Die Gruppe
Von @Literally
Wow, was für ein Beginn meines ersten Arbeitstages bei der Mordkommission, dachte
Bianca Frey, die neue Oberkommissarin.
Als sie zum Tatort kam, lag die Tote, eine gutaussehende junge Frau, am Boden. Wie
auf dem Boden drapiert, bekleidet mit einem roten langen Mantel. Die noch verschlos
sene Brötchentüte, welche sie wohl noch vor dem tödlichen Schuss fest umklammert
hatte, lag neben ihr. Die Brötchen waren wohl für ein spätes Frühstück oder Brunch!
Ach, das ist doch unwichtig, unterbrach sie selbst ihren Gedankenfluss. Das Blut der
Ermordeten lief in Rinnsahlen, die zu einer beachtlichen Blutlache am Kopf des Opfers
zusammen. Was für eine Verschwendung von Leben, das Opfer war ja kaum älter als
ich, erschüttert scannte Bianca die tote junge Frau ab. Die schwere Kopfverletzung gab
keinen Grund der Hoffnung auf das Überleben eines solchen Schusses aus unmittel
barer Nähe. „Frau Frey schauen Sie mal!“, rief die Polizeiärztin.“Der Schuss wurde aus
unmittelbarer Nähe abgegeben. Es handelt sich um ein Kleinkaliber, näheres kann ich
erst nach der Obduktion sagen. Nur so viel, diesselbe Vorgehensweise wie bei dem
männlichen Mordopfer heute Morgen. „Danke, Frau Dr. Roth!“ Bianca blickte in Rich
tung Verlagsgebäude. Der verzweifelte Vater hatte zu lange für das Hochladen des
Videos gebraucht, wirklich nur um Haaresbreite die vorgegebene Zeit des Erpressers
überschritten und dann Peng und die Tochter war hinüber, einfach mal so gesagt. Frey
sprach mehr zu sich selbst, doch was soll das denn sein? Der Fall gibt irgendwie keinen
Sinn: zuerst die Forderung nach 10.000 € dann das Opfer, dass sich selbst erschoss
und jetzt beim zweiten Opfer das Video über den ersten Mord. Dramatischerweise
wurde dieses Video auch vom Vater der Toten zu langsam hochgeladen. Die Kaltblütig
keit der Tathergänge ließ Frey erschauern, hätte der offensichtlich männliche Täter nicht
einen Finger oder so, seinen Opfern abhacken können, um seiner Forderung Nach
druck zu verleihen? Musste es gleich der finale Todesschuss sein, so eine Art Hinrich
tung. Wo blieb denn nur ihr Kollege Karl-Heinz Oberjäger? Der hat sich seinen Namen
auch nicht selbst gegeben, hirnte sie. Da kam Hauptkommisar Oberjäger auch schon
angehechtet. „Das an einem Montagmorgen und an ihrem ersten Arbeitstag Frau Frey!
Sie können Karl-Heinz sagen, mein Name verströmt noch etwas old school oder gute
heile Welt!“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Ok! Ich bin Bianca!“, erwiderte die
Oberkommissarin leicht irritiert. „Gab es da nicht einmal eine Walt Disney Film mit
Bianca?“, während Oberjäger dies sagte, legte er seine Stirn im Denkerformat in Falten.
„Das sieht allerdings wenig lustig aus!Wissen wir schon etwas von der Toten?“, raunte
er tonlos und beugte sich zur Leiche runter. “Die Tote heißt Maria und ist die Tochter
des Journalisten, der vorhin die Polizei über Notruf rief. Der Vater der Toten hat bedingt
durch den Schock einen Nervenzusammenbruch erlitten und kann momentan keine
Aussage machen. Eine Zeugin hat sich gemeldet, während der Tat sei sie in ihrem par
kenden Auto gewesen und hat die Tat gesehen. Der Täter sei eine ca. 1,75 cm große
Person, vermutlich männlich, war schwarz gekleidet und hatte eine schwarze Mütze
auf. Nach dem Schuss sei er mit einem Rennrad in Richtung Bahnhof davon gefahren.“,
mit sachlicher Stimme erläuterte Frey ihrem Kollegen die Sachlage.
Die Fahndung läuft. Die Frage lautet immer noch: Was will der Täter?
Etwas später saßen Frey und Oberjäger in ihrem Büro. Die Täterprofile an ein großes
Flipchart geheftet und es begann die Aufklärungsarbeit. Parallel dazu beschäftigte sich
noch ein Stab von Spezialisten, wie Psychologen und Sonderermittler, denn in aller Eile
war eine Sonderkommission gebildet worden. Frey und Oberjäger waren mit von der
Partie. Sie hatten sich inzwischen das Video mit der Forderung des Täters angeschaut.
Wegen 10.000 € das alles und warum trug der Mann eine Krawatte mit € Zeichen?
Warum hatte seine Frau ihm diese geschenkt? Das Video endete mit der Forderung
über 3 deutsche Großstädte gleichzeitig jeweils 1 Millionen in 50 € Scheinen regnen zu
lassen, und zwar morgen Mittag 15 Uhr.
„Das ist absolut irre!“ entfuhr es Frey laut.
Wenn dies nicht geschehe, würden in allen 3 Großstädten Amokläufe gleichzeitig
stattfinden. Zum Schluss des Videos kam die Parole: Es ist nur Geld …!
Die Namen der betreffenden Großstädte würden noch mitgeteilt werden. Laut Anwei
sung des Polizeipräsidenten durfte keiner der Sonderermittler nach Hause gehen, bis
der Fall abgeschlossen sei. Die Lage sei sehr ernst!
Bin das ich, der das alles widerfährt, dachte Frey ungläubig und schüttelte ihren
Kopf.“Meiner Meinung nach, sollte kein Risiko eingegangen werden!, sagte sie laut und
mit fester Stimme. „Und es sollte gemacht werden, was gefordert wird!“
Karl-Heinz Oberjäger, trug jetzt über seinem Hemd eine bequeme Strickjacke und des
Deutschen liebsten Sandalen mit Wollsocken an den Füßen, da er sich umgezogen
hatte. „Das gibt ein Fest, wenn eine Millionen Euro in 50 € Scheinen über den Städten
herunter gerieselt wird! Ist denn schon Weihnachten! So wie es aussieht, scheint es
doch eher ein politsches oder soziales Motiv zu sein und wir haben es mit einer Gruppe
zu tun!“, brüllte er emotional in die Runde…“Halt, gerade geht eine E-Mail, ein Bekenner
schreiben ein!“
Groß und plakativ war da die Überschrift zu lesen:
Es ist nur Geld …
Wir wiederholen:
Morgen 15 Uhr über folgende 3 Großstädte herabregnen zu lassen:
1 Millionen Euro in jeweils 50 € Scheinen über die Städte:
Berlin, Frankfurt und Dresden.
Wir wiederholen:
Bei nicht Befolgen der Anweisung werden wir mit willkürlichen Erschießungen in
Berlin, Frankfurt und Dresden beginnen.
Gezeichnet: Es ist nur Geld …
„Jetzt ist es auch noch Sache des Geheimdienstes und überhaupt oberste Priorität! Ich
verständige sofort den Polizeipräsidenten und dann geht es seinen Weg!“, rief Ober
jäger mit bebender Stimme. Betretenes Schweigen erfüllte den Raum, von der Gruppe
‚Es geht nur um Geld‘ hatte noch niemand gehört.
Im Hintergrund waren eilige Schritte auf dem Flur zu hören und die weißen unpersön
lichen Wände des Zimmers starrten auf die Ermittlergruppe. Laboratmosphäre wurde
das genannt, es sollte nichts ablenken und alle hier sollten fokussiert sein.
Sicherlich wusste der Staatsschutz über die Gruppe Bescheid und es wird eine
rasche Klärung geben, mutmaßten sie und schauten sich ratlos an.
„Was sind 3 Millionen Euro!“, wiederholte Frey sich laut. „Es darf keine weiteren Tote
mehr geben. Der Geldregen muss stattfinden, alles andere ist doch nebensächlich!
„Wer hat das beschissene, diese gottverdammte Video hochgeladen ?!?!?!“
Wutentbrannt, mit hochrotem Kopf war Magnus in die Online-Redaktion gestürmt. Pfeiffer war anscheinend nicht der Einzige, der die ruhige Zeit am Wochenende für die Arbeit nutzen wollte.
Christian Pfeiffer hörte ihn, realisierte aber nicht, was hier los war. Noch immer klang der Schuss, den er von draußen gehört hatte, in seinen Ohren nach. Und in seinem Kopf sah er Maria, blutverströmt, auf dem Straßenpflaster liegen. Seine Maria, seine geliebte Maria, wie den alten grauhaarigen Mann auf dem Video – der sich auch eine Kugel in den Kopf gejagt hatte.
„Waren SIE das?“, brüllte ihn Magnus an, der mittlerweile neben ihm stand. Keine Nasenlänge von ihm entfernte, spuckte er ihm die Worte direkt ins Gesicht: „Wollen Sie mich komplett ruinieren, Sie Vollidiot? Zuerst die Sache, die sie so was von verbockt haben. Und jetzt laden sie so ein Video hoch, ohne es mit mir abzusprechen?!?“
Jetzt erst merkten beide, dass die Telefone in allen Büros pausenlos klingelten. Ebenso piepsten ihre Handys wie verrückt, durch Messages, die eintrudelten. Das Video hat die große Welt draußen erreicht. Wie schnell sich so beschissene Nachrichten online verbreiten, dachte sich Pfeiffer. Seine Gedanken waren aber schon wieder bei Maria. Hätte er es verhindern können, wenn er 10 Sekunden schneller gewesen wäre? Lächerliche 10 Sekunden oder vielleicht auch nur 5.
Sein Chef hatte wohl gar keine Antwort von ihm erwartet. Dazu wäre Christian gar nicht imstande gewesen. Magnus stürzte zum großen Monitor in dem Großraumbüro ein und wählte ein Programm, wo gerade die Nachrichten liefen.
„Heute erschoss sich ein Mann auf offener Straße. Der Selbstmord wurde mitgefilmt. Bevor noch die Polizei am Tatort eintraf, wurde von der Frankfurter Zeitung dieses Video auf ihrer Online-Plattform gepostet. Inwieweit der Verlag in das Geschehen verwickelt ist, ist noch ungeklärt.“
„Da haben Sie den Scheiß! Wie sollen wir das erklären? Besser gesagt, wie wollen Sie das erklären?!“, brüllte er wieder Pfeiffer an.
„Ein Rätsel ist weiters,“ hörten sie nun beide die Nachrichtensprecherin, „was der Grund für diese Tat ist. Das noch unbekannte Opfer hatte zuvor, 10.000 Euro verlangt, ansonsten würde es sich umbringen. Den Geldbetrag hatte sie von Richard Berger eingefordert …“
In dem Moment wurde Pfeiffer hellhörig und blickte zu dem Monitor. Richard Berger? Berger gab es viele in Deutschland, war es aber der Richard Berger? Am Bildschirm sah er ein kleines Bild eingeblendet. Und auf dem war Richard Berger zu sehen. Er war es. Es war sein Richard Berger. Das alles konnte kein Zufall sein. Der journalistische Instinkt in ihm kam durch.
Wie die Vernetzung in seinem Kopf zu spinnen begann, war er auch schon wieder bei dem Bild von Maria. Was interessierte ihn noch, Richard Berger oder Fall, mit dem er sich so lange beschäftigt hatte. Oder das Video, welches sich jetzt Tausende, ja Millionen von Menschen, sensationsgeil ansahen, wie sich ein Mann den Schädel wegpustete.
„Christian, du bist da?“
Wird wohl nichts mit dem ruhigen Tag im Büro, dachte sich Pfeiffer. Als ob es das Schlimmste wäre, dass jetzt auch noch Karin von seinem alten Redaktionsbüro hier rein stürmte. Wobei, wie krank bin ich?, war sein nächster Gedanke. Meine Freundin liegt tot auf der Straße und ich … ich … ich … Er wusste wirklich nicht mehr, was er denken sollte.
Magnus versuchte auch sofort auf Karin einzubrüllen, doch sie ignorierte ihn.
„Christian …“, sie nahm ihn an den Schultern und rüttelte ihn. „Christian, ich wollte mir gerade etwas vom Büro holen. Und bevor ich ins Gebäude kam, sah ich … ich sah Maria.“
Mit leeren Augen blickte er seine Ex-Kollegin an, mit der er immer gerne zusammen gearbeitet hatte. Er wusste, was jetzt kommen wird.
„Christian, deine Maria. Hörst, deine Maria, sie ist … sie hat …“. Pfeifer merkte, wie eine Träne über seine Wange lief. Das war seine ganze Reaktion.
„Sie … sie hat … einen Revolver …“, Karin stockte in ihren Worten, „… sie hat mit dem Revolver jemand auf der Straße erschossen.
Es dauerte 2 Sekunden, 10 Sekunden, eine Ewigkeit. Pfeiffer wusste nicht wie lange, bis er die Worte realisiert hatte. Sie war nicht tot! Doch Karin sprach weiter.
„Und du wirst nicht glauben, wen sie erschossen hat …“
Purer Sprengstoff
4 Wochen zuvor
Gottfried Schaller bremste den Reisebus auf dem Parkplatz in Sichtweite des Kanzleramtes. Zischend fraßen sich die Belege in die Bremsscheiben und der Bus kam schaukelnd zum Stehen. Er öffnete die Türen und die Reisegruppe strömte heraus. Erleichtert, sich endlich wieder die Füße vertreten zu können, sammelten sich die Fahrgäste draußen um Gottfrieds Kollegen und Reiseleiter Karl Schruller.
„Meine Damen, meine Herren, wie sie unschwer feststellen können, haben wir Berlin und das Kanzleramt erreicht. Bitte entfernen sie sich während der gleich anstehenden Besichtigung nicht allzu weit von der Reisegruppe. Die Sicherheitsvorkehrungen hier in der Schaltzentrale der Macht, sind, wie sie sicher verstehen werden, sehr sehr streng.«
»Werden wir sonst verhaftet und eingekerkert?«, meldete sich Hermann Probst aus der hinteren Reihe der Reisenden.
»Das steht zu befürchten«, erwiderte Schaller grinsend und suchte mit neugierigem Blick den Witzbold, der irgendwie in jeder Gruppe, die er begleitete, dabei war. Ah ja - der ältere graubärtige in der letzten Reihe. Der hatte auf der Fahrt bereits für viel Gelächter gesorgt.
»So meine Damen und Herren, genug gescherzt.« Er warf einen Blick auf seine, nicht gerade als dezent zu bezeichnende Armbanduhr, welche ihm sein Hannelörchen zum 40-sten Geburtstag geschenkt hatte.
»Gleich geht es los. Folgen sie mir bitte unauffällig in den Besucherbereich. Dort wartet bereits Frau Bering-Merkelmann, - nicht verwandt oder verschwägert, bevor jemand fragt, - um sie in die tiefsten Geheimnisse des Kanzleramts einzuführen. Die Führung wird ungefähr eine Stunde dauern. Danach treffen wir uns wieder vollzählig am Bus. Jetzt bleibt mir nur noch, ihnen einen interessanten Nachmittag zu wünschen.«
In dem Moment trat eine hochgewachsene, etwa dreißigjährige Frau auf sie zu und stellte sich als ihre Führerin durch das Kanzleramt vor.
Etwa eine halbe Stunde später, - sie wurden gerade durch lange Gänge geführt, an denen die Büros der Politiker lagen, - verspürte Hermann Probst einen unbändigen Drang.
TOILETTE!- SOFORT!!! - blinkten rote Neonbuchstaben in seinem Kopf auf. Die Angelegenheit war wirklich dringend, - keine Kleinigkeit - und duldete keinerlei Aufschub.
Den Gedanken, Frau Bering-Merkelmann nach dem stillen Örtchen zu fragen, verwarf er augenblicklich, als er die rettende Tür zum Sanitärbereich entdeckte. Zwar prangte ein Schild darüber, welches diese Keramikabteilung explizid als nicht für Besucher auswies, aber Hermann fackelte nicht lange. Auch auf die Gefahr hin eingekastelt zu werden, entfernte er sich eilig von der Gruppe. Denn das war im Moment sein kleineres Problem.
Vermutlich war der Hering, den er während des Zwischenstopps an der Autobahnraststätte gegessen hatte, schuld.
Hermann riss die Tür auf und fand sich in einem Vorraum wieder von dem drei Türen abgingen:
Er entschied sich für die Tür mit dem messingfarbenen M und verschwand sodann in einer der vielen, großzügig bemessenen Toilettenzellen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, und gerade erleichtert aufstehen wollte, hörte er zwei sich angeregt unterhaltende Personen eintreten.
Du darfst gar nicht hier sein - schoss es ihn durch den Kopf. Neugierig lauschte er der Unterhaltung hier im Zentrum der Macht.
»Hast du eigentlich kein schlechtes Gewissen?«, fragte der eine lachend.
»Gewissen? - Was ist das«, erwiderte der andere mit ebenfalls humorigem Unterton.
Die Stimmen kamen Hermann irgendwie bekannt vor. Seine Neugier war somit endgültig geweckt. Leise fischte er das Handy aus der noch auf den Knien hängenden Hose und aktivierte die Kamerafunktion. Er drückte auf Aufnahme und hielt das Gerät unter die etwa fünfzehn Zentimeter über dem Boden endende Kabinentür.
»Irgendwie riecht es hier streng.«
»Sicher der Klimawandel Berti«, scherzte der Eine.
»Olli, ich kanns bald nicht mehr hören - CO2«.
»Klar, aber glücklicherweise schlucken die meisten Leute das Mantra mit dem menschgemachten Klimawandel ohne es zu hinterfragen.«
»Gott sei Dank, oder sollte ich sagen, den Medien sei Dank? Wer sich das ausgedacht hat, müsste einen Orden bekommen.«
»Ich glaube, diese Religion kommt aus Amerika.«
»Bei den Haushaltslöchern, die wir zu stopfen haben, ist so eine CO2-Abgabenerhöhung schon recht hilfreich. Und nächstes Jahr gibts nochmal einen ordentlichen Schluck aus der Pulle.« »Jau, da kann man fast ein schlechtes Gewissen bekommen«, erwiderte der Eine lachend. »Kannst du dich an die Anhörung erinnern, letztes Jahr, - wie hieß der Astrophysiker noch - Cobun, Coben, nein Corbyn, Pierce Corbyn. Seine Fakten , die er uns auf den Tisch geknallt hat, haben doch im Grunde niemanden interessiert.« »Fakten, Fakten,- es geht doch nicht um Fakten Olli, aber das muss ich dir ja nicht erklären. Ich hab
mir neulich die Argumentation der Schwurbler, wie wir sie in den Medien gerne bezeichnen nochmal angeschaut. Man weiß ja nie, wann man mal in irgendeiner Talkshow so einem Experten begegnet und da muss man Bescheid wissen.«
»Da kenn ich ein gutes Rezept. Totlabern, einfach totlabern. Da macht uns so schnell niemand was vor.«
»Klar Berti, aber die wirklich guten Experten werden zum Glück gar nicht erst eingeladen.«
»Mit Glück hat das, wie du weißt, wenig zu tun.«
Hermann traute seinen Ohren nicht. Jetzt hörte er ein Plätschern in den Urinalen. ,
»Ich weiß, ich weiß. Die Fakten kennen wir doch alle. Erst kam der Temperaturanstieg, dann, erst ein paar hundert Jahre später der CO2- Anstieg und nicht umgekehrt - alles in Eisbohrkernen nachgewiesen.«
»Richtig. Dazu noch die Tatsache, dass wir uns gerade in einer kleinen erdgeschichtlichen Kältephase befinden und die Temperatur - seit wann eigentlich?«
»Seit Achtzehnhundertschießmichtot», erwiderte der andere lachend.
»Genau, seit damals die Temperatur im normalen Zyklus der Warm-Kaltzeiten wieder ansteigt.«
»Sag ich doch. Und den Anstieg verkaufen wir den Wählern jetzt als menschgemacht. - einfach genial.«
»Tja, dafür werden wir bezahlt, vergiss das nie mein Freund, vergiss das nie. In dieser Sache stehen wir nicht am Anfang der Nahrungskette.«
Hermann hörte, wie ein Reisverschluss hochgezogen wurde.
»Erster.«
»Sagst du das im Bett auch immer?? Arschloch - warte - bin gleich soweit.«
Eine weitere Hose wurde geschlossen und Hermann hörte Wasser ins Waschbecken rauschen. Kurz darauf entfernten sich die Stimmen in Richtung Ausgang.
»Puh, hier stinkts wie im Pumakäfig. Muss mal n ernstes Wort mit unserm
Facilitykasper wechseln.«
»So Olli, Mundwinkel nach oben und lächeln. Showtime! Hab’ eben ne Besuchergruppe draußen rumschleichen gesehen. Zück schon mal deine Autogrammkarten.« »Es bleibt einem aber auch nichts erspart.« Hermann hörte die Toilettentür schlagen, dann wurde es ruhig. Hastig stoppte er die Aufnahme, zog die Hose hoch und drückte die Spülung. Wegen des Geruches konnte er den beiden Herren nur beipflichten. In höchstem Maße verstört, verließ Probst den Toilettenraum. Eilig rannte er den menschenleeren Gang entlang. Alsbald stieß er auf seine Gruppe, der er dann abwesend folgte. Staunend ließ er immer wieder auf dem Handy die Aufnahme ablaufen. Horst Stein, in diesem Gebäudeteil für die Sicherheit zuständig, folgte der Reisegruppe und schaute Hermann, von diesem unbemerkt, über die Schulter. Er erkannte sofort die beiden Akteure in dem Handyfilm und war sich der Brisanz des Films nach kurzem Zuhören bewusst. Der Sicherheitsmann ließ sich zurückfallen und meldete über Funk seine Beobachtung an die Zentrale. Die erteile Stein den Befehl zu warten, bis man sich wieder melde. Das geschah, als der Reisebus mit Hermann Probst und seiner Gruppe den Blinker setzte und sich in den nachmittäglichen Verkehr in Richtung Autobahn eingefädelte. »Sofort festnehmen, den Mann!«, schepperte es aus Horsts Walki-Talki. »Tja, das wird schwierig, Chef. Die Gruppe ist schon abgereist.« »Warum haben Sie den Kerl nicht festgehalten!« »Sie haben doch gesagt ich sollte warten.« Ein leichtes Grinsen machte sich auf Steins, von Aknenarben zerfurchtem Gesicht breit. Er konnte seinen Vorgesetzten nicht ausstehen. »Sofort alle Überwachungskameras sichten, den Kerl identifizieren und festnehmen! Die nationale Sicherheit steht auf dem Spiel!« * Hermann Probst schob das Handy in seine Gesäßtasche. Nachdenklich und der Illusion von integren Politikern beraubt, saß er auf der hinteren Bank des Reisebusses, während dieser in Richtung Heimat rollte. In Frankfurt verließen die letzten Fahrgäste erschöpft t den Bus. Gottfried Schaller stellte das Fahrzeug in der Halle ab und inspizierte routinemäßig den Fahrgastraum. Er befreite die Polster von Chipsresten, fegte den Mittelgang aus und schaute, ob alles für die morgige Berlintour bereit war. Zwischen Rückenlehne und Sitzbank der letzten Reihe blinkte es ihm silbern entgegen. Na klar, da ist wieder so einem Trottel das Handy aus der Taschen gerutscht. Nicht das erste Mal und sicher nicht das Letzte. Er fischte das Telefon aus der Ritze und machte sich auf den Weg ins Büro. Dort brütete sein Chef Richard Berger über den Büchern. »Nam
t Chef, noch fleißig?«
»Namt Gottfried. Na, hat in Berlin alles geklappt?« »Ohne Probleme, Chef. Alles wie immer.« Berger hatte von seinem besten Mann nichts anderes erwartet. »Ach Chef, ehe ich´s vergesse, da hat einer sein Handy im Bus verloren. Ich leg
s hier auf den Tresen.«
»Alles klar. Na dann bis morgen in alter Frische Gottfried.«
Richard schaute auf die Uhr. Scheiße schon so spät. Ich hatte Dorothea doch versprochen, heute mal pünktlich Feierabend zu machen.
Er stemmte sich stöhnend aus dem Bürostuhl hoch und wankte steifgliedrig auf die Tür zu. Da fiel sein Blick auf das Handy, welches Gottfried auf den Tresen gelegt hatte.
Seltsam, mit was für Bildchen die Leute heutzutage ihr Handy schmücken, dachte er .
Auf der Rückseite des Mobiltelefons prangte das Foto eines fantasievoll gestalteten 10.000 Euroscheins. Ja, wenn der echt wär, damit könnte ich er mal wieder ein Wenig an der Börse spekulieren, sinnierte er. Berger löschte das Licht und schloss die Tür. Zuhause stellte Hermann Probst mit Entsetzen fest, dass sein Handy fort war. Da kam eigentlich nur der Reisebus infrage. * Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg zum Reisebüro Berger. Er nahm die U-Bahn, da er keine Lust auf die zermürbende Parkplatzsuche in der Frankfurter Innenstadt hatte. Ganz in Gedanken schlenderte er eine etwas vermüllte Straße entlang als neben ihm eine dunkle Limousine mit getönten Scheiben, scharf abbremste. Kräftige Hände pachten ihn, stießen ihn grob in das Fahrzeug und knallten die Tür zu. Ein Stoffsack wurde ihm über den Kopf gestülpt und ein Pistolenlauf bohrte sich unmissverständlich in seine Rippen. »Was soll der Scheiß?!«, stammelte Probst verängstigt. »Wollt ihr Geld? Da seid ihr bei mir an der falschen Adresse!« »Schnauze!« »Ehrlich! Ich glaube ihr habt den Falschen!« Etwas stach in seinen Arm und dann wurde es noch dunkler um ihn. * Probst blinzelte in ein helles Licht, das ihm unangenehm in die Augen stach. »Ah da ist er ja wieder!«, höhnte eine dunkle Stimme. »Gut geschlafen?« »W-wo bin ich? Wer sind-«. »Schnauze! Wir stellen hier die Fragen! Wo ist dein Handy?!« »W-was? Mein Handy?! Deshalb haben Sie - ?« »Dein Handy! Wo hast du es?!« Ein harter Schlag in die Magengrube überzeugte Herman Probst endgültig davon, wie ernst die Kerle es meinten. »Hab ich verloren«, stöhnte er. Heftiger Schmerz durchzuckte ihn abermals, als ihm jemand brutal auf die Wange schlug. »Wir können auch anders! Los beantworte die Frage! Wir wissen von dem Film, den du in Berlin illegalerweise gemacht hast. Du ahnst nicht mal ansatzweise, in welchen Schwierigkeiten du steckst Freundchen.« »Ehrlich, ich hab
s verloren!«
Der Schmerz trieb ihm Tränen in die Augen.
»Wahrscheinlich auf der Rückfahrt im Bus. Ich war gerade auf dem Weg zum Reisebüro, um mir mein Handy wiederzuholen.«
Der Mann schaute ihn aus kalten Augen skeptisch an und verließ den Raum. Draußen warteten zwei Kollegen von ihm.
»Glaubst du ihm?«
»Na bei sich hat er es jedenfalls nicht. Möglich wärs.« »Was, wenn die im Reisebüro es gefunden haben? Ein Name steht ja nicht drauf. - Was, wenn die den Film schon gesehen haben?« »Wir brauchen einen Plan. Den Vogel da hinten haben wir glaube ich genug eingeschüchtert. Jetzt müssen wir uns den Besitzer vom Reisebüro vornehmen. Sollte der das Handy haben, darf er gar nicht erst auf den Gedanken kommen, dass er da einen Lottogewinn in der Hand hält. Ich hab
auch schon eine Idee.«
Zwei Tage später betätigten der Agent des Geheimdienstes und Herman Probst die Klingel an Richard Bergers. Haustür. Sie hatten Probst eingebläut das Handy nicht direkt zu erwähnen. Erst wollten sie Bergers Reaktion abwarten. Möglicherweise hatte er das Handy ja gar nicht. Sollte er es gesehen haben, wäre ihm garantiert der auffällige 10.000 Euroschein auf der Rückseite aufgefallen, den Probst ihnen beschrieben hatte. Die Waffe sei nicht geladen hatten sie Probst gesagt. Er solle nur damit drohen, sich zu erschießen.
Würde Berger sich davon nicht beeindrucken lassen müsse er abdrücken. Man hatte ihm Ohrstöpsel verpasst, damit der Knall nicht so laut wäre. Er solle die Sache möglichst überzeugend durchziehen, dann würde man von einer Anzeige wegen der illegalen Filmerei absehen.
Bis auf die Tatsache, dass echte Kugeln in der Waffe waren und man sich damit Probst als lästigen Zeugen und Mitwisser vom Halse geschafft hatte, war man nach der ganzen Aktion allerdings dem Handy keinen Schritt nähergekommen.
Bergers Reaktion an der Haustür war ebenfalls sehr überzeugend, so dass man das Mobiltelefon ehr in Probsts Wohnung oder näherem Umfeld vermutete.
Berger hingegen hatte die Nacht darauf schlecht geschlafen. Der Selbstmord, direkt vor seiner Haustür hatte ihn doch sehr erschüttert. Die 10.000 Euro gingen ihm immer wieder durch den Kopf. Irgendwas klingelte da bei ihm, aber er konnte es nicht greifen.
*
Montagmorgen betrat er wie immer das Büro. Sein Blick streifte das auf dem Tresen liegende Handy und in dem Moment fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Da waren sie, die 10.000 Euro.
Es ging den Fremden gar nicht um Geld, sondern um das Telefon. Aber warum hatten die nicht einfach danach gefragt? Warum mussten die eine solche Show abziehen und sich dafür umbringen? Was war so besonders an dem Handy?
Berger nahm das Gerät und schaltete es ein. Kein Sicherheitscode, Accu noch halb voll - super.
Er scrollte durch die Dateien. Fand Filmsequenzen der Busreise. Dann einen seltsamen Film aus ungewöhnlicher Perspektive. Zwei Männer in Anzügen unterhielten sich vor einem Urinal stehend. Es ging um Klimawandel. Berger konnte nicht jedes Wort verstehen. Dann hatten sie anscheinend ihr Geschäft erledigt und drehten sich zur Kamera.
Er erstarrte.
Das konnte doch nicht wahr sein. Berger startete den Film erneut und stellte den Ton auf volle Lautstärke. Jetzt war die Unterhaltung der beiden gut zu verstehen.
Er traute seinen Ohren nicht.
Der Film war politischer Sprengstoff. Jene, die dem Volk tagein tagaus predigten, wie schädlich CO2 sei, glaubten selber nicht an den menschgemachten Klimawandel.
Klar, über die Argumente der beiden hatte er selbst schon auf diversen Seiten im Netz gelesen. Das aber als Schwurbelei von ein paar Klimaleugnern abgetan, So wie die Medien sie ja auch gern bezeichneten.
Und jetzt das hier. Wenn der Film in den Medien bekannt würde, wäre die Regierung am Ende. Und nicht nur die Deutsche, sondern alle anderen Länder, die bei der Sache mitmachten, verlören ebenfalls ihre Glaubwürdigkeit. Der Film war pures Dynamit.
Wenn man dahinterkäme, dass er den Film besäße, wäre sein Leben keinen Pfifferling mehr wert.
Nach langem Überlegen kam er zu dem Schluss, dass er das Video veröffentlichen müsse, um sich zu schützen. Aber wer würde ihm glauben. Da fiel ihm dieser Journalist ein. Der hatte mal einen Artikel über die Reisebranche geschrieben und ihn dazu interviewt.
Pfeiffer hieß der - richtig - Pfeiffer aber mit zwei F hatte der Journalist damals gescherzt. Wie Professor Pfeiffer in der Feuerzangenbowle, den Heinz Rühmann so grandios verkörpert hatte. Irgendwo musste er noch dessen Nummer haben. - Ah! - Da war sie ja schon. Bei der FGZ arbeitete der Schreiberling damals. Eine renommierte Zeitung, der man Glauben schenken würde.
Hastig wählte er die Handynummer.
»Christian Pfeiffer«, meldete sich der Journalist forsch.
Nach 10 Minuten beendete Berger enttäuscht das Gespräch. Erstens glaubte der Schreiberling ihm nicht so richtig, dass er einen solchen Film besäße. Zweitens, falls das mit dem Film der Wahrheit entspräche, würde er sich mit der Veröffentlichung garantiert seine Kariere zerstören.
Natürlich kannte er die Argumente, welche im Video vorgebracht wurden. Aber sie waren nicht erwünscht. Zu viel Geld war im Spiel. Unvorstellbare Summen wurden weltweit damit umgesetzt. Nein er würde sich daran nicht die Finger verbrennen. Dagegen wäre Watergate ein Kindergeburtstag gewesen. Und nein, selbst der Pulitzerpreis wäre den Ärger nicht wert.
*
Gegenwart
Pfeiffer! Sind Sie noch dran!?
Pfeiffer war wieder ans Fenster gerannt und starrte auf die Straße herunter. Nichts, keine Spur von seiner Freundin.
»Pfeiffer hören Sie mich?!«, schallte es aus dem am Boden liegenden Telefon.
Zitternd klaubte er das Gerät vom Boden auf und presste es sich ans Ohr.
»Was haben Sie getan?! Wo ist meine Freundin!«
»Keine Sorge, es geht ihr gut. - Noch. Wir melden uns.«
Dann war die Leitung tot.
Hastig wählte er Marias Nummer.
»Christian? Hast du schon wieder Sehnsucht nach mir?«
»Maria! Geht es dir Gut? Bist du verletzt!?«
Pfeiffer schaute weiter angestrengt auf die Straße herunter. - Nichts - keine Spur von ihr.
»Warum sollte ich verletzt sein? Meinst du, wegen unseres kleinen Streits heute Morgen?«
»Was? - Äh- nein.«
»Sehen wir uns heute Mittag? - Um zwölf ? - Beim Italiener? - Ok Schatz, mach`s gut, muss mich beeilen, der Bus kommt.«
Pfeiffer begriff noch immer nicht, was gerade eigentlich passiert war. Hatte er das geträumt?
Doch dann fiel sein Blick wieder auf das eben hochgeladene Video. Konzentriert schaute er es sich noch einmal an. Der Mann, vor dessen Haustür sich eben jemand erschossen hatte. Der mit dem rundlichen Gesicht und fliehendem Haaransatz, der ihn an Schluss so verdutzt ansah, - der kam ihm irgendwie bekannt vor. - Ja genau. Das war doch dieser Reisebürofuzzi, den er mal interviewt hatte. Der ihn gestern noch angerufen hatte und ihm deine total irre Story über ein angeblich brandheißes Video erzählt hatte. Von Lebensgefahr hatte der gefaselt, von übermächtigen Gegnern und weltweiter Verschwörung.
Gab es da wohlmöglich einen Zusammenhang?
„Scheiße!“, stieß Pfeiffer hervor und knallte seine Handflächen auf den Schreibtisch, sodass sich ein Schwall Kaffee über diesen ergoss. Maria…was war mit Maria? Was verdammt war da gerade passiert? Konnte es sein, dass… Pfeiffer fühlte sich steif und für einen Moment völlig unfähig, irgendetwas zu tun.
Ein Vibrieren riss ihn aus seiner Starre, es kam aus seiner Ledertasche, die neben dem Schreibtisch lehnte. Von Draußen drangen Rufe und Schreie zu ihm hinein. Seine Ledertasche! Er griff danach. Pfeiffer sprang auf, er musste hier weg, obwohl ihn eine innere Stimme anschrie, nach unten zu Maria zu rennen. Zu ihrer Leiche meinst du, schrie ihn eine andere innere Stimme an. Deinetwegen!
Seine Jacke hatte er bereits übergeworfen, da drang das Vibrieren dieses lächerlich teuren Handys wieder an sein Ohr. Er war versucht, den Anruf einfach zu ignorieren, schließlich hatte ihn der Letzte von einem langweiligen Sonntag in dieses grauenhafte Szenario katapultiert. Andererseits…diesmal war es sein Arbeitshandy. Und das klingelte wirklich nicht oft so penetrant. Und das genau jetzt?
Ihm wurde kalt und es fiel ihm schwer, die Schnalle seiner Ledertasche zu öffnen, da seine Finger zitterten. Nach einer gefühlten Ewigkeit schlug er die zerfledderte Lasche zurück und zog sein glänzendes Arbeitshandy heraus, dass so gar nicht in seine deutlich gebrauchte Arbeitstasche passte, aus der ein Hauch von Kaffeeduft aufstieg.
Magnus stand auf dem Display. Verfluchte Scheiße, dachte Pfeiffer, das konnte nichts Gutes bedeuten. Sein Finger tippte auf Annehmen, während seine Beine ihn schnellen Schrittes durch das Büro bewegten.
„Pfeiffer!“, bellte Magnus, „was zur Hölle haben Sie getan?“
„Wovon genau sprechen Sie?“, entgegnete Pfeiffer und griff nach der Türklinke, um das Büro zu verlassen. „Das Video! Wo haben Sie das her und wie kommen Sie dazu, es einfach unter unserem Namen zu veröffentlichen?!“ Magnus war hörbar aufgewühlt und unterbrach Pfeiffer bei seinem hastigen Aufbruch. Wie angewurzelt blieb er stehen, spürte plötzlich jede Zelle in sich pulsieren und in seinem Kopf entfachte sich ein Wirbel aus ungreifbaren Gedanken.
„Scheiße. Das Video ist online?“
„Natürlich ist es online. Sie haben es doch hochgeladen!“, knurrte Magnus.
Pfeiffer ließ die Türklinke los, drehte sich um und rannte zurück zum Schreibtisch, ließ die Ledertasche achtlos fallen und starrte auf den noch leuchtenden Bildschirm. Du Idiot, wieso sollte es auch nicht online sein, fauchte sich Pfeiffer selbst an. Er fühlte sich etwas benebelt. Das Gefühl nahm zu, als er sah, wie viele Menschen das Video bereits gesehen hatten. „Kacke“, murmelte er.
„Ja, verdammt große Kacke, Pfeiffer! Stecken Sie da mit drin?“
„Was? Nein!“, erwiderte Pfeiffer verwirrt und klickte sich wie in Trance durch die etlichen Kommentare.
Ach du scheiße, ist der tot?!
Wtf, wieso lädt das einer hoch?
Krass!
Nebenbei hörte er Magnus Stimme, die weiterhin wissen wollte, was er damit zu tun hatte und die dann fragte, ob das Sirenen seien, die er im Hintergrund hörte.
Omg, wie widerlich!
Kapitalisten und Journalistenschweine!
Direkt entabonniert!
Oha, der der das hochgeladen hat, ist das nicht dieser Typ hier?!
Bei dem letzten Kommentar blieb Pfeiffer hängen, ihm wurde heiß und kalt. Wie konnte all das in den wenigen Minuten passiert sein? Der Verfasser, herozero, hatte ein Video verlinkt. Pfeiffer klickte darauf. Magnus Stimme wurde zunehmend zu einem lästigen Hintergrundgeräusch.
Der Link öffnete ein körniges Video, in dem Pfeiffer sich selbst sah, wie er mit Maria im Außenbereich eines Lokals saß. Pfeiffers Herz begann zu pochen, seine Hände wurden feucht und ein Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Er erinnerte sich an das Gespräch. Auf dem Video sah man, wie er sich näher zu Maria hinüberbeugte. „Nieder mit den Kapitalisten“, hörte er sich selbst sagen. Dann stoppte das Video. Was? Nein?! Das war ja vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen! Sein Brustkorb schnürte sich zu und für ein paar Sekunden fiel es ihm schwer, entspannt zu atmen. Durch seine Ohren fuhr ein Rauschen, als stünde er in einer Sturmwolke. Ihm wurde schwindelig. Kopfschüttelnd stolperte er rückwärts vom Schreibtisch weg, um Abstand zwischen sich und das Video zu bringen, das immer wieder von vorne begann.
Er griff seine Ledertasche und bemerkte dann, dass er noch immer das kaltgraue Arbeitshandy in der Hand hielt, aus der nach wie vor Magnus Stimme drang. „Pfeiffer, verdammt nochmal!“, brüllte Magnus und verstummte, als Pfeiffer auf Auflegen drückte, das Handy in seine Tasche gleiten ließ und zum Ausgang rannte.
Sein Herz schmerzte, als er den Hinterausgang nahm und Maria den Passanten und Einsatzkräften überließ, als wäre sie bloß eine unbekannte Person, der ein grausames Schicksal widerfahren war. Eine Unbekannte, wie diejeingen, über die Pfeiffer und seine Kollegen in einem Artikel berichten würden. Pfeiffer wurde schlecht bei dem Gedanken.
Pfeiffer hatte gleich gespürt, dass etwas Ungutes, aber journalistisch höchst Interessantes vor sich ging, als Maria ihn vor einigen Tagen mit den neuesten Gerüchten aus den Frankfurter Untergrundszenen versorgte. Daher auch die Videosequenz. Das war ein Ausschnitt ihres Treffens gewesen, als sie sich in Rosalie´s Kaffeestübchen ausgetauscht hatten. Maria hatte von Gerüchten über eine sich radikalisierende Gruppierung gehört. Während er an seinem schwarzen Kaffee ohne Schnickschnack nippte, erzählte sie ihm davon…
Die Kapuze seiner Jacke tief in sein Gesicht gezogen, lief Pfeiffer weiter getrieben und krampfhaft nachdenkend durch die Straßen. Dann blieb er plötzlich stehen. Ein Fetzen des Gesprächs mit Maria zuckte durch seinen Kopf, zusammen mit einer visuellen Erinnerung aus dem Video, dass er hochladen sollte.
Berger… hatte Maria diesen Namen nicht erwähnt? Und hatte dieser Name nicht auf der Eingangstür gestanden, an der die Männer geklingelt und der Typ mit der lächerlichen Krawatte geöffnet hatte?
Es war einer dieser Morgen, an dem ich aus dem Vollsuff erwachte. Die Kälte und der beginnende Regen weckten meine alten Knochen. Der Kopf zersprang vom billigen, gepanschten Fusel, den der übereifrige Barmann gestern ausschenkte.
„Verdammt Konrad, du stinkst, als hättest du in einem Bourbenfass gepennt.“
Die Stimme war sanft, aber wütend. Ein kurzer Blick nach oben würde nur bestätigen, was ich ohne hin schon wusste. Die roten Strähnen, in den offenen, lockigen Haaren. Die grünen Augen, die mich stets an den Kronberger Wald östlich von Königsstein, meiner alten Heimat, erinnerten. Das Alles gehörte zur guten Seele des Polizeireviers in der Innenstadt Frankfurts, Lydia Schmitt. Wie lange, bis die junge Frau, vom ewigen Morast dieser verseuchten Stadt heruntergezogen wird? Ich gab ihr ein Jahr. Fünf hatte sie überstanden. Ungeduldig tippelte sie mit ihren Füßen auf dem Boden.
„Wegen so einer Scheiße wurdest du gefeuert!“, brach genervt aus ihr hervor.
„Ich wurde gefeuert, weil ich meinen Job gemacht hatte.“
„Da habe ich anderes gehört.“
Ich winkte ab. Für so eine Diskussion war es zum einen zu Früh und dazu pochte mein Schädel wie der Specht auf den Baumstamm.
„Hast du ein Kopfschmerzmittel dabei?“
Sie seufzte und kramte in ihrer übergroßen Tasche und überreichte mir eine kleine Schachtel. Sofort brach ich die leicht nach Essig riechenden Tabletten aus der No Name Marke heraus und gierig schluckte ich zwei. Die ausgetrocknete Kehle und die Pillen waren keine angenehme Kombination. Die gute, gute Lydia. Ich werde nie verstehen, warum sie sich mit mir, einen abgehalfterten von der Zeit zerfressenen alten Mann, abgab. Ich war weder ihr Ausbilder noch haben wir jemals gemeinsam an einem Fall gearbeitet. Sie half mir auf die Füße. Die Schmerzmittel haben ihre Wirkung nicht entfaltet und jeder Schritt in Richtung ihres alten VW Golfs war eine Qual. Scheiße der Wagen war genauso alt wie ich, aber in deutlich besserem Zustand.
In einer staubigen verrotten Einzimmerwohnung stand ein antiker Schreibtisch. Unaufgeräumt. Voll mit Akten, losen Papierfetzen und einem alten Laptop, dessen Licht das vor ihm liegende Diktiergerät beleuchtete. An allen Ecken und Kanten waren Furchen, Kratzer und abgesplittertes Holz. Die Schubladen klemmten und die metallischen Griffe waren entweder verrostet oder verbogen. Nur zwei von insgesamt sieben Schieber wirkten unberührt. Eine von ihnen, die untere Rechte war am stärksten abgenutzt. Vom Schreibtisch ausgesehen war hinter ihm ein Fenster. Auf beiden Seiten hingen eingerahmte Zeitungsartikel von längst vergessenen Gräueltaten, die gesühnt wurden. Ein Schreibtischstuhl, der deutlich gepflegter wirkte wie der Rest der Wohnung. Auf der Linken eine verwitterte Couch, die einst blau, aber in seiner jetzigen Form grau war. Eine Bettdecke und ein Kissen zierte sie. Von deren Zustände niemand etwas wissen will. Am deduzierbaren Fußende streckte sich ein Whiteboard. Eine Karte von Frankfurt hing in der Mitte und Fotos von Tatorten, Personen, ein ergrauter Mann und einer ältere Dame, wurden fein säuberlich, akribisch platziert. Fäden verband Punkte. Die Überschrift, wer ist „The Messiahs“. Krakelige Notizen im extremen Kontrast zu der fein ordnungsmäßig drapierten Wand spickten alle Winkel. Garten von Berger, war eine von ihnen. Vorhof des Frankfurter Generalanzeiger die andere. Auf der gegenüberliegenden Seite der Couch stand ein Regal mit Büchern. Die Zentimeter dicke Staubschicht lässt darauf schließen, dass sie nie benutzt wurden. Rechts neben dem unnützen Bücherregal eine Küche, wer es so nannte. Im Grunde war es nur eine Nische. Auf dem hüfthohen Schrank fanden eine tragbare Herdplatte versifft mit Fertiggerichten und eine angerostete, kalkbefleckte Kaffeemaschine ihr zu Hause. Direkt vor dem Schreibtisch zwei Stühle, die nicht minderwertiger wirken könnten. Dahinter eine Türe mit einer milchiggrau getrübten Fensterscheibe, welche in der oberen Hälfte eingelassen war. Die Worte, Konrad Lutz, Privatermittler, waren darin eingraviert.
Ein verräterisches Quietschen der Türe lenkte die Aufmerksamkeit auf zwei gestalten, die den Raum betraten. Eine war eine junge Frau, rote Strähnen zierten die langen, gewellten, blonden Haare. Die andere Person war ein abgehalfterter, vom Zahn der Zeit verfolgter und abgemagerter Herr. Ergraut und allem, was sonst dazu gehört. Der jahrelange Alkoholkonsum spiegelte sich in seinem aufgedunstetem Gesicht wieder. Zielstrebig flitzte der Mann in Richtung der Kaffeemaschine. Füllte den Filter und Wassertank und schaltete sie an. Er zog zwei Tassen, welche sich den Neuankömmlingen ähnelten, hervor.
„Kaffee?“
„Nein, Danke.“
Er platzierte Vorsicht den sauberen, unverbrauchten Kaffeekrug zurück in den Schrank. Mit einem Schmerzhaften stöhnen ließ sich der Alte in den gepflegten Stuhl sinken. Entspannt lehnend starrte er die Klientin an.
„Du hast was für mich Lydia?“
„Legen wir mal beiseite, dass ich dafür gefeuert werden könnte. Aber ja. Ich hab was für dich.“
„Es wäre besser für dich. Zeig her.“
„Es gab noch zwei Opfer. Keine Verbindung, kein Grund warum sie es hätten tun sollen.“
Konrad runzelte die Stirn und musterte die fortgeschrittene Anfängerin. Er fragte sich, ob sie Angst hatte. Ob dieser Fall zu viel oder zu schwer für sie war? Zögerlich kramte sie in ihrer Tasche nach einem Bündel. Er schnappte es sich und zog zwei Akten draus hervor. Fein leserlich standen die Namen der Opfer darauf. Armin Müller und Marianne Schmitt. Schmitt?
„Ist das?“
„Meine Cousine.“
Sie schluckte den aufkommenden Klos herunter. Tränen quollen langsam aus ihren Augenwinkeln heraus. Das erklärte zumindest, warum sie ihren Beruf aufs Spiel setzte. Zwar hatte sie Konrad schon in der Vergangenheit Informationen zukommen lassen aber nie in solchem Ausmaß.
„Musstest du…?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Mein Onkel hat es mit ansehen müssen.“, antworte sie und versuchte, die Kontenance zu halten.
Ungeöffnet legte er die Akten vor Lydia zurück. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und unentwegt lagen seine Augen auf ihr.
„Willst du sie nicht?“
„Du solltest nochmal darüber nachdenken. Das hier wird dich deinen Job kosten.“
„Nachdenken!“, ihre Stimme überschlug sich und ließ das milchiggraue Glas erbeben.
„Glaub mir ich habe nachgedacht! Seit zwei Tagen mache ich nichts anderes. Ich habe meinen Revierleiter angefleht er solle den Fall ernst nehmen aber niemand…“.
Sie stockte. Ihr sonst so Reines gemüht war beschwert. Konrad wusste, dass sie vor einer gefährlichen Abzweigung stand. Er wusste es zu gut. Seine vernarbten Finger tasten sich zurück zu den Akten und ergriffen sie. Diese Last würde er ihr nehmen. Er scherzte oft darüber, dass diese Stadt sie fertig machen würde, aber er hatte immer gehofft, dass es nie so weit kommen würde. Beruhigt ließ sie sich auf einen der Stühle fallen und presste Luft zwischen ihren Lippen hindurch.
„Warum interessiert es niemanden?“
„Solange der selbst ernannte Messias von der Allgemeinheit beweihräuchert wird, rühren die da oben keinen Finger. Selbstmord und fertig.“
„Das ist doch scheiße.“
Verächtlich schnaubten beide. Stille trat in der Bürowohnung auf, dass von einem zaghaft elenden Piepsen unterbrochen wurde. Der Kaffee war fertig. Lydia erschrack beim Anblick der Uhr,.
„Mist ich muss los.“
Sie rannte und hielt kurz mit der Türklinke in der Hand inne. Sie drehte sich erneut zu dem verwitterten Mann um und lächelte.
„Zumindest bist du noch einer von den Guten. Ciao.“
Die letzten Worte von Lydia trafen ihn wie ein Dolchstoß. Einer von den Guten? Konrad lachte bei dem Gedanken. Seitdem er vom Polizeidienst entbunden wurde und dieses Unternehmen gegründet hatte, empfand er sich selbst nicht so. Im Grunde war es Woche für Woche das gleiche. Dieser Fall hingegen. Das Arbeiten daran. Endlich war er nützlich. Er schob die untere rechte Schublade auf und griff nach einer Flasche, auf deren Etikett in goldenen Schriftzügen Single Malt eingestanzt war. Holte sich seinen Kaffee und setzte sich wieder zurück auf seinen angestammten Platz. Der Schraubverschluss wehrte sich. Der Druck des Alkoholikers zu groß. Zu begierig sollten die klare honigfarbene Flüssigkeit und der heiße Kaffee eine Liebschaft eingehen. Doch er hielt inne, verschloss die Flasche und packte sie zurück. Heute nicht! Nun wandte er sich den zwei ockerfarbenen Papierbündeln zu. Getrieben von Neugierde und dem Willen diesen feigen Mörder endliche zu entlarven öffnete er die erste Akte. Abgesehen von einem neuen Tatort gab sie nichts her. Selbstmord. Keine toxikologischen Untersuchungen. Gerichtsmediziner wurden nicht hinzugezogen. Danke Rechtsstaat. Unterschrieben vom allzeit geliebten Revierleiter, Matthias Rau. Oder wie Konrad ihn nannte Kommissar Sau. Sie kannten sich seit der Ausbildung. Dieses durchtriebene Wiesel hatte er schon damals gefressen. Der Privatermittler zog die zweite Akte an sich. Ein Brummen unter dem Geröll von Papier lenkte ihn ab. Er zog sein Mobiltelefon, aus der Steinzeit hervor. Schaute auf das dunkelgrüne Display. Unbekannte Nummer. Der Schnüffler drückte es weg. Es vibrierte erneut. Er drückte es weg. Erneut. Wieder weggedrückt.
„Wer auch immer sie sind, gehen sie sich ficken.“, meldete er sich und legte auf.
Siegessicher wandte er sich der Akte Marianne Schmitt zu. Doch wieder brummte das Gerät und die unbekannte Nummer zierte das Display. Genervt ließ er das Dokument fallen.
„Hören sie…“
„Nein …Nein. Jetzt…jetzt hören sie gefälligst zu. Sie abgeh… abgehalfterter Alkoholl…“
Konrad legte auf. Sowas unhöfliches, dachte er. Aber diese Stimme, kam ihm bekannt vor. Seidig glatt, nervig. Zugegeben durch das Gestotter war es schwieriger, sie zuzuordnen. Er versuchte, die Erinnerung zu fassen, verdammtes Alkoholikergehirn. Sein Telefon ständig am Brummen, erinnerte er sich. Vor Tagen sah er ein Video unter dem Hashtag Gerechtigkeit auf einer der üblichen Social Media Plattformen. Eine unbekannte Person mit Maske schwadronierte über die verkommene Gesellschaft, entsinnt sich Konrad. Dieser Mann hatte sich zu den „Selbstmorden“ bekannt. Darunter viele Kommentare, die dem hartgesottenen Ermittler den Magen umdrehte. Zustimmung und Bewunderung. Und diejenigen, die erkannten, dass er nur ein feiger Mörder war wurden gebasht, bis sie ihren Account gelöscht hatten. Schöne neue Welt.
Das Brummen hörte nicht auf, und Konrad entschloss sich ein letztes Mal, den Anruf entgegen zu nehmen. Er nahm sich sein Diktiergerät und drückte den roten Aufnahmeknopf. Er drücke den grünen Hörer und schaltete auf Lautsprecher.
„An deinen Manieren müssen wir noch arbeiten.“, meldete sich die Stimme.
Im Hintergrund hörte er ein seltsames Geräusch.
„Hast dich wohl beruhigt, was?“
„Du solltest so nicht mit deinem Messias sprechen.“
Erneut der Laut. Ein Klicken?
„Messias? Das glaubst du also?“
„Wie sonst willst du jemand nennen, der die Menschheit in ein neues Zeitalter bringt?“
Seltsames Geräusch. Ein Klacken?
„Was willst du von mir?“
„Dich davon überzeugen mich in ruhe zu lassen.“
„Hör zu du Wicht. Du bist ein Feigling und ein Mörder. Und wenn es das letzte ist was ich tue. Ich werde dich vor Gericht ziehen und dafür sorgen, dass du bis zum letzten Atemzug deines erbärmlichen, nutzlosen Lebens hinter Gittern verbringen wirst. Und wenn du was zu besprechen hast, dann verstecke dich nicht hinter dem Telefon.“
Konrad legte auf. Es bedurfte keiner Antwort mehr. Die Herausforderung war ausgesprochen. Er nahm den Akku heraus und warf das Handy vor sich hin. Er spulte das Aufnahmegerät zurück und hörte sich das kurze Gespräch wieder und wieder an. Sein Blick starr auf das bläuliche Flimmern seines Laptops gerichtet. Unter demselben Hashtag fand er schnell das Video von Armin Müller. Es zeigte ein gedimmtes Schlafzimmer mit einem Herren mittleren Alters, der sich Manschettenknöpfe ansteckte. Eine leise, zitternde Stimme im Hintergrund sprach zu dem Mann.
„Emmerich, Schatz?“
„Ja mein Lieber?“
„Würdest du bitte sagen, was du für die Regierung in Uganda getan hast.“
„Du weist ich darf darüber nicht sprechen. Was soll das?“
Mit Entrüstung erkannte er die laufende Kamera.
„Bitte du musst es sagen, ansonten muss ich mich sofort erschießen.“
Die Farbe aus dem Gesicht des Mannes verschwand und Konrad schaltete das Video aus. Er wusste, wie es endet. Erst wurde Berger mit seinem Geiz konfrontiert. Der Journalist, nicht der Liebling vom Ermittler, wurde mit seiner Eigennützigkeit parallelisiert. Schuld. Dieses eine Wort stand in der Beschreibung des Videos. Die Kommentare waren genau wie bei den Anderen und sorgten bei Konrad für Entsetzen und den Wunsch die Flasche erneut herauszuholen. Der alte Schnüffler schaute sich das Profil beider Männer an. Der erste Blick ein glückliches Pärchen. Und bei Nachforschung kamen nur ein renommierter Botschafter und ein liebender Hausmann zum Vorschein. Was also hatte der Feigling ihm voraus? Ein kurzes Herumstochern nach Uganda in Verbindung mit dem Namen Emmerich Müller brachte ihm keine weiteren Erkenntnisse. Enttäuscht brach er die Suche ab. Leider hatte er sämtliche Gefallen, die ihn hierbei helfen können schon vor Jahren aufgebraucht. Egal, dachte sich Konrad, es gab ein viertes Opfer. Marianne Schmitt. Er stöberte nach dem Video. Es gab keines. Wieso gab es keines? Er suchte das Profil. Nichts innerhalb des geschrieben ließ darauf schließen, dass sie Tod war. Es zeigte ein Bild von einer jungen Frau, die mitten in ihrem Abitur steckte. Fotos von ihr und ihrer Cousine schienen ihre liebsten Erinnerungen zu sein. Die Bewunderung für ihre ältere Verwandte zeigte sich besonders in den roten Strähnen. Keine Kondolenz, keine Fragen nach dem Wieso. Bei allen anderen waren dies die ersten Nachrichten, die einem ins Auge sprangen. Nicht hier. Selbst die Seite ihres alten Herren, ein Mann mit vollem braunen Haar, gab keinerlei Rückschlüsse darauf. Faktisch hatte der allein erziehende Vater erst vor wenigen Minuten ein Kochrezept gepostet. Verdammt was war hier los? Konrads Herz klopfte wild. Schlagartig erkannte er das Geräusch im Hintergrund des Gesprächs. Hastig auf ein Stück Papier kritzelnd versuchte er sich zu beruhigen, so nahe war er der Lösung. Dann versteckte er das Band des Diktiergeräts und den Zettel. Dazu öffnete er das Fenster hinter sich. Zog einen losen Backstein aus der Außenmauer und schob beides in den ausgehöhlten Stein. Es gab nur zwei Personen auf der Welt, die dieses Versteck kannten. Zurück am Schreibtisch packte er den Griff, der mittlere linke Schublade. Es war eine von jenen, die kaum Gebrauchsspuren aufwiesen. Darin lag ein Revolver, dessen Metall im Glühen der untergehenden Sonne rötlich glänzte, und fünf unbeaufsichtigte Kugeln. Eine von ihnen holte er heraus. Auf ihr war sein Name eingeritzt. Er belud damit seine Faustfeuerwaffe. Es klopfte.
Mutter und Sohn
Zum x-ten Mal drückte Beate erfolglos den Klingelknopf. Erschöpft lehnte sie sich an die Tür und kämpfte im Gewirr der Gedanken um Orientierung. Das Bild der toten Maja, die mit leerem entsetzen Blick in die Ferne starrte, hing wie ein überdimensionaler Bildschirm vor ihren Augen. Sie hörte noch deutlich das Summen von Lady in Red durch ihren Kollegen Thomas, der auf seine Art dem Schrecken begegnete. Was wie eine übliche Ermittlung begonnen hatte, war für Beate von einem Moment zum anderen zu einer persönlichen Katastrophe geworden. Sie versuchte, sich an die letzte Begegnung mit Maja zu erinnern. Es musste einer der Abende gewesen sein, die Maja zunächst mit ihrem Sohn Mark und den anderen Klassenkameraden in seinem Zimmer verbracht hatte und sich dann alle an den Esstisch gesetzt und voller Lebensfreude gealbert und gekichert hatten. Beate hatte das manchmal aufgeregt, und sie hatte ihnen dann wütend zugerufen: „Könnt ihr nicht mal ernst sein? Wisst ihr eigentlich, was da draußen in der Welt los ist?“ Heute würde sie sonst etwas dafür geben, ihren Sohn nochmals unbeschwert lachen zu hören.
Sie schaute in seine blauen ernsten Augen. Beate hatte ihn erst bemerkt, als er schon hinter stand. Er trug eine dunkle dünne Wollmütze, die bis knapp über die Augenbrauen gezogen war und eine dunkelblaue Stoffjacke. Über eine der Schultern hing ein großer schwarzer Rucksack. Nach einem kurzen Moment des Zögerns zog sie Mark an sich und genoss diese wenigen Sekunden der Nähe. Er ließ es ohne eine Reaktion geschehen.
„Ich habe mir Sorgen gemacht, Mark. Die Schwester aus der Onkopraxis hat mich angerufen, sie hätten Dich nicht erreichen können und Du bist nicht zur Therapie gekommen.“
„Mom, Du musst Dir um mich keine Sorgen machen. Da gibt es andere da draußen.“ Die Antwort kam ohne Gefühlsregung.
„Können wir mal reden?“, sie sah ihn bittend an.
Mark steckte den Schlüssel ins Schloss. „Nein, kein Bedarf.“
„Bitte Mark, es ist wichtig, es geht um Maja.“
Er schloss die Tür auf. „Sie ist tot, ich weiß.“
Entsetzt presste Beate hervor: „Woher weißt Du das?“
Eine erste Regung zeigend wurde Mark lauter: „Na, woher weiß ich das wohl? Weil ich der Täter war. Bestimmt ist das doch Dein erster Gedanke, oder? Ich war doch immer an allem Schuld.“
Er drückte sich durch die Tür und versuchte, diese vor Beate zu verschließen.
Sie steckte ihren Fuß dazwischen und schaute ihm erneut in die Augen. „Mark, ich kann auch die Kollegen holen. Lass uns mal reden. Da draußen rennt ein Irrer rum, wir müssen alles tun, um ihn zu finden und aufzuhalten. Es gab noch einen merkwürdigen Suizid, er hatte auch etwas mit Dir und Maja zu tun, es war euer Klassenlehrer, Herr Franke. Sag mir jetzt bitte, von wem Du die Information hast, dass Maja tot ist. Es gingen noch keine Fotos oder Namen an die Presse.“
Mark ließ die Tür los und sie betrat die kleine Altbauwohnung. Im Wohnzimmer sammelte er ein paar Zettel vom Sofa zusammen und steckte diese in die Schublade unter dem Fernseher. Er holte sein Handy, tippte etwas ein und hielt ihr eine Whatsapp-Nachricht hin: Maja ist tot, ermordet. Gefolgt von vielen entsetzten und fragenden Smileys. „Was ist das für eine Gruppe? Und wer schreibt es?“, fragte Beate.
„Klassengruppe. Sonja, ihre Freundin.“, war die knappe Antwort.
Sie spürte einen Hauch Erleichterung und schwenkte das Thema um: „Was ist nun mit den aktuellen CT-Befunden, Mark? Warum warst Du heute nicht zur Therapie?“ Mark schaute sie gereizt an: „Was soll schon sein. Ich werde sterben. Hilft doch eh alles nichts.“
Er verließ den Raum und ging ins Bad. Beate überlegte kurz. Sie lief schnell zur Schublade und holte die Unterlagen heraus. Das oberste war ein CT-Befund. Sie überflog diesen, las etwas von Progress der Lungenmetastasen. Ein weiterer Zettel war eine Aufklärung. Sie verstand nicht viel. Oben rechts stand das Wort Immuncheckpointtherapie. Zuunterst lag ein gelbes A4-Blatt, auf dem Mark etwas mit Hand geschrieben hatte. Es schien eine Vorlage zu sein, der Kopf trug das Label des Lebenshauses und die vorgedruckte Überschrift lautete: 10 Dinge, die ich noch tun möchte. Einige Punkte waren abgehakt. Sie spürte, wie ihr der aufkommende Schwindel das Bewusstsein nahm.
Beate erwachte an Händen und Füssen fixiert auf einem Stuhl. Mark saß auf dem Boden im Schneidersitz und spielte mit ihrer Dienstwaffe. Es dauerte ein paar Sekunden, bis sie begriff, was vor sich ging. Sie hatte lange nicht mehr geweint, jetzt war das die einzige Reaktion, zu der sie noch fähig war.
Halb schluchzend fing sie langsam an zu sprechen: „Weißt Du noch Mark, als Du als kleiner Junge mit mir zusammen an der Bushaltestelle beobachtet hast, wie drei Jugendliche einen anderen attackierten. Du wolltest sofort hinrennen und Dich einmischen. Du wolltest doch immer Gerechtigkeit! Es war Dir so wichtig! Du hast bei PETA mitgemacht und bist zu diesen Umweltkämpfern mitgegangen. Was ist nur passiert?“
Mark erhob sich ruckartig und schrie sie an: „Und was haben die meisten an der Haltestelle damals gemacht? Sich weggedreht! Und meine Aktivitäten wolltest Du mir immer ausreden. Es würde zu weit gehen. Ihr redet immer von Gerechtigkeit und einer schönen Welt, glaubst Du wirklich, das Böse lässt sich mit anlächeln beseitigen?“ Nach einer kurzen Pause setzte er fort: „Du hast doch selbst immer gesagt, dass ihr ermittelt und euch abrackert und am Ende gibt es doch keine gerechte Strafe.“
Dass Mark so emotional redete, weckte in Beate wieder die Hoffnung, ihn noch erreichen zu können: „Mark, dann lass uns zusammen nochmal für Gerechtigkeit sorgen. Lass uns das, was Dich belastet, mit gerechten Mitteln angehen!“
Er lachte höhnisch auf. „Lass diese Psychospielchen. Aber mit Deinen Verdächtigungen bringst Du mich auf eine klasse Idee!“
Er ging zum Tisch, holte einen Briefumschlag und einen Stift. Dann legte er das Handy neben sich. „So. Du hast jetzt die Gelegenheit, mich 5 Minuten zu verhören. Du darfst aber nur Fragen stellen, die ich mit Ja/Nein beantworten kann. Wenn Du es schaffst, dass ich mehr mit Ja als mit Nein geantwortet habe, gebe ich Dir meine Liste und Du kannst etwas davon wegstreichen. Wenn nicht werde ich da rausgehen und es vollenden. Du hast es jetzt in der Hand. Solltest Du eine Frage stellen, die sich nicht mit Ja/Nein beantworten lässt, zählt es als Nein. Verstanden?“ Er setzte sich mit dem Stuhl ihr gegenüber, beugte sich nach vorn und drehte wieder die Waffe in seinen Händen. Beate schloss die Augen und zwang sich, alle Informationen so nüchtern wie möglich zu betrachten.
Mark schrie sie an: „Na los, schon eine halbe Minute verloren!“
Ihre Blicke trafen sich und sie hielt die Verbindung ihrer beider Augenpaare, solange er es zuließ: „Hast Du Maja erschossen?“
Er entgegnete ihrem Blick fest und antwortete etwas höhnisch: „Erstes Nein! Das habe ich nicht!“
Sie setzt fort: „Hast Du Herrn Franke umgebracht?“
Er reagierte mit überlegener Stimme: „Nein, klares Nein! Du hast mir doch gerade selbst erzählt, dass es ein Suizid war.“
Sie versuchte, sich zu erinnern, was auf der Liste stand. „Du willst noch mehr Menschen töten?“
Jetzt entzog sich Mark ihr abrupt und schaute vor sich: „Nein, ich töte nicht. Die Menschen töten sich selbst. Mit ihrer Dummheit, Arroganz und Egoismus! Da muss man nur zusehen! 3x Nein. Du hast noch 2 Minuten.“
Beate versuchte fieberhaft, sich zu erinnern, wann Mark sich verändert hatte. Am intensivsten war es ihr nach einer Klassenfahrt aufgefallen, er war völlig in sich gekehrt und mit ungewöhnlich ernstem Blick zurückgekehrt. Eine andere Mutter hatte ihr beim Abi-Ball von Mutproben berichtet.
Beate wunderte sich, dass ihr das jetzt erst einfiel: „Du hast auf Deiner letzten Klassenfahrt etwas Unangenehmes erlebt?“
Mark schaute kurz überrascht auf, dann verdunkelten sich seine Augen wieder. „Das ist zu diffus. Aber gut, ein Ja kann ich Dir mal geben, Du hast eh verloren.“
Als erfahrene Ermittlerin blieb Beate auf der Spur: „Habt ihr euch mit Schreckschusspistolen getestet?“
Mark sprang auf und schaute an ihr vorbei Richtung Fenster: „Es ist vorbei. Du hast verloren.“
Beate ließ sich nicht beirren, es gab jetzt nichts mehr zu verlieren: „Du bist furchtbar wütend und verletzt?“
Er drehte sich zu ihr: „Klar, so lässt sich die Welt erklären. Meine Wut ist es jetzt, die muss man bekämpfen, dann ist alles wieder gut, oder?“
Er nahm sein Handy: „Frau Kriminaloberkommissarin Beate, ich darf Ihnen hiermit mitteilen: Sie haben als Mutter versagt. Sie haben als Ermittlerin versagt. Ihr Leben war sinnlos.“
Offene Enden – dritter Teil
Alex, Malte, Arne
Von @Liesl
Pfeiffer ließ alles stehen und liegen und rannte zum Fahrstuhl.
Tack, Tack, Tack, Tack, Tack
Er drückte so oft auf die Fahrstuhltaste, bis sich die Tür öffnete.
„Nun mach schon, geh endlich zu.“
Fauchte Pfeiffer die Fahrstuhltür an.
Unten angekommen, rannte er durch die Lobby, die Straße runter zum Europapark.
Die Rettungskräfte kamen aus allen Richtungen gefahren.
In den Augen der Passanten sah man ängstliche Blicke. Einige hockten am Boden, einige versteckten sich hinter parkenden Autos oder in Hauseingängen.
Pfeiffer´s Blick scannte förmlich die Gegend ab, ob es etwas Ungewöhnliches zu
entdecken gibt. Je näher er dem Tatort kam, umso mulmiger wurde ihm. Sein Herz pochte so laut, das er die Worte des Polizisten vor Ort nicht wahrnahm und dieser immer lauter auf Pfeiffer einredete.
„Halt habe ich gesagt. Hallo hören sie mich? Wo wollen sie denn hin? Bleiben sie bitte stehen. Sehen sie die Absperrung denn nicht? Das ist hier ein Tatort.“
„Wie? Was? Entschuldigung. Ich bin Christian Pfeiffer, das ist meine Partnerin, vermute ich.“ Pfeiffers Augen wurden feucht, seine Hände fingen an zu zittern.
„Wieso vermuten sie das? Wollte der Polizist wissen.
„Haben sie bei der Frau Papiere gefunden?“
„Woher wissen sie denn, das es sich hier um eine Frau handelt?“
„Nun sagen sie schon, ist das Maria Sanchez?“
„Bitte beantworten sie mir meine Frage. Woher wissen sie, das dort eine Maria
Sanchez liegt? Wir können auch rüber zum Einsatzfahrzeug gehen und sie beantworten dort meine Fragen.“
Der Ton des Polizisten war nun nicht mehr so nett und freundlich.
„Sie war meine Partnerin in einem Job. Sozusagen eine Insiderin und eine gute Freundin noch dazu.“
Jetzt lief Pfeiffer die erste Träne über die Wange. Er sank zu Boden und hielt die Hände vors Gesicht.
„Okay, okay, kommen sie, stehen sie auf.“
Der Polizist half ihm hoch.
„Hören sie, zu Maria kann ich sie jetzt nicht lassen, das ist hier ein Tatort. Wir fahren jetzt erst einmal zum Revier und reden bei einer Tasse Kaffee. Was halten sie davon?“
Pfeiffer nickte.
Beim Aufstehen bemerkte er, im Augenwinkel, wie jemand versuchte, sich wegzuschleichen.
Er drehte sich um.
War das etwa Lilly? Warum läuft sie weg? Was ist hier los? Und warum trägt sie auch so einen roten Mantel?
Die Fahrt zum Revier war sehr ruhig und andächtig.
Als die beiden das Revier betraten, herrschte reger Trubel.
„He Micha, kannst du uns bitte einen frischen Kaffee bringen. Wir sind dann in Raum drei.“
„Geht klar Chef, bin gleich bei euch.“
Als die beiden zum Verhörraum gingen, kam Getuschel auf.
„Setzen sie sich, Herr Pfeiffer.“
Der Polizist zog einen Stuhl zurück und ging auf die andere Seite des Tisches, um selbst Platz zu nehmen.
„So, jetzt noch einmal zum Anfang. Ich heiße Markus Baier und leite diese Abteilung hier.“
In diesem Moment riss jemand die Tür auf. Die beiden zuckten zusammen.
„Und dieser stürmische Kollege hier, ist Michael Müller, meine rechte Hand.“
Baier drehte sich zu seinem Kollegen.
„Chef, das mußt du dir unbedingt ansehen.“
Müller reichte Baier ein Tablet. Sie sahen sich das Video an, welches Pfeiffer online gestellt hatte. Sie zogen fast gleichzeitig die Augenbrauen hoch.
„Pfeiffer, Christian Pfeiffer, habe ich ihren Namen richtig in Erinnerung? Können sie mir etwas zu den heutigen Geschehnissen sagen?“
„Wo soll ich bloß anfangen?“
Pfeiffer vergrub sein Gesicht in beiden Händen.
„Vielleicht damit, dass sie Journalist sind und kurz vor dem Mord oder Selbstmord von dieser Maria, ein Video veröffentlicht haben.“ Antwortete ihm Müller.
„Ich hätte einfach schneller sein müssen. Aber nein, ich musste mich ja beim Passwort vertippen und den falschen Butten anklicken. Sie könnte noch leben, wenn ich doch nur schneller gewesen wäre. Er hatte so recht. Wir Journalisten handeln so oft im Eigennutz und so oft zu spät.“
Pfeiffer sah die beiden Polizisten mit hoch rotem Kopf an.
„Wie meinen sie das? Bitte entwirren sie ihre Worte.“
„Haben sie eigentlich schon Lilly erreicht? Das ist die Tochter von Maria.“
„Pfeiffer, nehmen sie doch mal einen großen Schluck vom Kaffee. Und fangen dann bei A wie Anfang an.“
Man konnte förmlich die Fragezeichen über den Köpfen der Polizisten sehen.
„Hm, okay. Alles fing damit an…“
Pfeiffer erzählte alles.
Im selben Moment, in der Nähe vom Flughafen, in einem alten in Vergessenheit geratener Bunker. Die dicken Betonwände hielten den Lärm von innen und außen gut ab.
Neben der schweren Feuerschutztür stand eine Säule mit einem Display drauf. Diese musste aber nachträglich dort aufgebaut worden sein, weil sie zu modern aussah.
Schnelle Schritte näherten sich.
Zarte zittrige Finger tippten einen Code auf dem Display ein.
Die schwere Tür ging auf.
„Puh, geschafft.“
Hörte man eine atemlose weibliche Stimme.
Sie trat ein und zog die schwere Tür hinter sich zu. Nun ging sie einen langen Gang mit gedimmten Licht hinunter, auf eine weitere Tür zu. Hinter dieser Tür befand sich ein großer Raum. In diesem waren ein paar Jugendliche versammelt.
Sie alle richteten ihre Augen auf die Monitore hinter der Bar. Als die Tür geöffnet wurde.
„Lilly, was machst du denn hier? Wie geht es dir? Boah, diese Idioten können einfach nicht mehr aufhören.“
Eine junge Frau in den zwanzigern lief auf Lilly zu.
„Psst, Sabrina, schau mal zum Monitor.“
Keiner sollte bemerken, dass Lillys Hände immer noch so zitterten.
„Wo sind die denn?“
„Seht mal Alex und Malte.“
„Was haben die schon wieder vor?“
Hörte man die jungen Leute durcheinanderreden.
Auf dem Monitor mit der Nummer zwei sah man Alex und Malte einen langen Gang von teilweise vergessenen Tunnelanlagen laufen. Sie blieben kurz vor einer Tür auf der rechten Seite stehen, blickten in die Kamera und hielten eine kurze Ansprache.
„Seht her, ihr hochrangigen und gelangweilten Gäste. Hinter dieser Tür befinden sich ein paar neue Mitspieler.“
Alex und Malte fingen an zu lachen. Ein furchteinflößendes Lachen, schrill und laut.
Sie betraten den Raum. In diesem befanden sich auf der linken und rechten Seite drei Gefängniszellen. In diesen Zellen waren Männer und Frauen in verschiedenen Altersgruppen aufgeteilt.
„Hallo ihr hübschen.“
Malte ging zu einer älteren Dame, die gerade an den Gitterstäben stand und
streichelte über ihre Wangen.
„He lass das. Fass mich nicht an.“ Entgegnete die Dame mutig.
„Na, na, na meine süße, noch bist du mutig. Ich habe aber eine schlechte Nachricht für euch. Eure Freundin und Spionin Maria weilt nicht mehr unter uns, dank Lilly.“
Malte hielt die Kamera auf Alex und sein furchterregendes Grinsen. Das schlechte Licht in diesem Raum warf Schatten auf sein Gesicht. So sah Alex noch gruseliger aus, als eh schon. Sein Gesicht wurde bei einem Feuer so verbrannt, dass es total vernarbt und verzehrt blieb.
„Was wir noch unbedingt loswerden wollten. Ihr seht alle so hinreißend aus in euren neuen Klamotten. Wie fühlt es sich an, mal wieder was Bodenständiges zu tragen? Hm?“
Die Frauen trugen graue knielange Röcke mit schlichten, weiße Blusen und dazu rote Mäntel. Die Männer hatten alle Jeans an. Verwaschene und verschlissene Jeans. Dazu lederimitierte Jacken.
„Schick, schick, das muss man schon sagen. Steht euch allen hervorragend. So und nun wünschen wir euch weiterhin einen angenehmen Aufenthalt.“
Wieder stießen die beiden ein lautes schrilles Lachen aus und hielten die
Handykameras auf jedes Gesicht. Danach verließen sie den Raum.
An der Bar war inzwischen ein Tumult ausgebrochen, alle redeten durcheinander.
„Die haben meine Oma.“
„Und meinen Bruder.“
„Ich konnte meinen Vater sehen.“
„Und ich meine Mom.“
„Wie geht das denn jetzt weiter?“
„Was führen die im Schilde?“
„Und warum haben sie uns verarscht?“
„He ruhe, hört auf, das bringt uns jetzt nicht weiter.“ Lilly versuchte, die Situation zu schlichten.
„Du hast leicht Reden. Warum bist du überhaupt zurückgekommen? Arne ist doch auch draußen geblieben.“
Sabrina und Iris hatten genau so viele Fragen wie die anderen.
„Ja genau, zu Arne muss ich euch unbedingt noch was erzählen.“
»Christian, denke!«, forderte Pfeiffer sein Gehirn auf, um die Leere darin zu überwinden. Sein Herz machte Überstunden, er spürte es im Hals bummern, seine Ohren klingelten und sein Blutdruck befand sich garantiert in Weltrekordhöhe. Tief atmete er durch. Mühsam schloss er seine Augen, um sich herunterzufahren. »Ich weiß, ich habe einen Schock«, flüsterte er, »ruhig werden, nachdenken, Christian.«
Zunächst sah er das Handy neben dem Kaffeebecher. Er überprüfte es. Es war dunkel. Die Verbindung war nicht mehr aktiv. Er sprang auf und blickte hinunter auf die Straße. Ein Messer schien sich in seine Brust zu rammen. Da lag sie, Maria, seine Tochter, auf dem Rücken, den Kopf von Blut umrahmt. Fremde umringten sie, manche hielten das Handy auf sie gerichtet, andere telefonierten. Hatte schon jemand die Polizei gerufen? Bestimmt. Was sollte er nur tun? Hinunter? Zu ihr? Ja. Das musste er tun.
Ein junger Typ guckte nach oben, fixierte Christians Gesicht. Er grinste und legte einen Finger auf den Mund. Dann drehte er sich um und ging zügig die Straße hinunter. Ein Gegenstand beulte seine rechte Jackentasche aus. Das war sicher die Pistole, die Maria getötet hatte.
Den Kerl würde sich Christian schnappen! Als er seine Jacke vom Stuhl fischte und sie anziehen wollte, begriff er, dass er diesen Mann nicht verfolgen, geschweige denn einholen konnte. Vom achten Stockwerk bis nach unten brauchte er im besten Falle drei Minuten. Wie so oft in letzter Zeit schmerzte das rechte Knie. Ein Blick zu seinem Wohlstandsbäuchlein verdeutlichte, dass er viel zu alt war, um den jungen Kerl zu erwischen. Entmutigt plumpste er auf den Stuhl und starrte auf den Bildschirm, auf dem das verdammte Video in Endlosschleife lief. Ihm kam eine Idee.
Er schrieb einen Zettel für die Polizei, die hier sicher bald eintreffen würde, legte ihn auf den Schreibtisch, entkoppelte den Dienstlaptop von der Peripherie und klemmte ihn sich unter den Arm. Als er auf dem Flur war, beschloss er, das Treppenhaus zu nehmen und hintenraus zu verschwinden, obwohl ihn sein Herz mit aller Macht zu Maria zog. »Das musst du verstehen, meine Kleine«, murmelte er und befahl seinem Knie, durchzuhalten.
Mit zusammengebissenen Zähnen arbeitete er sich nach unten. Als er die Hintertür aufschloss, ertönten von der Straße bereits vielstimmig Sirenen: »Zu spät, zu spät, zu spät …«
Schnaufend und humpelnd überquerte er den Parkplatz, stieg in seinen Wagen und gab die Zieladresse im bordeigenen Navi ein. Noch einmal nickte er, um sich zu bestätigen, dass er richtig handelte. Dort würde er Hilfe finden. Und dann gnade Gott dem Mörder!
(C) MoScho, Monika Schoppenhorst
Die Detektivin
Die Polizei brauchte höchstens zehn Minuten bis sie vor Ort waren Pfeiffer bestand als Journalist darauf sich die Sache mit eigenen Augen anzusehen.
Dorothea sah erschrocken aus dem Fenster, als sie die Polizei austeigen sah. Berger rannte schnell zur Tür, um die Polizei so schnell wie möglich zu erreichen, erklärte was passiert war und hoffte das ihnen die Polizei weiterhelfen konnte. Eine Zeit lang herrschte nichts als schweigen, zwei der drei Polizisten schauten sich den Leichnam, der immer noch vor der Tür lag, genauer an, während der dritte mit Berger sprach. Pfeiffer der direkt vor dem Polizeiauto stand wurde immer nachdenklicher vermutlich läuft alles nach einem Muster ab. Doch welches? Gehen die Selbstmörder zu ausgewählten Personen, Personen, denen es so gut geht, dass sie es wahrscheinlich nicht einmal mitbekommen würden, wenn ihnen Geld abgeht. Vielleicht aber auch Menschen, die einiges an Wissen besitzen so viel, dass sie dadurch hin und wieder einmal stark auffallen. Plötzlich näherte sich der Polizist, der vorher mit Berger gesprochen hatte, Christian. „Soweit ich weiß, kennen Sie Berger, er möchte das sie diese Frau aufsuchen.“ Pfeiffer schaute etwas verdutzt wieso sollte er, ein einfacher Journalist eine Frau aufsuchen. „Ja ich kenne ihn wir hatten privat schon einiges miteinander zu tun.“ Der Polizist warf einen Blick zu Richard wendete sich dann aber rasch wieder Pfeiffer zu. „Es ist unauffälliger, wenn sie zu dieser Frau gehen ihr Name ist Eleonore Red. Sie ist Bergers Privatdetektiv und kann uns bei der ganzen Sache vermutlich helfen. Berger ist bis jetzt der Einzige, der weiß, wo sie wohnt, und er hatte es sehr geheim gehalten jedoch hat er eine Akte von ihr die er uns aushändigen soll, wenn es ernsthafte Probleme geben sollte, und sie müssten sie auch kennen, wenn ich nicht irre. Laut Berger hatten sie drei sich schon des Öfteren getroffen.“ Pfeiffer sah sich das Foto der geheimnisvollen Frau genauer an. Natürlich sie hatten sich zu dritt schon öfters in einem Café oder einem Restaurant verabredet, sie waren gute Freunde. Berger näherte sich schließlich Christian Pfeiffer der ihm einen kleinen Aktenkoffer überreichte.
„Hier drinnen ist die Akte mit den Benötigten Daten. Ich habe allerdings das ungute Gefühl, das sie die nächste sein könnte, der so etwas widerfährt.“ Christian nahm den Koffer an sich, bedankte sich und angerschierte so schnell es ging ein Taxi, das ihn eine Straße vor Reds Haus austeigen lassen sollte, damit ihre Adresse auch wirklich geheim blieb.
Eleonore Red. saß vor ihrem Schreibtisch und wartete immer noch auf einen angeblich wichtigen Anruf einer unbekannten Nummer, mittlerweile verging eine ganze Stunde in der nichts geschah. Nervös machte sie sich einen Starken Pfefferminz Tee, der sie wachhalten sollte, bis es an der Tür klopfte. red. war verwundert wer klopft mitten in der Nacht noch an ihre Haustür.
Das Gefühl von Unsicherheit und Angst breitete sich in ihr auf, doch auch etwas Neugierde, weshalb sie öffnete. „Sind sie Mrs. Red, Eleonore Red!“
„Wer möchte das wissen?“ Sie betrachtete den großen stämmigen Mann, mit seinen ganzen Tattoos, der Zigarette im Mund, und den dunklen Augen wirkte er ziemlich einschüchternd. „Das hat Sie nicht zu interessieren, es sei denn Sie sind Mrs. Eleonore Red!“ „Was wollen Sie?“ „Ich bin hier, weil Sie uns wohlmöglich helfen können, Sie sind Millionärin und deshalb vermutlich die nächste, wenn ich kurz hineinkommen dürfte, werde ich ihnen alles erklären.“
Etwas misstrauisch aber entschlossen machte Red die Tür auf und lies den geheimnisvollen Mann hinein. Nach all den Jahren erkannte sie ihn nicht mehr. Er hatte einen kleinen Aktenkoffer der ihn noch unheimlicher erschienen lies. Er setzte sich an den Esstisch und legte seinen Koffer auf den Tisch. Red setzte sich gegenüber von ihm und war gespannt was er ihr zu sagen hatte. „Sie sind vermutlich wegen Ihrem Fachwissen aufgefallen. IQ 197, sie sprechen acht verschiedene Sprachen, haben mehrere Kriminalfälle gelöst und sind auf geschickte weise schnell Millionärin geworden.“ Der Mann griff in seine Jackentasche und holte ein Handy mit einem Video heraus. „Dieses Video hatte ich schon vorher einmal gesehen kenne den Hintergrund des ganzen jedoch nicht. Was hat es mit den Ganzen selbst Morden auf sich?“ Red merkte das ihr Tee, den sie die ganze Zeit in der Hand hielt, mittlerweile kalt geworden war. Gespannt wartete sie darauf das der Mann irgendetwas von sich gab, irgendeine Antwort oder etwas das die Fragen, die in ihrem Kopf herumschwirrten, verschwinden ließ. Doch alles, was er tat, war in einer von ihr bis jetzt noch nicht bemerkte Akte herum zu Blättern. „Wir glauben das die ganze Sache nach einem Muster abläuft, allerdings ist uns noch nicht klar nach welchem. Uns ist auch nicht klar, wieso die Opfer sich selbst ermorden, haben sie dazu irgendwelche Ideen?“ der stämmige tätowierte Mann atmete einmal hoffnungsvoll aus und wartete eine Zeit lang auf eine Antwort. Stattdessen sah er allerdings nur Eleonore die Stirn runzeln, die dabei etwas verzweifelt doch zugleich so aussah, als würde sie angestrengt nachdenken. Zehn Minuten voll schweigen vergingen das Einzige, was zu hören war, war das schwere Atmen von Red und jede weitere Minute, die verging hatte der Mann immer und immer mehr den Eindruck das die Detektivin etwas wusste, dass sie nicht sagen wollte. Bis plötzlich das Läuten des Telefons die stille unterbrach.
Familie Berger
Vierzehn Tage nach dem traumatischen Erlebnis schloss Richard die Haustüre auf, stiess sie auf und drehte sich prüfend um. Er wischte mit seiner Hand, die feucht war, seine Stirn ab, welche schon Schweissperlen zeigte. Sein Blick huschte über die Nachbarschaft. Keiner seiner Nachbarn zeigte sich, doch er sah, dass sich Vorhänge bewegten.
«Neugieriges Pack!»
Dachte er grimmig bei sich, keiner der hier Wohnenden hatte ihnen geholfen. Seine geliebte Frau schleifte ihren Koffer über die Türe. Drinnen hörte Richard, Dorothea schwer seufzen.
«Kommst du ebenfalls Schatz?» Flötete sie ihm zu. «Ignoriere die anderen, lass uns erst zu Hause ankommen.»
Richard seufzte schwer, denn er wusste, dass seine Frau recht hatte. Doch es machte es nicht besser. Er schritt in die Wohnung und verriegelte die Türe, legte die neue Kette davor und betrachtete das ersetzte Schloss.
‹der Schlosser hat gute Arbeit geleistet.›
Dachte er bei sich, dann trottete er in das Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein. Stellte gleich den Sender mit den Nachrichten an und trat auf seine kleine Baar zu. Er nahm einen Brandy von dem gläsernen Wagen, öffnete die Flasche und goss sich einen grossen Schluck ein. Er nippte daran und legte den Kopf in den Nacken. Jetzt wo sie wieder hier sind, stürmten die Erinnerungen auf ihn ein. So viele Fragen drängten sich ihm auf. Er hörte seine Frau im Badezimmer die Waschmaschine befüllen.
«Lass das doch Liebes, das hat noch Zeit!»
«Was getan ist, ist getan, und so ist die Wäsche in ein paar Stunden trocken.»
Ja sie war eine gute, aufrichtige und liebevolle Frau. Trotz alledem die Fragen, welche er hatte, wurden ihm nicht beantwortet. Nicht von der Polizei und nicht von seiner Frau. Er fand ihr verhalten mehr als merkwürdig. Wer bietet einem Verbrecher Kaffee an? Wieso blieb sie so besonnen? Nachdem der junge Mann bei ihnen eingedrungen war, tauchte kurze Zeit später ein zweiter auf. Wie der Erste in schwarzer Kleidung und mit einer Schusswaffe. Das Bürschchen meinte, dass der Neue bleiben solle, da er dafür sorgen würde, dass das Video online gestellt wird. Der andere grinste und der Junge verschwand. Der Fremde verzehrte gerne den Kaffee, und das Essen lies er sich schmecken. Kurze Zeit später kam dann endlich die Polizei. Sie schafften es, die Situation unter Kontrolle zu bringen. Nahmen den zweiten mit wie auch die Leiche. Einer der Polizisten empfahl ihnen, für einige Tage wegzufahren, aber für sie erreichbar zu bleiben. Richard fragte warum. Der Polizist meinte, dass es ihm und seiner Frau helfen und lästige Journalisten fern halten würde.
Er machte einige Schritte in den Raum, sah dem flimmernden Bild zu und hörte die Sprecherin. Als ein neuer Bericht anbrach, wurde er aufmerksamer. Nach den ersten beiden Sätzen fiel ihm das Glas runter und er hielt sich die Hand über den Mund. Er konnte nicht glauben, was sie berichtete. Anscheinend wurde bei einer Zeitung auch jemand unter Druck gesetzt, nur damit das Video online gestellt wurde. Es wurde mitgeteilt, dass es eine Frau war, die sich erschoss. Berger fragte sich, wie man einen Menschen nur dazu bringen konnte, sich selbst zu erschiessen. Danach brachte die Sprecherin seine Erlebnisse. Gleich wurde er wieder hellhörig. Als der Bericht zu Ende war, drehte er sich um und rief.
«Dorothea hast du das gewusst?»
Seine Frau erschien im Türrahmen und meinte mit einem sanften Lächeln auf den Lippen.
«Der Kaffee ist gleich fertig, mein Lieber, was ist den passiert? Du bist ja wieder kreide weiss?»
Richard fuhr sich über das Gesicht. Er hatte eine Vermutung, doch die war so irrwitzig, dass er sie als Hirngespinste ab tat. Nein das war nur ein Zufall, bloss eine Fügung des Schicksals. Stotternd begann er.
«Dorothea … liebes … im Fernsehen wurde gesagt, dass … das sich noch eine Frau umge … umgebracht hat. Nachdem die Polizei den Mann festnahm, ist er geflohen und wurde kurze Zeit später Tod gefunden. Er war vergiftet, sie nehmen an, dass er sich selber gerichtet hat.»
Ein Klopfen an der Tür lies Richard zusammenzucken. Seine Frau schritt seelenruhig zur Tür, zu seelenruhig für seinen Geschmack. Sie öffnete sie ohne nachzusehen wer da steht. Bergers Hand fuhr zu seinem Mund, ihm wurde urplötzlich übel und er brauchte all seine Konzentration um sich nicht zu übergeben. Das alles hatte ihn mehr mitgenommen, als er dachte. Nichts würde je wieder so sein, wie es war.
«Ja bitte?»
Hörte er seine Ehegattin an der geöffneten Türe. Dann vernahm er eine Männerstimme.
«Guten Tag, sind sie Frau Berger? Ich bin Cristian Pfeiffer vom Frankfurter Generalanzeiger. Dürfte ich reinkommen und kurz mit ihnen reden.»
«Verschwinden sie bitte!»
Dabei versuchte Richards Gattin die Türe zu zu schlagen, doch dieser Mann hielt sie fest, betrat die Wohnung aber nicht.
«Bitte Frau Berger! Ich muss mit ihnen dringend sprechen!»
Richard bewegte sich auf die Türe zu. Woher er den Mut nahm, wusste er nicht, doch wenn der Mann nicht das Haus betrat, wird er nicht einer dieser Verbrecher sein. Als er neben seiner Frau ankam, meinte der Mann ohne abzuwarten.
«Guten Tag Herr Berger. Ich weiss, dass sie nicht mit einem von uns reden sollen, doch bei mir liegt der Fall anders. Wenn sie die Nachrichten gesehen haben. Diese Frau, ich kannte sie. Ich war der, welcher angerufen wurde.»
Berger musterte den Mann. Er sah recht mitgenommen aus. So als hätte er seither kaum bis gar nicht geschlafen. Das Hemd war zerknittert, seine Augen hatten tiefe dunkle Ringe. Sein Haar nur zurecht gestrichen doch zerzaust. Richard hatte ein ungutes Gefühl, dennoch nickte er. Er ignorierte den grimmigen Blick seiner Frau, die sich schnell wieder fing und trällerte.
«Gut, der Kaffee ist ohnehin fertig und der Kuchen ist schliesslich frisch.»
Auf dem Heimweg hielten sie noch in einer Bäckerei und holten einen Marmorkuchen. Der Journalist stimmte zu und reichte ihm eine Visitenkarte. Berger sah auf die Karte und nickte. Sie zeigte, dass er offenbar der war, welcher er behauptete. Doch Karten kann man Fälschen. Als Berger wieder aufsah, hielt ihm der Mann einen Presseausweis unter die Nase, was Berger beruhigte. Er machte einen Schritt auf die Seite und lies Herrn Pfeiffer hinein. Deutete auf das Wohnzimmer und folgte ihm gemessenen Schrittes. Als sie sich gesetzt haben, kam auch Dorothea herein. Berger lief ein kalter Schauer, über den Rücken, denn er war wieder an jenen Tag versetzt. So sah seine Frau auch damals aus. Er schüttelte den Kopf, um die Bilder aus seinen Gedanken zu bekommen. Da meinte der Journalist.
«Es tut mir leid, dass ich frische Wunden wieder aufreisse. Doch ich bin seither hinter den Leuten dahinter her. Trotzdem, ich brauchte noch ein paar Informationen, um das Bild komplett zu fertigen.»
Berger nickte, er fing an alles zu erzählen, an was er sich noch erinnerte. Herr Pfeiffer notierte sich das Gesagte. Dann meinte er forschend.
«Sie haben gehört, dass der zweite sich angeblich umbrachte?»
Berger nickte, seine Frau hingegen stand auf und verliess den Raum. Mit verengten Augen sahen beide hinter ihr her. Pfeiffer betrachtete wieder Berger und meinte leise.
«Bei der Autopsie wurde festgestellt das der Mann …»
Pfeiffer blätterte in seinen Notizen.
«… Alexander Schreivogel, vor nicht allzu langer Zeit Nahrung zu sich genommen hat. Das müsste in dem Zeitraum gewesen sein, als er hier war.»
«Ja es war meiner Frau zu verdanken, dass wir das lebend überstanden. Sie behielt die Ruhe und wie soll ich sagen. Die Lage entspannt sich, wenn man zusammen Kaffee trinkt.»
Pfeiffer nickte, doch sein Blick blieb an der Tasse vor ihm hängen.
«Ich habe herausgefunden, das es eine Gruppe im Darknet gibt, die diese Aktionen durchziehen. Allem Anschein nach ist es eine Art Spiel, wo jede Woche eine neue Aufgabe gestellt wird. Doch sterben tun nur die anderen. Derjenige, welcher die Runde nicht schafft, ist in der nächsten Runde dann als erstes Opfer vorgesehen. Von dem her hatten sie Glück. Denn wenn die Polizei nicht gekommen wäre, dann hätten sie sie mitgenommen.»
Berger fuhr sich über das Gesicht und unterdrückte einen Aufschrei.
‹Nein! Wir hätten noch nicht zurückkommen sollen.›
«Wie schrecklich, doch was wollen sie dann von mir?»
«Bei meinen Recherchen bin ich auf einige Ungereimtheiten gestossen. Doch ich denke, ich habe meine Antworten gefunden. Verzeihen sie die Störung.»
Berger nickte und stand auf. Pfeiffer reichte ihm die Hand und meinte noch «ich finde selber hinaus.»
Als die Türe zu war und Berger wieder alleine da stand, sackte er in sich zusammen. Die Fragen, die Geschehnisse, einfach alles lies ihn kraftlos und gebrochen zurück.
Pfeiffer
Als die Türe hinter Cristian ins Schloss viel, drehte er sich nochmals um und starte auf die verschlossene Türe. Er nahm nochmal seinen Notizblock hervor, las sich nochmals alles durch, und notierte sich noch einiges. Danach ging er zu seinem kleinen Fiat Panda, stieg ein und blieb nochmals kurz sitzen. Mit einem schweren Atemzug lies er das Auto an. Er schlug den Weg zu seiner Redaktion ein. Auf halber Strecke musste er stehen bleiben, da ihm komisch wurde. Er lies seine Arme über das Lenkrad fallen und stützte den Kopf darauf ab, schloss die Augen und hoffte, dass dieses Unwohl bald wieder vorbei ging. Dann kurbelte er das Fenster hinunter und lehnte sich zurück. Es war komisch, er bekam Schweissausbrüche, ihm war schlecht und seine Sicht verschwamm.
‹hoffentlich ist das keine Erkältung!›
Nach etwa zehn Minuten fühlte er sich wieder so fit, um weiterzufahren. Bei seinem Büro angekommen, stieg er aus und merkte, dass er etwas schwankte.
‹nur ein paar Sachen holen.›
Er ging zügig nach oben und hoffte, dass keiner bemerkte, wie es ihm ging. An seinem Schreibtisch setzte er sich und machte eine Schublade auf. Griff sich das, was er brauchte und schloss sie wieder. Einer seiner jungen Kollegen kam gerade durch die Türe.
«Salina sag bitte Magnus, dass ich die nächsten Tage frei nehme. Sag ihm einfach, dass ich krank bin.»
Gleich war er aus der Tür. Er wollte nicht noch stunden lang Diskutieren. Er hörte gerade noch, dass sie ihm etwas hinter her rief, doch er war schon weg. Im Auto sitzend atmete er erst wieder tief durch. Gerade als er den Schlüssel drehen wollte, entschied er sich um. Stieg aus und holte sich einen Kaffee, an dem fahrbaren Stand, der immer schräg gegenüber stand. Vorsichtig nippte er am Kaffee und genoss den herben bitteren Geschmack dieser dunklen Brühe.
‹viel besser als …›
Ihm blieb keine Zeit, seinen Gedanken fertig zu denken, denn sein Telefon läutete. Ohne nachzusehen ging er ran und erstarrte. Eine verzerrte Stimme war dran, die in einem tiefen metallischen Ton sagte.
«Wir wollen, dass sie etwas für uns machen.»
Pfeiffer blickte sich um, doch er konnte niemanden entdecken, der auffällig war.
«Guter Versuch, doch wie wäre es, wenn sie fragen, was wir wollen?»
«Was wollen sie?!»
«Wir wollen, dass sie den einen Mord aufklären. Wir morden nicht, es sind immer die Leute, welche sich selber umbringen.»
«Sie Psychopath! Was bezwecken sie damit? Wer sind sie? Was wollen sie? Was soll das alles?»
«Das hat sie nichts anzugehen. Machen sie, was wir wollen, sonst wird noch jemand aus ihrem Umfeld sterben.»
«Ach ja! Ich weiss mehr, als sie glauben und ich denke, die Polizei würde sich brennend dafür interessieren.»
«Wenn sie das täte oder sie mehr hätten, würden wir nicht hier sprechen, sondern sie würden in einem Leichenschauhaus liegen. Was ja noch sein kann. An ihrer Stelle würde ich mich untersuchen lassen. Sie sehen blass aus.»
Wieder blickte sich Pfeiffer um, und nahm nochmal einen grossen Schluck seines Kaffees, da er niemanden sehen konnte.
«Was würde es mir bringen, wenn ich beweisen kann, dass sie nicht den einen umbrachten?»
«Das hört sich schon besser an. Sie bekommen die Garantie, dass sie und ihre Leute ab jetzt sicher sind. Unter der Bedingung, dass sie unser Spiel mitmachen. Sie werden der Gegenpart sein, um es interessant zu halten. Sie haben die Aufgabe, dass sie den Mord aufklären und den Täter ausliefern, daneben müssen sie die anderen aufhalten. Sagen wir eine Berührung des Spielers und er ist ausgeschieden. Dieselben Bedingungen wie bei den anderen, nur dass sie der Jäger sind. Falls sie gewinnen, was nicht zu erwarten ist, haben sie einen Wunsch frei. Glauben sie, alles wird ihnen erfüllt werden. Doch sollten sie versagen, bedeutet das den Freitod.»
«Sie sind doch verrückt! Was meinen sie, wer ich bin? Vergessen sie es. Ich werde sie finden und zur Strecke bringen. Sie werden im Knast verrotten.»
Ein leises unheimliches Lachen ist zu hören. Pfeiffer rieb sich über das Gesicht.
«Reden wir nochmals, wenn sie sich untersucht haben lassen. Ich denke, dass sie ihre Meinung danach ändern. Sie werden darauf eingehen. Denn sie wollen die Wahrheit wissen.»
«Dann geben sie mir mehr Informationen.»
«Gut, ich gebe ihnen, was wir haben, aber nur was den Mord betrifft. Dass er vergiftet wurde, wissen sie ja. Doch wussten sie auch, dass es einige Morde mit diesem Gift gab? Sie ziehen sich durch die letzten 30 Jahre. Aufträge, die teuer bezahlt wurden, sind auch dieser Person zuzuschreiben. Doch man hatte die Person nie in die Finger bekommen. Sie ist wie ein Schatten, keine Beweise, keine Hinweise.»
Pfeiffer fuhr sich wieder über das Gesicht. Er fragte sich wieder, was hier los ist. Ein Spielleiter der aus dem Schatten agiert, und ein Auftragsmörder der die Bösen umbringt. Warum sollte er sich da einmischen? Wäre Maria nicht gewesen. Ihr schuldet er, dass er alle dingfest macht.
Stekly
Pfeiffers Atem pulsierte. Alles an ihm pulsierte, zuckte, brannte, gärte und giftete. Seine Innereien wollten nach draussen. Schliesslich fand sein Mageninhalt den Weg an die Oberfläche. Es kotzte aus ihm heraus. Er kniete nieder, beugte sich über den Papierkorb. Die Gallenmasse stieg ihm in die Kehle. Er räusperte sich und spuckte den blasigen Speichel aus.
Sein Versuch, sich an der Pultkante hochzuziehen, scheiterte. Er hörte es schreien. Jemand griff ihm unter die Arme, half ihm auf den Stuhl. Dieser Jemand hielt den Zeigefinger vor den Mund und deutete auf das Handy, aus dem es schrie.
Pfeiffer riss es an sein Ohr.
„Maria“, brüllte er, „Maria, was ist los?“
Er hörte, wie Maria wimmerte.
„Marie, wo bist du? Was ist los?“
Er rollte mit dem Stuhl ans Fenster, schaute hinab. Doch da wo vorher Maria im roten Mantel gestanden hatte, war niemand mehr.
„Es geht ihr gut“, sagte die Stimme von vorher. „So wie es jemandem geht, der einen Schuss in den Oberschenkel verpasst bekommen hat. Keine Sorge, nur eine Fleischwunde. Sie wird es überleben.“
„Du Schwein du, ich werde dich…“
„Spar dir Deinen Atem. Gar nichts wirst Du. Du machst ab jetzt, was ich will, Du gehorchst mir. Du gehörst Makolo“
„Wer zum Teufel ist Malolo?“
„Makolo! Du wirst es erfahren. Im Moment bleibst du wo du bist und machst gar nichts. Du wartest bis ich zurückrufe und Dir sage, was du tun musst. Keine Polizei, verstanden.“
Pfeiffer hörte Maria aufschreien.
„Was ist los? Was machen Sie?“
„Nur eine kleine Erinnerung. Keine Polizei. Hast du das verstanden?“.
Pfeiffer starrte auf das Handy.
„Geht’s?“, fragte der Mann, der ihm aufgeholfen hatte.
Er war jung, trug ein oranges T-Shirt, darüber ein blau-schwarz kariertes Hemd, das vorne offen stand und lose über seine Hose hing. Haupthaar und Bart waren zu Stoppeln zurückgeschnitten. Das auffälligste an ihm war seine Nase, eine schmale Nase, die direkt in die Stirn hineinführte und zwei tiefe Furchen zwischen den buschig geschwungenen Augenbrauen bildete.
Pfeiffer starrte ihn an.
„Wer sind sie?“, fragte er. „Was machen Sie hier?“
„Mein Name ist Stekly, Daniel Stekly. Ich bin einer der IT-Admin in diesem Gebäude.“
„Was sind Sie?“, fragte Pfeiffer.
„Meine Kollegen und ich betreuen die Computer, die Netzwerke, Internet und Betriebssysteme. Aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich denke Sie sollten die Polizei einschalten. Da ist jemand schwer verletzt.“
„Nein, nein“, sagte Pfeiffer. „Das geht nicht. Haben Sie dieses Video gesehen. Und jetzt haben sie Maria.“
Pfeiffer deutete auf den Bildschirm.
Mit ein paar Eingaben auf der Tastatur startete Stekly das Video.
„Ein Verrückter“, sagte er.
Pfeiffers Handy schellte metallisch.
„Hören Sie! Wir müssen Zeit gewinnen! Sie müssen den Kerl hinhalten! Stellen Sie ein paar Fragen! Sie sind doch Journalist oder!“
Stekly stanzte seine Worte, unterstrich sie mit Unterarm und Zeigefinger.
Pfeiffer zitterte.
„Lautsprecher“, zischte Stekly und deutete auf das Handy.
Pfeiffer meldete sich.
„Wo ist Maria!“ Seine Stimme hüpfte ins Falsett. „Was willst Du!“
Er rang nach Luft.
„Hör jetzt gut zu!“ Die Stimme klang wie aus einer Wolke, leise vibrierend, schwoll dann unvermittelt an: „Du stellst hier keine Fragen, verstanden. Du machst ganz einfach was ich sage und zwar ohne blöde Fragen!“
Niemand sagte etwas, dann kam wieder die Stimme aus der Wolke.
„Hast Du das verstanden, Pfeiffer!“
„Ja, schon“, sagte Pfeiffer. „Ich will nur wissen, wie es ihr geht.“
„Du gehst jetzt zum Lift und fährst runter zum U3. Dort begibst du dich zum Parkfeld G27. Und nimm Dein verdammtes Handy mit. Jetzt sofort.“
Stekly hielt ihm ein Papier vors Gesicht.
„Lift defekt“ stand da.
Doch der Anrufer hatte die Verbindung bereits unterbrochen.
„Gib mir Dein Handy“, sagte Pfeiffer. „Ich installiere Dir einen GPS-Tracker.“
„Einen was“, fragte Pfeiffer.
„Damit kann ich dich orten, und weiss wo du bist. Lass also Dein Handy eingeschaltet.“
„Noch etwas“, fuhr Stekly fort, während er die App auf Pfeiffers Handy installierte. „Wenn du mich kontaktieren willst, so benutze dieses Handy.“ Er reichte Pfeiffer ein einfaches, handtellergrosses Gerät.
„Meine Nummer ist gespeichert. Hat kein Internet, nix. So wie in der Steinzeit. Du presst die 8, und bist mit mir verbunden. Die acht eine Weile gedrückt halten. Und jetzt lauf los.“
Als Pfeiffer im U3 anlangte, suchte er nach dem Parkfeld G27, fand es schliesslich. Doch da war niemand.
Das Labor
Teile der mannsgroßen, aufrechtstehenden Kapsel glänzen silbern im kalten Licht des Labors. Durch ein kleines Fenster im oberen Teil kann man Gregor erkennen. Sein Gesicht ist vollständig, nur der graue Bart ist noch nicht ganz nachgewachsen. Die Flüssigkeit lässt sein Gesicht größer als gewöhnlich aussehen. Seine wenigen Haare fliegen wie in Schwerelosigkeit.
„Er ist fertig.“ Dr. Mandrill legt einen großen Hebel an der Seite der Kapsel um, damit die gelartige Flüssigkeit abfließen kann.
„Das ging schneller, als beim letzten Mal.“ Schlaftrunken reibt sich Ronny die Augen und schraubt sich aus dem übergroßen Bürostuhl.
Ein zischendes Geräusch ertönt, als die Kapsel komplett frei von Flüssigkeit ist. Dr. Mandrill entriegelt die sieben Sicherheitsschlösser der Kapsel nacheinander. Das Behältnis öffnet die Tür selbständig, nachdem das letzte Schloss gelöst ist. Gregor sieht noch immer schlafend aus. Erst als Dr. Mandrill den Schlauch aus dessen Nabel zieht, erwacht der neue nackte Mensch. Hustend, als ob er sich böse verschluckt hätte, verlässt er seine Brutstätte.
„Das war das letzte Mal!“ Ruft er zwischen seinen Hustenattacken.
Dr. Mandrill überreicht ihm einen Bademantel: „Herzlich willkommen zurück. Wir konnten übrigens den Fehler von letzten Mal beheben. Ihre Eier sind jetzt wieder gleich groß.“
„Sehr nett.“ Mehr kann Gregor während des noch immer andauernden Hustens nicht sagen. Er greif nach dem Bademantel und schlüpft hinein.
„Schön, dich zu sehen.“ Freut sich Ronny. „Wir sind viral gegangen. Die ganze Welt weiß, was vor Bergers Haustüre passiert ist.“
„Wie hast du das hinbekommen?“ Fragt Gregor, der nun etwas zittert, aber nicht mehr husten muss.
Ronny zeigt auf eine weitere Kapsel in einer anderen Ecke des Labors: „Das ging einfach. Unser Köder Maria hat den Pfeiffer so angefüttert, dass er wegen ihr das Video auf der Facebookseite des Generalanzeigers hochgeladen hat. Das ging leider nicht ohne ein wenig Erpressung. Aber sie brütet dort schon wieder. Ich denke, sie wird ihr Aussehen und den Namen ändern müssen. Das sollte ihr aber nichts ausmachen, sie mochte den Kaffeejunkie ohnehin nicht, wie sie mal erwähnte.“
„Du hast den Joker ausgespielt? Sind wir wieder im Rennen?“
„Ja, wir dürfen noch einmal. Wenn es wieder klappt, dann ist die Million unsere.“
„Aber dieses Mal bist du dran. Ich mache das nicht nochmal. Außerdem erkennt mich dann vielleicht noch jemand.“
„Tja, Gregor. Da gibt es nur ein Problem. Du musst. Der Ausschuss hat das zur Bedingung gemacht.“
„Nein, dann steige ich aus. Ich will das nicht noch einmal.“
„Das kannst du zwar tun, aber denk dran, was der Preis dafür ist. Der Ausschuss wird nicht zögern, das weißt du.“
Gregor senkt den Kopf. Er weiß ganz genau, wie die Spielregeln sind. Er muss durchziehen, sonst verlieren Andere ihr Leben – und das unwiederbringlich. So steht es im Gewinnspielvertrag.
„Also gut, ich mache es. Was hat uns der Joker gekostet?“
„Noch nichts, aber es muss beim erstem Mal funktionieren, sonst bist du deine bisher verdienten vierzigtausend wieder los.“
„Das heißt, wenn ich mir wieder die Birne wegschießen muss, bleibe ich tot.“ Sagt Gregor leise eher zu sich selbst. Er reibt sich die Schläfen.
„Tut mir leid, alter.“ Ronny klopft ihm auf die Schulter und verlässt das Labor.
Dr. Mandrill hat das Gespräch mitbekommen und tritt nun näher. Sein widerliches Parfum beißt in Gregors Nase. Die neuen Geruchsnerven sind viel zu scharf, wird Gregor in diesem Moment bewusst. Zwei ungleiche Eier waren besser. Die haben nicht so gestört.
„Gregor, wenn ich Ihnen einen Tipp geben darf: unser Material reicht nur noch für eine Kopie. Wenn wir anfangen, eine Kopie von der Kopie zu machen, haben sie im besten Fall Elefantenohren, es kann aber auch sein, dass wir ihr Bewusstsein nicht mehr richtig koppeln können, da Verbindungen im Gehirn nicht mehr mit übernommen werden. Das heißt, sie sind dann entweder im Kopf ein Baby, oder der Körper kann vom Bewusstsein nicht mehr gesteuert werden.“
„Meinen sie das mit den Elefantenohren ernst?“
„Nein, natürlich nicht. Aber die Sache mit dem Bewusstsein ist Tatsache. Sie sind jetzt als Kopie schon nicht mehr zu einhundert Prozent das Original und mit jeder Kopie gehen Informationen verloren. Sie werden dann trotzdem tot sein. Sie haben nur noch einen Versuch.“
„Wenn es nicht klappt, bin ich das so wie so. Das Geld ist dann weg, es reicht dann nicht mehr für einen weiteren Klon. Das wissen sie. Sie sitzen ebenfalls im Ausschuss. Ihr Wissenschaftler habt euch da ein echt übles Spiel ausgedacht.“
„Ja, mag sein. Es ist aber wichtig für die Forschung. Oh, Maria ist fertig.“ Er zeigt auf das grüne Licht unter der Kapsel am anderen Ende des großen Labors und geht.
„So ein Scheiß, ich gehe erstmal duschen. Wo ist eigentlich Ronny, der Verräter?“ Spricht er mit sich selbst.
Der Komissar
Was war heute nur los? Gleich zwei suspekte Fälle haben sich ihm heute an einem eigentlich ruhigen Sonntagmorgen ergeben. Der eine Fall fand in einem der vornehmeren Viertel der Stadt statt, was schon merkwürdig genug war. Und zu dem Zweiten wurde er soeben von seinen Kollegen in Blau gerufen. Dieser war nämlich genau so seltsam wie der Erste und schien eine Verbindung zum Ersten zu haben. Scheinbar hat es auch hier einen ähnlichen erpresserischen Selbstmord gegeben. Dieses Mal eine Frau. Noch dazu kam, dass ihm sein Kollege etwas von einem Video erzählt hat, welches ihn interessieren könnte.
Keine zehn Minuten später traf er am Tatort ein. Bevor er aus seinem Auto ausstieg schaute er auf sein Smartphone nach neuen Nachrichten. Sein Kollege wollte ihm schnellstmöglich eine erste Phantomzeichnung schicken des Unbekannten vom ersten Tatort. Doch noch war nichts angekommen. Kein Wunder. Der Phantomzeichner hatte erst begonnen Herrn Berger zu befragen, als er hierher gerufen wurde. Er packte sein Smartphone wieder weg und stieg aus.
Einer seiner Kollegen hob das Absperrband hoch, sodass er ungehindert eintreten konnte. Vor ihm befand sich nun eine mit einem weißen Tuch abgedeckte Leiche. Die Waffe, mit der sie sich erschossen haben musste, lag nicht weit von der Leiche entfernt. Warum um alles in der Welt, haben sich diese zwei Menschen selbst erschossen? Was hat diese beiden Menschen dazu getrieben? Und was hatte es mit diesem geheimnisvollen Mann auf sich, der scheinbar in beiden Fällen eine Rolle gespielt hat? Fragen auf die er eine Antwort suchte. Doch noch war einiges schleierhaft. Wurden die Opfer erpresst? Wenn ja? Womit? Was war es, womit sie erpresst wurden, dass sie dazu bereit gewesen sind, sich selbst das Leben zu nehmen? Erst am Rande der Verzweiflung kann ein Mensch doch erst dazu fähig sein.
Er schaute sich um. Es gab doch tatsächlich Schaulustige, die nichts Besseres zu tun hatten, als sich an einem Sonntagmorgen dieses grausame und grauenhafte Spektakel anzuschauen. Er schaute einen nach dem Anderen dieser Menschen an. In seiner Zeit als Kommissar war er schon an einigen Tatorten zugegen und bis jetzt hatte er nie eine Antwort auf die Frage gefunden, was diese Menschen so faszinierte Tatorte mit echten Opfern zu beobachten. Es war nicht mal so, dass sie mit Entsetzen auf das schauten, was sich ihnen darbot, sondern sie grinsten und unterhielten sich dabei. Vielleicht nicht alle, aber definitiv zu viele.
Sein Blick wanderte durch die Menschenmenge. Ein Jogger der seinen Lauf unterbrach, eine Gruppe von Jugendlichen, die scheinbar Scherze machten und laut lachten, ein Pärchen, welches Händchen hielt. Meine Güte, dachte er sich. Weiter hinten sah er eine junge Gruppe, die hinter ihm auf die verdeckte Leiche schaute und sich darüber zu unterhalten schien. Immerhin schienen sie mit etwas ernsterer Miene das Geschehen zu beobachten. Direkt bei ihnen stand ein Mann, dieser schaute ihn direkt an. Er hatte das Gefühl, dass er ihm bekannt war, doch fiel ihm nicht ein, woher er ihn kannte geschweige den, wer es war. Er schien auch nicht der Gruppe anzugehören.
„Hi. Endlich bist du da.“
Sein Kollege in Blau, welcher ihn zum Tatort gerufen hatte, eilte herbei und riss ihn dabei aus seinen Gedanken. Er schlüpfte schnell unter das Absperrband in den inneren Bereich des Tatorts. Er hielt sein Smartphone in der Hand und ging schnellen Schrittes direkt auf ihn zu.
„Sieh dir an, was ich hier habe!“
Er war etwas aus der Puste. Scheinbar kam er gerade aus dem Gebäude gegenüber hergerannt, wo er seinen Zeugen befragt hatte.
„Was denn?“
„Du hast mir doch von deinem anderen Fall heute erzählt. Mit dem erpresserischen Selbstmord vor der Haustür.“
„Ja, genau. Was ist damit? Du hast mir von einem interessanten Video erzählt. Doch nicht etwa das Video, von dem mein Zeuge behauptet hat, der Komplize hätte es gefilmt?“
„Doch genau das. Sieh her!“
Er drehte sein Smartphone um und hielt es ihm vor das Gesicht.
„Mein Zeuge, ein Redakteur des Frankfurter Generalanzeigers, war scheinbar gezwungen worden das Video hochzuladen. Wir haben es direkt wieder herunternehmen lassen, als wir ankamen. Er hat mir nochmal eine Kopie zugesendet. Ich habe es auch bereits an unsere IT weitergeleitet. Sie sollen das Ganze auch nochmal gründlich untersuchen.“
Er antwortete ihm nicht und hörte nur beiläufig zu. Stattdessen schaute er sich aufmerksam das Video an. Es war doch tatsächlich und eindeutig vor dem Haus aufgenommen worden, von dem er gerade gekommen war. Er hatte ein komisches Gefühl, während er sich das Video anhörte. Was verschaffte ihm dieses mulmige Bauchgefühl? Dann hörte er den Schuss, mit dem sich der ältere Mann umgebracht hatte. Dann kam ihm so plötzlich wie ein Blitzschlag die Erleuchtung. Diese Stimme im Hintergrund. Er kannte sie irgendwo her.
„Kannst du mir den Schluss nochmal abspielen?“
„Natürlich. Ist dir etwas aufgefallen?“
Erneut antwortete er ihm nicht. Er konzentrierte sich darauf, die Stimme genau zu hören. Er runzelte die Stirn.
„Was ist es? Was fällt dir auf?“
„Ich weiß nicht. Kommt dir diese Stimme nicht irgendwie bekannt vor?“
„Nein, sollte sie das denn?“
„Spiel den Schluss nochmal ab und schau, ob sie dir nicht doch bekannt vorkommt. Ich weiß nicht, aber ich habe das Gefühl, dass ich sie schonmal gehört habe.“
Er spielte den Schluss ein drittes Mal ab und hörte dieses Mal auch genauer mit.
„Nein, kommt mir nicht bekannt vor. Hast du dir die Leiche schon angesehen?“
„Noch nicht. Ich bin erst jetzt gerade hier angekommen. Was kannst du mir zu der Person sagen?“
Er packte sein Smartphone wieder weg und sie gingen beide in Richtung der Leiche.
„Nicht viel. Laut des Zeugen war dies seine Freundin. Der unbekannte Anrufer hat ihn mit ihr erpresst. Wenn er das Video nicht in den nächsten zwei Minuten hochgeladen hätte, würde sie sich erschießen.“
„Das kann doch nicht stimmen. Warum sollte sich die Freundin des Erpressten selbst erschießen auf Geheiß eines unbekannten Dritten? Da muss doch etwas hinter stecken.“
„Was soll ich dir sagen? Es ist definitiv verrückt, was sich hier abgespielt haben soll.“
„Nicht nur hier. An dem ersten Tatort ist es das selbe Schema.“
„Merkwürdig.“
In seiner Hosentasche vibrierte es. Das muss der Phantomzeichner sein. Er holte sein Smartphone heraus. Sie standen vor der Leiche. Der Gerichtsmediziner schaute sie kurz an. Lediglich mit einem Nicken gaben sie dem Mann die Anweisung, das Tuch kurz anzuheben. Während der Gerichtsmediziner das Tuch begann anzuheben, entsperrte er sein Smartphone und ging auf die neue Nachricht. Tatsächlich eine Phantomzeichnung. Er schaute sich die Zeichnung nur flüchtig an, als er die Frau am Boden sah und ihn der Schlag traf.
„Oh mein Gott! Maria?“
Gleichzeitig dachte er wieder an das Phantombild, drehte sich schlagartig zur Menschenmenge und schaute in Richtung der jungen Gruppe von vorhin. Der Mann, der ihn angeschaut hatte. Er war verschwunden.
Zur gleichen Zeit, auf einer kapverdischen Insel…
Sabine saß auf einem Liegestuhl, mit einem pinkfarbenen Cocktail in der einen und dem neuen Mobiltelefon in der anderen Hand und freute sich auf das anstehende Telefonat, das sie sehnlichst seit einer halben Stunde erwartete. Sie schlürfte genüsslich vom süß-sauren Getränk, leckte ein bisschen am Zuckerrand, warf einen Blick auf ihre sündhaft teure Mont Blanc am Handgelenk, atmete einmal tief durch und sah erneut auf die lachsfarbene Kommunikationszentrale in ihrer Hand.
Sabine war eine attraktive, schlanke Frau, im besten Alter, roter Bikini, blonde Haare, das mathematische Zeichen Pi zierte die Innenseite ihres Unterarms. Sabines Erscheinungsbild wirkte wie eine unschuldige Schönheit, die dem Anschein nach viel Freizeit hatte und eher schnell mal in die Kategorie „reiche Ehefrau“ gesteckt wurde. Angestellte und Touristen, die hin- und wieder an der reizvollen Lady in größerer Entfernung vorbeigingen, nahmen gerne Notiz von ihr, trauten sich jedoch auch nicht, ein längeres Beobachten dieser Augenweide durchzuführen.
Ein französischer Hip-Hop Song von Jul ertönte, der Klingelton. Sabine drückte lässig auf den grünen Gesprächs-Button und schaltete auf Freisprechen. „Ja, bitte?“
Parallel, zurück in der Redaktion…
Déjà-vu
Richard Berger wachte mit einem fliehenden Gedanken auf. Er hielt die Augen fest geschlossen, als könne er so die Welt und ihre Forderungen noch für einen kostbaren Moment aussperren. Doch der Gedanke entglitt ihm und damit auch ein fieberhafter Traum, der intensiver gewesen war als alles, was er je geträumt hatte – und doch löste er sich im Bruchteil einer Sekunde auf.
Nur zwei Fragmente konnte Richard in die Realität hinüberretten. «Passwort» und «Pfeiffer». Vage erinnerte er sich daran, auf ein Passwort gestarrt zu haben, und selbst jetzt, sicher und warm in seinem Bett, spürte er, wie sein Herz schneller schlug. Wofür nur hatte er dieses Passwort gebraucht?
Und dann war da der Name Pfeiffer. Christian Pfeiffer, glaubte er.
Das ergab Sinn, immerhin war er am Vorabend mit dem neuen Buch des berühmten Kriminologen eingeschlafen.
Er drehte sich nach rechts und sah das Buch aufgeschlagen auf dem Schlafzimmerboden liegen.
Richard hatte das Kapitel «Medienkonsum und Gewalttätigkeit» noch zu Ende gelesen, bevor ihn die Müdigkeit übermannt hatte.
Er hörte seine Frau neben sich aufwachen und zwang sich, dem Mysterium seines Traumes nicht weiter nachzuhängen.
Sie blinzelte mit den Augen, gähnte schamlos und fragte ihn: «Schatz, was war denn heute Nacht los. Du hast dich hin und hergewälzt und hast im Schlaf geredet. Ich hätte dich fast geweckt.»
Er wollte sie nicht beunruhigen. «Ich habe geschlafen wie ein Baby. Da ist nächtliches Brabbeln doch ganz normal.» Er setzte sein breitestes Lächeln auf, während er ein plapperndes Kleinkind nachahmte.
Er ging barfuß in die Küche, stellte den Kaffeeautomaten an und wankte – immer noch im Halbschlaf – ins Badezimmer, um sich zu waschen.
Ein paar Minuten später hatten die Bergers gefrühstückt und bereiteten sich auf den sonntäglichen Kirchgang vor.
Richard zog seine Lieblingskrawatte aus der Schublade. Die mit den schwarzen Eurozeichen auf goldfarbenem Grund – ein Geschenk seiner Frau, das ihn an seinen erfolgreichen Trade mit den Tesla-Aktien erinnerte.
Von einem Teil des Gewinns hatte er ihr ihren Traumwagen geschenkt. Einen Range Rover Kombi.
Als Dank bekam er diese Krawatte – ein Handel, den eindeutig seine Frau gewonnen hatte.
Schmunzelnd ging er ins Badezimmer: «Kannst du mir die Krawatte binden?»
«Zweiundfünfzig Jahre und du kannst dir immer noch keine Krawatte selbst binden? Das Beste wäre, ich kaufe dir nur noch Clip-Krawatten.»
Sie streichelte über seine Brust und die darüberliegende Krawatte, während beide lachten.
Doch die morgendliche Harmonie wurde jäh unterbrochen, als die Türklingel schrillte.
Richard ging zur Haustür und schob die Sicherheitskette mit einem leisen Klacken zur Seite, bevor er die Tür öffnete.
Sein Lächeln erstarrte, als er die beiden Gestalten im Vorgarten sah.
Ein älterer Herr mit grauem Schnurrbart und Glatze durchbohrte ihn mit glasigen, blauen Augen.
«Ich benötige dringend Ihre Hilfe», begann der Fremde mit brüchiger Stimme.
Seine junge Begleiterin stand einen halben Meter hinter ihm, leicht versetzt, so dass Richard sie nur zur Hälfte sehen konnte. Ihre dunklen Augen blitzten auf, als sie bemerkte, dass er sie ansah, und ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht.
«Bitte, können Sie mir helfen? Ich brauche 5.000 € und ich muss sie von Ihnen bekommen. Ich flehe Sie an.»
Der Mann war den Tränen nahe. Seine Stimme zitterte. Richard hätte Mitleid mit ihm gehabt, hätte er die Szene auf Netflix oder im Kino gesehen, aber der Mann stand in seinem Vorgarten. Es war surreal und bedrohlich real zugleich.
Was war hier los?
«Wer sind Sie? Warum brauchen Sie das Geld? Und warum ausgerechnet von mir?»
Legitime Fragen, dachte Richard, doch als er die Frau ein weiteres Mal ansah, wusste er, dass ihm keine weitere Frage gestattet war.
Mit ruhiger Präzision hob sie einen Revolver, presste ihn gegen die Schläfe des älteren Mannes und sah Richard direkt in die Augen.
«Haben Sie 5.000 € für diesen Mann, oder nicht?»
Der Alte zitterte am ganzen Körper. Richard sah ihm panisch in die Augen, unfähig, etwas zu erwidern. Sein Herz raste, seine Gedanken überschlugen sich – doch sie waren nicht schnell genug.
Ein lauter Knall durchbrach die Stille. Die angsterfüllten Augen des Flehenden waren aufgerissen und für einen Augenblick spiegelte sich Richards Antlitz in ihnen, bevor sich der Schleier senkte und alles Menschliche aus ihnen verschwand.
Der Mann sackte in sich zusammen. Richard machte einen Satz nach vorne und als er ihn berührte, hatte er ein Déjà-vu. Noch nie hatte er einen Toten gesehen - und doch schien ihm die Situation auf unheimliche Weise vertraut.
Mit dem leblosen Körper in seinen Armen keuchte er, außerstande, zu begreifen. Der Tote war ihm nicht fremd, obwohl er ihn noch nie gesehen hatte. Und auch die Frau, die sich jetzt über ihn beugte, hatte etwas Vertrautes. Ihr langes schwarzes Haar berührte seine Wange, als sie ihm etwas ins Ohr flüsterte.
«Sie sind ein Schwein, wissen Sie das? Er hat lediglich 5.000 € verlangt.»
Ihre Anklage traf Richard wie ein weiteres Geschoss, obwohl ihr Ton nicht anklagend erschien. Eher monoton und wie auswendig gelernt.
Er spürte noch ihren warmen Atem in seinem Ohr, als sie sich aufrichtete, ihren schwarzen Mantel glättete und ohne Hast den verschneiten Gartenweg entlangging. Die hölzerne Gartentür quietsche leise, als sie sie öffnete und verschwand.
Richard hielt den Kopf des Toten in seinem Schoß und schrie verzweifelt nach seiner Frau: «Maria, ruf sofort die Polizei!»
Seine Stimme bebte, doch die kalte Dezemberluft verschluckte sie fast.
Ich habe es versaut, dachte Pfeiffer entsetzt. Ich habe alles versaut, Maria. Er sank auf den Stuhl, heulte, schluchzte und verstand gar nichts mehr. Das verdammte Passwort, ich habe es vergessen. Unfassbar!!! Maria, nein, oh nein!!!
Sein Herz verkrampfte sich, der Kloß im Hals machte es schwer, zu atmen.
Er sprang auf, blickte nach unten zu der Leiche, zu seiner toten Maria und hoffte, sich zu irren. Eine Menschentraube hatte sich gebildet und wahrscheinlich schon die Cops und den Rettungsdienst gerufen.
Er torkelte raus aus dem Büro, den langen Flur entlang, aus der Tür raus und dann stürzte er. Unbeholfen stand er auf, seine Beine knicken nochmals weg. Er landete auf dem harten Boden, als zwei Passanten ihm wieder hochhalfen.
„Wir… Da liegt eine Frau.“ erklärte ein Mann.
„Sie ist tot , hat sich erschossen!“ fügte er hinzu.
Pfeiffer sank erneut zu Boden.
Warum?
DIE FÜNFTE GEWALT
Und er sprach zu ihnen:
Sehet zu und hütet euch vor aller Habgier;
Denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.
Ein Schar Wildgänse zerschnitt das gleichförmige Blau des Himmels. Hier, in einem der ruhigen Vororte Frankfurts, trug ihr aufgeregtes Schreien weit durch die kühle Luft, die erfüllt war von dem verwegenen Geruchspotpourri alter Chrysanthemen, Flammenblumen und Geißblatt.
Hohe Zäune und schmiedeeiserne Tore demonstrierten, dass an diesem Ort die Welt noch in Ordnung war, nicht zuletzt deswegen, weil sich ihre Bewohner mit Zähnen und Klauen von den Niederungen allzu gewöhnlichen Lebens erfolgreich abzuschotten wussten.
Durch das Giebelfenster des Hauses filterte ein goldener Lichtstreifen, ließ glitzernde Staubkörner einen wilden Reigen aufführen, während ein Federkiel bedächtig über schweres Papier kratzte. Der Geruch von Tinte und alten Büchern durchdrang die kleine Dachkammer, ließ Raum und Zeit schrumpfen.
Die Feder verharrte. Zögerte, als dächte sie nach. Fuhr fort und schrieb schließlich ihre letzten Worte.
Eine Hand krampfte. Ein Tintenfass kippte, und Flüssigkeit ergoss sich wie schwarzes Blut über unschuldiges Papier.
Der einem jeden geben wird
nach seinen Werken.
»Was haben wir?«
»Hallo Paul! Ich freue mich auch, dich zu sehen. Frau und Kind gesund? Wie war’s im Urlaub?«
»Schön. Wie immer. Also, wie sieht es aus?«
»Huch, mal wieder dicke Luft, was? Na gut. Darf ich vorstellen: unser Shitstorm-Opfer. Richard Berger, 43 Jahre, Reisebüroinhaber, der es zu beträchtlichem Vermögen gebracht hat, wie es aussieht.«
»Wieso?«
»Louis XV.! Hallo?« Polizeikommissarin Hanna Hells schwarzlackierter Zeigefinger wies auf ein ausladendes Möbelstück, dessen Türen weit offen standen. »Hier! Der Bordelaise-Schrank, in dem Berger hängt. Schweineteuer.«
Hauptkommissar Paul Peters musterte kritisch erst den Walnussschrank, dann die darin hängende Leiche, welche kaum merklich hin und her schwang und ihren Betrachtern ein gedunsenes Gesicht mit hervorquellenden Augen, denen eines Karpfen nicht unähnlich, präsentierte.
»Bordelaise sagt mir nichts«, grantelte Peters, »kenn’ ich nur als Fischfilet.«
»Schon klar bei unserem Gehalt. Aber dieses bescheidene Teil bewegt sich im mittleren fünfstelligen Bereich, wie mir Nina verraten hat.«
»Verdienen die in der Pathologie so gut, dass die sich mit irgendwelchen Louis-Schränken auskennen?«
»Aber hallo! Und wie! Ich weiß praktisch gar nicht wohin mit meiner ganzen Kohle.« Nina schob ihren massigen Körper zur Tür hinein, zwängte sich zwischen Hanna und Paul hindurch und steuerte energisch auf die Leiche zu. Zum zweiten Mal in dieser Stunde. Der alte Holzboden erbebte unter der Wucht ihrer Schritte und veranlasste Schrank und Leichnam in Resonanz zu gehen. Berger begann zu pendeln.
»So, noch einmal. Für Nachzügler! Ja, ich meine dich, Paul!« Die Rechtsmedizinerin griff nach Bergers Unterkiefer und stoppte die unangemessene Bewegung des Toten. Dann drehte sie den Leichnam so, dass Berger sein Publikum aus blutunterlaufenen Augen trotzig anstarren konnte.
Nina wies auf den nahezu kahlen Schädel. »Wir haben hier alle Merkmale einer Strangulation durch Fremdeinwirkung: zirkuläre Strangmarke, Einblutungen in der Zungenmuskulatur, Verletzung des Kehlkopfes sowie Bruch des Zungenbeines und Augenbindehautblutung – um die wesentlichen Symptome zu nennen. Aufgehängt wurde er später.«
»Bist du dir sicher?«
Die Pathologin ignorierte die Frage und drehte Berger zu allen Seiten. »Leichenstarre sowie konfluierende Totenflecken voll ausgeprägt, also mindestens seit acht Stunden tot. Und, ich muss weg.« Schwungvoll, man hätte es für Absicht halten können, ließ sie die Leiche los, die nun wie eine Marionette unwillig um die eigene Achse schwang. »Zu meinem Broker«, fügte Nina bissig hinzu.
An der Tür warf die Medizinerin einen letzten Blick auf den Toten. »An einer mit Geld bedruckten Krawatte in einem äußerst kostbaren Schrank aufgehängt. Hat da jemand Sinn für Sarkasmus oder ist das ein Statement?«
Hanna zuckte zusammen. »Statement! Scheiße, das hätte ich fast vergessen.«
Sie reichte ihrem Kollegen einen Plastikbeutel, in dem ein mit Tinte besudeltes Pergament steckte. »Das ist definitiv die Handschrift von Berger. Er scheint es kurz vor seinem Tod geschrieben zu haben. Verse wie es aussieht. Das Meiste ist nicht mehr entzifferbar, bis auf … ist die Wurzel allen Übels; danach hat einige gelüstet und sie sind vom Glauben abgeirrt und machen sich selbst viel Schmerzen.«
Die Lippen der Gerechten wissen, was wohlgefällt;
Aber der Mund des Frevlers weiß Dinge zu verdrehen.
Der Mann wandte dem Raum den Rücken zu. Er arbeitete ruhig und konzentriert. Bedächtig. Geradezu andächtig.
Der Mann, dessen größte Auffälligkeit in seiner fast schon aufdringlichen Unauffälligkeit bestand, führte Drähte zusammen, verzwirbelte und verlötete sie mit äußerster Präzision und Hingabe, während draußen der erste Herbststurm elementare Kräfte zu entfesseln wusste. Wind jaulte durch Straßenschluchten, streckte ganze Bäume nieder und Regen schlug wütend ans Fenster, als begehre er Einlass.
Inmitten dieses Unwetters nahm sich das hell erleuchtete Zimmer, genauer gesagt ein modern eingerichteter Loft, wie eine Insel der Ruhe und Friedens aus. Abgeschirmt. Den Urgewalten trotzend.
Im Kamin prasselte ein Feuer, sandte seine wärmenden Strahlen in die Tiefe des Raumes und warf flüchtige Schatten auf die grob verputzten Wände.
Der Mann lächelte. Nicht selbstgefällig oder gar hoffärtig. Nein, vielmehr war es das bescheidene, ja geradezu demütige, Lächeln eines Menschen, dessen Herz erfüllt ist von dem blendenden Licht tiefster Gewissheit.
Manchmal bewegten sich seine Lippen. Entließen Worte, Sätze – manchmal stumm, manchmal flüsternd: »Ihr werdet euch entsetzen, wenn sein Schrecken über euch fällt, denn das, was ihr zu bedenken gebt, sind Sprüche aus Asche.«
Brennendes Harz entließ eine Stichflamme. Ein Holzscheit knackte, als ein anderes Geräusch sich Bahn zu brechen versuchte.
Behutsam führte der Mann einen der Drähte in eine mit Wachspapier umwickelte Masse – wohlgeformte Stangen, die sich wie Knetgummi ausnahmen.
Er betrachtete das Konstrukt, das auf Zeitungen ausgebreitet lag. Sein Blick wanderte einmal mehr über die Schlagzeilen: Manuela B.: Mein teuflischer Plan ist aufgegangen; Hessischer Fiskus verzichtet auf 47 Millionen Euro im Cum-Ex-Skandal; Prozessgebäude für das Landgericht Frankfurt fertiggestellt – Verhandlungsbeginn in zwei Tagen.
»Meint ihr, dass ihr IHN täuschen werdet, wie man einen Menschen täuscht?« Wieder umspielte ein Lächeln die Lippen des Mannes.
Er drehte sich um.
»Es tut mir leid, dass ich so grob war. Nicht nur zu Ihnen.« Seine Stimme, sanft und melodisch, glitt eine Oktave nach unten. »Aber nun, da das Opus Dei seinen Lauf genommen hat, wird alles sich fügen. Doch viel gilt es noch zu tun, bis die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach strömt.«
Er nahm ein Messer in die Hand.
»Was meinen Sie, Richard? Ich darf Sie doch Richard nennen?«
Vielleicht hätte Richard Pfeiffer, wenngleich auch ungern, geantwortet. Allein, ihm war der Mund zugenäht worden.
Die Würde des Menschen
ist antastbar.
»Hier ist sein Platz, aber er selbst ist seit zwei Tagen verschwunden. Vermutlich abgetaucht, wie ich den kenne. Ein Shitstorm ist immer nur dann geil, wenn er andere ruiniert.«
Renate Redler, Redakteurin des Frankfurter Generalanzeigers, stellte zwei dampfende Kaffeetassen auf die Glasplatte und schob sie vorsichtig den Kripobeamten zu.
»Was das für ein Typ ist? Was soll ich schon sagen? Hält sich für so’ne Art Hemingway. Hat immer einen auf alte Schule gemacht. Ganz billig. Mit seiner versifften Kaffeemaschine und dem ganzen Gequengele über Gendern und Denglisch. Dabei war er der Einzige, der so bescheuert dahergequatscht hat.«
»Sie scheinen Ihren Kollegen nicht besonders zu mögen.«
»Ich sage Ihnen jetzt mal was: Ich bin seit über 10 Jahren in dem Laden, habe die bessere Ausbildung und schreibe die besseren Artikel. Trotzdem verdiene ich dreißig Prozent weniger. Aber das ist es nicht.«
»Sondern?«
»Pfeiffer ist ein alter, chauvinistischer Sack mit Platzhirsch-Attitüden, der es nicht geschnallt hat, dass seine Zeit vorbei ist.«
»Wurde er deswegen in die Online-Redaktion versetzt?«
»Wegen seines Sexismus? Bei Magnus? Das können Sie vergessen. Der hat den immer protegiert. Bis die Pfeife einmal zu oft ins Klo gegriffen hat.«
Hanna Hell beugte sich interessiert vor. »Das heißt, das war nicht das erste Mal?«
»Beileibe nicht. Von journalistischen Standards, insbesondere Integrität, hat der noch nie was gehört.«
»Was ist passiert?«
»Ist jetzt ungefähr ein Jahr her. Ein Vergewaltigungsprozess, der mit Freispruch endete, woran Pfeiffer durch seine«, die Redakteurin spuckte nachfolgendes Wort aus, »Berichterstattung guten Anteil hatte.«
»Ich verstehe!«
»Glaube nicht!«
»Dann klären Sie uns mal auf«, sagte Hanna und hielt den Blick der Frau fest.
»Wir arbeiten nach dem Vier-Augen-Prinzip. Wenigstens bei größeren Geschichten. Maria hatte einfach ihr Okay für den Artikel gegeben, ohne ihn gelesen zu haben. Mochte Pfeiffer irgendwie und hat sich auf ihn verlassen.«
»Und?«
»Die Kurzfassung: Der Artikel schlug Wellen. Pfeiffer musste von sich ablenken und hat Maria abgeschossen.«
Paul Peters sah die Redakteurin irritiert an.
»Maria war das Bauernopfer in dem Spiel«, präzisierte die Journalistin. »Und Magnus hat sie dann gefeuert.«
»Und weiter?«
»Maria gab sich die Schuld: Dafür, dass wieder so ein Schwein davongekommen ist und lustig weitermacht. Sie wollte Wiedergutmachung betreiben, aber da war es schon zu spät.«
»Zu spät wofür?«
»Mensch, Sie machen echt keine Hausaufgaben, oder? Die Kleine, das Opfer, öffentlich gedemütigt und bloßgestellt, hat sich umgebracht. Erschossen. Mit 16.«
Peters lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Renate Redler beugte sich vor: »Dadurch, dass Pfeiffer das Video online gestellt hat, ist auch sein Fall wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Ebenso wie der von Berger, der saubere Kirchgänger, der seinen besten Freund hingehängt hat als seine hochriskanten Spekulationen an der Börse schiefliefen. Berger selbst ist mehr als gut aus der Sache rausgekommen. Geblutet haben andere.«
»Abgeschossen, hingehängt«, murmelte Hanna Hell. »Paul, klingelt da was bei dir?«
DIE FÜNFTE GEWALT
Und er sprach zu ihnen:
Sehet zu und hütet euch vor aller Habgier;
Denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.
Ein Schar Wildgänse zerschnitt das gleichförmige Blau des Himmels. Hier, in einem der ruhigen Vororte Frankfurts, trug ihr aufgeregtes Schreien weit durch die kühle Luft, die erfüllt war von dem verwegenen Geruchspotpourri alter Chrysanthemen, Flammenblumen und Geißblatt.
Hohe Zäune und schmiedeeiserne Tore demonstrierten, dass an diesem Ort die Welt noch in Ordnung war, nicht zuletzt deswegen, weil sich ihre Bewohner mit Zähnen und Klauen von den Niederungen allzu gewöhnlichen Lebens erfolgreich abzuschotten wussten.
Durch das Giebelfenster des Hauses filterte ein goldener Lichtstreifen, ließ glitzernde Staubkörner einen wilden Reigen aufführen, während ein Federkiel bedächtig über schweres Papier kratzte. Der Geruch von Tinte und alten Büchern durchdrang die kleine Dachkammer, ließ Raum und Zeit schrumpfen.
Die Feder verharrte. Zögerte, als dächte sie nach. Fuhr fort und schrieb schließlich ihre letzten Worte.
Eine Hand krampfte. Ein Tintenfass kippte, und Flüssigkeit ergoss sich wie schwarzes Blut über unschuldiges Papier.
Der einem jeden geben wird
nach seinen Werken.
»Was haben wir?«
»Hallo Paul! Ich freue mich auch, dich zu sehen. Frau und Kind gesund? Wie war’s im Urlaub?«
»Schön. Wie immer. Also, wie sieht es aus?«
»Huch, mal wieder dicke Luft, was? Na gut. Darf ich vorstellen: unser Shitstorm-Opfer. Richard Berger, 43 Jahre, Reisebüroinhaber, der es zu beträchtlichem Vermögen gebracht hat, wie es aussieht.«
»Wieso?«
»Louis XV.! Hallo?« Polizeikommissarin Hanna Hells schwarzlackierter Zeigefinger wies auf ein ausladendes Möbelstück, dessen Türen weit offen standen. »Hier! Der Bordelaise-Schrank, in dem Berger hängt. Schweineteuer.«
Hauptkommissar Paul Peters musterte kritisch erst den Walnussschrank, dann die darin hängende Leiche, welche kaum merklich hin und her schwang und ihren Betrachtern ein gedunsenes Gesicht mit hervorquellenden Augen, denen eines Karpfen nicht unähnlich, präsentierte.
»Bordelaise sagt mir nichts«, grantelte Peters, »kenn’ ich nur als Fischfilet.«
»Schon klar bei unserem Gehalt. Aber dieses bescheidene Teil bewegt sich im mittleren fünfstelligen Bereich, wie mir Nina verraten hat.«
»Verdienen die in der Pathologie so gut, dass die sich mit irgendwelchen Louis-Schränken auskennen?«
»Aber hallo! Und wie! Ich weiß praktisch gar nicht wohin mit meiner ganzen Kohle.« Nina schob ihren massigen Körper zur Tür hinein, zwängte sich zwischen Hanna und Paul hindurch und steuerte energisch auf die Leiche zu. Zum zweiten Mal in dieser Stunde. Der alte Holzboden erbebte unter der Wucht ihrer Schritte und veranlasste Schrank und Leichnam in Resonanz zu gehen. Berger begann zu pendeln.
»So, noch einmal. Für Nachzügler! Ja, ich meine dich, Paul!« Die Rechtsmedizinerin griff nach Bergers Unterkiefer und stoppte die unangemessene Bewegung des Toten. Dann drehte sie den Leichnam so, dass Berger sein Publikum aus blutunterlaufenen Augen trotzig anstarren konnte.
Nina wies auf den nahezu kahlen Schädel. »Wir haben hier alle Merkmale einer Strangulation durch Fremdeinwirkung: zirkuläre Strangmarke, Einblutungen in der Zungenmuskulatur, Verletzung des Kehlkopfes sowie Bruch des Zungenbeines und Augenbindehautblutung – um die wesentlichen Symptome zu nennen. Aufgehängt wurde er später.«
»Bist du dir sicher?«
Die Pathologin ignorierte die Frage und drehte Berger zu allen Seiten. »Leichenstarre sowie konfluierende Totenflecken voll ausgeprägt, also mindestens seit acht Stunden tot. Und, ich muss weg.« Schwungvoll, man hätte es für Absicht halten können, ließ sie die Leiche los, die nun wie eine Marionette unwillig um die eigene Achse schwang. »Zu meinem Broker«, fügte Nina bissig hinzu.
An der Tür warf die Medizinerin einen letzten Blick auf den Toten. »An einer mit Geld bedruckten Krawatte in einem äußerst kostbaren Schrank aufgehängt. Hat da jemand Sinn für Sarkasmus oder ist das ein Statement?«
Die Lippen der Gerechten wissen, was wohlgefällt;
Aber der Mund des Frevlers weiß Dinge zu verdrehen.
Der Mann wandte dem Raum den Rücken zu. Er arbeitete ruhig und konzentriert. Bedächtig. Geradezu andächtig.
Der Mann, dessen größte Auffälligkeit in seiner fast schon aufdringlichen Unauffälligkeit bestand, führte Drähte zusammen, verzwirbelte und verlötete sie mit äußerster Präzision und Hingabe, während draußen der erste Herbststurm elementare Kräfte zu entfesseln wusste. Wind jaulte durch Straßenschluchten, streckte ganze Bäume nieder und Regen schlug wütend ans Fenster, als begehre er Einlass.
Inmitten dieses Unwetters nahm sich das hell erleuchtete Zimmer, genauer gesagt ein modern eingerichteter Loft, wie eine Insel der Ruhe und Friedens aus. Abgeschirmt. Den Urgewalten trotzend.
Im Kamin prasselte ein Feuer, sandte seine wärmenden Strahlen in die Tiefe des Raumes und warf flüchtige Schatten auf die grob verputzten Wände.
Der Mann lächelte. Nicht selbstgefällig oder gar hoffärtig. Nein, vielmehr war es das bescheidene, ja geradezu demütige, Lächeln eines Menschen, dessen Herz erfüllt ist von dem blendenden Licht tiefster Gewissheit.
Manchmal bewegten sich seine Lippen. Entließen Worte, Sätze – manchmal stumm, manchmal flüsternd: »Ihr werdet euch entsetzen, wenn sein Schrecken über euch fällt, denn das, was ihr zu bedenken gebt, sind Sprüche aus Asche.«
Brennendes Harz entließ eine Stichflamme. Ein Holzscheit knackte, als ein anderes Geräusch sich Bahn zu brechen versuchte.
Behutsam führte der Mann einen der Drähte in eine mit Wachspapier umwickelte Masse – wohlgeformte Stangen, die sich wie Knetgummi ausnahmen.
Er betrachtete das Konstrukt, das auf Zeitungen ausgebreitet lag. Sein Blick wanderte einmal mehr über die Schlagzeilen: Manuela B.: Mein teuflischer Plan ist aufgegangen; Hessischer Fiskus verzichtet auf 47 Millionen Euro im Cum-Ex-Skandal; Prozessgebäude für das Landgericht Frankfurt fertiggestellt – Verhandlungsbeginn in zwei Tagen.
»Meint ihr, dass ihr IHN täuschen werdet, wie man einen Menschen täuscht?« Wieder umspielte ein Lächeln die Lippen des Mannes.
Er drehte sich um.
»Es tut mir leid, dass ich so grob war. Nicht nur zu Ihnen.« Seine Stimme, sanft und melodisch, glitt eine Oktave nach unten. »Aber nun, da das Opus Dei seinen Lauf genommen hat, wird alles sich fügen. Doch viel gilt es noch zu tun, bis die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach strömt.«
Er nahm ein Messer in die Hand.
»Was meinen Sie, Richard? Ich darf Sie doch Richard nennen?«
Vielleicht hätte Richard Pfeiffer, wenngleich auch ungern, geantwortet. Allein, ihm war der Mund zugenäht worden.
Die Würde des Menschen
ist antastbar.
»Hier ist sein Platz, aber er selbst ist seit zwei Tagen verschwunden. Vermutlich abgetaucht, wie ich den kenne. Ein Shitstorm ist immer nur dann geil, wenn er andere ruiniert.«
Renate Redler, Redakteurin des Frankfurter Generalanzeigers, stellte zwei dampfende Kaffeetassen auf die Glasplatte und schob sie vorsichtig den Kripobeamten zu.
»Was das für ein Typ ist? Was soll ich schon sagen? Hält sich für so’ne Art Hemingway. Hat immer einen auf alte Schule gemacht. Ganz billig. Mit seiner versifften Kaffeemaschine und dem ganzen Gequengele über Gendern und Denglisch. Dabei war er der Einzige, der so bescheuert dahergequatscht hat.«
»Sie scheinen Ihren Kollegen nicht besonders zu mögen.«
»Ich sage Ihnen jetzt mal was: Ich bin seit über 10 Jahren in dem Laden, habe die bessere Ausbildung und schreibe die besseren Artikel. Trotzdem verdiene ich dreißig Prozent weniger. Aber das ist es nicht.«
»Sondern?«
»Pfeiffer ist ein alter, chauvinistischer Sack mit Platzhirsch-Attitüden, der es nicht geschnallt hat, dass seine Zeit vorbei ist.«
»Wurde er deswegen in die Online-Redaktion versetzt?«
»Wegen seines Sexismus? Bei Magnus? Das können Sie vergessen. Der hat den immer protegiert. Bis die Pfeife einmal zu oft ins Klo gegriffen hat.«
Hanna Hell beugte sich interessiert vor. »Das heißt, das war nicht das erste Mal?«
»Beileibe nicht. Von journalistischen Standards, insbesondere Integrität, hat der noch nie was gehört.«
»Was ist passiert?«
»Ist jetzt ungefähr ein Jahr her. Ein Vergewaltigungsprozess, der mit Freispruch endete, woran Pfeiffer durch seine«, die Redakteurin spuckte nachfolgendes Wort aus, »Berichterstattung guten Anteil hatte.«
»Ich verstehe!«
»Glaube nicht!«
»Dann klären Sie uns mal auf«, sagte Hanna und hielt den Blick der Frau fest.
»Wir arbeiten nach dem Vier-Augen-Prinzip. Wenigstens bei größeren Geschichten. Maria hatte einfach ihr Okay für den Artikel gegeben, ohne ihn gelesen zu haben. Mochte Pfeiffer irgendwie und hat sich auf ihn verlassen.«
»Und?«
»Die Kurzfassung: Der Artikel schlug Wellen. Pfeiffer musste von sich ablenken und hat Maria abgeschossen.«
Paul Peters sah die Redakteurin irritiert an.
»Maria war das Bauernopfer in dem Spiel«, präzisierte die Journalistin. »Und Magnus hat sie dann gefeuert.«
»Und weiter?«
»Maria gab sich die Schuld: Dafür, dass wieder so ein Schwein davongekommen ist und lustig weitermacht. Sie wollte Wiedergutmachung betreiben, aber da war es schon zu spät.«
»Zu spät wofür?«
»Mensch, Sie machen echt keine Hausaufgaben, oder? Die Kleine, das Opfer, öffentlich gedemütigt und bloßgestellt, hat sich umgebracht. Erschossen. Mit 16.«
Peters lehnte sich zurück und atmete tief durch.
Renate Redler beugte sich vor: »Dadurch, dass Pfeiffer das Video online gestellt hat, ist auch sein Fall wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Ebenso wie der von Berger, der saubere Kirchgänger, der seinen besten Freund hingehängt hat als seine hochriskanten Spekulationen an der Börse schiefliefen. Berger selbst ist mehr als gut aus der Sache rausgekommen. Geblutet haben andere.«
»Abgeschossen, hingehängt«, murmelte Hanna Hell. »Paul, klingelt da was bei dir?«
So endet die zweite Schreibwoche von Seitenwind 2024.
Um 16:00 geht es in einem neuen Thread weiter.