Polizeioberkommissar Stephan Rabenhof rieb sich mit beiden Knöcheln die Augen. Seine Schicht hatte vor fünfeinhalb Stunden begonnen; ein ruhiger Sonntag – zumindest in den ersten zweieinhalb Stunden. Jetzt wünschte er sich, heute Morgen einfach im Bett geblieben zu sein.
Seit zehn Minuten war er von der Befragung Richard Bergers und seiner Frau zurück; und gerade hatte er den Anruf beendet, in dem er von einem zweiten Todesfall erfahren hatte. Noch ein angeblicher Selbstmord, wieder höchst verdächtige Umstände. Das zweite Opfer war eine Frau: Maria Gauber. Kopfschuss. Ihr Lebensgefährte hatte sie identifiziert. Gleich nachdem er ein Video des ersten Selbstmords auf der Social-Media-Seite des „Frankfurter Generalanzeigers“ hochgeladen hatte.
Rabenhof schluckte, das heruntergeladene Video starrte ihn von seinem Bildschirm heraus auffordernd an. Das Originalvideo war von der Plattform gelöscht worden, nach vierundzwanzig unerträglichen Minuten online. Chefredakteur Magnus Anders persönlich hatte das Video entfernt. Aber wer weiß, wie viele Leute es schon gesehen und heruntergeladen hatten?
Widerstrebend klickte Rabenhof auf den Startknopf. Der Ablauf war genau wie Berger ihn beschrieben hatte. Das Haus von Berger, er selbst mit seiner lächerlichen Krawatte, die Forderungen des graubärtigen Mannes, Bergers Weigerung, der Schuss, die Vorwürfe.
Die Kollegen von der Spurensuche waren noch mit dem ersten Tatort beschäftigt; die Leiche war bereits in die Gerichtsmedizin transportiert worden. Berger und seine Frau waren auf der Wache, ein Kollege erstellte gerade mit Bergers Hilfe ein Phantombild des tatverdächtigen jüngeren Mannes. Rabenhofs Partner, Dennis Kosmann, war unterwegs zu Christian Pfeiffer, dem Redakteur, der das Video veröffentlicht hatte.
Das Telefon klingelte erneut. Rabenhof zögerte einen Augenblick – schon wieder ein Mord? – aber es war die Nummer der Spurensicherung.
„Rabenhof hier“, meldete er sich.
„Das ist ja eine schöne Scheiße hier, Stephan“, antwortete ihm Hermann Ziegel von der Spurensicherung, „aber ich will dir eben die ersten Erkenntnisse durchgeben. Also: Das Opfer ist männlich, weiß, zwischen fünfzig und sechzig Jahre, circa eins achtzig groß, Identität noch ungeklärt. Er hat keine Brieftasche oder Ausweispapiere bei sich; jedoch konnten wir Schuhabdrücke sicherstellen, die zum Profil des Opfers passen. Es hat ja die ganze Nacht geregnet. Unsere Jungs waren sorgfältig beim Betreten des Grundstücks und wir haben zwei ausgezeichnete Schuhspuren zum Haus, die höchstwahrscheinlich dem Täter und dem Opfer gehören. Leider führt keine der beiden Spuren wieder vom Haus weg; der Täter muss über den Rasen verschwunden sein.“
Rabenhof hörte das Bedauern in Ziegels Stimme.
„Nichtsdestotrotz werden wir dem nachgehen. Die Tatwaffe ist verschwunden; höchstwahrscheinlich mitgenommen. Die Hülse ist am Hinterkopf ausgetreten und wurde sichergestellt, neun Millimeter, könnte von einer Glock sein. Aber richtig feststellen können wir das erst im Labor, also versteif dich nicht zu sehr darauf.
Fingerabdrücke wurden sowohl auf der Klingel, als auch an der Gartentür sichergestellt. Mit etwas Glück die vom Täter selbst. Genaueres, wenn die Leiche untersucht wurde. Nach der Obduktion wissen wir hoffentlich mehr.“
Rabenhof bedankte sich und legte auf.
„Fingerabdrücke“, murmelte er. Nun – zumindest an der Klingel würden sie nur die Abdrücke des Opfers finden – im Video war deutlich zu sehen, wie der graubärtige Mann geklingelt hatte. Vielleicht am Gartentor… Aber das hielt der Kommissar für unwahrscheinlich. Vielleicht an der Hülse selbst? War der Täter bereits beim Laden der Waffe vorsichtig gewesen?
Die Abdrücke der Schuhe hielt er für potentiell sehr nützlich – immer unter der Voraussetzung, dass seine Kollegen den Spuren folgen konnten…
Rabenhof rieb sich erneut die Augen, dann gab er sich einen Ruck. Also, was hatte er?
Der mutmaßliche Drahtzieher war laut Bergers Beschreibung männlich, weiß, circa eins fünfundsiebzig groß, schlank, schwarzes oder dunkelbraunes Haar, zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig, Deutscher. Er trug Jeans und eine Jacke aus Lederimitat. Seine Stimme hatten sie ebenfalls, vom Video. Schaudernd rief er sich die Worte ins Gedächtnis: „Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz! Sie Schwein! Sie Ausbeuter! Sie Kapitalist!“
Das erste Opfer war ein älterer Mann, grauer Bart, um die fünfundfünfzig, ebenfalls weiß. Keine weiteren besonderen Merkmale. Deutscher, wie man auch im Video hören konnte.
Das mutmaßliche Ziel schien Richard Berger zu sein.
Berger war männlich, weiß, achtundfünfzig Jahre alt und Inhaber eines Reisebüros. Nicht arm, bei weitem nicht, aber auch nicht einer der reicheren Bürger Frankfurts. Gehobener Mittelstand, schätzte Rabenhof. Nicht erfolgreich an der Börse, wenn er sich an die schluchzende Aussage von Dorothea Berger recht erinnerte.
Wo war das Motiv? Was wollte der Täter erreichen?
„Bitte geben Sie mir zehntausend Euro, sonst muss ich mich umbringen.“
Habgier? Immerhin sprach die Geldforderung dafür. Aber warum dann bei Berger? In Frankfurt gab es eindeutig lohnendere Ziele. Wie wahrscheinlich war es für den Täter gewesen, dass Berger auf die Forderung eingehen würde? Rabenhof wurde das Gefühl nicht los, dass dem Erpresser durchaus klar gewesen war, dass Berger die Forderung ablehnen würde. Schließlich hatten die Männer eine Waffe dabei und führten die angekündigte Tat unmittelbar nach Bergers Absage aus. Und die Tat wurde gefilmt. Der Upload auf Social Media war wahrscheinlich fest geplant gewesen.
Warum hatte das Opfer nicht gezögert, sich zu erschießen? Seine Angst und Nervosität waren im Video sichtbar gewesen. Laut Bergers Aussage hatte er gezittert. Kein typisches Verhalten für jemanden, der seinen Selbstmord freiwillig geplant hatte.
Die Chance stand hoch, dass das Opfer zu der Tat gezwungen wurde. Wurde seine Familie bedroht? Seine Frau, seine Kinder? Hatte er sich deswegen ohne zu zögern erschossen?
Sollte sich das als wahr herausstellen, hieß das mit ziemlicher Sicherheit, dass es neben dem Filmer noch mindestens einen weiteren Täter gab. Dieser hielt womöglich gerade die Familie des Opfers in Geiselhaft…
Das Klingeln des Telefons riss den Kommissar aus seinen Gedanken.
„Rabenhof am Apparat.“
Die Stimme seines Partners, Dennis Kosmann, antwortete: „Dennis hier. Ich bin jetzt mit der Befragung von Christian Pfeiffer durch, das ist der Redakteur, der das Video hochgeladen hat. Der Rettungsdienst bringt ihn jetzt ins Krankenhaus, er hat einen schweren Schock.
Das Opfer ist eine gewisse Maria Gauber. Identität eindeutig bestätigt. Sie hatte ihre Papiere dabei. Sie war die Lebensgefährtin von Pfeiffer; sechsundvierzig Jahre alt, ein Kind.“
Rabenhof hörte ein schweres Seufzen.
„Kopfschuss, sie hat sich die Pistole in den Mund gesteckt. Neben ihr lag die Schusswaffe, eine Glock 17. Keine Kugeln mehr im Magazin, die letzte hat sich das Opfer durch den Schädel gejagt. Waffe und Patronenhülse habe ich sichergestellt. Ebenso das Handy; anscheinend hatte sie es bis zum Schuss am Ohr. Vermutlich war am anderen Ende der Täter, der ihr Anweisungen gegeben hat. Der Notarzt hat bestätigt, dass das Opfer sofort tot war.“
Kosmann ließ ein weiteres Seufzen los.
„Das Smartphone ist gesperrt; ich kann erst Auskünfte zum Anrufer geben, wenn es im Labor entsperrt wurde.
Jetzt pass auf, Pfeiffers Aussage gibt uns ein paar wichtige Anhaltspunkte:
Er meint, er wurde auf seinem Privathandy angerufen, ein altes Nokia-Telefon. Noch mit Tasten. Ebenfalls sichergestellt. Den ersten Anruf habe er weggedrückt, weil er die Nummer nicht erkannt hat. Aber die Nummer war sichtbar, der Anrufer hat sie nicht unterdrückt. Ich kann sie im Anrufverlauf aufrufen, schreib mit-„ Rabenhof kraxelte auf seinem Schreibtisch nach einem Stift, „-017450081427. Eine Handynummer, gib die mal in die Datenbank ein. Zumindest den Anbieter finden wir auf jeden Fall heraus. Selbst, wenn der Besitzer der Rufnummer gefälscht ist, oder das Handy gestohlen wurde, kann uns der Anbieter die IP-Adresse des Handys nennen und den Mast, der die Nachricht aufgenommen hat. Das schränkt das Gebiet schonmal ein.
Den zweiten Anruf nahm Pfeiffer an, aus Neugierde, wie er gesagt hat. Er hat die Stimme erkannt; es ist der Mann, der dieses verfluchte Video gefilmt hat. Der Mann am Telefon hätte von einer ‘großen Story‘ gesprochen und einer E-Mail, die er Pfeiffer geschickt hätte.
„Haben wir die E-Mail-Adresse?“ Rabenhofs Stimme klang ruhig, aber sein Herz pochte schnell.
Ja, aber es ist eine Wegwerf-Adresse: qvu61039[at]kasor.com. Darin ein Link zu einem Cloud-Anbieter. Leider nicht deutsch…“, Rabenhof hörte die Resignation in der Stimme seines Partners, „das wird schwierig, die Anbieter dazu zu bewegen, die IP-Adressen herauszugeben… Setz trotzdem jemanden darauf an, vielleicht haben wir ja Glück.
Rabenhof schrieb die E-Mail-Adresse und die Domäne des Links auf einen Block.
„Weiter!“, forderte er dann seinen Partner auf.
„Pfeiffer hat das Video gesichtet und sich zuerst geweigert, es auf dem Social-Media-Kanal der Zeitung hochzuladen. Dann bekam er ein Ultimatum – entweder, er lädt das Video innerhalb von zwei Minuten hoch, oder noch jemand würde sich erschießen. Ab hier kam das Opfer Maria Gauber ins Spiel. Der Anrufer zeigte ihm Maria, und konnte ihm glaubhaft deutlich machen, dass sie sich in Gefahr befand-„
„Wie?“, unterbrach Rabenhof, „Hat sie mit Pfeiffer gesprochen? Hat sie irgendwas gesagt?“
„Nein, er war im Gebäude und sie auf der Straße, die beiden hatten nur Blickkontakt. Pfeiffer sagt, der Täter habe ‘nachgeholfen‘ und daraufhin hätte er Marias Gesicht erkannt.
Pfeiffers Widerstand kippte in dem Moment um. Er versprach, das Video hochzuladen, verhaspelte sich dann aber beim Prozess und…“
Dennis Kosmann zögerte.
„Er hat es nicht rechtzeitig geschafft.“
Die darauffolgende Stille fühlte sich kalt und schwer an.
Kosmann sprach etwas stockend weiter: „Pfeiffer hat unter Weinkrämpfen beteuert, dass er nur noch eine weitere Sekunde gebraucht hätte, nur noch eine. Er hörte noch, wie der Täter ihm vorwarf, Journalisten würden nur aus Eigennutz handeln und den Menschen nicht helfen wollen. Es sei denn, man zwinge sie dazu. Danach hat Pfeiffer das Handy fallengelassen.
Das letzte, was ich aus ihm noch herausbekommen habe, war, dass der Täter scheinbar bereit war, mindestens seinen Namen zu nennen – nachdem das Video hochgeladen wurde.“
Kosmanns Stimme klang verbittert als er sagte: „Als ich Pfeiffers Telefon sichergestellt habe, war das Gespräch beendet.“
Rabenhof stöhnte und ließ seinen Oberkörper schwer gegen die Lehne seines Bürostuhls fallen. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. In diesem Augenblick fühlte er sich unfassbar müde. Und er hasste seinen Job. In Momenten wie diesem hasste, hasste, hasste er seinen Job! Dann stutzte er.
„Warum hat Pfeiffer ein Tastentelefon? Wer benutzt sowas noch?“
Am anderen Ende der Leitung gab es ein kurzes, offensichtlich verblüfftes Schweigen.
„Das werde ich in Erfahrung bringen. Als nächstes befrage ich den Chefredakteur Anders. Ich melde mich wieder.“ Damit legte Kosmann auf.
Rabenhof rief bei den Kollegen der Informations- und Kommunikationstechnik an und gab Handynummer, E-Mail-Adresse und den Cloud-Anbieter weiter. Den kompletten Link zur Cloudplattform würden sie später von Kosmann kriegen. Er hoffte, dass die Computer-Fuzzis schnell Ergebnisse liefern würden.
Dann besann er sich auf das, was er soeben gehört hatte.
Der Täter war derselbe, der auch beim ersten Tatort dabei gewesen war. Er hatte das Videomaterial des ersten Selbstmords auf einer Cloud-Plattform hochgeladen und dann einen Journalisten gezwungen, dieses Video zu veröffentlichen und zu verbreiten.
Die Zeit zu handeln war denkbar knapp bemessen, aber es war nicht unmöglich gewesen, die Forderung in der genannten Zeit umzusetzen.
Mhm, genau wie bei Berger. Eine Forderung, die theoretisch zu erfüllen gewesen wäre. Aber dennoch das sichere Gefühl, dass ein Scheitern sehr wahrscheinlich und damit definitiv beabsichtigt war…
Das zweite Opfer war eine Frau mittleren Alters. Eine Verbindung zu dem Journalisten lag eindeutig vor – sogar eine enge Verbindung. Ein Kind. Bedrohte man ihr Kind? Hatte auch sie sich deswegen – ohne zu zögern – in den Kopf geschossen?
Alarmiert rief Rabenhof seinen Vorgesetzten, Polizeihauptkommissar Lebrandt an und teilte ihm die Befürchtung mit, dass unter Umständen die Familie des ersten Opfers und das Kind des zweiten Opfers in Gefahr seien.
Lebrandt reagierte sofort: Er würde der Kriminaltechnik Beine machen, die Identität des ersten Opfers musste unbedingt schnellstmöglich festgestellt werden. Für das Kind schickte er ein paar Leute vom Schutz zu der Adresse von Maria Gauber.
Ein wenig beruhigt beendete Rabenhof das Gespräch.
Bei der zweiten Tat war das Ziel Christian Pfeiffer gewesen. Journalist. Definitiv geeignet für die Aufgabe, das Video zu verbreiten.
Rabenhof war überzeugt, dass Pfeiffer absichtlich ausgewählt wurde. Der Täter musste die privaten Handynummern von Pfeiffer und Gauber im Voraus ermittelt haben. Aber warum? Wer war Pfeiffer? Er brauchte mehr Informationen über den Mann.
Die beiden Opfer hatten keine erkennbare Beziehung zueinander, noch konnte man von ähnlichen Merkmalen sprechen. Ein Mann weit über fünfzig, keinerlei Beziehung zu Berger, mit ungeklärter Identität. Eine Frau, um die fünfundvierzig, direkte Beziehung zu Pfeiffer.
Nein, er wurde einfach das Gefühl nicht los, dass er sich hierbei eher auf die Ziele konzentrieren musste. Berger und Pfeiffer. Was hatten sie gemeinsam?
Beide waren männlich, weiß, deutsch, hatten sogenannte respektable Berufe. Berger war fast sechzig, wie alt war Pfeiffer? Näherte sich sein Alter dem seiner Lebensgefährtin an?
Berger war wohlhabend, scheinbar hatte er sein Geld aber ehrlich erwirtschaftet. Das musste aber noch überprüft werden. Hatte Berger etwas zu verbergen? Und wie sah es mit Pfeiffer aus? Wie war es um seine Finanzen bestellt?
Das Vorgehen der Taten war bei beiden Fällen ähnlich: Überstürzte Kontaktaufnahme zu den Zielen, Drohung, Zeitdruck, das Scheitern beinahe fest eingeplant.
Berger war noch mit dem Tod eines Fremden erpresst worden, Pfeiffer bereits mit dem Tod einer nahestehenden Angehörigen.
Rabenhof griff erneut zum Telefon und fragte nach einer möglicherweise vorhandenen Akte von Christian Pfeiffer. Er war ziemlich sicher, dass eine existierte – Pfeiffer war Journalist. Bestimmt hatte die Polizei schon mit ihm zu tun gehabt.
Inzwischen konnte das Tatmotiv „Habgier“ und „Räuberische Erpressung“ Rabenhofs Meinung nach ausgeschlossen werden. Zehntausend Euro hätten viel leichter und unauffälliger von jemand Reicherem als Berger eingefordert werden können. Mehr sogar, wenn ein Reicher mit dem Leben eines Familienmitglieds erpresst worden wäre. Und dazu noch das Video, das so offensichtlich den vermeintlich schändlichen Kapitalisten-Charakter Bergers offenbaren sollte.
Der Kommissar spielte noch einmal das Video ab. Sie haben ihn umgebracht! Sie Kapitalist!
Etwas ähnliches hatte doch auch Pfeiffer berichtet? Eigennutz und mangelnde Hilfe gegenüber der Bevölkerung, es sei denn, man wende Zwang an.
Das hier war eine Botschaft.
Sollte das das Motiv sein? Radikaler Idealismus? Terrorismus? Eine Anprangerung bestehender gesellschaftlicher Strukturen? Rechts- oder linksextrem?
Aber warum nur zehntausend Euro fordern? Sollte die Schwelle niedrig genug sein, dass sie in den sozialen Netzen Empörung auslösen sollte? Zehntausend Euro für ein Menschenleben…
Rabenhof war ziemlich sicher, dass jeder vernünftige Mensch diese Forderung abgelehnt hätte. Er selbst hätte es bestimmt abgelehnt. Wer rechnet damit, dass eine solche Erpressung echt sein würde? Dass einem selbst so etwas passieren würde?
Das Telefon klingelte erneut, Kosmann hatte die gewünschten Informationen: „Pfeiffer ist siebenundvierzig Jahre alt und arbeitet seit sechzehn Jahren beim "Frankfurter Generalanzeiger“. Vor knapp fünf Monaten hat er sich mit einem anderen Redakteur überworfen. Anders hat ihn dann in die Online-Redaktion versetzt. Für Pfeiffer eine Degradierung, laut Anders ist Pfeiffer kein bisschen technikaffin. Daher auch so ein Backstein als Privatgerät. Wahrscheinlich hatte er deswegen solche Probleme beim Upload des Videos. Keine Ahnung davon, wie man sowas macht…“
Kosmann redete noch weiter, aber Rabenhof hörte nicht mehr zu.
Pfeiffer wurde ausgewählt, ein Video auf Social Media hochzuladen, obwohl er kein technisches Know-How mitbrachte. Warum war er dann ausgewählt worden? Wäre nicht einer seiner jüngeren, technikbegeisterten Kollegen die bessere Wahl gewesen, wenn es um die Verbreitung der Nachricht ging? Sollte Pfeiffer scheitern? Sollte Maria Gauber um jeden Preis sterben, unabhängig von Pfeiffers Entscheidung?
Dazu noch Pfeiffers Alter… Berger und das erste Opfer waren im vergleichbaren Alter gewesen. Dazu Pfeiffer und das zweite Opfer. Ebenfalls vom Alter her nah beisammen.
Rabenhof wimmelte Kosmann ab; er würde die Zeugenaussagen lesen, sobald sein Kollege wieder im Büro war.
Was wäre passiert, wenn Berger die Tür gleich wieder geschlossen hätte? Oder wenn er und seine Frau bereits auf dem Weg zur Kirche gewesen wären? Hätte der alte Mann trotzdem sterben müssen? Hätten dann Täter und Opfer einfach bei jemand anderem geklingelt und diesem Jemand diese ungeheuerliche Forderung gestellt?
Was, wenn Pfeiffer nicht an sein Privathandy gegangen wäre? Einmal hatte er das Gespräch weggedrückt, wäre Maria auch dann gestorben, wenn Pfeiffer keine Chance gehabt hätte, sie zu retten? Oder wäre der schwarze Peter weitergereicht worden, an einen von Pfeiffers Kollegen? Hätte der Täter auch hier eine Geisel gehabt, die sich hätte erschießen können?
Mit einem Mal hatte Rabenhof ein ganz eigentümliches Gefühl; als ob er das alles schonmal erlebt hätte. Aber das war unmöglich; so einen Fall hatte er noch nie gehabt –er würde sich erinnern… Fast kam ihm das Ganze wie ein Spiel vor; ein krankes, verrücktes, widerliches Spiel. Der Täter wollte allem Anschein nach ein Spiel spielen. Und offensichtlich war es nicht gewollt, dass seine Gegner ihre jeweiligen Runden gewannen…
Der Kommissar rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Er hatte das schreckliche Gefühl, eine Uhr ticken zu hören, die unbarmherzig die Sekunden bis zur nächsten Tat herunterzählte.
Die Wahrscheinlichkeit, dass es vorbei war, ging gegen Null. Der Täter hatte sein Ziel noch nicht erreicht. Das Video war von der Plattform gelöscht worden, aber die Nachricht war deutlich:
Mit Berger hatte es einen Angriff auf die deutsche Bevölkerung, oder besser – das Bürgertum – gegeben.
Mit Pfeiffer einen Angriff auf die deutsche Presse.
Das nächste logische Ziel wäre die deutsche Sicherheit: Bundeswehr… oder Polizei.
Rabenhof zuckte zusammen, als es erneut klingelte. Dieses Mal kam das Klingeln aus seiner Jackentasche.