sicherheit: Bundeswehr… oder Polizei.

Rabenhof zuckte zusammen, als es erneut klingelte. Dieses Mal kam das Klingeln aus seiner Jackentasche.

Pfeiffer grabschte nach dem Handy, warf dabei die Tasse um, braune Brühe ergoss sich über den Rand seines Schreibtischs.
„Hallo!“, schrie er verzweifelt ins Telefon. Dann hörte er einen zweiten Schuss. Die Stimme war verstummt. Schreien, aufgeregte Rufe, das Wort Notarzt rauschten aus dem Handy.
Mit dem umklammerten Telefon war er inzwischen aufgesprungen, wischte an dem sich beschlagenden Fenster herum und versuchte unten auf der Straße etwas auszumachen.
Kein roter Mantel, keine Maria, war weit und breit zu sehen.
Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Scheiß-Magnus, verfluchte sein Hirn verzweifelt. Er sprintete, sinnlose Hallo-Hallos in den Hörer brüllend, durch den verdammten Co-Working-Space, stieß sich die Hüfte an einer Schreibtischkante, durchquerte die Gänge der Redaktion. Er riss die Tür zum Treppenhaus auf. Der Aufzug steckte anscheinend einige Stockwerke über ihm.
Er nahm die Treppe, fast stürzte er, jagte an den Glastüren der anderen Großraumbüros vorbei, die Stufen hinunter bis er im Erdgeschoss angelangt war.
Mit nervtötender Langsamkeit schoben sich die Milchglasscheiben automatisch auseinander und gaben den Ausgang frei.
Er stand auf der Straße. Er sah nichts. Dort, wo eben noch Maria gestanden hatte, war nichts.

Doch genau gegenüber auf dem diesseitigen Bürgersteig stand ein Pulk von Menschen über etwas gebeugt. Er rannte, spürte, dass er hinkte. Egal. Er riss einen älteren Mann auf Seite und sah den roten Mantel.
„Maria!“, schrie er, „Maria!“ Sie kniete vor dem seltsam verdrehten Körper eines Mannes, der vor ihr auf dem Boden lag. Der Mann trug Jeans und einer Art Lederjacke und lag auf dem Bauch. Um seinen Kopf hatte sich eine Blutlache gebildet.

Maria flüsterte etwas, das er in dem Tumult nicht verstehen konnte und bekreuzigte sich andauernd.

Aus der Ferne war ein Martinshorn zu hören.

Seit wann ist Maria religiös?, schoss es ihm durch den Kopf. Er packte sie am Arm, riss sie hoch. „Komm, Maria! Komm! Schnell weg hier!“

Er zerrte sie aus der Menschengruppe hinter sich her und zog sie hinter die Eingangstür des Betonbaus, in dem sich das Online-Büro befand. Sie sah verwirrt aus, bekreuzigte sich wieder.
Der Aufzug hielt summend. Ein paar Leute aus anderen Büros ergossen sich aus dem Aufzug und rannten neugierig auf die Straße. Manche starrten auf Displays in ihren Händen, dann wieder zu Maria hinüber.
Er schob sie in den entleerten Aufzug, zögerte kurz, drückte dann die 14. Etage. In der Redaktion würde immer noch niemand sein, es war ja Sonntag.

Immer noch außer Atem lehnte sie sich in seinem Büro an die Wand.
„Ich konnte es nicht“, sagte sie leise. „Aber nun ist er tot. Ich bin schuldig geworden.“

Er ließ sie kurz stehen, hastete zu dem Schreibtisch am Fenster. Zitternd flogen seine Finger über die Tastatur und fuhren den Rechner herunter. Er hastete mit dem Kaffeebecher in die Küche und warf ihn in die kleine Office-Geschirrspülmaschine neben dem Spülbecken. Ebenso verfuhr er mit dem Filter und Glasbehälter der Kaffeemaschine. Er konnte nicht klar denken.
Wäre es besser den Aufenthalt in der Redaktion möglichst spurenarm zu halten sollte oder war das angesichts der schrecklichen Geschehnisse und der Tatsache, dass leicht nachzuvollziehen wäre, dass und wann er an dem Computerplatz am Bildschirm gesessen hatte, sowieso egal.

Er konnte nur denken, dass er Maria wegbringen musste. Irgendwohin.
Er schnappte sich seine Jacke, die er über den Bürostuhl gehängt hatte. Er tastete nach den Autoschlüsseln.
Okay, das war das Wichtigste.
Fast im Vorübergehen packte er Maria wieder am Arm. „Zieh den roten Mantel aus. Du fällst sonst zu sehr auf“, sagte er leise. Sie gehorchte wie in Trance. Er legte ihr seine braune Cordjacke, Baujahr 1978 um die Schultern.

Er hatte sich ihren Mantel mit dem Innenfutter nach außen über den Arm gelegt, spürte in der Manteltasche die Pistole. Fragend sah er Maria an.
Vorsichtig zog er die Waffe heraus und legte sie in seine Umhängetasche aus hellem Leder mit Schnallenverschluss.
„Muss man die sichern?“, fragte er. Er hatte noch nie eine Knarre von Nahem gesehen. Den Wehrdienst hatte er verweigert.
„Schon passiert.“ Es war das erste Mal, dass sie seit dem schrecklichen Geschehen kurz lächelte.

Sie schien sich langsam zu fangen und rannte bereits den ersten Absatz der endlosen Treppen hinunter.
„Tiefgarage!“, rief er leise, als er ihr hinterher eilte.

Die Gefahr, dass jemand das Treppenhaus hochächzte war geringer, als dass sie jemanden im Aufzug treffen würden.

In der Tiefgarage stand sein alter Ford-Kombi. Er warf ihren roten Mantel auf den Rücksitz. „Bitte Alter“, flüsterte er, „spring an.“
Er sprang an.
Und um nicht aufzufallen, fuhr Pfeiffer in gemäßigtem Tempo aus der Tiefgarage hinaus, bog in die Straße ein. Sie würden an der Menschenmenge und den Polizei- und Krankenwagen vorbeifahren müssen. Nur nicht auffallen, dachte er, während er seinen Herzschlag in der Schlüsselbeingrube spürte.

Erleichtert atmete er auf, als sie den Tatort passiert hatten. Er blickte Maria von der Seite an. Auch sie schien ruhiger. Sie murmelte etwas vor sich hin, ihre Finger bewegten sich, bewegten eine Kette mit Perlen. Er erschrak fast, als er erkannte, dass es ein Rosenkranz war.
„Alles okay?“, fragte er und versuchte sich auf den Straßenverkehr zu konzentrieren.
„Ja klar“, sagte sie. „Und ich bin der Schwarzen Sara sehr dankbar.“
Er hatte sie kaum verstanden, so leise sprach sie.

Sie lächelte glücklich vor sich hin und ließ die Kette durch die Finger gleiten. „… Bitte für uns jetzt und in der Stunde unseres Todes …“, raunte sie.

„Es ist alles okay“, murmelte er zärtlich. Er legte kurz die Hand auf ihren Arm. Alles würde gut werden. Sie würden erstmal aufs Land fahren, zu seinen Eltern. Da wären sie in Sicherheit.

Schließlich blickte sie auf, sah ihn an.
„Ich bin so froh, Christian.“
„Ich auch.“ Er atmete durch.
„Ich meine, weil“, sie zögerte, „ich bin keine Mörderin. Er hat überlebt. Ich habe im Vorbeifahren gesehen, dass sie ihm Infusionen angehängt haben.“

ufoufo

Wie es wa(h)r

Die Gespräche im Konferenzraum des Polizeireviers Eschersheim ebbten ruckartig ab, als Kerstin Klaar den Raum betrat. Martin Jäger war mit ihr bereits gestern, am Sonntag, bei den Eheleuten Berger zur Zeugenvernehmung gewesen. Vor einer Stunde waren die beiden von der Zeugenvernehmung bei Christian Pfeiffer, dem Journalisten, zurückgekehrt.

«Frau Dr. Klaar, nehmen Sie bitte Platz», wandte er sich an Kerstin Klaar und deutete auf den noch freien Platz am Tisch. «Darf ich die beiden Kollegen kurz vorstellen? Ludwig Carstens, geschätzter Kollege und mein Vorgänger als Leiter des Kommissariates und Sascha Springer, wie Sie ebenfalls neu hier.»

Kerstin Klaar schaute Martin Jäger an, der ihr direkt gegenüber saß und erwiderte das kurze Nicken der neuen Kollegen, die an den Längsseiten des rechteckigen Tisches links und rechts von ihr Platz genommen hatten.

«Vielen Dank», sagte sie und nickte den dreien zu. «Wenn ich mich als Neue kurz vorstellen darf. Ich heiße Kerstin Klaar, den Doktor lassen Sie bitte einfach weg. Ich freue mich, das Team unterstützen zu dürfen mit einem vielleicht etwas anderen Blick auf die jetzigen und zukünftigen Fälle.»

«Anderer Blick?», da bin ich aber neugierig, was das sein soll, erwiderte Sascha Springer und lächelte. «Und ich erst», sagte Ludwig Carstens und verdrehte die Augen. «Womit wir beim Thema wären», sagte Martin Jäger in die Runde. «Frau Dr…ich meine Frau Klaar, darf ich Sie bitten, die bisherigen Erkenntnisse einmal aus Ihrer Sicht darzustellen.»

«Sehr gerne. Fangen wir mit den Gemeinsamkeiten der beiden Fälle an.
Erstens: Der junge Mann, der das Video des vermeintlichen Suizids bei den Bergers aufgenommen hat, ist wahrscheinlich derselbe, der bei Herrn Pfeiffer angerufen hat. Zweitens: Es gibt nach Zeugenaussagen jeweils einen Toten, den älteren Graubärtigen bei den Bergers und Maria.
Drittens: Die vermeintlichen Leichen. Das Video zeigt zwar einen Suizid, aber wir haben nur eine Blutlache vor dem Haus, keine Leiche. Gibt es mittlerweile Neues hinsichtlich des Blutes, Herr Jäger?» Er schüttelte den Kopf.
«Okay, dann zum Verschwinden der anderen vermeintlichen Leiche. Von der wissen wir nicht, ob es ein Suizid oder ein Mord war. Wichtiger, wir wissen auch nicht, ob Maria überhaupt tot ist oder nur verwundet.»
«Oder gar nicht getroffen wurde», ergänzte Martin Jäger. «Christian Pfeiffer hat nur berichtet, dass er einen Schuss gehört habe, nicht jedoch, dass er gesehen habe, dass Maria Pfeiffer erschossen wurde. Er hat dies nur angenommen, in der Aufregung aber gar nicht aus dem Fenster geschaut. Er sagte, er habe nach dem ersten Schock die Polizei verständigt. Als er danach aus dem Fenster schaute, sei die Leiche nicht zu sehen gewesen.»

«Was soll dieses andauernde ‚vermeintlich‘ in Ihren Ausführungen Frau Dr. Klaar? Ist das der andere Blick, den Sie versprochen haben? Psychoquatsch!». Ludwig Carstens schüttelte vehement den Kopf. «Wissen Sie, Frau Dr. Klaar, ich habe über vierzig Jahre Berufserfahrung und keine Lust, mir so etwas im letzten Jahr vor dem Ruhestand anzuhören. Tut mir leid, aber ich bin manchmal etwas direkt.»

«Sehr gut!», antwortete Kerstin Klaar. «Das bin ich auch. Lassen wir uns also sehr direkt sagen, was wir denken. Ich denke, dass wir derzeit weder wissen, ob es überhaupt eine oder gar zwei Leichen gibt; wir wissen auch nicht, ob das Video echt ist und einen Suizid zeigt.»

«Sie haben was vergessen», sagte Ludwig Carstens mit einem Grinsen. «Das viele Blut nach dem Suizid vor dem Haus der Berger.»
«Danke, Herr Carstens, ich darf noch ergänzen, dass wir ebenfalls nicht wissen, von wem das Blut stammt.»

Bevor Ludwig Carstens zu einer direkten Antwort ausholen konnte, erhob Martin Jäger die Stimme. «Frau Klaar, wenn wir Ihren Worten zufolge nichts wissen, was wissen wir denn dann? Vielleicht teilen Sie dies auch einmal mit uns?»

«Gerne, ich gehe davon aus, dass sowohl die Berger Eheleute als auch der Journalist der FGZ.NET nicht die Wahrheit gesagt haben. Sie haben jedoch auch nicht gelogen. Sie haben ihre jeweiligen Aussagen aus dem Gedächtnis rekapituliert. Und das entsprach mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht den Tatsachen.»

«Martin, es ist 15:30 Uhr, noch zu früh für einen Schnaps, oder?», sagte Herr Carstens mit einem verzweifelten Blick in Richtung Martin Jäger. Von Sascha Springer war nur noch der Hinterkopf zu sehen, er schien etwas auf dem Boden zu suchen.

«Okay, ich verstehe, dass dies wirr klingt. Lassen Sie mich es kurz entwirren, so dass wir mit dem Schnaps noch etwas warten können. Also, mein Fach heißt Psychologie und nicht Logiepscho. Dies deshalb, weil bei Menschen die Psyche die Logik bestimmt und nicht umgekehrt. Sie kennen besser als ich die Zeugenaussagen, wo nach Unfällen nach der Farbe von PKW gefragt wird und sich jeder sicher ist, dass das gesehene Auto grün, rot, schwarz oder sonst eine Farbe hatte. Tatsächlich war es jedoch blau. Haben diese Zeugen gelogen? Nein, sie haben aus ihrem Gedächtnis gesagt, welche Farbe es hatte.» Sie sah ein zaghaftes Nicken bei den Anwesenden.
«Gut. Menschen erinnern sich jedoch auch an Dinge, die gar nicht passiert sind. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass wir recht leicht dazu gebracht werden können, uns z.B. an ein Verirren im Wald bei einem Spaziergang mit den Eltern zu erinnern als wir im Kindesalter waren. Es muss uns nur von mehreren Personen glaubhaft erzählt werden. Wir erinnern uns dann an etwas, das real so nie stattgefunden hat.»

«Nehmen wir einmal an, es stimmt, was Sie uns erzählen», unterbrach Martin Jäger an dieser Stelle. «Ich verstehe noch nicht, was das mit unseren beiden Fällen zu tun hat.»

«Sehr viel. Denn in beiden Fällen waren die Beteiligten, die Bergers und Herr Pfeiffer, einer hochgradig emotional gelagerten Stresssituation ausgesetzt. Richard Berger hat das gesagt, was sein Gedächtnis ihm in diesem Moment erlaubt hat, es war gefärbt in der Situation. Er hat das gesagt, was er für wahr hält, wahrscheinlich jedoch nicht die objektive Wahrheit. Wo ist denn z.B. die Leiche geblieben? Was ist mit dem Video? Zeigt das Video den Suizid, oder ist es manipuliert? Gibt es vielleicht sogar zwei verschiedene Videos von der Szene vor dem Haus?
Herr Pfeiffer stand auch bei der Zeugenbefragung noch vollkommen neben sich. Er habe den Schuss am Telefon gehört, berichtete er, aber die Leiche von Maria oder eine vom Schuss getroffene und kollabierende Maria hat er nicht gesehen. Er sagte jedoch voller Überzeugung, dass sie erschossen wurde. Wo ist in diesem Fall die Leiche?»

«Sie behaupten also, dass wir uns einerseits an für uns wichtige Dinge erinnern. Andererseits, das ist ja komplett verrückt, behaupten Sie, dass wir quasi Erinnerungen erfinden, oder wie?», sagte Sascha Springer, der mittlerweile fast gerade auf seinem Stuhl saß.
«Ja, es sind nicht meine Behauptungen, sondern Ergebnisse aus der Gedächtnisforschung. Sie haben es auf den Punkt gebracht, Herr Springer. Wir nennen dies in der Psychologie das rekonstruktive und das konstruktive Gedächtnis. Unser Gedächtnis spielt uns quasi einen Streich. Es konstruiert eine Einbildung, die wir für eine Erinnerung halten.»

Ein anerkennender Blick von Herrn Jäger in Richtung Herrn Springer bewirkte, dass jener nunmehr kerzengerade saß.

«Mein Gedächtnis sagt mir jedoch, dass ich mich an keine Selbstmorde erinnern kann, die so überzeugend im Video festgehalten wurden. Und ich erinnere auch noch mal an das Blut auf dem Gehweg bei den Bergers. Ich danke Ihnen für Ihren anderen Blick auf die Geschehnisse, doch ich halte es im Moment für eine Theorie, obwohl ich auch gerne zugebe, dass Sie mich ins Nachdenken gebracht haben.»

«Ich habe nur deshalb in meinen Erklärungen etwas ausgeholt, damit wir es uns nicht zu einfach machen und nur in Richtung Selbstmord und Mord denken und agieren, sondern ebenfalls alle anderen denkbaren Lösungswege in Betracht ziehen.»

«Na, dann ziehen Sie mal schön…», resümierte Herr Carstens und wollte gerade aufstehen, als das Konferenztelefon schellte.
«Das ist Lucia, die Medizinerin», sagte Martin Jäger nach kurzem Blick auf das Display. «Ich gehe mal ran, vielleicht zur Abwechslung mal was Praktisches.» Er nahm das Gespräch an. «Hallo Lucia, Du bist auf laut. Wir sitzen hier…».
«Ja, Martin, ich habe gehört, dass ihr alle zusammensitzt», unterbrach sie ihn. «Dr. Lucia Graven hier, für die, die mich noch nicht kennen. Ich habe soeben die Blutuntersuchungssergebnisse des Suizidenten erhalten. Na ja, wahrscheinlich hat jemand nachgeholfen, denn es handelt sich eindeutig um Blut von einem Schwein, nicht um Menschenblut.»

Martin Jäger beendete das Gespräch, ohne sich zu bedanken oder Tschüss zu sagen. Wenn Ludwig Carstens keine Stirnglatze hätte, würden seine Augenbrauen seine Haare in diesem Augenblick fast berühren. Kerstin Klaar zeigte keine Regung, machte sich nur eine Notiz in ihren Unterlagen. Nur Sascha Springer räusperte sich und sagte. «Ich habe bisher wenig gesagt, da ich noch nicht so erfahren bin. Aber ich habe mir das Video ich weiß nicht wie oft angeschaut. In der Ausbildung haben sie immer gesagt, dass man immer wieder andere Details sieht. Tja, ich glaube, dass ich im Video von dem Suizid bei den Bergers für einen kurzen Moment in der Spiegelung einer Fensterscheibe eine Frau am Gartentor gesehen habe. Hatte Herr Pfeiffer nicht gesagt, dass er Maria am roten Mantel erkannt habe?»

«Ein Schnaps wäre jetzt nicht schlecht. Was denken Sie, Herr Carstens? Holen Sie uns einen?», beendete Kerstin Klaar die eingetretene Stille.

„Herr Pfeiffer, bitte, ich will Sie nicht unnötig quälen, aber wir haben es offensichtlich mit einem brandgefährlichen Serientäter zu tun. Ich brauche Ihre Hilfe.“
Mordkommissarin Marion Wesps Blick fing sich an den zitternden Händen des Mannes, der vor nicht einmal einer Stunde den Selbstmord seiner Verlobten nicht verhindern konnte. Es roch nach kaltem Kaffee. Kein Wunder, der halbe Schreibtisch und ein Notizblock waren mit schwarzer Brühe bekleckert. Die Männer von der Spurensicherung hatten Pfeiffers Handy mitten aus diesem dunklen Fleck gefischt.
„Sie müssen mir alles erzählen, woran Sie sich erinnern. Sie sind doch ein sehr guter Beobachter, sonst wären Sie nicht so erfolgreich in ihrem Beruf.“ Marion übertrieb keineswegs. Auf der Fahrt zum Tatort hatte sie den Namen des Zeugen überprüft. Journalist des Jahres. War zwar schon einige Zeit her, aber mit dem Alter sammelte man höchstens an Erfahrung. „Was könnte ihre Verlobte zu dieser Wahnsinnstat getrieben haben? War sie erpressbar? Hatte sie Kinder? Enkelkinder?“
Christian Pfeiffer schloss schnaubend die Augen. Nicht nur seine Finger zitterten. Ein leichtes Beben ging durch die hängenden Mundwinkel und setzte sich in der Stimme fort. „Nein. Maria hat kaum Familie. Ihr Vater ist dement in einem Pflegeheim, ihre Mutter ist letztes Jahr gestorben. Ein paar Cousinen, aber nicht hier in der Stadt. Sie ist … war ein Einzelkind. Viele Jahre auf der ganzen Welt als Fotomodell unterwegs. Da bleibt wenig Zeit für Familie und Freunde.“ Er senkte den Kopf. „Wir kannten uns schon als Teenager, hatten uns aber aus den Augen verloren und erst vor einem halben Jahr wieder getroffen. Mein Gott, sie war immer meine große Liebe und ich konnte es erst gar nicht glauben, dass mir so ein riesen Glück wiederfahren sollte. Wir wollten so vieles nachholen, wovon unsere Karrieren uns immer abgehalten hatten. Uns eine Reetdachkate an der Nordsee herrichten und dort den ganzen Wahnsinn hinter uns lassen.“ Er sprach mit leisen Worten. Mehr zu sich selbst.
„Von welchem Wahnsinn genau sprechen sie, Herr Pfeiffer?“
„Lesen Sie keine Zeitungen? Hören sie keine Nachrichten? WK 3? Ich bin mein ganzes Leben lang Pazifist. Aber jetzt hat sogar meine Partei ihre Werte verloren. Pumpt die Ukraine voll mit Waffen. Ich zähle die Tage bis ich endlich in Rente gehen kann und weg komme aus diesem Sumpf aus Korruption.“
Marion verglich fieberhaft, ob sie etwas ausmachen konnte, was Herrn Berger und Herrn Pfeiffer verband. Der eine, ein braver Kirchgeher und Kleinunternehmer. Der andere, mit allen Wassern gewaschen, bewaffnet mit einem scharfen Verstand und einer spitzen Feder. Nicht gerade Typen, die sie selbst als Kapitalisten eingestuft hätte, geschweige denn als Ausbeuter. Doch genau so hatte angeblich der junge Mann Herrn Berger geheißen, kurz nachdem sich sein Begleiter den halben Kopf weggeschossen hatte. Sie sah aus dem Fenster, um das Bild in ihrem Kopf zu vertreiben. Die untergehende Wintersonne verströmte ihr Blut in die Frankfurter Skyline und war nicht hilfreich.
„Der Mann am Telefon. Hat er Sie nach dem tödlichen Schuss beschimpft? Irgendeine Begründung für sein Handeln genannt?“
„Beschimpft?“ Pfeiffer schloss mit zusammengezogenen Brauen die Augen. Dann schüttelte er leicht den Kopf. „Er sagte, wir Journalisten kümmern uns nicht um die Menschen.“ Er zögerte kurz. „So Unrecht hat er damit gar nicht. Allerdings sah ich das auch nie als meine Aufgabe. Kein Reporter tut das. Die Story muss gut sein. Kümmert sich vielleicht ein Stephen King um die Menschen? Wir sind doch auch nur Schreiberlinge, die zu wenig Fantasie haben um uns eigene Geschichten auszudenken.“
Marion fand, der Mann war zu streng zu sich selbst und sagte ihm das auch. „Was ist mit den Umweltreportern? Journalisten die Tierleid aufdecken?“
„Und trotzdem ist es nur ein Job, wie jeder andere auch. Glauben sie, eine Verkäuferin im Supermarkt kümmert sich dort um die Menschen? Sie arbeitet, um sich die Wohnung, Essen, Weihnachtsgeschenke für die Kinder leisten zu können. Was will dieser Wahnsinnige?“ Pfeiffer sah Marion eindringlich in die Augen.
„Es ist ein Krimineller. Möglicherweise ein Psychopath. Ihre Verlobte Maria war sein Opfer. Ich verspreche Ihnen, wir finden den Mörder. Was immer der Grund war, der Ihre zukünftige Frau so weit getrieben hat, keinen anderen Ausweg mehr erkennen zu können, als sich das Leben zu nehmen. Ich werde es herausfinden.“
Marion las eine Nachricht auf ihrem Handy. „Meine Kollegen haben dieses Video das Sie gezwungen wurden hochzuladen, gelöscht. Wo es der Täter noch versuchen wird, wissen wir nicht.“
„Meinen Sie, er könnte es noch bei weiteren Online-Magazinen versuchen?“, schockiert riss Pfeiffer die Augen auf. „Ich habe einige Kontakte, sollte ich die Kollegen warnen?“
Marion überlegte. War es hilfreich, oder würde es zu einer Panik kommen? Der Mann wird sicher nicht mit derselben Nummer anrufen. Außerdem hatte er schon einmal persönlich an der Haustür eines Opfers geklingelt. Andererseits, Pfeiffer brauchte eine Beschäftigung, die ihn von seinem Schmerz ablenken würde. „Es gäbe da schon etwas, das Sie tun könnten, Herr Pfeiffer. Kennen Sie zufällig den Film „Der Manchurian Kandidat“?“

Seitenwind 2024
Andreas Eschbachs »Zehntausendeuro« (Teil 1)
@montypillepalle mit »Der Journalist« Fortsetzung (Teil 2)
Gitti Weiss »Der Bankdirektor« Fortsetzung (Teil 3)
Ein Beben ging durch Pfeiffers Körper. Er schlug die Hände vors Gesicht und stam-
melte: „Maria, geliebte Maria! Das ist nur passiert, weil ich zu langsam war.“
Er presste sein Gesicht gegen die Fensterscheibe und wagte einen Blick nach unten,
in der Hoffnung, Maria würde nicht tot am Boden liegen, sondern leben und zu ihm
hinaufwinken. Dort, wo eben der Schuss gefallen war, hatte sich eine breite Men-
schenschar gebildet. Jetzt drangen unheilvolle Worte, die mit kreischender Stimme
hinausgerufen wurden, bis zu ihm hinauf:
„Zwei haben sich schon erschossen. Der Dritte wird nicht ausbleiben. Jeder von uns
könnte es sein, es sei denn, er gibt das her, was der andere braucht.“
Unmittelbar danach zuckte Pfeiffer zusammen, da sein Handy klingelte. Er spähte
auf das Display und erkannte die Nummer seines besten Freundes Johannes
Gruber. So nahm er das Gespräch an. Seine Stimme klang schwermütig, als er ihn
begrüßte:
„Hi Johannes, gut dass Du anrufst. Es ist etwas Fürchterliches passiert.“
„Ich weiß, gab Gruber zurück und erklärte: „Ich saß gerade in dem Café auf der
gegenüberliegenden Seite, als der Schuss fiel. Können wir uns treffen?“
„Du könntest zu mir in die Redaktion kommen.“, schlug Christian Pfeiffer vor.
„Das würde ich gerne machen. Ich werde da aber kaum durchkommen. Die Straße
ist abgesperrt und überall wimmelt es von Polizei und neugierigen Gaffern.“, sprach
Johannes Gruber.
„Ja, klar, da kommst Du nicht durch. Du musst einen Umweg über die Ulmenstraße
machen und am Hintereingang hereinkommen.“, antwortete Christian. „Ruf mich an,
wenn Du da bist. Ich komm dann runter und mach Dir auf.“
„Alles klar“, sagte Johannes, bevor er das Gespräch beendete. Kurz danach machte
er sich auf den Weg zur Ulmenstraße.
Kurz am Ende der Straße befand sich linksseitig eine internationale Bank, in der man
Kryptowährungen in Bargeld umwandeln konnte. Er betrat den Vorraum, in dem es
mehrere Automaten für die unterschiedlichsten Bankgeschäfte gab. Gruber fand das
für seine Zwecke geeignete Gerät, links in der Ecke vor dem Schaltereingang. Er
schaute durch die Scheibe und wunderte sich, dass am Sonntag Personal im
Gebäude war. „Ach da geh ich doch am besten rein und lass mich beraten,“ mur-
melte er vor sich hin. Doch die Tür war verschlossen. Als er nochmal durch die
Scheibe schaute, bemerkte er erschrocken, dass vor dem Schalter, ein junger Mann
eine Pistole auf den Herrn hinter dem Bankschalter richtete.
Eine innere Stimme sagte zu Gruber, geh, es könnte gefährlich für Dich werden.
Aber er blieb stehen und schaute weiterhin zu, was da geschah. Jetzt sah er, dass
der Mann mit der Waffe etwas kleines über den Tresen schob und mit lauter Stimme
befahl:
„Los, verehrter Bankdirektor, steck das sofort in den USB Anschluß deines Compu-
ters und schau dir das Video von Anfang bis zum Ende an.“
Der Bedrohte fragte, „warum? Was ist auf dem Video?“
„Stell keine Fragen, sondern schau!“, schrie der Unhold den Direktor an.
Der Bankdirektor nahm den Stick und steckte ihn in seinen Rechner. Was er nun zu
sehen bekam, stieg über seine Grenzen. Alles in ihm krampfte sich zusammen und
Angst stieg in ihm hoch.
Der schlimme Mensch mit der Waffe schrie ihn abermals an:
„Zwei haben sich schon erschossen. Du wirst der Dritte sein, wenn Du nicht sofort
10.000 Euro herausrückst.“
Der Bankchef versuchte, trotz seiner panischen Angst, Fassung zu bewahren. Doch
seine Hände zitterten so sehr, dass er es nicht schaffte, den kleinen Alarmknopf
unter dem Tresen zu drücken.
Inzwischen ging Johannes Gruber endlich hinaus und entfernte sich einige Meter von
dem Bankgebäude. Dann rief er mit seinem Handy die Polizei an. Zu spät! Ein ohren-
betäubender Schuss fiel just in dem Moment, nachdem der Polizeibeamte, welcher
den Anruf entgegennahm, ihn anwies, sich aus der Gefahrenzone zu begeben und
versicherte, dass eine Spezialeinheit umgehend vor Ort sein wird.

Aller guten Dinge sind drei

Herr Schneider lief den leeren Schulflur entlang. Schon wieder blieb der Schulleiter länger als alle anderen im Gebäude. Doch endlich ging er nach Hause zu seiner Familie. Es dunkelte bereits und seine Tochter wartete an der Bushaltestelle auf ihn, um sich den Fußweg zu sparen.
Sein Handy klingelte und er verlangsamte seinen Schritt, um sich die Nummer anzuschauen. Er dachte sich nichts bei den unbekannten Ziffern, denn ständig riefen Eltern oder das Schulamt an. Er war schon eher froh, dass es vor 18 Uhr geschah. »Schneider«, gab er zu erkennen, dass der Anrufer ihn erreicht hat. »Sie haben nicht viel Zeit für diese Entscheidung. Drei Minuten, um genau zu sein. Auf dem Schulhof steht ein Schüler von ihnen. Rick Mosberger trägt einen Sprengstoffgürtel. Er hält den Auslöser selbst in der Hand. Er verpasst sein Abitur an ihrer Schule wegen eines einzigen Punkts in Religion. Sie unterrichten ihn und ich hoffe, sie erinnern sich überhaupt an den Jungen. Geben sie ihm sechst Punkte statt der fünf, sonst bringt er sich auf dem Schulhof um.« »Sie belieben wohl zu scherzen. Aber davon mal ab, entstehen Noten ja nicht mit dem Würfel. Wenn er fünf Punkte erhalten hat, dann hat er fünf Punkte verdient. Sollte es fürs Abitur nicht reichen, hat er umso mehr bewiesen, dass ihm die allgemeine Hochschulreife nicht zusteht. Meine Güte, er kann in jedem Fach Punkte holen, in Religion ist es doch fast absurd, nur fünf Punkte zu schaffen. Wo ich jetzt weiter darüber nachdenke, hätte er sogar nur vier verdient.«
Die ohrenbetäubende Explosion erschütterte das altehrwürdige Gebäude, doch alles blieb intakt. Rick Mosberger stand so weit vom Haus entfernt, dass Herr Schneider alles sehen konnte, als er nach draußen blickte. Das Entsetzen stand ihm im Gesicht geschrieben. Kreidebleich erstarrte er für etliche Augenblicke. Ein wahr gewordener Albtraum, dass ein Schüler verstirbt. Noch dazu Selbstmord. Auf dem Schulgelände. Was wohl die Presse und die Schulaufsicht sagen wird.
»Sind Sie irre? Was ist hier passiert?«, stellte er entgeistert die Frage, die ihn umtrieb. »Es ist eingetreten, was ich sagte. Er würde sich umbringen, wenn Sie ihm das Abitur verwehren. Sie sind dermaßen überheblich und unmenschlich. Gerade in Ihrem Beruf – als Religionslehrer. Sie haben einen Jugendlichen umgebracht, wegen eines einzigen Punkts in Religion.« Es klickte digital, als der Anrufer das Gespräch unterbrach.
Die Explosion war natürlich in der Nachbarschaft gehört worden. Eine ganze Schar an Feuerwehrautos und Polizeiwagen drängte auf den Schulhof. Die Lichter und Sirenen durchbrachen die Dunkelheit auf allen Ebenen.

Erneut klingelte sein Smartphone.

M.E. Schwardt
Der Vollstrecker

Der Schuss hatte das Telefonat beendet. Pfeiffer musste das Gerät runter- gefallen sein, vielleicht war er auch nur verstummt. Hatte er bemerkt, dass der Schuss aus dem Telefon geklungen war? Das es der gedämpfte Schuss eines Präzi- sionsgewehrs.

Ein letzter Blick nach unten. Weit nach unten, wo die Frau in Rot und Rot auf dem Asphalt lag. Inmitten himmelhoher Wolkenkratzer und beschäftigter Menschen, die nicht mit dem Tod an einem herbstlichgoldenen Spätsommertag rechneten. Er nahm das Gewehr herunter und nahm es mit routinierten Griffen auseinander. Alle Teile fanden ihren Platz im Koffer. Dann erst nahm er das Smartphone vom Stativ. Eines dieser kleinen Dreibeine, die Influencer überall hin mitnahmen. Er stoppte die Videoaufnahme, schob das Telefon in die Tasche und nahm den Koffer auf. Zuletzt schloss er das Fenster. Dann verließ er die verlassene Büroetage. Auch mitten in dieser Milliarden Euro City existierten die Leere, die Armut und die Vergessenheit. Die Blindheit – wie Arnold Kliewer sie nannte. Sie schloss den Leuten im richtigen Moment die Augen. Ließ sie nicht sehen, was sie nicht sehen wollten, und ersparte ihnen den langen Weg des Vergessens.

Ihn nannte Kiewer den Vollstrecker. Zuerst war er sich damit falsch vorgekom- men wie ein kleiner Mann in einem zu großen Mantel. Doch mit aller Ehrlichkeit, die er erst in den letzten Tagen gefunden hatte, passte der Name ihm, mehr als sein eigener. Er war der Vollstrecker. Niemand sonst wohnte mehr in diesem Körper.

Seine Augen waren offen und seine Hände ruhig. Er war bereit und befand sich mittendrin. Der Vollstrecker nahm die Treppen. Er vertraute Aufzügen nicht. Auch das hatte eine Geschichte, aber sie gehörte der Vergangenheit. So wie sein Name. Er rannte. Die Stufen flogen unter ihm hinweg. Noradrenalin pumpte durch seine Venen. Die Furcht des Erfolges.

Draußen schien die Sonne. Ein leichter Wind wehte goldverfärbte Blätter von den Ästen, der aus ästethischen Gründen gepflanzten Bäumchen. Dünn und schick – wie die Menschen, die hier ihr Lebensziel erfüllten. Fucking Money.

Sein Wagen parkte in einem gigantischen Parkhaus. Er lebte erst kürzlich in Frankfurt. Am. Main. Die meisten Orte fand er nur mit Google Maps und vergaß sie direkt wieder. Doch das Parkhaus war so unübersehbar. Eine Festung aus Beton, dass er schon die Augen hätte schließen müssen, um daran vorbeizulaufen. Der Vollstrecker warf einen Blick auf sein privates Smartphone. Keine neue Nachricht. Doch auch nicht der Grund, warum er es nun entsperrte. Er rief die Bildergallarie auf und warf einen Blick auf das letzte Foto. Es war nur wenige Stunden alt und zeigte einen 69 Baujahr Chevrolet Impala in Jetblack, der neben einem Porsche Panamera stand. Daneben auf dem Beton eine leuchtende 4. Er rannte über die Fahrbahn, die Asphalt-Kurven bis in die 4. Etage. Dort erinnerte er sich natürlich, wo er geparkt hatte. Außerdem stach der Impala ausreichend hervor. Und er blieb stur dabei,

dieses Monstrum an Oldtimer zu fahren. So verräterisch auffällig der Wagen wirken mochte. Die Menschen sahen nur, was sie sehen wollten.

Die Sitzungen fanden in einem Seminarraum einer Fachhochschule statt. Ein viel zu offener Raum für die Worte, die im Raum fielen. Er parkte den Impala auf dem fast leeren Parkplatz vor dem unauffällig verputzten Gebäude und sprintete die Trep- pen in den dritten Stock hoch und hielt nur für einen Moment vor dem Raum. Neben der Zimmernummer 411 hing ein zerknittertes Poster: AA-Treffen. Immer sonntags 11 Uhr. Er atmete einmal tief aus, um seinen Herzschlag runterzufahren, dann klopfte er und trat ein. Der Raum war düster, da er sich auf der Nordseite des Gebäudes befand. In einem Kreis standen 14 Stühle. Außenrum befanden sich zur Seite geschobene Tische. Der Raum sah aus wie das umgeräumte Klassenzimmer, das er war und doch haftete ihm eine eigenartige Atmosphäre an. Fast wie der letzte Rest einer verglühten Kerze. Als hingen die Worte hier in der Luft, die den Raum nicht ver- lassen durften.

Er räumte den Koffer unter einen der Tische. Startete die Kaffeemaschine, deren Wassertank noch voll war. Er ekelte sich nicht ausreichend vor abgestan- denem Wasser, dass er es gewechselt hätte.
»Du bist schon da«, begrüßte ihn die hohe Stimme eines Mannes. Er klang stets, als hätte man ihm die Kraft aus den Stimmbändern geraubt. Wie jemand, dessen Kehl- kopf beschädigt war.

Er nickte.
»Ist das Video online?«
»Ja. Haben sei das nicht direkt geprüft?«, fragte der Vollstrecker und drehte

sich mit der dampfenden Tasse um.
Der Mann vor ihm war mittelgroß und hager. Seine Augen farblos und seine Wangen eingefallen. »Doch. Natürlich habe ich das längst.«

»Die Frau?«
»Tot.«
Arnold Kliewer sah seinem Vollstrecker stumm in die Augen. In ihnen stand

die Aufforderung, sich zu erklären und darüber hinaus die Gewissheit, ihn zu lenken, ihn zu führen. Ihn zu besitzen. Früher hätte ihn das gestört. Früher, als neben einem Pronomen auch noch ein Name gestanden hatte, der keine Funktionsbezeichnung war.

»Er war zu langsam. Und sie wäre eh gestorben.«

»Das wissen wir nicht. Vielleicht hätte sie auch ihr Ziel erreicht.«
Der Vollstrecker senkte den Kopf. Dann nickte er betreten. Er glaubte nicht daran. Und das war ein Problem.

»Du klingst überzeugend«, sagte Kliewer, als hätte er seinen Gedanken erraten und schüttelte mit einem Lächeln das Smartphone, das er aus seiner Kittel- tasche gezogen hatte. Das erste Video. Er sah aus wie ein Arzt im Irrenhaus. Dabei war er Psychoanalytiker und die trugen gar keine Kittel. Hinter Kliewer füllte sich der Raum mit abgehalfterten und vordergründig stabilen Gestalten. Menschen aus allen

Schichten, allen gesellschaftlichen Räumen und alle mit demselben Problem. Nicht, dass es ihr einziges gewesen wäre. Sie sprachen nicht miteinander. Manche lächel- ten einander scheu zu. Es war lauter gewesen vor drei Wochen. Bevor alles begonnen hatte. Arnold Kliewer nahm Platz. Sie folgten. Obwohl sie in einem Kreis saßen, hatte er immer den Eindruck, Kliewer saß zentraler, als hätte der Kreis doch eine Stirnseite – als säßen sie eher in einer Art Tropfenform.

»Lasst uns beginnen.«

Die Stille im Raum füllte sich mit Arnolds Worten, mit Verheißung und noch mehr Stille. »Stilligkeit«, wie eine Autorin einmal gesagt hatte, deren Bücher er nie gelesen hatte, aber er kannte ihren Podcast. Wie absurd diese Welt war. Der Voll- strecker warf einen Blick über die anderen. Zwei Plätze waren leer. In seiner Erinne- rung sah er dort im Augenwinkel Marias roten Mantel und ihr gegenüber Georgs grauen Bart. Würde man sie KI-Generiert zusammenmischen, ergäben sie den Weih- nachtsmann oder fucking Coca Cola. War das nicht eh das Gleiche?

»Herzlich willkommen. Gut, dass ihr hier seid. Nun«, begann Kliewer und flüs- terte dann: »Schließt die Augen. Meine Freunde. Lasst euch fallen.«
Er zählte leise von 10 runter. Immer und immer wieder. Seine Worte wie Wellen am Strand. Eine Einladung. Absolute Ruhe. Frieden. Stilligkeit.

»Wir betreten die Höhle. Wir sind alleine. Könnt ihr sie sehen? Folgt meiner Stimme. Tiefer. Wir gehen weiter. Fürchtet nicht die Dunkelheit. Sie befreit euch von dieser Welt. Ohne sie können wir keine andere betreten.«

Die Schwärze umhüllte ihn. Warm und sicher. Ihre Schritte hallten sanft auf dem Stein. Er schloss die Augen, ließ sich führen. Hier war alles einfach. So klar.

»Hört ihr das Rauschen?«
Ja. Er hörte es. Ein feiner Rhythmus. Melodisch und rau.
»Seht ihr da Licht?«
Vor seinen Lidern wurde es rot. Gelb. Er blinzelte und der Ausgang lag vor

ihm. Hell erleuchtet, weiß und grau. Dahinter stürmisches Wasser. Meterhohe Wellen, die aufs Festland schlugen und sich zurückzogen. Für immer und immer.

Er trat aus dem Stein in den Sand. Fest und kalt. Hier durfte die Welt unter- gehen.

»Kommt her. Tretet ans Wasser.«
Sie bildeten eine Line. Oder vielleicht standen sie alle an derselben Stelle.
»Es gibt eine Zahl. Wie lautet sie.«
Der Vollstrecker flüsterte und mit ihm der ganze Raum: »Zehntausend.«
»Was bedeutet sie?«
»Unseren Wert.«
Das Wasser schlug auf den Sand. Wieder und wieder. Für immer und immer.

…Woher kannte er diesen Satz? Doch dann war da wieder Kliewers Stimme direkt hinter ihm.

»Ja. Euren Wert. Fordert ihn ein oder geht.«

»Außer du«, flüsterte Kliewer nun. »Du nicht. Du forderst nicht ihr Leben und nicht ihr Geld du sorgst dafür, dass die Angst sie nicht kriegt. Ohne dich gibt es keine Erlösung.«

Warum? Warum eigentlich? Was ist die Lösung?
»WACH AUF.«
Ruckartig trat er aus und riss die Augen auf. Er fand sich wieder im Klassen-

zimmer auf einem unbequemen Stuhl im Kreis gleicher solcher Stühle wieder. Nur waren sie alle leer.

»Wo sind alle?«

»Schon los. Dein nächster Schützling wartet auf dich auf dem Flur«, sagte Kliewer in erstaunlich geschäftigem Ton. »Wissen sie es?«, hörte sich der Vollstre- cker fragen.

»Was? Dass sie sich töten, wenn sie das Geld nicht kriegen?«
»Nein. Warum sie überhaupt danach fragen sollen.«
Kliewer lächelte auf eine Weise, als wäre es eine Antwort. Der Vollstrecker

stand auf und sammelte seinen Koffer ein. Er verließ die Tür.
Für immer und immer ist aus The Shining und du weißt doch auch nicht, warum wir das hier tun. Wieso sollten sie es wissen.

»Warte einen Moment. Ich habe noch eine Adresse für dich«, hielt Kliewer ihn zurück und für eine Sekunde wünschte sich der Mann mit dem Koffer, er hätte nie- mals aufgehört zu trinken.

»Wir brauchen noch jemanden, der das zweite Video hochlädt.«

Alles nur ein Traum
Von bernado

Schweißgebadet wachte Tom auf. Was war das für ein Quatsch mit den zehntausend Euro. Barbara schlief neben ihm und schnarchte. Die Buchstaben des Elektroweckers zeigten 07:55 an. Es war ihr Montag, deshalb schlief seine bessere Hälfte noch. Er stand leise auf und schlich ins Bad. Der Rasierer schabte den Bart auf drei Millimeter. Die Du-sche vertrieb den Alb aus den Augen. Klamotten an und Kaffee brauchte er. Um Barbara nicht zu stören, zog er in der Küche mit Bedacht die Rollläden nur ein Stück höher. Die Oktober-Sonne nahm Anlauf um über die Nachbarhäuser zu klettern. Er kannte die im Traum auftretenden Akteure. Pfeffer, der alte Sack von anno dunnemals. Eine Lachnum-mer im Büro des Co-Working-Space. Er wählte am Kaffeeautomaten den Milchkaffee.
Er ging ins Esszimmer und hob diesen Rollladen ebenfalls mit Bedacht an. Den elektri-schen Doppel-Rollladen im Wohnzimmer ließ er unten, da sich das Motorengeräusch zum Schlafzimmer übertragen würde.
In der Küche stellte er das Radio an und nahm das schaumige Elixier aus der Maschine. Alle 14 Tage hatte er Sonntagsdienst im Online-Büro. Gestern wäre er dran gewesen, hatte aber den Tag getauscht, um mit Barbara in ein Musical zu latschen. Am Montag nach der Sonderschicht hatte er frei. Pfeiffer war der glückliche Tauscher. Also doch kein übler Zeitgenosse. Aber dieser Traum, seltsam.
Das Telefon bimmelte. Um diese Zeit? Wer stört? fragte sich Tom und guckte auf die Nummer im Display. Unbekannte Nummer.
Das war sein Traum, nur das es Pfeiffer war, der den Anruf bekam. Sollte er annehmen?
Nur die Harten kommen in den … er nahm an. „Tom Meyers hier, wer stört?“
„Dreimal dürfen sie raten. Zehntausend Euro auf das Nummernkonto dessen Daten sie gleich erhalten.“ Eine SMS ploppte auf. Er sah die Nummer einer offshore Bank in Singa-pur. „Sie spinnen, wieso sollte ich ihnen Geld überweisen. Nie im Leben!“
„Apropos Leben, schauen sie aus dem Fenster, was sehen sie?“ Tom kniff sich in den Arm. Er war wach und es war kein Traum. Die Sonne war über den Dächern gestiegen, so das er blinzeln musste. Auf dem Dachfirst gegenüber standen zwei Gestalten. „Sie haben zwei Minuten Zeit um die Summe zu transferieren.“ „Und wenn nicht?“ „Dann klatscht mindestens eine der Personen vom Dach aufs Pflaster.“ Der Hörer viel ihm fast aus der Hand als er Barbaras Figur erkannte. Der daneben hatte Ähnlichkeit mit Pfeiffer. Beide hatten eine Pistole in der Hand, mit der anderen hielten sie sich am Kamin fest um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Wie kamen die da hin? Das kann nicht sein, er rannte die Treppe rauf und stürmte das Schlafzimmer. Barbaras Bett war leer. „Hallo Tom, sind sie noch da? Tick Tick, die Zeit läuft. Noch 60 Sekunden.“ „Ich bezahle ja, warten sie.“ Tom rannte zum Rechner und öffnete das Onlinebanking-Portal. „Noch zwanzig Sekunden, beeilen sie sich.“ „Welche Person wird sterben?“ „Das ist die Frage. Tick Tick, noch 12 Sekunden.“ „Mist, verfluchter.“ Tom tippte das Passwort ein, falsch. Noch einmal, wieder falsch. „to late.“, sagte der Anrufer und legte auf. Ein dumpfes Klatschen drang von drau-ßen in die Küche.

Black Box

Es war, wie immer, arschkalt in der Blackbox. Draußen pfiff der Herbstwind um die Hauswände. Der Regen prasselte auf das Metalldach. Eigentlich war an konzentrierte Gespräche in dieser Bruchbude gar nicht zu denken, weshalb sie es meistens erst gar nicht versuchten, sondern in schummrigem Licht vor ihren Rechnern hockten.
„Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee war“, stöhnte Flocke auf und raufte sich die Haare. Richy und Pam reagierten überhaupt nicht. Die Augen der beiden huschten weiter über die Kommentare unter den Videos.
Nachdem Pfeiffer das erste veröffentlicht hatte, leider zu spät, vervielfachte es sich in sekundenschnelle auf sämtlichen Plattformen im Netz. Es war, wie geplant, außer Kontrolle geraten.
Irgendjemand hatte dann diese Maria gefilmt, weil heutzutage ständig irgendjemand sein Smartphone im Anschlag hat und dieses zweite Video hatte mittlerweile noch mehr Klicks.
Verwackelt sieht man einen jungen Teenager an einer Bushaltestelle sitzen. Der Junge filmt sich im Selfiemodus, wie er zu einem Popsong abgeht. Plötzlich hört man einen Schuss und im selben Moment fällt eine Person in einem roten Mantel hinter ihm zu Boden. Der junge Mann, ganz Teil seiner Generation, dreht sich um, checkt sofort, dass da etwas Krasses passiert sein muss, läuft um das Wartehäuschen herum und hält weiter drauf.
Das Opfer, eine junge Frau, muss sofort tot gewesen sein. Jedenfalls macht sie auf der verwackelten Handyaufnahme den Eindruck. Passanten sind herangestürmt. Einer von ihnen schreit ununterbrochen den Namen „Maria“. Er versucht Erste Hilfe zu leisten, doch den meisten Umstehenden scheint klar zu sein, dass hier alles verloren ist.
Plötzlich bleibt Flockes Blick bei Pam kleben. Er sieht ihr an, das irgendwas nicht stimmt. Ihr ganzer Körper ist im Freeze-Modus. Sie hat ihre Augen weit aufgerissen. Ihre Hände rasen nicht wie üblich über die Tatstatur.
„Was ist denn mit dir los“, ruft er ihr zu, doch sie reagiert nicht. Also katapultiert er sich von seinem Drehstuhl zu ihr rüber und reißt im vorbeifliegen Richy mit. Zu zweit schauen sie über Pams Schultern auf ihren Bildschirm.
„Fuck“, entfährt es beiden so ziemlich gleichzeitig.
„Ich sag doch, das war keine gute Idee. Wir hätten alles nochmal genau durchdenken sollen“, Flocke rauft sich wieder durchs Haar. Diesmal panisch.
„Vielleicht hat das gar keiner bemerkt“, war Richys vorsichtiger Versuch, der Katastrophe etwas entgegen zu setzen.
„Du meinst also, wenn Millionen von Menschen auf der ganzen Welt dieses beschissene Wackelvideo von diesem Teenie immer und immer wieder anschauen, dann fällt keinem auf, was uns allen dreien sofort ins Auge gestochen ist“ brüllte Flocke.
„Ja aber die wissen doch gar nicht, was sie da sehen“, erwiderte Richy.
Pam konnte währenddessen nicht anders, als sich immer und immer wieder das Ende des Films anzuschauen.
Während die Passanten sich ihre Hände vor die Münder halten und dieser Pfeiffer wie wild versucht, seine junge Freundin von den Toten zurückzuholen, sieht man im Hintergrund jede Menge Menschen umherlaufen, Autos auf der Straße fahren, einen Bus an die Haltestelle rollen und für einen kurzen Moment, in dem der junge Kameramann das Bild nicht ganz ruhig hält, sieht man oben an dem Fenster des Coworking-Space, an dem Pfeiffer eben noch stand, etwas aufblitzen.

Wie ein abgesägter Ast ging ich zu Boden. Schmerz zuckte durch Ellbogen und Knie, doch was bedeutete das schon angesichts dessen, was ich soeben getan hatte?
Übelkeit stieg in mir hoch und ich wischte mit den schweißnassen Händen über meine Jeans, als könnte ich die Übelkeit – und die Schuld – abreiben. Fortwaschen. Wie einsetzender Regen das Blut. Kälte ballte sich in meinen Lungen, schnürte mir die Luft ab.
Pfeiffer war nicht der Erste gewesen. Auch dieser Berger nicht. Und die anderen …
Ihnen meinen Willen aufzuzwingen, sie dazu zu bringen, abzudrücken – hieß auch, dass ich in ihrem Verstand bleiben musste. Ich spürte es. Jedes einzelne Mal fühlte ich, wie die Kugel in ihren Körper eindrang und das Leben fortscheuchte.
Benommen kroch ich zum Abflussgitter und übergab mich. Auf dem Ärmel meiner Lederjacke entdeckte ich einen rostbraunen Fleck.
„Wenigstens hatten sie eine Wahl“, flüsterten meine Lippen ohne meine Erlaubnis. „Die hattest du nicht.“
Das stimmte.
Sie konnten sich entscheiden. Doch bisher war kein einziger Mann bereit gewesen, gegen seine Überzeugungen zu handeln. Einer bloß und ich wäre gerettet.
Bloß einer.
Über meine bebenden Lippen rollte ein zittriges Lachen – und die leere Straße lachte dröhnend zurück. Ich erschauderte. Drehte mich auf den Rücken und stierte ins lichte Blattwerk. Lag da wie zerbrochener Zweig. Oder ein Vogel, dem man die Flügel gebrochen hatte.
„Klingt das nicht zu unschuldig?“
Aus der Leitung drang ein Klirren und Schritte. Als habe jemand etwas umgeworfen und es sei zu Bruch gegangen. Etwa eine Kaffeetasse.
Da erst wurde mir bewusst, dass ich nicht aufgelegt hatte. Ich konnte Pfeiffers Atemzüge hören. Seine gequälten Atemzüge.
Auch er wusste nicht, dass ich noch in der Leitung war.
Hastig rollte ich mich auf die Füße. Hämmerte auf das rote Hörersymbol, meine Fingerkuppen glitten ab – was war eigentlich verkehrt gewesen mit Knöpfen oder Hörern, die man auf die Gabel knallen konnte?
Ein rotgefärbtes Blatt löste sich in einer Windböe von einem Zweig und schwebte zu mir hinab. Beinahe wäre es in der Lache gelandet – ich fing es gerade noch rechtzeitig.
Ich senkte den Blick auf … auf das, was ich angerichtet hatte.
„Unfähig ihren Namen zu denken?“
Ja, dachte ich. Denn die Gedanken gehörten noch mir. Ich krallte mich in den Stoff meiner Jeans und zog die Knie an. Kauerte in einer Pfütze, die vom Regen der Nacht stammte, und sich mit dem Blut vermischte. Ich zitterte. Und wartete, dass die Kälte in mich kroch, mich festhielt wie der Stamm die Axt.
Wie viele Menschenleben darf man für die gute Sache opfern?
Würde es nur um mich, um mein Leben gehen, die Frage würde sich nicht stellen. Doch falls ich unterging, wäre der Schlüssel mit mir verloren.
Und das durfte nicht geschehen.
Entschlossen richtete ich mich auf. Schüttelte das Zittern ab, verbannte die Kälte mitsamt aller, störender Emotionalität.
Ein unbestimmtes Lächeln auf den Lippen bückte ich mich und sah zu, wie meine Finger den Fußknöchel der armen Maria umschlossen. Der Wind rauschte durch die vertrocknenden Blätter, als ich die Straße hinunter schritt, die arme Maria wie einen Sack Laub hinter mir schleifend. Ich hatte Arbeit, der nächste Versuch wartete. Ich würde Pfeiffers Frau einen Besuch abstatten.

Er stürmte zum Fenster, presste seine Stirn und Nase an die Fensterscheibe. Maria schaute immer noch zu ihm hinauf, ihre Augen weit aufgerissen und anklagend. In der Mitte ihrer Stirn klaffte ein kleines Loch, die Pistole war bereits aus ihrer Hand gefallen und wie in Zeitlupe fiel ihr Körper nach hinten. Im Schnee konnte er erkennen, wie das Blut aus ihrem Körper wich und den Schnee tränkte. Er schrie auf! „Warum hast du das gemacht! Ich habe das Scheiß Video doch hochgeladen!“, verzweifelt lief er zurück zum Handy. Seine Stimme überschlug sich. „Sie verdammtes Arschloch! Ich werde Sie finden, darauf können Sie sich verlassen!“ Er hörte ein Lachen aus dem Hörer, das sich auf jede einzelne seiner Neven übertrug. Sein Körper vibrierte vom Klang dieses eindringlichen Dröhnens und er dachte nur: ‚Der ist Irre!‘ Eine andere Erklärung gab es für diesen Wahnsinn nicht! Tränen rannen ihm über das Gesicht und er brach in sich zusammen, sein Herz war durch Marias Anblick in tausend Teile gesprungen und verweigerte seinen Dienst.
Genau in diesem Moment stürmte Lara in Christians Arbeitszimmer, erfasste sogleich die Situation, hechtete auf ihn zu, fühlte seinen Puls, nur um feststellen zu müssen, dass sie nichts mehr ausrichten konnte. Wer hätte ahnen können, dass Christian die Story seines Lebens nicht überleben würde. Von wem er dieses Video erhalten hatte, würde ewig sein Geheimnis bleiben. Sie rief den Notruf, damit sich jemand um den Toten kümmern konnte.
Ihr Gesicht erhellte sich. Nun war es ihre Story, ihre Chance groß rauszukommen. Sie erblickte das am Boden liegende Handy. Wer hatte Christian angerufen? Sie suchte nach den eingegangenen Anrufen. Anonym stand dort. Hatte sie wirklich geglaubt, dass der Verursacher des Videos ein Kleinhirn hatte und sich durch die Anzeige der Rufnummer entlarven ließ? Sie hörte Sirenen herbeieilen. Es hörte sich an, als ob plötzlich hunderte von Einsatzwägen in Frankfurt unterwegs waren. Da stimmte was nicht. Um eine Leiche würde nicht so viel Tam Tam gemacht werden, daher ging sie zum Fenster und schaute hinunter. Um Gottes Willen, dachte sie. Da unten lag noch eine Leiche. Was war heute los? Die Telefone klingelten wie wild in der Redaktion durcheinander. Wer war der Irre, der hinter diesen ominösen Selbstmorden steckte?

Er schaute durch seinen Feldstecher. Das durfte doch nicht war sein, dieser Christian Pfeiffer war zusammengebrochen, nachdem er ihn durchs Telefon angeschrien hatte. Er sah noch, wie eine Kollegin in das Büro stürmte, aber jetzt bewegte sich seit zehn Minuten gar nichts mehr in dem Raum. Egal, was mit diesem Pfeiffer geschehen war, er war für seine Zwecke unbrauchbar geworden, obwohl er ihm so eine große Rolle in dieser Aufführung zugedacht hatte. Wenigstens hatte dieser Idiot das Video hochgeladen. Es ging viral, innerhalb dieser Viertelstunde hatte es sich über den ganzen Erdball verbreitet, die Nachrichtensender überschlugen sich mit Eilmeldungen und Ankündigungen von Sondersendungen. Er konnte sich des Gefühls der Genugtuung nicht verwehren, blickte auf die Wanduhr in seinem Hotelzimmer. Er musste wegen Pfeiffer umdisponieren, der Rest vom Plan blieb unverändert.
Er griff zu seinem Handy, auf dessen er die Zahl Nummer drei geschrieben hatte und wählte die Rufnummer. Zärtlich und voller Vorfreude hauchte er hinein: „Dein Leben endet in 60 Minuten.“ Zufriedenheit breitete sich in ihm aus. Es war Zeit zu gehen, er musste die nächste Szene in einem Video festhalten, um die Menschheit darauf hinzuweisen, wie selbstgerecht und verkommen sie war.

Das Video
„Ihr müsst etwas unternehmen!“
Als Richard Berger diesen Satz hörte, bereute er zum zweiten Mal innerhalb von 24 Stunden, die Haustür geöffnet zu haben. Zuerst dieser grausame Vorfall in seinem Vorgarten und nun, nahezu unmittelbar danach, die größte Tratschtante der Nachbarschaft in seinem Flur. Als würde nicht genug über die Bergers gesprochen, seit sich jemand vor ihrer Haustür das Hirn weggeschossen hatte! Zweifellos kannte die exzentrische Mitt-Fünfzigerin Birgit Schmitt, die vor lauter Hektik weder eine Begrüßung vom sich gab, noch auch nur ansatzweise Anstalten machte, ihren senfgelben Mantel auszuziehen, alle Details. Sie spurtete an Berger vorbei in Richtung Esszimmer. Ehe er die Wohnungstür geschlossen hatte, hatte Birgit bereits Bergers Frau in ein Gespräch verwickelt.
Richard Berger konnte den genauen Inhalt des Gesprächs aufgrund der Entfernung nicht verstehen, aber das Auftreten seiner Nachbarin war beunruhigend. Klar, sie war eine hochemotionale Person mit verrückten Ideen und sicher war auch sie geschockt vom Suizid des Fremden. Und dennoch - Was könnte jetzt noch passiert sein, weshalb Dorothea und er „etwas unternehmen“ müssten? Sie waren doch selbst völlig verstört und verunsichert. Es war die Aufgabe der Polizei, zu handeln. Birgit musste das wissen! Richard Berger schloss die Augen und atmete tief durch.
"Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?", sagte das Ich vor seinem inneren Auge. Nein, nicht okay dachte er jetzt, Das ist der reinste Alptraum!" Er zwang sich, mit festen Schritten in Richtung des Esszimmers zu laufen und nahm sich vor, die größtmögliche Ruhe auszustrahlen, die er zu verkörpern imstande war. Nichtsdestotrotz kostete ihn das sprechen Kraft und seine Stimme zitterte. Schlussendlich klang sie doch ähnlich erschüttert wie tags zuvor.
„Nun, wir…Wir vertrauen… vertrauen der Polizei! Für uns gibt es nichts -“
Dorothea schnappte entsetzt nach Luft, als Richard Berger die Küche betrat. Auch sie wirkte erneut so schockiert wie schon vor 24 Stunden. Prompt begann Berger zu zittern.
„Was ist?“, fragte er panisch und rüttelte an den Schultern seiner Frau. „Ja, was ist denn nun bloß passiert?!“
Dorothea blickte ein paar Mal schnell zwischen ihm und der Tischplatte hin und her. Ihre Unterlippe bebte und aus ihren Augen flossen Tränen. Sie wimmerte, sprach aber kein Wort.
Birgit legte Dorothea eine Hand auf den Arm. Berger, der nach wie vor nicht verstand, was vor sich ging, verlor nun die Nerven. Er packte einen Ärmel von Birgits bunt geblümter Bluse und zerrte kräftig daran, sodass sie sich ihm zuwenden musste.
„Was hast du getan?“, schrie er, „Du hast ihr nur Angst gemacht! Wir wollen nicht noch mehr schreckliche Neuigkeiten oder abstruse Gerüchte! Es reicht! Es reicht uns absolut!“
Birgits Gesichtsausdruck wechselte in sekundenschnelle von erschrocken zu wütend zu mitfühlend, aber man sah ihr auch die Angst noch an, die sie bei ihrer Ankunft mitgebracht hatte. Sie griff nach etwas auf dem Tisch. Da erst erkannte Berger, dass seine Frau und seine Nachbarin die ganze Zeit auf Birgits Smartphone gestarrt hatten. Es zeigt ein Video.
"Machen Sie, was Sie wollen, aber machen Sie es bitte draußen auf der Straße, okay?"
„Was zur Hölle…?!“
„Es ist auf sämtlichen sozialen Medien! Überall! Mein Neffe hat es gesehen, dabei wohnt der ja in Berlin und -“
„Birgit! Was redest du denn da?!“
„Ich weiß, es ist furchtbar! Der Frankfurter Generalanzeiger hat das Video veröffentlicht. Online. Und der Rest passierte praktisch von selbst. Ich habe es nicht verbreitet, aber all die anderen… Ihr müsst etwas tun!“
Richard Berger stand unter Schock und platze schier vor Wut, wusste aber dennoch, dass Birgit Recht hatte. Er musste etwas unternehmen, also würde er etwas unternehmen.
Er nickte beiden Frauen zu, stand auf und lief zur Tür. „Ich werde die Redaktion des Generalanzeigers besuchen!“, verkündete er mit bitterem Unterton. Ehe er die Wohnung verließ, befühlte er mehrfach den Inhalt seiner Jackentasche. Er war vorbereitet. Das Taschenmesser war da.

Sein Herz hämmerte, Schweißperlen bildeten sich an seiner Stirn. Er spürte eine warme Flüssigkeit an seinem Bein entlanglaufen. Vor Schreck hatte er sich eingenässt.
Seine Gedanken rasten und plötzlich nahm er Stimmen wahr.

Maria? Hallte es durch seinen Kopf und er sprang aus seinem feuchten Bürosessel hoch, um aus dem Fenster zu schauen.
Ihm offenbarte sich ein hektisches Szenario. Menschen rannen panisch durch die Gegend, doch halt! Wo ist Maria? Ihr roter Mantel war nirgends zu entdecken.
Was ist hier los?
War alles nur ein böser Scherz?

Christian ging zurück zu seinem Schreibtisch. Angewidert schob er den Bürosessel zur Seite und riskierte einen Blick auf die geöffnete Seite auf seinem Bildschirm und erstarrte. Er hatte das Video tatsächlich gepostet. Kurz huschte der Gedanke durch seinen Kopf es unverzüglich zu löschen, aber mittlerweile gab es bereits unzählige Kommentare und geteilt wurde es ebenfalls schon hundertfach.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizei auf ihn aufmerksam wurde und unangenehme Fragen stellte, auf die er keinerlei Antworten hatte.
In was war er nur hineingeraten?

Sein Mobiltelefon klingelte in die Stille seiner Gedanken hinein. Zitternd blickte er auf das Display und drückte auf die grüne Telefontaste.

„Hallo?“, fragte er unsicher hinein.

„Ich denke, die letzten Minuten haben Ihnen gezeigt, wie ernst uns unser Anliegen ist. Das war unsere aller letzte Warnung. Denken Sie nicht mal daran die Polizei zu verständigen, sonst werden Sie ihre Maria nie wieder sehen! Haben wir uns klar ausgedrückt?“ Die Stimme klang sehr verärgert und absolut nicht verhandlungsbereit.

Beschämt schaute Christian runter auf seine nasse Hose und antwortete resigniert:
„Ja … ja, wir haben uns verstanden! Was soll ich als nächstes tun?“

„Nicht eine Sekunde zögern wäre ein Anfang!“

Das ist es? Nur den Befehlen folgen? Aber werde ich Maria wiedersehen? Er traute sich nicht zu fragen und tat es doch. „Kann ich ein Lebenszeichen von Maria haben?“

Es blieb eine Weile still in der Leitung. „Na schön, aber nur, weil Sie das Video geteilt haben.“

Noch bevor er nachfragen konnte, erklang ein Tuten in der Leitung.
Während des Telefonats überschlugen sich die Kommentare erneut. Die Leute gierten nach Einzelheiten. Wie perfide waren diese Menschen eigentlich? Wenn es einer ihrer Lieben gewesen wäre, würden sie niemals solche ekelhaften Gedanken von sich geben.

Sein Handy piepte erneut und eine neue Nachricht ist eingetrudelt.
Er öffnete sie und sah eine verheulte Maria, die erstarrt, ängstlich und mit Make-up verschmierten Gesicht in die Kamera schaute.
Vorsichtig fuhr Christian Pfeiffer über das Handydisplay. Meine Maria! Sie lebte!
Jedem anderen würde er raten zur Polizei zu gehen, aber was sollte er tun? Sein Blick geleitete erneut hinaus auf den Europagarten. Kaum eine Menschenseele war noch zu sehen, vermutlich war die Polizei auf dem Weg oder hatte bereits alles abgesperrt.

In Gedanken an schönere Zeiten versunken, dauerte es, bis er das Klingeln seines Handy registrierte.

Hannes drückte auf Pause.
„Ich muss schiffen“, sagte er und beeilte sich im Bad zu verschwinden. Als er zurückkam, mit einem deutlich entspannteren Gesichtsausdruck, sah Tina ihm breit lächelnd entgegen.
„Hab ich was verpasst?“, wollte er wissen.
„Och, ich habe nur mit Genugtuung festgestellt, dass du die Pausetaste benutzt hast.“
„Hä?“ Hannes schaute recht verdutzt aus der Wäsche.
„Naja, das bedeutet wohl, dass du nicht vorhast, etwas von dem Schrott, den du eigentlich gar nicht gucken wolltest, zu verpassen.“
Hannes wollte gerade ezu einer Erwiderung ansetzen, als er etwas sah, was er nicht verstand. Er konnte es nicht verstehen, denn es widersprach allem, was er wusste, allem, was er kannte und allem, was sein Verstand zu akzeptieren bereit war. Seine Augen waren weit aufgerissen, blickten zitternd auf den Bildschirm, wo Marias Leiche in einer cineastischen Blutlache erstarrt war. Da war ein Schatten. Er hielt ihre Hand, die mit der Pistole und in seinem formlosen Gesicht erkannte Hannes ein diabolisches Grinsen. Das alles hätte sein Verstand verarbeiten können. Mystery-Thriller. Spezialeffekte. Es würde sogar die merkwürdigen Umstände der beiden Selbstmorde erklären. Nur hätte sich der Schatten auch dann nicht bewegen dürfen. Pause, er hatte auf Pause gedrückt und der Rest des Bildes hielt sich an diese realität. Nicht so der Schatten und als würde das nicht reichen, streckte die finstere Gestalt die Hand aus und schattenhafte Schwärze sickerte aus der Mattscheibe.
„Ausschalten!“, schrie Hannes. „Schnell, ausschalten!“

Seitdem das Video, auf dem ihr Haus, Richard mit seiner dämlichen Krawatte und zu allem Überfluss noch ein grausamer Mord zu sehen war, die sozialen Medien weit über Frankfurt hinaus flutete, war die Situation nur noch verwirrender geworden. Sie saßen gemeinsam auf dem braunen Cordsofa, hielten wie früher Händchen und langten abwechselnd in eine Schüssel mit schokolierten Nüssen. Obwohl es draußen noch hell war, hatten sie alle Jalousien im Haus geschlossen und sich wie in einer Raubritterburg verrammelt. Auch in den Pyrenäen hatte es viele Raubritterburgen gegeben. Auf dem Couchtischlag der zerknitterte Briefumschlag, den sie immer noch nicht geöffnet hatten. „Das Vermächtnis meines Vaters!“ hatte der irre Mörder Richard ins Gesicht geschleudert.
Dorothea stand auf, holte die Fernbedienung vom Sims des Kachelofens und drehte den Ton auf. Die ersten Bilder der Lokalnachrichten erschienen auf dem 65’’ Fernseher, den Richard vor zwei Monaten hinter ihrem Rücken im Elektromarkt besorgt hatte. Angeblich ein Schnäppchen, das er sich nicht entgehen lassen konnte. Auf dem Bildschirm flackerten Polizeisirenen hinter einer im stürmischen Wind flatternden rot-weißen Tatortabsperrung. Mit ernster Stimme sprach ein Reporter, der sich den Bügel eines Headsets gegen das rechte Ohr drückte, in ein Handmikrofon, das von einem puscheligen Windabweiser ummantelt war . Hinter ihm erschienen Fotos einer jungen rothaarigen Frau, die - Dorothea drehte den Ton noch lauter - anscheinend vor einer halben Stunde auf offener Straße erschossen worden war und eines jungen Mannes. Unter seinem Foto stand „Christian Pfeiffer, FGZ“,
„Moment mal!“ Schlagartig fuhr Richard, der das Geschehen bis dahin apathisch verfolgt hatte, in die Höhe und schlug mit der flachen Hand so fest auf den Couchtisch, dass der geheimnisvolle Umschlag zu Boden fiel. „Das ist doch der Typ, der“
„Das Video mit dem Mord vor unserer Haustüre in den sozialen Medien hochgeladen hat.“, ergänzte Dorothea den Satz, während sie wie wild auf ihrem iPad herumwischte und die Seite des Frankfurter Generalanzeigers aufrief. Wütend fuhr sie mit ihrem schokoladeverschmierten Zeigefinger die Zeilen eines Artikels entlang. „Die Frau, die erschossen worden ist, war anscheinend die Freundin von diesem Pfeiffer.“
„Echt? Das geschieht diesem Arschloch recht!“ Richard hielt sich schnell die Hand vor den Mund. Hatte er das gerade wirklich gesagt? Er, der seit seiner Jugend auf jedem Oster-Friedensmarsch dabei gewesen war.
„Das gibt es doch nicht!“ Dorothea stand jetzt dicht vor dem Bildschirm. Auf der Straße hinter dem Flatterband lag fleckiger weißer Umschlag, der soeben von einem ferngesteuerten Sprengstoff-Spürroboter mit einem Greifarm vorsichtig angehoben wurde. Sie bückte sich und zog ihren Umschlag unter dem Couchtisch hervor.
„Der sieht wirklich genauso aus“. Richard setzte die Brille ab und dachte nach. Gerade, als er ansetzte zu sprechen, stand Dorothea auf und ging in Richtung Schlafzimmer.
"Mach du schon mal das Auto fertig. Ich packe inzwischen das Nötigste! Wir machen den Umschlag auf, wenn wir in den Pyrenäen angekommen sind.
Obwohl er sich angesichts der albtraumhaften Erlebnisse der letzten Stunden ziemlich Scheisse fühlte, stieg Richard schon wieder der verführerische Duft eines frisch aus dem Backofen geholten Baumkuchens in die Nase.

Pfeiffer stürzte zu dem Fenster, seine Brust hämmerte in einem unaufhörlichen, hämmernden Rhythmus Adrenalin durch seine Adern. Er warf einen Blick in Richtung des Parks, wo Maria eben noch verzweifelt zu ihm hoch geblickt hatte. Sie war nicht mehr zu sehen, an ihrer Stelle eine kleine Traube von Menschen, die rannten, gestikulierten, gafften und halfen. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, ließ sich Pfeiffer zurück in seinen Bürostuhl fallen. Schuld, Verzweiflung und Unverständnis überrollten ihn wie eine Flutwelle und drohten ihn zu ersticken.
Maria war tot. Und er war schuld daran. Er war schuld. Er hatte alles getan, was er konnte, sagte er sich. Er war bloß zu langsam gewesen. Zu langsam. Weil er nicht gewusst hatte, wie Instagram funktionierte. Als Online-Redakteur. Wenn er sich doch nur mal Mühe gegeben hätte, sich in dieses Social Media Thema einzuarbeiten…Wenn er doch nur nicht so bockig gewesen wäre… Wenn er…
Am Rande seines Bewusstseins registrierte er ein Vibrieren, dazu ein „Ping“. Ping. Ping. Ping. Sein Blick wanderte zu dem Handy auf seinem Schreibtisch. Ping. Der Bildschirm leuchtete auf. Ping. Eine Mitteilung erschien auf dem Display. Egal. Was auch immer es war, es war nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig. Maria war tot. Maria. Die eine Frau, die … PLING. PLING. PLING. Nun schien auch der Computer in die Kakophonie einstimmen zu wollen. Genervt wandte sich Pfeiffer dem Computer zu und warf einen Blick darauf. PLING. PLING. PLING. Das Instagram-Logo tauchte auf, daneben eine Mitteilung. PLING. Und schon die nächste. Das Gerät konnte die Mitteilungen gar nicht schnell genug darstellen, eine nach der anderen hüpften über den Bildschirm. PLING. PLING. PLING. Es war Pfeiffer unmöglich, irgendetwas zu erkennen. Vielleicht lag es aber auch an den Tränen, die über seine Wangen liefen, wie er jetzt bemerkte. PLING. PLING. PLING. Wieso er? Wieso Maria? Was hatten sie getan, dass dieser Verrückte sie ausgewählt hatte? Für seine… Mission? Was sollte das alles überhaupt? Ping. Ping. Auch das Handy wollte keine Ruhe geben. Woher nahm sich dieser Kerl das Recht, über Leben und Tod zu entscheiden? Gott zu spielen? Pfeiffer spürte Wut in sich aufsteigen. PLING. Ping. Ping. Ping. Verfluchtes scheiß Ding! Ohne diesen Wahn, fortwährend erreichbar sein zu müssen und jedes Detail des Lebens ins Netz stellen zu müssen, wäre das alles nicht passiert. Wutentbrannt knallte er den Deckel seines Laptops zu und mit dem plötzlichen Aufkommen von Energie, die einfach rausmusste, warf er das Handy gegen die Wand. Scheppernd prallte es daran ab und polterte auf den Teppichboden. Ping. Das verdammte Teil hörte noch immer nicht auf. Ping. Ping. Gänzlich ungerührt von Pfeiffers Gefühlschaos ploppten immer weitere Mitteilungen auf. Ping. Ping. Ping.

Pfeiffers Gedanken überschlugen sich. Er brauchte frische Luft. Er sammelte beiläufig sein Handy auf, wobei er mit einem schnellen Blick sah, dass das Geschehen bereits Thema im internen Redaktions-Chat geworden war. Egal. Es war sowieso schon zu spät. Der Typ am Telefon hatte bekommen, was er wollte. Mit einem starren Blick machte sich Pfeiffer auf in Richtung Fahrstuhl.
Normalerweise verweigerte sich das Dach der Redaktion sämtlichen Zutritts. Es sei denn, man war zufällig gut befreundet mit dem Hausmeister des Gebäudes, welcher dann beiläufig und gänzlich unabsichtlich erwähnte, wo der Schlüssel für die schwere Tür versteckt war. Als Pfeiffer das Dach schließlich erreicht und ein paar kräftige Atemzüge der Höhenluft genommen hatte, begann sein Kopf langsam zu arbeiten.
Woher hatte dieser Psychopath seine Privatnummer?
Eine direkte Verbindung zu ihm. Jemand, den er kannte? Hatte das Motiv des Täter vielleicht etwas mit ihm direkt zu tun? Oder hatte er Pfeiffer lediglich aus einer Reihe Journalisten ausgewählt? Und wenn ja, nach welchen Kriterien? Alles Fragen, die ihm durch den Kopf tobten, keine davon wollte eine Antwort preisgeben.
Was war das Motiv? Die Tatsache, dass er es speziell auf eine Redaktion abgesehen hatte, sprach für eine Notwendigkeit der Selbstdarstellung. Der Attentäter hatte etwas, das er verkünden wollte. Seinen Worten nach zu urteilen, eine Form verdrehter Sozialkritik. Ein enormer Schockfaktor war sein Werkzeug. Als Journalist war sich Pfeiffer nur zu gut um dessen Wirksamkeit bewusst. Die meisten Menschen scherten sich nicht um die moralischen Predigten eines x-beliebigen Wahnsinnigen. Gepaart mit Gewalt und Angst ergibt sich allerdings eine explosive Mischung.
Pfeiffer warf einen Blick auf sein Handy. Die hastigen Nachrichten seiner Kollegen schienen langsam abzuebben, inzwischen hatten sie das hochgeladene Video vermutlich bereits wieder von der Plattform entfernt. Schließlich war die Redaktion darauf angewiesen, in Fällen besonders brisanter Nachrichten schnell mit Anpassung und Ähnlichem zu reagieren. Aber der Schaden war angerichtet. Das Video hatte sich bereits auf mehreren anderen Seiten verbreitet, erste Schlagzeilen tauchten auf.
In diesem Moment zeigte sein Handy eine neue Nachricht einer ihm unbekannten Nummer an:

Behalten Sie die Nachrichten im Blick, dann sind Sie beim nächsten Mal vielleicht schnell genug.

P.S.: Ich würde Ihnen raten, meine Existenz erstmal für sich zu behalten. Wer weiß, was für unglückliche Zufälle Ihren Kollegen sonst noch zustoßen könnten :wink:

Pfeiffer schnaubte. Das war eine … interessante Drohung, die die Frage aufwarf, wie gut der Kerl ihn eigentlich kannte. Auch wenn er keinem seiner Kollegen den Tod wünschte, hatte er mit ihnen doch eher wenig zu tun. Pfeiffer war in dieser Hinsicht eher ein einsamer Wolf. Während die anderen sich gerne zur gemeinsamen Mittagspause verabredeten, war er froh, sich nicht mit diesen Idioten herumärgern zu müssen. Schließlich sollte eine Pause immer noch für einen Stressausgleich, für etwas Ruhe sorgen. Beim bloßen Gedanken an die nervtötenden Debatten seiner überkorrekten Kollegen der Online-Redaktion verspürte Pfeiffer in sich aber den Wunsch aufkommen, den Kopf gegen die Wand zu rammen. Oder am liebsten die Köpfe seiner Kollegen, aber die Vernunft und die Aussicht auf ein darauf sicherlich folgendes Disziplinarverfahren, wenn nicht sogar schlimmeren Konsequenzen, hatten ihn bislang von dieser durchaus angebrachten Maßnahme abgehalten. Außerdem liebte er seinen Job viel zu sehr. Vom ersten Geruch einer neuen Story, die der Wind zufällig herantrieb, über das Verfolgen einer Spur von Brotkrumen bis zur eigentlichen Sensation, er liebte alles an dieser Jagd, von Anfang bis Ende. Und das war ein noch viel größeres Argument, den Anruf - und diese Nachricht - erst einmal für sich zu behalten. Sicher wollte er nicht den Tod seiner Kollegen zu verschulden haben, weshalb es nur sinnvoll war, sich nicht direkt an die Polizei zu wenden, sondern im Geheimen zu ermitteln. Aber dieses Kribbeln, das nun langsam seinen ganzen Körper ergriff, die Verheißung einer neuen Story, vermischt mit der Verzweiflung, der Trauer, der Wut - das war ein Versprechen, bei etwas ganz Großem Plätze in der ersten Reihe zu haben. Wer, wenn nicht er, würde dieses kranke Schwein enttarnen? Die Fäden liefen bei ihm zusammen. Er schuldete es Maria, ihren Mörder zu finden. Die Angelegenheit war riskant, aber das juckte ihn nicht. Was hatte er jetzt noch zu verlieren?

Diebe sind schlechte Helden

Seine Finger glitten aalglatt in den hübschen, roten Fleecmantel der Frau, die am Bordstein zur Straße stand. Er wusste, dass es so war, auch wenn man nichts sehen konnte. Absolut gar nichts.
Taschendiebstahl war eine Kunst. Eine hohe Kunst, die kaum einer zu würdigen wusste. Es brauchte Fingerfertigkeiten und ein hohes Maß an Geschicklichkeit. Natürlich auch eine gute Priese Talent! Vor allem von letzterem besaß Vitus Tenebris mehr als genug. Würde ihn jemand fragen, würde er behaupten, er wäre der beste Dieb in ganz Frankfurt. Er war noch nie erwischt worden und wenn doch einer glaubte, er hätte ihn gesehen, hatte er bisher noch jeden an der Nase herumführen können. Denn der größte Trick beim Taschendiebstahl war nicht nur der, sich nicht erwischen zu lassen, sondern auch, sich charmant herausreden zu können, sollte es doch einmal brenzlig werden.
Was vor allem aktuell sein größter Vorteil war, als er die hübsche Rothaarige am anderen Ende des Tisches anlächelte.
Diese zog eine ebenso rote, elegant geschnittene Braue empor, ehe sie wieder auf den Bildschirm schaute.
Vitus tat es ihr gleich und verzog das Gesicht, als sein Aufgenommenes Ich hinter der Schwarzhaarigen Passantin entlang lief. Vielleicht ein bisschen dicht, doch ansonsten konnte man nichts sehen. Nicht wie er in die Manteltasche griff und der Frau ihr Smartphone entwendete. Der Kamerawinkel war zu ungünstig und die Qualität zu Mangelhaft. Straßenkameras waren nicht gerade das Gelbe vom Ei und besonders hier kam es Vitus zugute, dass die Regierung öffentliche Sicherheit für einen Witz hielt und nur in den Medien künstlich bauschte. Sicherheit. Pfft. Ja, ganz sicher.
Leider hätte niemand damit rechnen können, dass die Verrückte, von der er besonders Kunstvoll ihr Handy ausleihen wollte, aus der anderen Tasche eine fucking Pistole zog und sich den Kopf weg ballern wollte! Das nächste mal, wenn Vitus seine Finger lang machen wollte, dann ganz sicher nicht bei hübschen Frauen in langen, roten Fleecemänteln!
Scheinbar hatte er im Horoskop Lotto heute Morgen wohl die falsche Farbe gezogen, denn statt Reichtum und Glück brachte ihm das ganze gerade eher das Gegenteil ein. Nicht dass er an diesen ganzen übersinnlichen Hokuspokus glaubte, aber war es denn zu viel verlangt, dass seine Opfer sich nicht gleich selbst erschossen, wenn er sie um ihre Habseligkeiten erleichterte?!
Während er sich innerlich empörte, lief das nette Video weiter, in welchem gut zu sehen war, wie sich sein vermeintliches Opfer plötzlich die Knarre an den Kopf hielt. Naja. Und dann wie Vitus aus Reflex nach der Waffe schlug.
Bei seiner blitzschnellen Reaktion, sah die nette, strenge, hübsche Frau auf der anderen Seite des Tisches wieder zu ihm zurück und durchbohrte ihn aus stahlgrauen Augen heraus.
Vitus erwiderte ihren Blick und zwinkerte ihr charmant zu. Was lediglich dazu führte, dass sie ihre Augen minimal verengte. Nicht dass er überrascht wäre, dass sie kaum reagierte. Sie schauten sich das hübsche Video jetzt zum widerholten male an. Wahrscheinlich um aus ihm irgendetwas heraus zu holen, was nützlich sein könnte. Oder etwas in der Art.
Vitus setzte sich auf dem unbequemen Verhörstuhl anders und beobachtete, wie ihm das Handy aus der Hand rutschte, als seine Selbsterhaltungstriebe die Waffe weg schlugen, die er nur aus dem Augenwinkel wahrgenommen hatte. In dem Moment des Geschehens hatte er nicht nachgedacht. Doch er hatte die Form definitiv erkannte und seine Synapsen hatten es mit etwas schlechtem in Verbindung gebracht, sodass er die Gefahr hatte abwenden wollen.
In dem Moment in welchem er die Waffe weggeschlagen hatte, hatte sich ein Schuss gelöst, der hell in der Straße widerhallte und umstehende Passanten aufschreien und sich autonom hatte ducken lassen.
Na, vielleicht hatte es Fortuna an diesem Tag doch ganz gut mit ihm gemeint, denn der verdammte Schuss war an einem Metallgeländer abgeprallt und als Querschläger zurück gezischt. Den Klang einer abprallenden Kugel wollte niemand hören. Denn das hieß, dass die Kugel unvorhersehbar überall einschlagen konnte. Mächtig uncool, wenn man ihn fragte. Glücklicherweise war niemandem etwas geschehen. Es gab nur eine menge verängstigter und zutiefst schockierter Menschen.
Dummerweise war auf dem blöden Video nun aber zu sehen, wie er das Handy fallen ließ, dass die Bullerei später dann aufgesammelt hatte. Natürlich hatten sie festgestellt, dass ihm das Handy nicht gehört hatte und es offensichtlich dass der Verrückten war.
Nun, wie erklärte er also, was auf dem Video zu sehen war? Und was zur Hölle glaubte die Bullerei eigentlich, was er damit zu tun haben wollte?
Er war schlicht und ergreifend einfach zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen und das mit der falschen Absicht.
„Also?“, sah die hübsche Polizistin ihn nun an, nachdem sie das Video pausierte. „Wieso wollten sie das Handy der Frau tauschen?“
Vitus blinzelte.
Oh.
Das war neu.
Bisher hatte sie ihn danach gefragt, warum er es ihr hatte stehlen wollen.
„Sie tragen dasselbe Modell“, durchbohrte sie ihn mit ihren ungewöhnlichen, intensiven Augen. Sie war wirklich hübsch. Ein rundliches Gesicht, mit kleiner Stupsnase, Sommersprossen und leicht Mandelförmig geschnittenen Augen. Rostrote Locken rahmten ihr Gesicht wie einen Helm bis zu ihrem Kinn ein. Spangen hielten es ihr aus dem Gesicht und Vitus musste sich eingestehen, dass ihr die Polizei Uniform stand. Wie viele Sprüche durfte sich die hübsche Polizistin auf ihren Außeneinsätzen wohl anhören, wenn sie es mit Leuten zu tun hatte? Bestimmt eine Menge.
Vitus lächelte sie gewinnend an und neigte leicht den Kopf auf die Seite, „Ich habe keine Ahnung was sie meinen… Kommissarin K. Archer“, schielte er auf das Namensschild an ihrer Uniform. „Wofür steht das K? Kathrin? Karolin? Oh, ich mag den Namen Karol sehr gerne. Klingt so schön.“
Sie schnaufte und tippte mit ihrem Finger ungeduldig auf der Tischplatte.
„Ich stelle die Fragen, Mister Tenebris.“
„Ja, sicher doch“, lächelte der Schwarzhaarige junge Mann mit blitzenden Augen, wobei sie zwischen diesen hin und her blickte. Er wusste, was sie sah. Etwas ungewöhnliches. Denn Vitus war mit einer angeborenen Heterochromie geboren worden. Sein linkes war ein überraschend kräftiges grün, während sein rechtes ein dunkles braun darstellte, das fast schon ins schwarz verlief. Die meisten Leute hatten Schwierigkeiten, ihm in die Augen zu blicken. Sie jedoch nicht.
Ihr Blick durchbohrte ihn wie zwei Metallpfeile, was sich irgendwie ziemlich unangenehm anfühlte. Ob sie das auf der Polizeiakademie so lernten?
„Aber warum gehen Sie davon aus, dass ich es genommen haben soll? Für mich sieht es so aus, als wäre es ihr einfach aus der Tasche gefallen“, zuckte er schließlich mit den Schultern und sah sich im trostlosen Raum um, bis er an dem großen Spiegel linker Hand hängen blieb. Er grinste und wank scheinbar seinem eigenen Spiegelbild, was die Frau vor ihm tief seufzen ließ.
Da schauten doch bestimmt ein paar Leute zu.
Er drehte ihr wieder sein Gesicht zu, „Wie geht es der Frau?“, hakte er ernst nach.

Der Polizist

»Was für ein beschissener Tag.«
Kriminalhauptkommissar Schneider stand mit einer Zigarette in der Hand am Tatort. Hinter ihm Blaulicht und zahlreiche Polizisten mit Absperrband.
Vor ihm lag der tote Körper einer Frau mittleren Alters, im Kopf ein Einschussloch. Die Tatwaffe – eine 9mm Pistole – verursachte eine riesen Sauerei: Blut und Hirnmasse spritzte auf einen Großteil der Umgebung. Die Bank hinter der Leiche bekam am meisten ab.
Schneider schnippte den Stummel seiner abgerauchten Zigarette zu Boden. Er versuchte eine neue aus der Packung zu fischen, doch diese war leer.
Er seufzte genervt. Erst die Bergers, dann diese Frau hier und jetzt hatte er keine Kippe mehr – schlimmer kann es nicht werden.
Dann fielen auch noch Regentropfen auf sein mittlerweile graues Haar.
»Was für ein noch beschissenerer Tag…«, murmelte Schneider und rieb seine Augen. Kopfschmerz überfiel den 60-jährigen Kommissar.
Wenn jetzt noch etwas Nerviges passiert, wird auch er zum Mörder.
»Kriminalhauptkommissar Schneider!«, ertönte hinter ihm der langgezogene Ruf.
Natürlich MUSSTE jetzt etwas Nerviges passieren…
Was sagte sein Therapeut erst neulich? – Herr Schneider, atmen Sie tief ein und aus und zählen Sie bis zehn.
Oder war es diese dumm dusselige Yogapose, damit er wieder seine „Mitte“ fand?
Keine Ahnung, dachte sich Schneider. Er hörte dem Seelenklempner eh nie zu.
»Kriminalhauptkommissar Schneider, Kriminalhauptkommissar Schneider!«, erklang es wieder. Dieses Mal in doppelter Ausführung.
Die Stimme seiner Frau Elena schien ihm zuzuflüstern:
»Liebling, zähle bis zehn. Versuch es einfach mal.«, und er fing zum eignen Erstaunen an zu zählen.
Eins…
Zwei…Drei…
»Tief einatmen… und ausatmen…«, sprach Elena zärtlich in seinem Kopf. Und tatsächlich schien es zu helfen, Schneider beruhigte sich allmählich.
Vier…Fünf…
Der Regen wurde ein wenig stärker, doch das störte ihn nicht mehr.
Gerade als er bei sechs ankam, legte sich eine Hand auf seine linke Schulter.
Die Berührung riss ihn aus seinem Mantra der Beruhigung, seine liebliche Elena löste sich einfach so in Luft auf.
Nur Folgendes war zu hören:
»Kriminalhauptkommissar Schneider, nun hören Sie mir doch endlich zu!«
Die Entspannung war restlos verschwunden, sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen und die Zornesader auf seiner Stirn trat dick hervor.
Voller Wut drehte sich Schneider um und blickte in das dumm dusselige Gesicht seines Partners – eine dicke schwarze Hornbrille umrahmte die Augen, über dem Mund prangte ein lächerlich aussehender Schnurrbart.
Er konnte sich den Namen seines neuen Partners einfach nicht merken, daher nannte er ihn „Jens“ – wie sein vorheriger Partner.
Jens schien seine Aufgebrachtheit ebenfalls zu bemerken, auch weil Schneiders geballte Faust vor dessen Gesicht schwebte.
Der Körperkontakt löste sich wieder auf und Jens baute mit mehreren Schritten schnell Distanz auf.
Die erhobene Faust sank mit dem Zentimeter Abstand.
Jens, der eigentlich gar nicht so hieß, räusperte sich:
»Äh… Krim… Kriminalhauptkomm…«, doch Schneider unterbrach ihn zornig:
»“Schneider“ reicht aus, also lass den Quatsch und erstatte Bericht! Du hast 15 Sekunden, los!«
Seine Gedanken kehrten zu Elena zurück – er brauchte dringend Entspannung.
Im Hintergrund stotterte der falsche Jens seinen Bericht runter, aber nur die wichtigsten Informationsbrocken erreichten Schneider:
„Sie hatten Recht…“
„Pfeiffer … Verbindung … Bergers … toter Frau“
„Unveröffentlichter Bericht …“
„nicht auffindbar … Zeugen … schwarzer Van“
Ab diesem Zeitpunkt hörte er wieder genauer hin und unterbrach das Gestotter seines Partners.
»Sagtest du gerade, dass Pfeiffer in einen schwarzen Van stiegt?«
Jens nickte.
»… und was stehst du dann hier noch so blöd rum?! Schnapp dir einige Kollegen und such den Scheiß Van!«, spuckte Schneider ihm entgegen.
Sein neuer Partner nahm die Beine in die Hand, rannte in Richtung Bürogebäude und trommelte auf dem Weg weitere Polizisten zusammen.
KHK Schneider nahm sein Mobiltelefon aus der Innentasche seiner Jacke und wischte durch die Kontaktliste.
Bei dem Kontakt „Reinigungsservice Schmitz“ blieb er stehen und drückte drauf.
Das Telefon baute die Verbindung auf, es klingelte mehrmals und erst nach einer ganzen Weile knackte es laut, der Anruf wurde angenommen.
»Schneider hier. Pfeiffer ist verschwunden, Suche läuft. Er stieg in einen schwarzen Van. Pfeiffer war auch der Hauptjournalist am besagten unveröffentlichten Bericht.«, beendete er seine Ausführungen.
Stille.
Nach einigen Momenten antwortete eine tiefe, verzerrte Stimme:
»Verstanden. Wir orten sein Telefon. Verstärkung ist unterwegs. Bereithalten.«
Danach legte die Gegenseite auf und das Gespräch war beendet.
»Was für ein beschissener Tag…«, murmelte Schneider erneut.