Offene Enden Teil 2: Schreib Teil 3

… Verständnislos starrte er auf das Mobiltelefon, als hätte er nie zuvor in seinem Leben eines gesehen. Er stand völlig neben sich und beobachtete sein Selbst wie von außerhalb des Körpers. So musste es sein, wenn man stirbt, wollte man den Berichten über Nahtod-Erfahrungen glauben. Und in gewisser Weise war gerade ein Teil von ihm gestorben. Zusammen mit Maria.
Er griff zur Tasse und nippte gewohnheitsmäßig am immer noch heißen Kaffee. Mit einer steifen Bewegung stellte er das Getränk zurück neben das herabgestürzte Handy auf den Schreibtisch. Dann zwang Christian Pfeiffer seinen Blick erneut durch die Scheibe auf die Straße.
Beim Anblick der Leiche, die vor wenigen Sekunden noch die wunderbarste Frau der Welt gewesen war, gingen ihm absurde Gedanken durch den Kopf.
Sie hat einfach ein untrügliches Gespür für Farben, dachte er angesichts der bizarren Szenerie. Die Blutlache dehnte sich immer weiter aus und verschmolz mit dem Rot des Mantels, wurde eins mit ihm.
Das schwarzgelockte Haar umrahmte weich das schneeweiße Antlitz der Toten. Als letzten Pinselstrich hatte der Wind ein gelbliches Blatt auf ihr Gesicht geweht, so dass die schauderhafte Wunde, die ihr Mund nun bildete, gänzlich verdeckt war. Der Anblick mutete an wie das morbide Gemälde eines verrückten Künstlers.

Pfeiffer riss sich los vom Bild, das sich ihm auf der Straße bot. Sekunden später ließ sein markerschütternder Schrei die menschenleeren Redaktionsräume erbeben. «Mariiiaaa …»
Christians Erstarrung löste sich endlich. Die halbvolle Kaffeetasse schleuderte er mit all der Kraft einer plötzlich entfachten Wut gegen die graue Betonwand des Coworking-Spaces. Anschließend rieb er seine geröteten Augen und das Gesicht mit dem bereits ergrauten Bart. Er musste etwas tun!
Ganz in der Ferne ertönte ein Konzert von Martinshörnern verschiedener Einsatzfahrzeuge. Wahrschlich das übliche Aufgebot. Polizei, Feuerwehr, Rettungswagen.

Es wurde Zeit, zu verschwinden. Er riss seine Kunstlederjacke von der Stuhllehne und bestieg den Fahrstuhl in Richtung Tiefgarage. Noch bevor die sich schnell nähernden Autos am Unglücksort eingetroffen waren, raste Christian mit seinem alten, olivfarbenen Jeep stadtauswärts. Er würde herausfinden, was da draußen vor sich ging und vor allem, wer Maria auf dem Gewissen hatte. Nie und nimmer hätte sie sich selbst getötet, noch dazu auf diese martialische Art. Die bürokratischen Mühlen von Polizei und Justiz mahlten zu langsam. Und Zeit durch stundenlange Verhöre zu verplempern, konnte er sich in dieser Situation auch nicht leisten. Er nahm das selbst in die Hand. Im Alleingang. Wozu hatte er denn in seinem früheren Leben viele Jahre als Investigativ-Journalist gearbeitet?

Der Parkplatz des Mega-Kinos außerhalb der Stadt war riesig. Hier lenkte er den Jeep auf einen Stellplatz, schaltete den Motor aus und versuchte, den chaotischen Gedankenstrom in seinem Kopf in geordnete Bahnen zu lenken.
Der Mann auf dem Video mit dem rundlichen Gesicht hinter der Tür …, irgendwoher kannte er den. Mit geschlossenen Augen atmete er mehrmals tief ein und aus, um sich etwas zu beruhigen. Vielleicht auch eine Methode, seinem Erinnerungsvermögen auf die Sprünge zu helfen. «Konzentrier dich endlich!», schrie er sein Spiegelbild in der heruntergeklappten Sonnenblende an. Und plötzlich wusste er es wieder. Das war der Typ aus dem Reisebüro. Er hatte im letzten Jahr seinen Urlaub bei dem gebucht. Schon damals trug er eine an Scheußlichkeit nicht zu überbietende Krawatte.

Aber was sollte es für eine Verbindung zwischen ihm, Maria und diesem Spießer geben? Er kramte sein Tablet aus dem Rucksack, das Handy hatte er in der Redaktion liegen lassen.
Ach ja! Richard Berger hieß der Mann. Ein paar weitere Klicks und Pfeiffer hatte die Privatadresse herausgefunden.
Sofort startete er den Motor und machte sich auf den Weg. Während der Fahrt überlegte er, warum ihm auch der Getötete auf dem Video so seltsam bekannt, fast schon vertraut, vorkam? Irgendwie spooky, schoss es Pfeiffer durch den Kopf. Doch jetzt wollte er sich erstmal voll und ganz auf Richard Berger konzentrieren. Ein Opfer wie er selbst.

Das gediegene weiße Haus mit den in Falten gelegten Gardinen vor den Fenstern und die schwere Eichenhaustür erkannte er sofort. Alles wie in der Handy-Aufzeichnung. Der alternde Journalist sprang die Stufen hoch und betätigte den Klingelknopf. Selbst jetzt im Dunkeln konnte man noch die Flecken von Blut auf den Steinen erkennen. Er schellte ein zweites Mal, diesmal vehementer, und sogar ein drittes Mal, bevor sich etwas hinter der Tür regte.
Licht wurde eingeschaltet. Das quietschende Massivholz-Ungetüm schob sich langsam eine Handbreit auf und das aus dem Video bekannte Gesicht Richard Bergers tauchte dahinter auf. Bevor Pfeiffer auch nur einen Ton sagen konnte, fuhr der Reisebüro-Mann ihn an: «Das ist nicht möglich! Sie sind tot. TOT, mausetot.»
Die Stimme überschlug sich mit jedem Wort mehr und mündete in maximaler Hysterie. «Sie haben sich heute Morgen hier auf diesen Stufen erschossen, vor meinen Augen.»
Berger griff sich ans Herz. Seine Haut wurde noch grauer, als sie ohnehin schon war. Christian Pfeiffer versuchte, den Mann zu beruhigen. Drang aber gar nicht erst zu ihm durch. Was meinte er mit diesen makabren Beschimpfungen? Wieso tot?
Derweil schrie der Mann im Haus wie von Sinnen weiter und ging zum „Du“ über: «Jeder Einzelne deiner Gesichtszüge hat sich auf meiner Netzhaut eingefräst. Deine toten Augen – für immer in mein Hirn eingebrannt.»

Während Berger weiterhin seine Tiraden über ihn ergoss, erhaschte Pfeiffer durch den Türspalt im hellerleuchteten Eingangsbereich einen Blick auf Frau Berger mit ihren schwarzen Locken. Fassungslos starrte er sie an Berger vorbei an. Eine ältere Ausgabe seiner Maria drückte sich ängstlich in die hinterste Ecke der Diele. Und an der Garderobe rechts neben der Tür hing ein roter Mantel. Genau so einer, wie Maria ihn heute getragen hatte.

Pfeiffer spürte, wie ihm die Kontrolle entglitt. Die Panik wogte in ihm, jede Welle schwerer als die letzte, bis sie ihn völlig zu überrollen drohte. Es war, als ob die Wände sich um ihn zusammenzogen, ihn einsperrten. Alles fühlte sich falsch an

Er taumelte zum Fenster, suchte mit Blicken die Straße ab, hektisch, verzweifelt.

Wo war sie? Maria. Sie hatte einen roten Mantel getragen. Rot wie Blut.

Blut.

Der Gedanke war so scharf, dass er ihn fast körperlich spürte. Würde man das Blut darauf erkennen? Er biss die Zähne zusammen, schüttelte den Kopf. Reiß dich zusammen, Mann! Doch die Panik ließ sich nicht unterdrücken. Seine Augen huschten über den Asphalt, durchsuchten jeden Schatten. Aber da war nichts.

Dann begann es.

Erst ein Klingeln. Das Diensthandy. Dann das neben dem Kaffeepott. Und gleichzeitig – die Türklingel. Die Geräusche zerrissen die Stille wie Messerklingen, synchron und gnadenlos. Und bevor er überhaupt reagieren konnte, begann jemand an die Tür zu hämmern. Schwer, drängend, als würde derjenige sie eintreten wollen.

Pfeiffer starrte zur Tür. Sein Herzschlag hämmerte wie ein drohender Countdown in seinen Ohren. Wer auch immer dahinter war – er wusste, dass es nichts Gutes bedeutete.

Das Hämmern wurde lauter, fordernder.

Langsam, wie betäubt, bewegte er sich zur Tür. Jeder Schritt schien durch die Luft zu hallen. Seine Hand zitterte, als er den Türgriff fasste. Er zögerte. Was, wenn…?

Er riss die Tür auf.

Da stand sie.

Maria.

Ihr Gesicht war blass, ihre Augen funkelten vor Zorn und etwas anderem – war es Angst? Der rote Mantel lag schwer auf ihren Schultern, der Stoff wirkte feucht. Hat es etwa geregnet? Pfeiffer starrte sie an, unfähig, ein Wort zu sagen.

„Maria“, brachte er schließlich hervor, seine Stimme ein heiseres Krächzen. „Du… du lebst.“ Eine Welle aus Erleichterung, Unglauben und etwas, das er nicht benennen konnte, rauschte durch ihn. Er war verliebt in diese Frau, obwohl er sie kaum kannte, wollte sie in seine Arme reißen, doch etwas an der Art, wie sie ihn ansah, ließ die Freude sofort in Unsicherheit umschlagen.

„Ob ich lebe?“ Ihre Stimme war leise, fast ein Zischen, durchzogen von Bitterkeit. Plötzlich brach sie in ein Lachen aus, hektisch und schrill, bis sie abrupt abbrach, als hätte jemand einen Schalter umgelegt „Warum Christian?“, sagte sie, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. „Wie konntest du mir so etwas Grausames schicken?“ Ihr Blick war eiskalt. Sie machte einen Schritt nach vorne, und Pfeiffer spürte, wie die Kälte von ihr auf ihn überging. „Was zum Teufel spielst du bloß für ein krankes Spiel?“, fuhr sie fort. Sie streckte ihm einen Umschlag entgegen. Ihre Hände zitterten. „Hier. Erklär mir DAS.“

Er nahm den Umschlag, wie ein Automat, ohne nachzudenken.

„Was meinst du?“ Seine Worte klangen hohl, selbst für ihn.

„Das Video!“ Ihre Stimme überschlug sich, wurde fast zu einem Schrei. Sie holte Luft, die Worte kamen stoßweise, zerrissen von Wut und Verzweiflung. „Du… du hast es mir geschickt! Per WhatsApp!“ Ihre Hände fuhren fahrig durch die Luft, als könnte sie die Erinnerung greifen. „Ich war schon auf dem Weg zu dir, als du…“ Sie brach ab, schnappte nach Luft, ihre Augen glitzerten. „Als du mich angerufen hast.“ Ihre Stimme schwankte, mal leise, mal laut. „Du hast mich angefleht! Hast gesagt, ich soll mir die Aufnahme sofort anschauen! Und dann…“ Sie lachte auf, kurz, hart. „Dann sollte ich draußen vor dem Redaktionsgebäude warten, bis ich dich im Fenster sehe! Und als ob das nicht schon verrückt genug war, kam noch eine Nachricht – ich sollte dir diesen verdammten Umschlag bringen!“ Ihre Stimme brach, eine scharfe, fast verzweifelte Pause „Und jetzt? Jetzt stehst du da und tust so, als wüsstest du von nichts? Willst du mich verarschen? Was läuft hier wirklich, verdammt noch mal?“

„Maria, ich…“ Seine Stimme versagte. „Ich habe dir nichts geschickt.“ Er schüttelte den Kopf, als könne er sich selbst nicht begreifen, als wüsste er nicht, wie er sie davon überzeugen sollte, was er wusste – oder eben nicht wusste.

Maria starrte ihn an. „Was… was redest du da? Was soll das heißen?“ Ihre Stimme war brüchig. Du hast mir dieses verdammte Video geschickt. Ich habe es gesehen, klar und deutlich. Du… du hast mich angerufen und mir gesagt, was ich tun soll!“ Sie trat einen Schritt zurück, als ob sie vor ihm zurückwich, als würde seine leere Erklärung sie noch mehr erschüttern. „Du hast es mir geschickt, und jetzt tust du so, als wäre alles in Ordnung? Du lügst!“ Sie zog ihr Handy aus der Manteltasche, entsperrte es mit einer schnellen Bewegung und hielt es ihm hin.

Da war die Nachricht. Sein Name. Sein Bild. Die Worte, unmissverständlich:

„Unter der Fußmatte ist ein Umschlag. Bringe ihn mir.“

Pfeiffer starrte auf den Bildschirm, als würde er ihn verschlingen. Es fühlte sich an, als würde jemand seine Lungen zusammendrücken. „Ich… ich war das nicht“, stammelte er schließlich.

„Wirklich?“ Maria trat einen Schritt näher, ihre Stimme bebend. „Und wer dann, Christian? Wer?“

Seine Hände zitterten so sehr, dass der Umschlag fast zu Boden fiel, als er ihn aufriss. Ein Zettel kam zum Vorschein, darauf mit krakeliger Schrift geschrieben:

„Allerletzte Chance. Sonst ist sie tot! Lade das Video hoch. Jetzt. Du hast diesmal 1.000 Sekunden.“

Pfeiffer schüttelte den Kopf. „Ich habe es doch schon hochgeladen“, flüsterte er.

„Ich verstehe nicht“, Maria starrte ihn an.

„Das Video… von dem alten Mann. Der Selbstmord…“

„Was für ein alter Mann?“ Ihre Stimme war jetzt nur noch ein Hauch, doch ihre Augen wurden größer. „Christian, ich habe das Video gesehen. Da war kein alter Mann.“

„Doch! Ich habe es auch selbst gesehen! Der bärtige Mann…“

„Nein! Das Video zeigt eine Frau. Sie stand vor einer großen Kirche. Sie war verzweifelt, wollte Geld, doch der Pfarrer gab ihr nichts.“

Die Nacht war wieder still geworden. Das blaue Flackern der Polizeisirenen war längst erloschen, das leise Murmeln der Beamten verklungen. – alles war verstummt, nur die Kälte der Nacht und die bedrückende Leere blieben. Der tote Körper war fort, abtransportiert in einem Leichensack. Doch seine Präsenz schien das Haus immer noch zu durchdringen, wie ein Schatten, der sich an den Wänden festgekrallt hatte.

Berger saß in seinem Sessel, die Ellbogen auf die Knie gestützt, das Gesicht in den Händen verborgen. Neben ihm stand eine halb geleerte Flasche Whisky, die er in der Hoffnung geöffnet hatte, seine Nerven zu beruhigen. Es hatte nichts gebracht.

Es war ein langer Tag gewesen, durchzogen von der zermürbenden Präzision der polizeilichen Befragungen. Die Kommissarin, eine Frau mit eisernen Zügen und einem Namen, der zur Jahreszeit passte– Schattengrau – hatte keine Milde gezeigt. Ihre Fragen waren unnachgiebig, „Wer war der Junge mit der Kamera?“ hatte sie gefragt. „Warum hat er alles aufgenommen? Wo ist er jetzt, und wo ist das Video?“ Fragen, auf die er keine Antwort hatte. Dorothea hatte nichts gesehen, oder wollte nichts gesehen haben.

Jetzt war Dorothea in der Küche, ihre Schritte waren leise, fast geisterhaft, während sie ziellos hin und her ging. Als sie schließlich ins Wohnzimmer trat, war ihre Stimme brüchig und kaum hörbar. „Er ist tot“, sagte sie. „Ein Mann hat sich vor unserer Tür erschossen, und jetzt… jetzt ist er einfach weg.“

Berger hob seinen Kopf und schnaubte. „Und dieser Feigling, der gefilmt hat, ist auch weg! Einfach weggelaufen.“ Seine Augen glommen wie Kohlen. „Es war alles ein verdammtes Theaterstück.“

Dorotheas Blick wurde kalt und durchdringend. „Ein Theaterstück?“ Ihre Stimme bebte. „Ein Mann ist tot, Richard! Und du redest von einem Theaterstück? Was ist aus dir geworden?“

Er wich ihrem Blick aus, griff nach dem Glas, trank. „Der Typ war ein Niemand“, murmelte er.

„Er war kein Niemand!“ Dorotheas Stimme erhob sich, und ihre Augen funkelten vor ungezähmtem Zorn. „Er hat alles gesehen. Er hat gesehen, wie…“ Sie stockte, als wollte sie einen Namen nennen, hielt inne und fuhr leise fort: „…wie der Alte zerbrochen ist. Zerbrochen, weil du ihn abgewiesen hast!“

Berger fuhr auf, seine Stimme scharf. „Was hätte ich tun sollen? Er war ein Irrer, Dorothea! Mit einer Waffe in der Hand! Ich konnte ihn nicht einfach einladen und fragen, wie es ihm geht.“

Dorothea trat einen Schritt näher. „Er wollte nur, dass du ihn anhörst. Mehr nicht. Aber stattdessen hast du ihn in den Tod geschickt!“

Berger sprang auf, die Bewegungen fahrig, die Fäuste geballt. „Was erzählst du für ein Schwachsinn? Letzte Zeit verstehe ich dich nicht mehr. Das war nicht meine Schuld. Was immer ihn hierhergebracht hat – es hatte nichts, verdammt noch mal, nichts mit mir zu tun!“

Ein Vibrieren unterbrach die explosive Spannung. Eine Nachricht. Berger spähte misstrauisch auf Dorotheas Handy. „Wer schreibt dir so spät?“ fragte er argwöhnisch.

„Maria“, antwortete Dorothea.

„Maria? Unsere neue, ach so hübsche Gemeindereferentin? Die, mit der du in diesen Kirchenrunden abhockst?“ Berger setzte sich wieder, lehnte sich zurück, die Whiskyflasche fest umklammert, und musterte Dorothea mit einem Blick, der zwischen Spott und Abscheu schwankte. „Was macht ihr da eigentlich? Betet ihr um bessere Zeiten? Oder plant ihr gleich die nächste Revolution?“

Dorothea schnaubte, doch er ließ ihr keine Gelegenheit zur Antwort. „Mir wurde zugetragen,“ lallte er, „dass sie alle zur Nächstenliebe bekehren möchte!“ Er brach in ein schiefes, bitteres Lachen aus. „Das ich nicht lache! Was will sie wirklich, Dorothea? Die Welt retten? Mein Busunternehmen ruinieren, weil ich angeblich die Umwelt verpeste? Kapitalismus abschaffen?“ Er nahm einen weiteren tiefen Schluck, diesmal direkt aus der Flasche. „Oder vielleicht Frauenrechte in der Kirche stärken? Ja, genau! Will sie Priesterin werden? Alles lächerlich!“

Dorothea ignorierte seine Worte, ihre Miene spiegelte blankes Entsetzen wider. Ihre Arme sanken langsam an ihre Seiten, während sie ihn unverwandt ansah. „Das Video, Richard,“ sagte sie schließlich. Es wurde veröffentlicht. Und es geht… viral.“

Der Automat sprang auf Rot.
„Parkzeit abgelaufen.“ Las der Mann hinter dem Steuer.
Er hatte genug gesehen. Nichts Neues, nur wieder jemand, der seine Chance auf Wahrheit vertan hatte. Er beendete den Anruf und startete den Wagen. Eine grüne Welle spülte ihn an den Rand der Stadt in ein weniger exklusives Wohnviertel. Hier hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Er fuhr mit traumwandlerischer Sicherheit an den altbekannten schmutzigen Fassaden, den tabakblinden Fenstern von Uschis Kneipe, der wilden Deponie in der Lücke zwischen sieben und elf vorbei zum Treffpunkt. Der Wagen blieb im raschelnden Laub gegenüber der Schule stehen.
Damals kam ihm alles viel größer vor. Der Mann legte seine Hände um die kühlen Stäbe der Umzäunung und schaute über den Pausenhof. Laub und Abfall wehten über den grauen Asphalt. Der Kreideumriss und das Flatterband waren nicht mehr da. Natürlich nicht. Doch er fand die Stelle augenblicklich. Sie hatte sich in seine Netzhäute gebrannt. Seither sah er alles mit anderen Augen.
„He Sie, was machen Sie da?“ Gellte die Stimme des Hausmeisters über den Hof.
Nur ein kleiner Fisch, dachte sich der Mann. Er löste seinen Griff und schlenderte hinüber in den Park. Damals gab es dort einen Spielplatz. Auf dem Heimweg von der Schule hatten Freddy und er oft … Der Mann ließ den Gedanken los. Er würde nur wehtun. Ihn wütend machen. Doch er brauchte jetzt einen kühlen Kopf. Wie von selbst fanden seine Füße den Weg über die Wiese. Der Zahn der Zeit hatte sich nicht mit dem hölzernen Zaun begnügt. Außer dem kippenverseuchten Sandkasten und einer schiefen Schaukel gab es hier nichts mehr. Kein Ort für Kinder. War es nie. Eilig lief er weiter zur Bank am Mahnmal. Sie hatte keine Sitzfläche mehr. Was solls, auf dieses Dreckding hätte er sich sowieso nie gesetzt. Der Mann schlug den Kragen seiner schwarzen Jacke aus Lederimitat hoch und schaute auf das Smartphone. Fünf vor zwölf. Er grinste.
„Fünf vor zwölf.“ Wiederholte er laut.
Der Gedanke gefiel ihm.
„Bin ich zu spät?“ Fragte der Junge atemlos.
Er war gerannt.
„Nein gar nicht.“
„Und was machen wir jetzt?“
„Wir erhöhen den Einsatz.“ Sagte der Mann.
„Hä?“
„Steig ein. Wir fahren ins Grüne.“
Es war nicht einfach, das Haus der Richterin zu finden.
„Hier sieht alles so gleich aus.“ Sagte der Junge.
Der Mann schaute über die menschenleere Straße des Neubaugebietes. Kleine weiße Würfel mit schwarzen Dächern, ordentlich gepflasterten Einfahrten und Wärmepumpen vor den grauen Türen.
„Hier ist es. Rosenweg eins.“
Die Gründerzeitvilla der Richterin befand sich ganz am Ende der Sackgasse. Im Garten hinter dem schmiedeeisernen Zaun reckten sich alte Bäume in den grauen Himmel. Das Haus der Familie Grundbach trennte sich vom schwarzweißgrauen Einerlei der weniger betuchten Häuslebauer ab, wie Fett von Wasser. Der Mann zog die Waffe aus seinem Holster und entsicherte sie. Ein Schatten huschte über das picklige Gesicht des Jungen.
„Keine Sorge.“ Sagte der Mann. „Du sollst sie ja nur erschrecken.“
„Und warum gerade sie?“
„Weil sie ein scheinheiliges Miststück ist. Sie alle!“ Platzte der Mann heraus.
Der Junge zog den Kopf ein und musterte seine Füße.
„Weil sie mir, nein, weil sie uns allen etwas schuldig ist.“ Sagte der Mann ruhiger.
„Und was ist mit meinen Schulden?“
„Egal wie es ausgeht, ich verspreche dir, in zwei Minuten bist du alle Sorgen los.“
Der Mann drückte ihm die Waffe in die Hand.
„Auf gehts!“

Hoffnung

„Was sehen Sie auf diesem Bild, Frau Markoff?“ Die beruhigende Stimme von Dr. Zimmermann hallte selbst am Morgen nach der letzten Sitzung noch in Julias Gedanken. Es war einer dieser Termine, zu denen sie sich einmal im Monat quälte, nur um am Ende mit einem schlechten Gewissen und einer weiteren Tintenzeichnung auf dem Bett zu liegen.
Sie hatte diese Rorschach-Tests schon immer gehasst und teilte nicht annähernd die gleiche Obsession wie der alte Kauz, der stets so tat, als wären diese Bildchen und Interpretationen der Spiegel zu ihrer Seele. Ihr war bewusst, was er nach all den Jahren am liebsten von ihr hören wollte: Hoffnung. Doch für sie waren es nichts weiter als tiefe Abgründe, die sie nervös machten.
Das Blatt flog in einem hohen Bogen auf den Boden zu den anderen und ihr Blick glitt an die gegenüberliegende Seite des Bettes. Der schwarze Schimmel zog sich über die Hälfte der Wand, breitete sich seit Wochen weiter aus und formte sich zu ihrem persönlichen Rorschach-Test. Julia entwich ein trockenes Lachen. Zimmermann wäre begeistert.
Sie schlug die klamme Decke auf, schlüpfte in ihre abgetragenen Pantoffeln und stieg über einen Haufen leerer Pizzakartons hinüber zum einzig funktionierenden Lichtschalter. Die alte Glühbirne in der Mitte des Raumes benötigte ein paar Sekunden, flackerte, bevor sie mit einem anhaltenden Summen das Chaos der Einzimmerwohnung preisgab. „Verdammte Bruchbude“, murmelte sie und trat gegen einen vollen Eimer Wasser. Sie sah hinauf zur Decke und auf den grauen Fleck , der in ein paar Monaten schon ein neues, schwarzes Bild preisgeben würde. „Hoffnung, hmm?“

Der Wasserhahn in der winzigen Kochnische schlackerte mit jeder Berührung und anstatt Wasser drang lediglich ein spöttisches Gurgeln aus den Rohren. Sie ließ ihren Blick über den ungeöffneten Stapel Briefe gleiten. In einem davon, da war sie sich sicher, hatte man sie darüber informiert es abzustellen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis man ihr auch den Strom nehmen würde.
Sie zuckte mit den Schultern und griff nach ihrem Handy. Ein altes Model, abgenutzt und so langsam, dass es sie oft in den Wahnsinn trieb. Doch es war ihr einziger, wertvoller Besitz: ein Portal in eine andere Welt und eine Chance ihrer zu entkommen.
Die verzerrten Buchstaben auf dem gesprungenen Glas waren kaum zu erkennen, aber es reichte aus, um Träume zu wecken, die sie nicht mehr gewagt hätte zu träumen.

Vielen Dank für Ihre Registrierung bei unserem Gewinnspiel. In Kürze werden wir Sie darüber informieren, ob Sie ausgewählt wurden.

Wort für Wort las sie die SMS, vor und zurück, bis sich der weiße Hintergrund in ihren Verstand brannte.
Wie lange es wohl dauern würde? Im Internet konnte sie nichts dazu finden. Selbst die Anzeige, die vorher noch in roter Schrift auf jeder geöffneten Seite verheißungsvoll geblinkt hatte, war verschwunden.
Womöglich war sie auf Trickbetrüger hereingefallen und hatte ihre Daten an einen modernen nigerianischen Prinzen verkauft. Handynummer, Anschrift, Alter und Geschlecht. Selbst den Gesundheitszustand wollte man wissen. Vielleicht würden eines Nachts vermummte Gestalten kommen, sie betäuben und ihr eine Niere stehlen.
Für eine Sekunde überkam sie ein mulmiges Gefühl, doch sie zwang es mit einem Schluck des trüben Eistees hinunter. Was sollte schon schlimmer sein als das Leben, das sie seit Jahren ertrug?
Sie öffnete die Galerie auf dem Handy. Unter ihrem Zeigefinger verschwammen unzählige Nackt- und Fußbilder, die sie später auf ein Portal online stellen würde. Die gestiegenen Lebenskosten waren mittlerweile zwar auch bei den Perversen angekommen, doch die wenigen Stammkunden, die sie noch hatte, sicherten ihr wenigstens eine kleine Mahlzeit.
Auf dem Screenshot, den sie am Abend zuvor in weiser Voraussicht erstellt hatte, blieb ihr Finger stehen. Die rote Schrift auf schwarzem Grund löste ein warmes Kribbeln aus. „The Challenge – Price of Life: 1 Million Euro Gewinnchance“
Sie kniff die Augen zusammen, um die winzigen Buchstaben darunter zu entziffern. Teilnahme ab 18, Registrierung bindend.
Wenn es tatsächlich ernst gemeint war und keine Organmafia dahintersteckte, dann war das etwas, was das Wort Hoffnung wirklich verdient hatte.
Die Vibrationen in ihrer Hand ließ sie aufschrecken. Am oberen Bildschirmrand flackerte die Vorschau einer neuen Nachricht.
Herzlichen Glückwunsch Julia. Sie sind dabei.
Ihr Herz polterte gegen die Brust und zum ersten Mal seit Ewigkeiten fühlte sie sich wieder lebendig. Es folgte eine weitere Nachricht.
Mit der Teilnahme bestätigen Sie die Spielregeln zu akzeptieren. Ein Widerruf ist nicht möglich. Haben Sie verstanden?
Ihre Finger huschten über das Display. Ja
Ausgezeichnet. Die Anweisungen der Spielleitung müssen zwingend befolgt werden. Jede Abweichung führt zur Disqualifikation. Haben Sie verstanden?
Julia verzog das Gesicht. „Was für eine weirde Scheiße.“ – Ja
Die nächste SMS ließ einige Sekunden auf sich warten.
Vor ihrer Tür liegt eine Tasche. Bringen Sie diese bis 11:00 Uhr zum Paulsplatz. Schauen Sie nicht hinein. Keine Umwege, keine Verspätung. Filmen Sie dabei alles ab dem Startkommando. Haben Sie verstanden?
Sie sah auf die Uhr. 10:13. „Fuck.“
Ihr rechter Daumen zitterte und blieb über dem Senden-Button stehen. Ein Blick auf das Chaos ihrer Wohnung und dem Kunstwerk aus Feuchtigkeit und Schimmel gab ihr den dringend benötigten Mut. „Was soll´s“, sagte sie und drückte auf senden – Ja
Klicken Sie auf den nachfolgenden Link und starten Sie den Livestream. Das Spiel beginnt jetzt
Julia öffnete den blau hinterlegten Link, richtete die Kamera des Handys geradeaus und eilte zur Tür. Im Gehen schlüpfte sie in das letzte intakte Paar Sneakers, zog sich ihren schwarzen Mantel über und trat hinaus.
Auf der Fußmatte, die aufdringliche Vertreter und Zeugen irgendwelcher Sekten mit den Worten Fuck off abschrecken sollte, lag eine neonpinke Umhängetasche in der Größe eines A4-Ordners. Ohne darüber nachzudenken, griff sie das Band und schwang es um ihre Schulter.

Der eisige Wind brannte auf ihren Wangen, während sie so schnell in die Pedalen ihres klapprigen Hollandrads trat, dass ihr schwindelig davon wurde. Immer wieder huschte ihr Blick auf den Bildschirm des Handys. Laut der Anzeige neben dem fröhlich grinsenden Smiley nahm sie an, dass ihr 2879 Personen dabei zusahen, wie sie sich einen Weg durch den dichten Berufsverkehr schlängelte und zig Verkehrsregeln brach. Innerhalb der letzten 15 Minuten waren knapp 1000 Zuschauer dazugekommen. Wer sie wohl waren? Sie schüttelte den Gedanken ab. Es spielte keine Rolle. Doch wenn sie für eine Show hier waren, sollten sie diese auch bekommen. Ein Fußgänger in Anzug und farblich passender Aktentasche wurde unfreiwillig zum Hauptdarsteller, als er während einer Grünphase die Straße überquerte. Im letzten Moment wich er aus und landete in der einzigen Pfütze weit und breit.
«Selbst schuld, Idiot», brüllte Julia. Hätte er keine Kopfhörer in den Ohren gehabt, hätte er ihr Rad hören müssen.

Hinter dem großen Gebäudekomplex ragte der Kirchturm der Paulskirche in den Himmel. 10:43 Uhr. Sie hatte es fast geschafft.
„Sorry für das Gewackel“, stammelte sie in das Mikrofon, während sie über das Kopfsteinpflaster fuhr und dabei immer wieder versuchte, den aufkommenden Menschenmassen auszuweichen. Eine so volle Fußgängerzone war ungewöhnlich, vor allem zu dieser Uhrzeit. Erst, als sie die vielen Polizeiautos und die bewaffneten Einsatzkräfte rund um die Kirche entdeckte, fiel es ihr wieder ein. Den ganzen letzten Tag hatte sie Nachrichten über die bevorstehende Kundgebung des Bürgermeisterkandidaten gehört und irgendwann gelangweilt das Radio ausgeschaltet. Männer wie er interessierten sich nicht für die Probleme von Menschen wie ihr. Da war es nur fair, dass sie nichts auf Politik gab.
Die Masse, die sich rund um den Kirchplatz versammelt hatte, schien das anders zu sehen. „So ein Mist.“
Sie sprang vom Rad, schmiss es an die nächste Hauswand und bahnte sich einen Weg durch die Menge. In ihrer Hand vibrierte es.
Sie haben noch drei Minuten. Begeben Sie sich in die erste Reihe und warten Sie auf weitere Anweisungen.
Zentimeter für Zentimeter schob und quetschte sie sich zwischen den Körpern hindurch, bis sie keuchend und verschwitzt gegen ein Gitter stieß.
„Sehr geehrte Bürger der wundervollen Stadt Frankfurt“, blökte es aus den Lautsprechern neben der Bühne. „Ich darf nun herzlich den Bürgermeisterkandidaten, Herrn Rolf Kohlmeister zu mir bitten.“
Der untersetze Mittfünfziger wurde von einem lauten Beifall begleitet und schleppte sich in einem Watschelgang auf das Podest. Wieder vibrierte es.
Sehen sie nun in die Tasche.
«Moment», sagte Julia und sprach dabei in ihr Handy. «Ich sollte vor 11:00 Uhr die Tasche abliefern. Es ist 10:59 Uhr und ich bin hier. Ich habe gewonnen!»
Jetzt
Widerwillig öffnete sie den Klettverschluss und starrte auf eine Akte mit der Aufschrift: Projekt Kohlmeister – C.P. – Vertraulich. Aus dem braunen Karton ragten Dutzende Blätter hervor, die sie kurz überflog. Reisebuchungen, Zahlungsbelege in schwindelerregenden Summen und ausgedruckten Mails. Dazwischen Bilder verschiedener Personen, darunter auch von Rolf Kohlmeister, leicht bekleidet und degeneriert grinsend inmitten eines Haufens gefesselter Frauen. Schnell klappte sie die Tasche wieder zu. „Was für eine Scheiße geht hier ab?“
Die Antwort kam prompt mit der nächsten SMS.
Schauen Sie unter die Akte.
Für einen Moment überlegte Julia einfach zu gehen. In der Masse unterzutauchen, auf ihr klappriges Rad zu steigen und zurück unter die klamme Bettdecke in ihrem Schimmelhort zu schlüpfen. Doch das Versprechen, die eine Million Euro und die Hoffnung auf ein besseres Leben klammerten sich an das Gitter und ließen ihr keine Wahl. Das kratzende Geräusch des sich auseinanderreißenden Kletts löste eine Gänsehaut aus. Ihre steifen Finger wühlten in der Tasche, gruben sich unter das Papier und stießen auf einen metallenen Gegenstand. Ihre Gedanken rasten und setzten das Puzzle bereits zusammen, bevor die nächste Nachricht kam.
Nehmen Sie die Waffe und ziehen Sie die Sicherung zurück.
Alles um sie herum begann sich zu drehen. Gesichter verschwammen, tanzten als bunte Flecken vor ihren Augen, während Kohlmeisters blecherne Stimme im Hintergrund von Einigkeit und Moral schwadronierte.
„Ihr kranken Wichser“, stieß sie hervor und versuchte, den Livestream auf dem Display zu beenden. Wieder vibrierte es.
Jede Abweichung der Anweisung führt zur Disqualifikation. Ein Gewinn ist somit ausgeschlossen. Wie weit sind Sie bereit, für eine Million Euro zu gehen, Julia?
Versteckte Kamera schoss es ihr durch den Kopf. Irgendein neues, hippes Format eines alten Klassikers, wiederbelebt, um sich dem Zahn der Zeit anzupassen. Und irgendwo stand ganz sicher ein Fernsehteam versteckt und hielt auf ihr von Tränen und Schnodder verunstaltetes Gesicht. Die Zuschauer und Polizisten – alles Schauspieler, die Waffe in der Tasche nur eine Requisite.
„Was … was muss ich tun?“

Richten Sie den Lauf gegen Ihre Schläfe und rufen Sie laut und deutlich folgende Worte: „Erzählen Sie der Welt, wo Sie am 15.02.2023 waren und was Sie dort gemacht haben. Sollten Sie sich weigern ein öffentliches Geständnis abzulegen, werde ich mich vor den Augen aller umbringen.“
Sie haben exakt zwei Minuten Zeit diese Aufgabe auszuführen. Um das Spiel zu beenden, muss entweder ein Geständnis erfolgen, oder der Abzug gedrückt werden

Tränen ließen die Schrift verschwimmen, ebenso die Zahl neben dem gelben Smiley. Fünfstellig war sie, das konnte sie noch erkennen. „Ihr seid doch alle krank!“
Sie haben noch 40 Sekunden.
Ihre Finger umklammerten die Pistole. „Die Waffe ist nicht echt, oder?“
30 Sekunden
Adrenalin peitschte durch ihre Adern und erfüllte sie mit Hitze. „Scheiß drauf“, murmelte sie, stieg mit den Füßen auf das Gitter und öffnete den Klett. Die Waffe lag schwer in ihrer rechten, das Handy auf Rolf Kohlmeister ausgerichtet in ihrer linken Hand. Die eisige Luft brannte in ihrer Kehle, als sie tief einatmete. „Hey Arschloch!“
Ihre Hand wanderte aus der Tasche hinauf zur Schläfe. „Wo waren Sie am 15.02.2023 und was haben sie dort gemacht? Reden Sie oder ich bring mich um!“

Kohlmeisters Augen wurden groß, das Gesicht bleich. Er stammelte, taumelte zurück und hob die Hände. „Sie hat eine Waffe!“
10 Sekunden.
Ihre Stimme zitterte. „Ich brauche ein Geständnis, sofort!“
Die Schauspieler um sie herum schrien, rannten in alle Himmelsrichtungen davon, während die fake Polizisten geradewegs auf sie zustürmten.
Die Zeit ist um. Betätigen Sie den Abzug, um die Aufgabe zu erfüllen und das Spiel zu beenden.
Julia schloss die Augen, dachte ein letztes Mal an den Schimmel, den Stapel ungeöffneter Briefe und an Dr. Zimmermanns Tintenbild. „Hoffnung“, murmelte sie und drückte ab.

Sensationslust

Auf der Straße hatte sich eine Menschentraube um Maria gebildet. Ein Mann kniete neben ihr und fühlte ihren Puls, was eigentlich in dieser Situation völlig irre war. Er schaute hilflos in die Runde, doch niemand bot sich an, ihm beizustehen. Maria lag im Sterben. Aus einer Eintrittswunde mitten in der Brust, pulsierte dunkles Blut, das sich langsam auf den Gehsteig ergoss und eine glänzende, immer größer werdende Blutlache bildete.

Das Getöse des Verkehrs wurde immer lauter. Ein vielseitiges Hupen und Bremsenquitschen, das sich wie ein Echo die ganze Straße entlang ausbreitete, weil Sensationsgeile, blind und ohne Verstand, die Straße überquerten.

Christian kämpfte sich schreiend durch die Menge. Krampfhaft versuchten besessene Gaffer, ihre Plätze zu verteidigen, und hielten ihn am Sakko fest. Doch der Name „Maria“, den er immer wieder aus voller Lunge brüllte, machte auch dem Begriffsstutzigsten klar, den Mann durchzulassen zu müssen. Im inneren Kreis der Menschenansammlung angekommen, lies sich Christian auf die Knie, fallen, nahm Maria in die Arme und wiegte sie, begleitet von einem herzzerreißenden Weinkrampf.

„Machen Sie bitte den Weg frei!“,schrie eine Stimme, die sich durch die Menschentraube arbeitete. Es war ein Polizist, alarmiert von der Menschenansammlung und der dadurch ausgelösten Verkehrsbehinderung. Von Weitem hörte man die Martinshörner herannahender Streifenwagen und Rettungsdienste, die sich durch den Stau quälten.

Der Polizist kniete sich vor Christian, der mittlerweile so blutverschmiert war, dass der Beamte sich nicht sicher sein konnte, ob er nicht ebenfalls verletzt ist. Der Polizist kniete nur stumm da, unfähig, auf den verzweifelten Mann vor ihm einzugehen. Er wandte sich an die Zuschauer:
„Hat jemand den Vorfall beobachtet?“
Die einzige wahrnehmbare Reaktion darauf war, dass die Menschentraube begann sich aufzulösen und in das Blut traten, das mittlerweile in einem kleinen Rinnsal, Richtung Straße floss.
„Es muss doch jemand etwas gesehen haben!“, versuchte er es erneut, jedoch ohne Erfolg. Unzählige Passanten – und niemand will etwas gesehen haben.

Er wandte sich wieder Christian zu:
„Wer sind sie, ist das ihre Frau?“
Er konnte die Einschusswunde nicht sehen, da Christian sie an seinen Körper presste. Als der Polizist versuchte, Maria an der Halsschlagader zu berühren, zog Christian sie besitzergreifend nur noch enger an sich heran. Erschrocken wich der Polizist zurück, der völlig überfordert schien, mit dieser Situation umzugehen.

Mit quietschenden Reifen hielt der erste Streifenwagen. Die Beamten stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Schaulustigen.
„Zurücktreten, machen Sie den Weg für die Einsatzkräfte frei!“, forderten sie mit Nachdruck. Das forsche Auftreten zeigte Wirkung. Ein Beamter breitete die Arme aus und drängte auch die letzten Unwilligen vom Tatort weg. Sein Kollege ging in die Hocke und fragte:
„Was ist passiert?“ Er schaute in das Gesicht des vollkommen ratlosen Kollegen.
„Ich weiß nicht. Der Mann hier ist nicht ansprechbar, und Zeugen gibt es anscheinend auch keine“, antwortete er kleinlaut und resigniert.

Zwei Sanitäter und ein Notarzt kamen dazu.
„Der Mann steht anscheinend unter Schock“, sagte der Polizist zum Notarzt. „Machen Sie etwas.“ Der Arzt klappte seinen Koffer auf und zog eine Spritze auf. Ein Blick genügte, um die Einschätzung des Polizisten nicht infrage zu stellen.

Christian wiegte Maria immer noch in seinen Armen. Die Spritze, die er bekam, nahm er nicht wahr. Bei jedem Versuch, ihn von Maria zu trennen, klammerte er sie noch enger an sich – wie ein trotziges Kind, dem man die Lieblingspuppe wegnehmen will. Die Spritze begann zu wirken. Das Wiegen wurde langsamer, und schließlich gelang es, die beiden zu trennen. Die Blutung pulsierte nicht mehr. Der Polizeibeamte sah den Notarzt fragend an, der angesichts der Blutmenge, die Maria verloren hatte, nur leicht den Kopf schüttelte. Maria war tot.

Neue Erkenntnisse
Die Vernehmung von Christian Pfeifer war erst am zweiten Tag nach dem Mordanschlag möglich. Der Chefarzt des Krankenhauses hatte Christians Zustand als problematisch eingestuft und ihm mindestens zwei Tage Ruhe verordnet. Der Tod seiner Freundin Maria Lösch hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen.

Der Kommissar Alfons Beermann von der Mordkommission hatte die Ermittlungen übernommen. Aus der pathologischen Untersuchung wusste er bis jetzt nur, dass Maria mit einem Geschoss Kaliber 9 mm aus nächster Nähe getötet worden war. Auch über das Video, das Christian auf den Server der Onlineredaktion FGZ.NET hochgeladen hatte und das nach dem Erscheinen von der Redaktion sofort wieder gelöscht und zur Anzeige gebracht worden war, wusste er Bescheid. Der Zusammenhang, der zum Tod von Maria führte, war ihm aber bis jetzt nicht klar geworden.

Alfons Beermann betrat in Begleitung seines Assistenten Benno Klimm das Krankenzimmer von Christian, der in seinem Bett lag und die Decke anstarrte, und das Eintreten der beiden nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte.

„Guten Morgen“, sagte der Kommissar. Keine Reaktion von Christian, der weiterhin nur die Decke fixierte.

„Ich bin Kommissar Alfons Beermann, und das ist mein Assistent Benno Klimm. Ich habe den Fall Maria Lösch übernommen.“

Sofort liefen bei Christian Tränen über das Gesicht – Tränen, die allein der Name Maria auslöste.

„Ich benötige dringend ein paar Informationen von Ihnen. Es ist leider unvermeidlich.“

Christian drehte den Kopf zu ihm und schaute durch ihn hindurch.

„Da draußen scheint ein Wahnsinniger seinen perfiden Trieben nachzugehen, den wir so schnell wie möglich stoppen müssen. Verstehen Sie mich?“ Alfons nahm sich einen Stuhl und setzte sich direkt neben das Bett.

Christian drehte den Kopf wieder zurück und starrte weiterhin die Decke an. Wenigstens, dachte Alfons, war er aufnahmefähig. Ein vorsichtiges Herantasten war jedoch geboten.

„Ich habe das Video gesehen, das Sie hochgeladen haben. Den Umständen nach zu urteilen, vermute ich, taten Sie das nicht freiwillig, oder?“

„Sie vermuten richtig“, sagte Christian. „Dieser Wahnsinnige hat mich dazu gezwungen. Er hat gedroht, meine Freundin zu töten, wenn ich es nicht hochlade.“

„Aber Sie haben es doch hochgeladen?“

„Er hat mir ein Zeitfenster von zwei Minuten gegeben. Es war unmöglich.“

„Sie haben es trotzdem versucht.“

„Ja, aus reiner Verzweiflung.“

„Dann verstehe ich nicht, dass er geschossen hat.“

„Das Video war hochgeladen, aber noch nicht online, als die Zeit um war.“

Christian schien wieder in Panik zu geraten. Es war offensichtlich, dass er es nicht verarbeiten konnte, seine Freundin nicht gerettet zu haben, und sich selbst die Schuld dafür gab. Alfons war klar, dass der Chefarzt mit seiner Einschätzung richtig lag: Christian war völlig neben der Spur. Alfons hatte seine eigenen Erfahrungen durch Verhörmethoden, die einen Menschen so zusetzen können, dass sie komplett aus dem Ruder laufen. Er beschloss, Christian etwas Zeit zu geben.

„Ich hätte Lust auf einen Kaffee. Gibt es hier einen genießbaren?“ fragte Kommissar Alfons Beermann.

„Ich glaube, in der Cafeteria. Sie dürfte nicht weit sein, ich kann ihn riechen, wenn er frisch aufgebrüht wird.“

„Trinken Sie einen mit?“

Christian nickte leicht, und Alfons registrierte ein kleines, wenn auch nur sehr kurzes Lächeln.

„Möchten Sie etwas dazu? Kekse oder so etwas?“ Auch dieses Mal nickte Christian leicht. Alfons gab seinem Assistenten mit einer Kopfbewegung ein Zeichen, und Benno Klimm stand auf und verließ das Zimmer.

„Wissen Sie“, fuhr Alfons fort, „ich bearbeite auch den Fall, von dem Sie das Video hochgeladen haben.“ Christian wurde aufmerksamer.

„Das war die gleiche Stimme wie am Telefon“, erwiderte Christian.

„Sind Sie sich da sicher?“, fragte Alfons nach.

„Ja.“ Christian nickte.

„Leider sieht man ihn auf dem Video nicht, da er ja gewissermaßen die Kamera ist, aber wir haben eine gute Beschreibung von ihm und auch ein Phantombild anfertigen lassen.“ Alfons zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche, faltete es auf und reichte es Christian, der es aufmerksam betrachtete.

„Bitte bedenken Sie, dass es nur eine Phantomzeichnung ist. Suchen Sie nur nach Ähnlichkeiten. Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“

Nach kurzer Zeit schaute Christian wieder auf.

„Tut mir leid, ich kann keine Ähnlichkeiten mit irgendwelchen Personen feststellen, die ich kenne.“

„Sie müssen ihn nicht in Ihrem Bekanntenkreis suchen. Wir haben Profiler, die unschwer analysieren konnten, dass die beiden keine Geistesblitze waren. Ihr Wortschatz war eingeschränkt. Das Auftreten der beiden erinnert mich an ‚Süßes oder Saures‘. Es gibt dumme Menschen, deren Selbstbewusstsein grenzenlos ist. Ein Kollege von mir äußerte einen Verdacht, weil er mit dem Selbstmord überhaupt nicht klarkam, und sagte zu mir: „Stell dir vor, der Selbstmörder ging davon aus, die Waffe sei nicht geladen, und sie stammte von dem, der mit dem Handy filmte.“

„Ein ganz neuer Ansatz. Sie meinen, das könnte so gewesen sein?“, fragte Christian.

„Wer weiß … Das mit dem Selbstmord ist schließlich vollkommen irrsinnig.“

Die Tür ging auf, und Benno kam herein. Er hatte es wieder gut gemeint: ein Tablett mit zwei Kännchen Kaffee, drei Tassen und rechts und links in den ausgebeulten Sakkotaschen Tüten mit Keksen. Er musste selbst über sich grinsen, als er die Tür mit dem Fuß zuschlug.

„Sie hatten nur Kuchen. Ich musste Kekse in Tüten kaufen. Ich habe, glaube ich, eine gute Wahl getroffen.“ Er stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster ab und begann, den Kaffee einzuschenken.

„Wo sind wir stehen geblieben? Ach, fällt mir wieder ein … Wissentlich begangener Selbstmord möchten wir gerne ausschließen. Auf dem Video sieht man, dass der mit der Kamera vor dem Schuss einen Schritt zurücktritt, was auch bedeuten könnte, dass er wusste, dass die Waffe geladen war.“

Christian war wieder voll da, wie ausgewechselt. Das Gespräch brachte ihn auf andere Gedanken.

„Steht denn die Identität des Toten schon fest?“, fragte Christian, bei dem der Journalist wieder erwachte.

„Nein, bisher nicht. Wir haben aus dem Video leider nur Profilbilder von diesem Mann, außer wenn er am Boden liegt, aber da fehlt ihm der Unterkiefer. Die Bilder kennen Sie ja aus dem Video. In der Pathologie versucht man, den Unterkiefer zu rekonstruieren. Wenn das keine brauchbaren Ergebnisse bringt, muss er digital ersetzt werden, um ein Frontalbild zu erstellen. Wir vermuten, dass dieser Mann aus der Obdachlosenszene stammen könnte, was an seiner Kleidung und seinem mehr als ungepflegten Äußeren abzulesen war.“

„Kommen Sie, setzen wir uns.“
Der Kommissar stand auf und ging zum Tisch. Christian war ein wenig gehandicapt und wickelte seine Zudecke um sich.

„Entschuldigung, aber ich habe keine Kleidung mehr, und das Hemdchen, das ich anhabe, ist hinten offen. Ich habe das Personal gebeten, meine Kleidung zu entsorgen. Ich kann und will sie nicht mehr tragen.“

„Das kann ich verstehen. Ich kann Ihnen anbieten, dass ein Beamter bei Ihnen zu Hause vorbeifährt und Ihnen Kleidungsstücke holt.“

„Das ist nicht nötig. Eine Krankenschwester besorgt mir in ihrer Mittagspause einen Trainingsanzug, Socken und ein paar Turnschuhe.“

„Das nenn ich mal einen Service.“ Christian grinste zufrieden und griff zu den Keksen. Alfons schlürfte seinen Kaffee und lächelte. Er war zufrieden – ein Arzt hätte es nicht besser machen können, dieses Häufchen Elend, das Christian noch vor kurzem gewesen war, wieder auf die Beine zu stellen.

„Kann man trinken. Sehr gut. Ich hasse Kaffeeautomaten“, sagte Alfons.

„Wenn ich da an meine alte, vergilbte Kaffeemaschine im Büro denke, wo ich ein Warnschild aufgeklebt habe: Bitte Kanne nur mit klarem Wasser ausspülen, um das Aroma zu erhalten. Den Tipp hat mir mal ein alter Spanier gegeben“, sagte Christian und lächelte den Kommissar an.

Die Tür öffnete sich einen Spalt, und der Chefarzt streckte seinen Kopf herein.
„Alles in Ordnung bei euch?“

„Alles gut, wie Sie sehen können“, erwiderte der Kommissar.

Das Telefon. Schon wieder dieses verdammte Telefon.
Berger saß an seinem Küchentisch, stumm vor sich hin starrend, eine Tasse Kaffee neben sich. Konnte man irgendeine Situation als „die Hölle“ bezeichnen, dann hatte er sie die letzten Stunden mehrmals durchschritten.
Der Selbstmord, die Leiche, die Sanitäter, der Leichenwagen, die Polizei, die unangenehmen Fragen, die Psychologen. Alles hatte er überstanden. Dann rollte die zweite Welle der Hölle an. Nachbarn, Bekannte, die langsam in immer größerer Zahl auftauchenden Unbekannten, teils Journalisten irgendwelcher Käseblättchen, teils Freunde von Bekannten, mit den immerselben Formulierungen von wegen „habe gehört, dass“ und „wir kennen uns zwar nicht, aber wenn sie reden wollen“.
Kam ihm diese zweite Welle schon groß vor, brach nun der Tsunami los.
Irgendeinem karrieregeilen Journalisten hatte man das Video zugespielt und dieser hatte es prompt auf die Seite einer online-Zeitung hochgeladen. Jetzt war kein Halten mehr. Ohne Unterlass klingelte es. An der Tür, auf seinem Festnetzanschluss, seinem Handy. Selbst das seiner Frau läutete durchgängig.
Er hätte alles ausstöpseln oder lautlos stellen können, aber dann war es leise gewesen und in der Stille hörte er immer und immer wieder den Schuss und das Geschreie danach. In diesen Momenten sah er es auch direkt wieder vor sich. Das Blut, den angstverzerrten Ausdruck im Gesicht des sterbenden Mannes, die wütende Fratze des schreienden Filmers.
Er hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. So entschied er sich für das Klingeln.
Aber auch dieses wurde ihm bald zu viel.
Es war die Enge des Hauses, der er entfliehen musste. Nur wie? Draußen war alles belagert von Schaulustigen. Kaum öffnete er die Tür, ging ein ohrenbetäubendes Geschreie los, weil jeder der Erste sein wollte, der ein Interview bekäme.
Ein neuer Klang mischte sich unter die Kakophonie der bisherigen nervtötenden Geräusche: das Martinshorn eines Krankenwagens.
Jedoch wurde es nicht wieder leiser, sondern blieb in höchster Intensität bestehen, als stünde der Wagen direkt vor seiner Tür. Er lugte durch die zugezogenen Vorhänge und entdeckte zu seiner Überraschung, dass sein Gehör ihn nicht in die Irre geführt hatte. Das Auto war rückwärts die Einfahrt hochgekommen und stand keine zwei Meter entfernt vor seiner Tür.
Hastig wurden vorne und hinten Türen aufgerissen, Männer mit Notarztkluft und riesigen roten Rucksäcken sprangen heraus, zogen eine klappbare Trage heraus und kamen eiligen Schrittes auf die Haustüre zu. Es klopfte.
Überfordert von der unerwarteten Situation öffnete Berger ohne nachzudenken.
Ein Blitzlichtgewitter setzte ein. Vor dem Zaun zu seinem Grundstück hatten sich zahllose Fotografen in Position gebracht, die auf das beste Foto für den nächsten reißerischen Bericht warteten. Nun witterten sie ihre Chance und drückten wie wild die Auslöser ihrer Kameras.
Die rot-weißen Männer kamen herein und schlossen die Türe hinter sich.
Während er sie noch ratlos anstarrte, packte ihn einer der Notärzte am Hals und drückte ihn rückwärts an die Wand. Die anderen beiden stellten sich recht uns links daneben, bereit, jeden Moment zu reagieren. Ihrer Statur zufolge sahen sie aus der Nähe nun weniger aus wie Sanitäter. Sie hatten breite Schultern und dicke Arme. Jeder hätte gut als Türsteher eines Clubs durchgehen können. Außer dem Mann in der Mitte. Dieser war eher normal gebaut. Jedoch war das Momentum auf seiner Seite, weswegen er nun in der Position war, Berger ruhiggestellt zu haben.
Er drückte sich an ihn, die Hand weiter fest an seinem Hals. „Hör mir genau zu“, raunte er und kam mit dem Mund direkt neben Bergers Ohr. „Dir wird nichts passieren. Es sind nur zu viele Richtmikrofone hierher gerichtet, als dass wir unendlich Zeit hätten, herumzuschreien. Ich erzähle dir jetzt, wie es weitergeht, und du wirst nichts anderes tun als das, was ich dir sage.“
Berger bekam kaum Luft. Natürlich würde er nichts anderes machen können.
„Du legst dich jetzt hier auf die Trage, wir legen ein Tuch über dich und bringen dich ins Auto. Weder wirst du dich wehren, noch bewegen, etwas sagen oder schreien.“
Panik stieg in Berger auf. Diese Typen wollten ihn tatsächlich entführen. Er nahm all seinen Mut zusammen und zog mit aller Kraft mit einem Ruck sein Knie nach oben.
Der Treffer saß. Die Hand um seinen Hals löste sich, der Unbekannte krümmte sich vor Schmerzen.
Dachte Berger eben noch, dass er damit entkommen könnte, trafen sofort von beiden Seiten zwei Hände auf ihn und pressten seinen Körper wie Schraubzwingen an die Wand. Die Guards hatten ihn an der Schulter gepackt, einer rechts, einer links. Es gab kein Entkommen. Vor Wut zuckte er noch einige Male und versuchte, sich zu befreien, aber gegen diese schiere Übermacht an Muskeln war er machtlos.
Heftig atmend richtete sich der Anführer wieder auf, den Schmerz in seinem Unterleib verdauend.
„Du willst sicher klaren Verstandes hier herauskommen und nicht weggetreten, oder? Wir werden in einer Minute hier raus sein, mit dir zusammen. Wenn du nicht kooperierst, schlagen wir dich bewusstlos.“
Berger nickte, soweit es die wieder fester zupackende Hand an seinem Hals zuließ.
War es eben noch ein Wunschziel gewesen, hier herauszukommen, brannte nun kein größerer Wunsch in ihm, als hierbleiben zu können. Aber er konnte sich den drei Männern gegenüber nicht wehren. Es war aussichtslos.
Würde die Hand noch ein wenig weiter drücken, würde er das Bewusstsein verlieren. Also musste er klein beigeben und ihre Forderung erfüllen, wenn er wenigstens eine minimale Chance haben wollte zu fliehen.
Wie in Trance legte er sich auf die Trage, sie schnallten ihn fest, legten ein weißes Tuch über ihn und rollten hinaus ins Auto. Als sie gerade durch die Haustüre fuhren, fiel ihm noch etwas ein.
„Meine Frau…“ Sofort fühlte er eine bleierne Hand auf seinem Mund, die ihm fast die Luft zum Atmen nahm.
Er fühlte, wie das Untergestell der Rolltrage in die Schienen des Krankenwagens einrastete und er hineingeschoben wurde, hörte die Türen zufallen und den Wagen losfahren.
Mit atemberaubender Beschleunigung und Martinshorn rasten sie durch Frankfurt. Wäre er nicht festgeschnallt gewesen, es hätte ihn mehrmals durch den Raum gewirbelt.
Zu Beginn konnte er anhand der Bewegungen noch die Straßen nachverfolgen, die sie fuhren, dann verlor sich sein Orientierungssinn irgendwo in den Außengebieten Frankfurts.
Ohne Vorankündigung bremste der Wagen abrupt ab und kam zum Stehen. Das Tuch wurde entfernt und die Fesseln lösten sich.
„Guten Tag Herr Berger. Pfeiffer mein Name. Entschuldigen sie den Überfall, aber ich sah keine andere Chance als diese. Wir müssen reden.“

Der Polizist, Lisa Mix
„Was sind das für kranke Schweine?!“
Peter Schmidt stand im Türrahmen seines Büros und schüttelte langsam mit dem Kopf. Sein langes, schwarzes Haar fiel ihm direkt neben den vier goldenen Sternen auf die Schulter.
Seit knapp einem Jahr durfte er sich offiziell Hauptkommissar nennen.
„Ich bin stolz auf dich.“ Das war der erste Kommentar seiner Frau, Heike, als sie von der Nachricht erfuhr. Lange genug hatte er Papierberge gewälzt, alle unbeliebten Aufträge angenommen und zudem stundenlang Überstunden geschoben. Oft saß sie daheim und wartete, bis das Essen kalt war.
Vielen Personen half er. Einige offene Akten konnte er schließen und bei den Kollegen war er so beliebt, wie er es sich immer erträumte. Seine Ehe litt unter diesen Bemühungen. Heike verstand es. Sie blieb und das machte ihn unendlich glücklich.

An diesem Morgen bekam er die Informationen zu seinem neuesten Fall.
„Endlich ein Mord!“- entfuhr es ihm zunächst, als er hörte, um was es sich dieses Mal handelte. Mit einem solchen neuen Fall, hatte er jedoch nicht gerechnet.
Zwei Menschen waren unter ähnlich skurrilen Umständen ums Leben gekommen. Offiziell wurden die Todesfälle als Selbstmord deklariert. Inoffiziell hatten beide Geschichten einen bedrohlichen und merkwürdigen Hintergrund. Fest stand, dass die Morde miteinander in Verbindung standen. Doch wie?
Jetzt wurde alles von ihm abverlangt. Das war DER Fall, der ihn höher katapultieren würde. Er würde er eine Gehaltserhöhung bekommen oder sogar einen neuen Dienstgrad. Eines Tages als Polizeidirektor oder gar Leitender Polizeidirektor zu arbeiten, war sein größter Traum.

Die Zeugenvernehmungen von einem Herrn Berger und einem Herrn Pfeiffer brachten nicht unbedingt Licht ins Dunkle.
Mit Christian Pfeiffer hatte er kaum ein paar Sätze wechseln können. Die Ärzte diagnostizierten bei ihm eine akute Belastungsreaktion. Der Mann hatte seine Frau verloren. Verständlich.
Dass Pfeiffer das Video des ersten Selbstmordes jedoch in die Weiten des Internets gesendet hatte, würde ihm sicher zum Verhängnis werden. Die Weiterverbreitung von gefilmten Gewalttaten war laut §201a des Strafgesetzbuches strafbar.
Schmidt wartete gespannt auf das Go der Ärzte, um sich Pfeiffer zur Brust zu nehmen. Seinen Job würde Pfeiffer mit Sicherheit verlieren. Eine Geldstrafe, wenn nicht sogar eine Freiheitsstrafe, könnten auf ihn zukommen.
Aufgrund seines Handelns aus der Panik heraus, würde die Strafe wohl nicht zu groß ausfallen.
Richard Berger war froh, mit einem Beamten sprechen zu können, um seine Sorgen um sich und seine Frau zum Ausdruck zu bringen. Er verlangte Zeugenschutz und setzte dabei alle juristischen Hebel in Bewegung. Am liebsten wäre es ihm gewesen, mit einer neuen Identität abzutauchen. Doch das bisherige Vorgehen der „Täter im Hintergrund“ ließ, zumindest für Schmidt, keinen Grund zur Sorge am Leben von Herrn Berger oder seiner Frau.
Doch welche Verbindungen führten dazu, dass diese beiden Männer in den Fall verwickelt waren? Sie arbeiteten in einer Branche, in der sie generell mit Gegenwind rechnen mussten. Hatten sie Feinde?
Berger erwähnte, dass er von dem Filmenden als Kapitalist und Ausbeuter beschimpft wurde. Er vermutete, es hatte etwas mit seinen Bankgeschäften in den letzten beiden Jahren zu tun. Er musste, laut eigener Aussage, einige persönliche Entscheidungen treffen, die den einen oder anderen verärgert haben könnten. Näher wollte er nicht darauf eingehen. Richard Berger sollte zu einem späteren Zeitpunkt nochmals vernommen werden. Schmidt beschloss, ihn am nächsten Morgen auf die Wache zu bestellen. Im nächsten Schritt sollten Nachbarn von den Bergers und Passanten im Europagarten befragt werden.

Eine Melodie aus „die vier Jahreszeiten“ von Vivaldi ertönte. Sein privates Handy vibrierte auf der Tischplatte. Bewusst hatte er diesen Klingelton gewählt, um es vom klassischen „Riiiiiing“ seines Diensttelefons zu unterscheiden. In einer Stunde hatte er Feierabend und dieses Mal wollte er pünktlich zuhause sein. Heike hatte sein Lieblingsessen gekocht. Er freute sich schon auf die Gemüselasagne.
Normalerweise rief seine Frau zu dieser Zeit an, um zu fragen, wann sie das Essen in den Herd stellen könnte.
„Ja, Schatz?“
„Guten Tag. Spreche ich mit Peter Schmidt?“
„Ja, am Telefon.“
„Hier ist das Krankenhaus Schönbuch am Apparat. Wir müssen Ihnen leider mitteilen, dass ihre Frau einen Autounfall hatte.“
„Was?“
„Ihre Frau liegt bei uns auf der Intensivstation. Sie hatte einen Autounfall. Verstehen Sie mich?
„Ja, ja, ja, ja, ja.“ stotterte Schmidt. „Wie ist das passiert? Sie war doch den ganzen Tag zuhause! Schwebt sie in Lebensgefahr? Ich komme! Ich komme sofort!“
„Wir mussten sie ins künstliche Koma versetzen. Sie hatte, bei der Ankunft, nicht mehr selbständig geatmet. Keine Sorge. Wir haben sie hier in permanenter Überwachung.“
„Wo war sie und wieso? Ich bin in fünf Minuten bei Ihnen!“
„Ihre Frau hatte eine Tüte mit Lebensmitteln dabei. Sie war wahrscheinlich einkaufen.“
Die Paprika. Er hatte Heike gesagt, sie sollte die Lasagne ohne Paprika zubereiten. Stur wie sie war, hatte sie sich dennoch auf den Weg gemacht, um das fehlende Gemüse zu besorgen.
„Ja, ja, ja.“ wiederholte er fassungslos. „Bis gleich!“
„Noch etwas anderes, Herr Schmidt. Sie wissen von der Schwangerschaft ihrer Frau?“
Peter Schmidt schluckte.
„N-n-nein. Was?“ Er fiel mit einer Wucht auf seinen Schreibtischstuhl zurück.
„Wieso? Wie kann das sein? Wieso weiß ich davon nichts? Was ist mit dem Baby?“
„Ihre Frau befindet sich in etwa der 19. Schwangerschaftswoche. Vermutlich sollten Sie es bald erfahren. Jetzt packen sie in Ruhe alles zusammen und fahren dann zu uns in die Wildeckerstraße 10.“
„Ja, ja, ja. Bis gleich!“

Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Autoschlüssel und sprang hektisch aus dem Bürostuhl auf. Er hatte gerade das Büro verlassen, da erklang ein Geräusch- ein vertrautes Geräusch- das ihm das Blut in den Adern gefrieren ließ.
Das schrille Klingeln des Diensthandys. Zögerlich kam er zurück und griff er nach dem Gerät. Unbekannte Nummer.
Er nahm ab. Schweigen am anderen Ende der Leitung. Dann ertönte eine Stimme leise, bedrohlich und kalt.
„Herr Schmidt. Unser aller Freund und Helfer. Sie gehen an ihr Diensthandy, obwohl ihre Frau gerade Ihre Hilfe benötigt? Ts, ts, ts.“
„Wer sind sie?“ Schrie Peter Schmidt in den Telefonhörer.
Er hatte keine Zeit für irgendwelche Scherzanrufe. Er musste zu Heike. Jetzt! Und wieso überhaupt wusste der Anrufer von Heikes Unfall?
„Ich bin derjenige, der Ihnen das Leben zur Hölle macht, wenn Sie nicht das tun, was ich Ihnen sage. Herr Schmidt, jetzt müssen Sie gehorchen!“
„Was soll das heißen? Hören Sie zu: Lassen Sie mich in R-“
„Halten Sie die Klappe!“ unterbrach der anonyme Anrufer mit eintöniger Stimme.
„Sie haben nun die Wahl. Ich befinde mich gerade in der Wildeckerstraße, ganz in der Nähe ihrer Frau. Ich habe Mittel und Wege mich dort unbemerkt einzuschleusen und mir Zugang zu Ihrer geliebten Heike zu verschaffen.“
„Was ist das für eine Scheiße?!“ Voller Wut, Entsetzen und Panik rannte Peter Schmidt ins Treppenhaus, das Diensthandy bei sich. Tränen liefen ihm über das Gesicht.
„So schnell wie ich sind Sie nicht. Geben Sie sich keine Mühe.“
„Was wollen Sie von mir? Was habe ich Ihnen getan?“ Peter Schmidt schrie in den Hörer.
„Sie wollen den Menschen helfen? Der Einzigen Person, der sie stets helfen, sind Sie! Nur Sie alleine! Sie verhelfen sich zu Geld, Sie bestimmen über Gut und Böse. All das für einen guten Ruf!“
Schmidt saß im Auto. Unangeschnallt startete er den Motor und nahm sich vor die Verkehrsregeln zu missachten und die Abkürzung durch die Einbahnstraße zu nehmen. Ihm war alles egal. Alles, außer seiner Frau und seinem Kind, von dem er erst vor 10 Minuten erfuhr.
„Lass uns bitte in Ruhe! Bitte! Was soll ich tun? Mein Gott!“
„Gott hilft Ihnen an dieser Stelle nicht weiter.“ ertönte die Stimme des Anrufers über den Lautsprecher des schwarzen Teslas.
Urin breitete sich über seine Diensthose aus und hinterließ eine unschöne, dunkle Stelle zwischen seinen Beinen.
„Öffnen Sie nun das Handschuhfach und nehmen sie den Zettel und den Stift!“
Hastig öffnete Schmidt einhändig das Fach und nahm die Utensilien heraus. Mit der anderen Hand lenkte er das Fahrzeug mit 60km/h durch die 30er Zone.
„Nun benötigen wir nur noch Ihre Unterschrift, Herr Schmidt. Ein kleines Handzeichen von Ihnen, mehr ist nicht notwendig.“
Auf dem Blatt prankte in fett gedruckter Schrift das Wort „Kündigung“- versehen mit dem heutigen Datum und seiner Firmenadresse.
Heulend brüllte Peter Schmidt mit heiserer Stimme. „Ich soll kündigen? Was haben Sie davon? Ich möchte zu meiner Frau! Sie verfluchter Mistkerl! Lassen Sie uns in Ruhe!“
Mit quietschenden Reifen bog Schmidt in die Wildeckerstraße ein.
Ein Tränen-, und Schweißgemisch tropfte von seiner Stirn auf das Lenkrad.
Über die Lautsprecheranlage konnte man das leise Öffnen einer Tür hören.
„Herr Schmidt, ich bin nun bei Ihrer Frau. Es ist Ihre Entscheidung!“
„Nein, Stopp! Warten sie! Wo ist dieses verfluchte Krankenhaus?“ Panisch hielt Peter Schmidt nach dem Krankenhaus Ausschau. Es müsste doch gleich auf der linken Seite erscheinen.
„Herr Schmidt. Es ist Ihre Entscheidung!“
Schmidt hörte, wie die Person am Telefon ein paar Schritte ging. Die Person ging zu seiner Frau.
Endlich erkannte er das blaue Schriftzeichen des Krankenhauses und beschleunigte den Wagen. Er würde es schaffen. Er würde den Täter fassen und alles würde gut werden. In ein paar Monaten würde er seine Tochter oder seinen Sohn in den Armen halten. Er würde nur noch Freudentränen für sich und seine Frau vergießen und nie wieder Angst haben müssen.
So viel Angst, wie in diesem Moment, in dem sich seine komplette Welt mehrfach und in einer rasanten Geschwindigkeit um die eigene Achse drehte. Er würde seinen Job nicht verlieren und würde der beste Polizist der Stadt werden.
„Herr Schmidt, ich warte!“

Schmidt sprang vor dem Haupteingang aus dem noch rollenden Wagen.
Der Wagen prallte gegen die Fahrertüre einen parkenden VW Polos.
Er ließ sein Telefon im kaputten Dienstwagen und rannte Richtung Haupteingang.
Seine Hände umfassten die Eingangstüre des Krankenhauses.
Gleich war er bei ihr.

Für Christian Pfeiffer war sein Leben vorbei. Er zitterte. Er hatte ein Rauschen in seinen Ohren, als ob ein Orkan toben würde. Er fühle nur völlige Leere.
Pfeiffer loggte sich wieder ein und löschte das soeben hochgeladene Video. Es war alles so sinnlos: Sein Job, sein Leben, einfach alles.
Er nahm sein Handy und hielt es sich ans Ohr. Nach wenigen Sekunden vernahm er dieselbe Stimme, diesmal aufgebracht: »Was haben Sie getan? Laden Sie das Video sofort wieder hoch!«
»Sonst was, du Arschloch!«, schrie nun Pfeiffer in sein Telefon. Jetzt war alles egal.
»Ich sagte …«, begann der Andere, doch Christian fiel ihm ins Wort: »Halt dein Maul, du Lügner! Du hast gesagt, ich würde es nicht bereuen und jetzt ist sie tot!« Dass er ins ›Du‹ verfiel, war ihm nur recht, denn so konnte er besser seiner Wut freien Lauf lassen, die ihn jetzt beherrschte.
Christian legte auf und holte weit aus, um sein Smartphone, mit einem Wutschrei an die Wand zu werfen, doch dann hielt er inne und steckte sein Telefon wieder ein. Seinen Wutschrei musste er dennoch loswerden. Wenn er schon alles verloren hatte, konnte er noch eines tun: Er würde zu den Bergers fahren, wo die Polizei sicher schon vor Ort sein würde. Schließlich hatte er die Nummer des Anrufers und das Video.
Pfeiffer lud das Video noch auf einen USB-Stick und machte sich auf den Weg. Die Gegend, in der Bergers wohnten, hatte er auf dem Video erkannt und es waren nur zehn Minuten von der Redaktion entfernt.
Als Pfeiffer auf die Straße trat, stand Maria vor ihm, in der Hand eine Pistole und sagte: »Keine Zeit für Erklärungen. Komm mit, wir müssen so schnell wie möglich zu den Bergers.«

von HelmutB (Helmut Berger)

Das Video

„Herr Pfeiffer? Herr Pfeiffer, können Sie mich hören?“
Die Stimme drang nur wie durch einen dicken Nebel zu ihm durch. Träge
blinzelte Pfeiffer in das Gesicht der jungen Frau, die ihm
gegenüberstand und ihm mit einer Taschenlampe in die Augen leuchtete.
„Ja“, nuschelte er und drehte sich weg vom Licht. Ihr Griff um sein Kinn
wurde härter und fixierte seinen Kopf.
„Sehr gut. Wissen Sie, was passiert ist? Können Sie sich an irgendetwas
erinnern?“
Er wühlte in seinen Erinnerungen. Da waren Bilder, nicht
zusammenhängend. Und eine Stimme. Und Maria …
„Nicht besonders gut.“
Die Frau legte die Taschenlampe weg und musterte Pfeiffer eingehend.
Dann drückte sie ihm ein Glas Wasser in die Hand und ging zu einem
Stuhl, an dem ihre Handtasche hing. Sie entnahm ihr ein Diktiergerät,
stellte es auf den Tisch und drückte auf Aufnahme.
„Herr Pfeiffer, mein Name ist Magdalena Yanez, ich vertrete die
Kriminalpolizei Frankfurt. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass wir
Ihre Aussage aufnehmen, und zwar so schnell wie möglich. Sie haben ein
Trauma erlitten, und in solchen Fällen tendiert das Gedächtnis dazu,
bereits nach kurzer Zeit Teile der Erinnerungen zu verdrängen und
eventuelle Lücken durch frei Erfundenes aufzufüllen. Deshalb müssen wir
so schnell wie möglich handeln. Fühlen Sie sich dazu im Stande mir einen
Bericht über die Geschehnisse heute Vormittag zu geben? Es ist wirklich
wichtig.“
Pfeiffer beugte sich mit einem leisen Ächzen in seinem Stuhl nach vorne.
Sein Nacken knackte und er hatte starke Kopf- und Rückenschmerzen. Sein
Kopf musste während seiner Bewusstlosigkeit über der Rückenlehne
gebaumelt haben.
Er nahm einen großen Schluck Wasser, dann nickte er. Yanez rückte das
Diktiergerät näher an ihn heran. „Nennen Sie bitte ihren vollständigen
Namen, ihren Geburtstag und Ihre Adresse.“
„Christian Pfeiffer, 31.5.1960, Kölnerstraße 47 in Frankfurt.“
„Danke schön. Schildern Sie mir bitte so detailliert Sie können, woran
Sie sich erinnern, seit sie heute Morgen aufgestanden sind.“
Und so begann Pfeiffer. Von seinem ersten Kaffee über den Stau auf dem
Weg zur Arbeit und den Ärger am Eingang, weil sein blöder Dongle zur
Erfassung der Arbeitszeiten schon wieder nicht funktionierte, bis hin zu
dem Moment, wo der Fremde angerufen hatte. Als er von dem Ablaufen des
Ultimatums und dem Knall erzählte, wurde sein Mund trocken und er geriet
ins Stocken. Er trank den Rest des Wassers in einem hastigen Zug aus.
„Ich weiß das es nicht leicht ist, darüber zu reden, aber erinnern Sie
sich sonst noch an irgendetwas, was danach passiert ist? Denken Sie
bitte ganz genau nach.“
Das tat Pfeiffer. Aber nachdem er den Knall gehört hatte, war nur noch
leere in seinem Gedächtnis.
„Tut mir leid,“ sagte er, „das Nächste, was ich weiß, ist, dass ich in
diesem Stuhl hier wachgeworden bin.“
Yanez nickte. Sie schaltete das Diktiergerät aus und ließ es in ihre
Tasche gleiten.
„Herr Pfeiffer, ich möchte Ihnen etwas zeigen. Wir haben eine Aufnahme
der Überwachungskamera außerhalb des Gebäudes sicherstellen können. Das
sind ziemlich heftige Bilder, meinen Sie, Sie verkraften das?“
Er fühlte sich immer noch sehr schlapp und stark angeschlagen. Aber wenn
er die Chance dazu hatte, dann musste er einfach mit eigenen Augen
sehen, was aus Maria geworden war. Langsam und mit einem Kopf so schwer
wie Blei nickte er, und die Beamtin griff nach einer auf dem Tische
bereit liegenden Fernbedienung und ließ das Material ablaufen.
Zu sehen war die Fußgängerzone vor der Redaktion, Ton gab es keinen.
Viele Menschen, einige lachten, einige aßen, zwei ältere Herren stritten
sich, nichts Ungewöhnliches. In der rechten Ecke des Bildschirms schob
sich nun auch Maria auf die Straße. Sie blickte nach oben. Das musste
der Moment sein, in dem die beiden Augenkontakt gehabt hatten. Die
Sekunden verronnen. Schließlich hob Sie die Waffe an ihre Schläfe.
Pfeiffer starrt auf den Monitor. Alles in ihm schrie danach wegzusehen,
zu fliehen, diesen furchtbaren Moment nicht noch einmal durchzumachen,
diese Auffrischung des Traumas zu vermeiden, doch sein Wille
herauszufinden, was mit ihr geschehen war, war stärker und er ließ den
Blick auf den Bildschirm gerichtet.
Da es keinen Ton gab, war auch kein Knall zu hören. Aber dass die Waffe
abgefeuert wurde, das war eindeutig zu sehen. Das Gesicht seiner alten
Schulfreundin wurde leer und ihr Körper brach zusammen, während all die
Menschen um sie herum, aufgeschreckt durch den Knall, davonliefen.
Dann war es also wirklich passiert, dachte er und senkte den Blick.
Seine Hände waren kalt und seine Knöchel traten weiß unter der Haut hervor.
„Sie müssen schon hinsehen“, sagte Yanez, „Der interessante Teil kommt
ja erst noch.“
Pfeiffer brachte alle Kraft auf und richtete seine von Tränen
glitzernden Augen wieder auf das Video. Die Straße war jetzt fast leer.
Zu sehen war nur noch Marias Leiche, und zwei junge Männer, die neben
ihr knieten und offenbar versuchten ihr zu helfen. Doch Pfeiffer wusste,
dass ihr nicht mehr zu helfen war. Dann erschien eine weitere Person im
Bild, die sich schnell der Leiche näherte und bei ihr zu Boden sank.
Pfeiffer traute seinen Augen nicht. Der Mann auf dem Video war er
selbst. Er konnte sich nicht daran erinnern, aber das Video zeigte
eindeutig sein gestreiftes Hemd, seine leicht pummelige Statur und seine
beginnende Halbglatze. Er sah sich selbst zu, wie er Maria an den
Schultern griff, sie schüttelte und schließlich umarmte.
„Daran kann ich mich gar nicht erinnern“, teilte er Yanez mit, doch die
legte nur den Finger auf die Lippen und deutete dann wieder Richtung
Fernseher.
Noch immer hielt sein Fernseh-Ich Maria fest umklammert. Langsam wiegte
er sich vor und zurück. Dann, in einem beeindruckenden Tempo, warf er
die tote zu Boden, griff nach der immer noch neben ihr liegenden Waffe
und erschoss die beiden Männer, die ihr zu Hilfe geeilt waren. Die
beiden sanken rechts und links von Maria zu Boden und bildeten jetzt ein
grausiges Muster aus Leichen und Blutrinnsalen. Er sah sich selbst dabei
zu wie er mit der Waffe einen großen, konfusen Kreis vollführte, als
würde er sein nächstes Opfer suchen. Dabei war nun auch sein Gesicht zu
sehen. Die Augen, in die er blickte, waren eindeutig seine eigenen und
wirkten gleichzeitig doch ganz anders. So verzerrt, aufgerissen, wie die
eines Tieres.
Mit erhobener Waffe rannte er die Straße entlang und verschwand
schließlich aus dem Bildausschnitt.
Kalter schweiß benetzte seine Stirn und er spürte, dass er am ganzen
Körper zitterte.
„Ich schwöre ihnen –“
„Dass Sie sich an nichts erinnern können? Das höre ich nicht zum ersten
Mal.“
„Aber es ist die Wahrheit!“ Jetzt schrie Pfeiffer. Panik gab ihm neue
Kraft und er stand auf und machte ein paar Schritte auf die Polizistin
zu, die abwehrend die Hände hob.
Er war unschuldig! Die Beweise sprachen zwar gegen ihn, aber aus den
Tiefen seines Herzens wusste er, dass er nicht für den Tod dieser zwei
Männer verantwortlich war. Doch wie sollte er das beweisen? Ein Gefühl
der Hilflosigkeit durchflutete ihn, und kraftlos sank er wieder zu Boden.
Dann sprudelte es aus ihm heraus: „Das Video muss manipuliert worden
sein. Das ist doch heute alles gar kein Problem mehr für Hacker, Bots,
KI´s und wie sie alle heißen. Sie müssen mir glauben. Bitte!“
Magdalena Yanez beugte sich zu ihm herab und zog ihn wieder in seinen
Stuhl hinein. Dann setzte sie sich auf die Tischkante direkt neben ihm
und sah ihn lange und durchbohrend an.
„Das Video ist echt, glauben Sie mir“, sagte sie schließlich, „unsere
Techniker haben das hinreichend untersucht.“
„Aber - ich kann mich gar nicht daran erinnern!“
„Wie gesagt“, sagte Magdalena, „das höre ich nicht zum ersten Mal.“ Sie
griff wieder nach der Fernbedienung und drückte einige Tasten. Nun war
eine andere Straße zu sehen. Auch hier lag im Zentrum des Bildes eine
Leiche, hier war es aber ein Mann. Daneben eine Frau die sehr aufgelöst
schien und die Hand des Toten hielt. Dann nahm, sie sich die Waffe und
verschwand aus dem Bild.
Erneut schaltete Yanez um. Eine Leiche, daneben zwei Einsatzkräfte der
Ambulanz. Ein Mann kam dazu, griff die Waffe, und schoss um sich.
Yanez schaltete wieder um. Und wieder. Und wieder. Zu sehen waren die
immer gleichen Bilder an wechselnden Orten.

„Sind wir bei Suizid überhaupt zuständig?“ fragte die neue Praktikantin ihren Vorgesetzten.

Günter Wohlfahrt schaute sie überrascht an. „Wie meinen sie? Natürlich sind wir zuständig. Auch wenn es offensichtlich ist, dass Suizid vorliegt in den 5 Fällen, steckt etwas anderes dahinter. Unsere Aufgabe ist es herauszufinden und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Das erste Opfer, Herr Haberkorn, hat sich erschossen. Forderte 10 000 Euro von Bergers, das zweite Opfer Maria Schulte, die Forderung war die Veröfftlichung des Videos vom Suizid Eins. Das dritte Opfer, die Frau von Staatsanwältin Hanna Gruber, Anna Merkes, sollte das Verfahren gegen Erwin Fischer einstellen. Opfer Nummer 4, Esther Gilbert, ihr Mann, Frank Gilbert, sollte die Scheidungspapiere unterschreiben.

Annegrete Kuller, Opfer Nummer 5, involviert als Zeugin gegen ihren Mann Heiko, wegen Inzest, sollte ihre Aussage ändern.

Alle Opfer haben sich erschossen und das laut der Zeugenaussagen nicht ganz freiwillig. Jedes Mal steckt eine Erpressung dahinter, auf die nicht in der gesetzten Zeit eingegangen wurde.

Bei vier von den Fällen war der junge Mann dabei, der auch bei Bergers aufgetreten ist.

Wir wissen nicht, ob es noch weitere Fälle gibt, bei denen die Forderungen erfüllt wurden. Wir sind zuständig Katja!“

“Ich finde, einige der Forderungen, zum Beispiel bei der Staatsanwältin, wären in der kurzen Zeit gar nicht möglich. Mein Verstand sagt mir, bei dieser Erpressung sollte die Forderung überhaupt nicht erfüllt werden. Aber ich bin nur die Praktikantin.“

“Das denken wir auch, schön, dass du mitdenkst,“ antwortete Wohlfahrt.

Vier Stunden später befand sich Wohlfahrt an einem weiteren Tatort. Wieder Suizid durch eine Schußwaffe. Ina Schmidt. Altenpflegerin. Die Forderung, an eine Ärztin im Pflegeheim, aktive Sterbehilfe. Ina war die Freundin der Ärztin.

In diesem Fall war der junge Mann wieder dabei und warf im Anschluss der Ärztin vor, den Suizid, sowie verlängertes Leiden eines dementen Mannes auf der Intensivpflegestation und damit Geldgier. Zudem sagte er, dass die Patienten in dem Heim keine menschenwürdige Betreuung erhalten.

“Was steckt dahinter?“ fragte sich Wohlfahrt.

„Sollen diese Erpressungen auf soziale Missstände hinweisen? Nur bei dem ersten Fall ging es um eine Geldforderung!

Katja! Ich muss nochmal mit Berger reden, bestell ihn ein!“

Die wenigen Augenblicke, die vergingen, waren kleine Ewigkeiten. Maria. Ihr schönes Lächeln. Ihr schlechter Kaffee. Der geheime, gemeinsame Urlaub voller verbotener Freuden, die man nur mit einer fünfzehn Jahren jüngeren Partnerin erleben konnte. Alle Erinnerungen wurden von einer unmenschlichen Kraft ins Sepia gezogen, wie ein Polaroit, dass zu lange in der Sonne lag. Der Schrecken, den Maria gefühlt haben muss. Warum?
Er tastete nach dem Handy. Ließ es fast wieder fallen, als würde er nach einem glitschigen Fisch greifen.
„Warum?!“, brüllte er ins Handy. Blind und automatisch eilte er ins Treppenhaus. Presste das Gerät an sein Ohr. Treppe abwärts.
Er glaubte, ein heiseres Lachen zu hören. „Die Frage ist … wie gehen Sie damit um, dass Maria starb, nur weil sie zu spät dran waren? Was wird sie in den letzten 10 Sekunden gedacht haben? Wird sie gedacht haben … ‚Warum, lässt du mich nur in Stich?‘“
„Nein!“, rief er energischer. Die Treppe hinabstürzend. „Dafür kriege ich Sie! Hören Sie?! Ich erwische Sie! Und dann sind sie dran!“
Er erreichte das Erdgeschoss und stürmte ins Freie.
„Was wollen Sie machen? Mit ihren kleinen Fäusten auf mich eintrommeln? Weil die Welt so ungerecht ist?“
Die Heiterkeit, die er am anderen Ende der Leitung hörte, ließ seine Gedanken, nein, seinen Hass zornig überkochen. „Sie werden bezahlen! Ich werde dich mit bloßen Händen auseinanderreißen!“
„Hört, hört! Man könnte meinen, Maria hat dir tatsächlich etwas bedeutet. Weißt du was Christian ? Du sollst deine Chance haben.“
Wie angewurzelt blieb er stehen, bei den Worten, die er da gehört hatte. „Wie bitte?“
„Am Schloss Johannisburg bei Aschaffenburg in … 60 Minuten? Dort erwarte ich sie. Allein, versteht sich. Ich sorge für das Amüsement und Sie bringen einfach nur sich selbst mit."
„Sie werden dort sein?“
„Mein Ehrenwort, solange sie das Telefonate halten, um mich dann persönlich zu treffen. In 59 Minuten und … 40 Sekunden.“

Eine Traube Menschen stand um Maria. In der Nähe hörte er bereits Sirenen eines Rettungswagens.
„Sie überlegen, ob sie einen letzten Blick auf sie werfen nicht wahr? Wie die ekligen Gaffer, welche sich an den Stories in ihrer Zeitung ergötzen.“
Er fluchte und eilte stattdessen zu seinem Motorrad auf dem Innenhof. Sein weißer Helm hing einsatzbereit am Lenker. Die Schutzkleidung hatte er aber noch oben. Mist. Der Schlüssel der Maschine war allerdings in seiner Tasche. Nicht mal eine Windjacke hatte er an, er musste nochmals hoch.
„Ich kann nur vermuten, was sie denken. Das ihnen noch 58 Minuten verbleiben.“
Er koppelte das Smartphone mit dem Sprachsystem seines Helms, und sprang auf die Maschine. Er setze ihn auf und starrte den Motor.
‚Pröppröppröp‘ , begrüßte ihn der quirlige Dreizylinder. Die Tachonadel sprang gierig in die Höhe, als er ohne Rücksicht auf die Hauptstraße bretterte und am Rettungswagen vorbei zischte, als hätte er Maria selber erschossen.
„Wenn ich über die A3 rase, schaffe es sicher durch den Verkehr!“
Links – mitte – links. Wie ein Schatten raste er an linken Außenseiten von Bussen, Vans und langsamen Bonzenfahrern entlang. Fuhr, als ob das Gefühl von abrupten Abbremsen und Beschleunigen die Leere in seiner Mitte füllen konnte, die Marias sinnloser Tod hinterließ.
Er musste den Kerl kriegen. Musste.
Lärmende Hupe von rechts. Knapp sauste ein Fahrzeug von rechts kommend an ihm vorbei, dem er nur entkam, indem er noch schneller fuhr.
1200cc hatte seine Maschine. Von 0 auf 100 km/h in 3 Sekunden und in weiteren 4 Sekunden auf 200 km/h.
„Atmen sie tief durch. Wir wollen doch nicht, dass andere gefährdet werden? Ich gebe ihnen 10 extra Minuten, damit sie sich nicht noch selber umbringen.“ Dabei lachte der Fremde erneut, als hätte er einen Witz gemacht.
Wut, tosende Wut erfasste ihn.
„Warum haben sie Maria keine extra Sekunden gegeben?“
„Kommen Sie schon, Christian. Das wissen Sie.“
„Was weiß ich?“
‚Eingehender Anruf von … Magnus Wiesenmann‘
Er drückte auf Ablehnen. Nicht, dass der Kerl, der Mörder, sich noch ignoriert fühlte. Aber es wurde langsam klar, dass die anderen auf sein veröffentlichtes Video gestoßen waren. Vielleicht wurde es inzwischen gelöscht. Sein analytischer Geist kehrte langsam zurück. Etwas besonnender ordnete er sich rechts auf die Autobahnzufahrt ein.
„Warum wollten sie das Video online haben?“
Ein Ausatmen voller Enttäuschung glaubte er am Telefon wahrzunehmen. „Tztztz … dabei gibt es so viel wichtigere Fragen zu klären.“
„Zum Beispiel?“
„Warum hat sich Maria das Leben genommen? Welches Druckmittel habe ich wohl verwendet?“
Er presste die Lippen aufeinander und folgte den Wellenlinien der Autobahn. Wahrscheinlich die Familie? Was wusste er schon.
„Mit welchen Druckmittel würden sie sich das Leben nehmen, Christian?“
Das Gespräch nahm eine seltsame Wendung. Worauf spielte er an?
„Nichts könnte mich dazu bringen!“
„Wenn ich ihre Eltern bedrohe?“
„Nein!“
„Ihren Schwester?“
„Keine Chance.“
„Die Kinder ihrer Schwester?“
„Nervensägen!“ Es brach ihn fast das Herz, sich das sagen zu hören. Aber er stand unter Druck. Einen enormen Druck, den er noch nie in dieser Form gespürt hatte.
„Und Maria?“
„Was soll die Frage?“ Seine Entrüstung übertrug sich auf den Gasgriff und die Maschine machte einen Satz nach vorne. Wind zischte an seinen Oberarmen. Der enorme Winddruck ermüdete ihn. Er ließ seine Geschwindigkeit auf unter 140 km/h fallen. Immernoch war er viel zu schnell.
„Verzichten wir auf die Höflichkeiten. Würdest du dein Leben für Marias tauschen?“
Würde er? Vielleicht. Würde er sie aus einem brennenden Haus retten? Woher sollte er das wissen?
„Das werden wir nicht mehr herausfinden, oder?“, meinte er mit bitterer Stimme.
„Wenn ich dir sage – sie hat sich nur angeschossen – aber mein Kontakt, dem die Eltern viel wichtiger sind als dir, sitzt im Rettungswagen. Was dann?“
Ein heißes Gefühl kribbelte ihm im Nacken hoch. „Was … das ist doch nicht wahr, oder?“
„Und wenn doch?“
„Was wollen sie?“, keuchte Christian verstört ins Headset.
„In 12 Minuten und 33 Sekunden wirst du eine Chance haben, es zu erfahren. Schloß Johannisburg. Ich erwarte dich dort.“ Dann legte der Fremde auf.
Er hatte ja keine Ahnung, dass sich der Schrecken noch weiter steigern ließ.

Das ist größer
von Peter Matthias

Maria Sedlacheck stand vorne am Flipchart. Am großen Flachbildschirm an der Wand hinter ihr waren Fotos der beiden Toten zu sehen.
„Ich fasse noch mal zusammen: Wir haben den toten 68-Jährigen Frank Sander. Er war ein Wohnungsloser, der in der Obdachlosenunterkunft im Ostpark wohnte. Bis auf ein paar kleine Ladendiebstähle ist er nicht polizeibekannt.
„Wurden die Mitbewohner befragt?“, fragte jemand aus der Gruppe der Zuhörer.
„Ja, einige. Aber natürlich nicht alle. Es leben derzeit 130 Leute in dem blauschimmernden Monstrum in der Ostparkstraße 16. Aber es hat keine besonderen Vorfälle gegeben. Franky war recht beliebt und tat für ein paar Euro fast alles. Er wurde letzte Woche in Begleitung eines jüngeren Mannes, bekleidet mit Kapuzenpulli und schwarzer Jeans gesehen. Aber niemand konnte ihn näher beschreiben, schon gar nicht sein Gesicht.“

Jetzt meldete sich Hauptkommissarin Furtler zu Wort. Sie leitete die Ermittlungen. Noch! Es wurde bereits überlegt, eine Sonderkommission einzurichten, und wer die leiten würde, stand noch in den Sternen. Diese Sache hier drohte größer zu werden.
„Es ergaben sich auch keine Hinweise auf eine Verbindung zwischen den beiden Opfern Frank Sander und Maria Weinportner. Fahren sie fort Mary!“

„Ja, gerne! Der vermutliche Täter, oder zumindest einer davon, ist ein Mann um die 30. Er wird von dem bislang einzigen Zeugen, Herrn Berger, auf ca. 1,80 Meter geschätzt. Er trug Jeans und ein dunkles Lederjackenimitat.
Das bringt uns zu unserem zweiten Fall. Die Freundin von Herrn Pfeiffer, Maria Weinportner, wurde ebenfalls dazu gebracht, sich zu erschießen. Herr Pfeiffer ist sich sicher, dass die Stimme vom VIdeo, das er gezwungen wurde zu veröffentlichen, und die seines Erpressers identisch sind.“
„Was macht sie so sicher, dass das keine freiwilligen Selbstmorde waren?“, fragte ein ca. 55-Jähriger im weißen Kittel, der dem Forensik Team angehörte.
„Zum Einen“, antwortete Mary bereitwillig, „wurde in beiden Fällen keine Waffe gefunden. Zudem zeigten der Obdachlose und auch Frau Weinportner Angst und deutliche Stresssymptome und schienen zudem unter Drogen zu stehen.“
„Kein Beweis!“, widersprach der Weißkittel. „Auch Selbstmord ist Stress. Aber tatsächlich fanden wir einen Medikamentencocktail im Blut beider Toten, vermutlich mit der gleichen Zusammensetzung, aber das müssen wir noch weiter untersuchen.
Dass die Waffe fehlt, besonders im Fall der Frau, wo kein zweiter Mann neben dem Opfer zu sehen war, würde ich auch als deutliches Indiz Interpretiren.“
„Danke Karl-Heinz“, Frau Furtler schaltete sich wieder ein. „Könnt ihr schon was zur Tatwaffe sagen?“
„Vermutlich eine 9 Millimeter Beretta, es könnte dieselbe Tatwaffe sein.“

Frau Furtler stand auf, ging nach vorne und stellte sich neben Mary und übernahm.
„Eine Aussage von Herren Berger, dem Inhaber eines Reisebüros aus dem ersten Fall, ergab eine mögliche Spur, der wir nachgehen müssen.
Herr Berger kann sich vorstellen, dass es Verbindungen zu einem „Wie-werde-ich-schnell-reich-Seminar gibt, an dem er vor einigen Monaten teilgenommen hatte. Interessanterweise war einer der Teilnehmer der Chef von Herrn Pfeiffer aus dem zweiten Fall, Magnus Overath. Das kann natürlich Zufall sein, aber wie sie wissen, glaube ich nicht an Zufälle. Wir sollten die Teilnehmer des Seminars mal durchchecken.“


Enzo saß im Behandlungszimmer des Psychiaters Jens Hundertreich. Er hatte gerade eine Spritze in die Armbeuge bekommen und presste sich den Wattebausch auf die Einstichstelle. Er trug Jeans und einen Kapuzenpulli. Das Telefon klingelte.
Der Psychiater nahm ab: „Hundertreich“
„Polizeipräsidium Frankfurt am Main, Maria Sedlacheck ist mein Name. Herr Hundertreich, wie haben im Frühjahr des Jahres ein Seminar geleitet mit dem Titel: <Sie wollen mehr? Machen sie es wie ich, werden sie reich! Ich zeige ihnen wie.>
Wir hätten in dem Zusammenhang ein paar Fragen. Können sie morgen um 9 Uhr ins Polizeipräsidium Adickesallee 70 kommen?“

Jasper Kallmann wühlte sich durch Mails, Listen und Veröffentlichungsprotokolle. Der Kopf tat ihm weh. Aber es wurde langsam besser.
Und zwar, seit er beschlossen hatte, das alles auszudrucken und an sein Denkbrett – so nannte er die große, weiße Wand seines Büros – zu heften. So konnte er seine Gedankengänge physisch sortieren, das gelang ihm trotz aller Digitalisierung und technisch ausgefeilter elektronischer Aktenführung nur auf diese Weise.
Der Dinosaurier.
So nannte ihn das halbe Revier.
Und seine Frau.
Seine elfjährige Tochter durfte erst gar nichts von dieser Art des Arbeitens erfahren, die hielt ihn immer noch für einen Helden und Retter der Welt. Sein Umgang mit Ressourcen würde dieser Idealisierung einen erheblichen Knacks bescheren, darauf konnte Kallmann noch für ein paar Jahre verzichten. Dann würde die Entzauberung ohnehin einsetzen, so war nun mal der Lauf der Dinge.
Er nahm einen kräftigen Schluck kalten Filterkaffees aus seiner geliebten Kobayashi-Tasse. Diese Tasse verstanden nur alte Filmfreaks wie er.
Im zentralen Bereich der Wand hatte er die Fotos der (bisherigen?) Opfer angeheftet.
Holger Fenk, durch sich selbst erschossen im Vorgarten des Ehepaars Berger.
Maria Spengler, durch sich selbst erschossen auf der Straße vor dem Büro ihres Lebensgefährten Christian Pfeiffer.
Unter den Fotos Listen mit den Familien, nahen Angehörigen und Arbeitsbeziehungen. Bisher hatte Kallmann keine Verbindungen zwischen den beiden Fällen herstellen können.
Keine Pfeile kreuz und quer über die Wand, wie er es sonst so liebte.
Ein 62-jähriger Pförtner erschießt sich vor dem Haus eines Reisekaufmanns.
Eine 36-jährige Bankangestellte erschießt sich vor dem Büro eines Journalisten.
Im ersten Fall kannten sich die Personen vorher gar nicht, im zweiten hatte eine Beziehung bestanden, allerdings waren die beiden seit einem Jahr getrennt.
Der Zusammenhang bestand in der Art der Tat.
Möglicherweise erzwungene Selbsttötung.
Am linken Rand der Wand hatte Kallmann Karten mit möglichen Motiven angeheftet. Überall standen dicke Fragezeichen dahinter.
Politische Motive?
Rache?
Serienmörder?
Konnte alles und nichts sein. Die Ausrufe des filmenden Begleiters bei der ersten Tat (Geiz! Ausbeuter! Kapitalist!), die Aussagen des Anrufers bei der zweiten Tat (Eigennützige Journalisten!) – das konnte auf politische Motive hindeuten, musste es aber nicht. Befragen konnte man diejenigen noch nicht, die Fahndung nach beiden lief, ohne größere Fortschritte.
Am rechten Rand der Wand ordnete Kallmann jetzt verschiedene Medienprofile nebeneinander an. Zunächst die Onlineredaktion des Frankfurter Generalanzeigers, bei der der unglückliche Christian Pfeiffer arbeitete.
Und dann die drei anderen Onlinemedien beziehungsweise Fernsehsender, die die Story veröffentlicht hatten.
Er markierte die Zeitstempel der Veröffentlichungen und die Aussagen der Sendeverantwortlichen.
Da fiel ihm etwas auf.
Das konnte doch kein Zufall sein.

Offene Enden - Teil 3 (von j. meergrund)

Magnus und Maria

Der rote Tesla mit dem Kennzeichen ‚F-FGZ 001‘ glitt rasant und lautlos in den reservierten Parkplatz direkt neben der Feuertür der Tiefgarage. Der Fahrer blieb noch ein paar Augenblicke sitzen, um ein Telefonat zu beenden.

»Ja, ich bin da, Richard. Jetzt beruhige dich, Richard, gleich wissen wir mehr. Ich melde mich.«

Als er ausstieg, brummte das Handy in der Tasche seines Brioni Slim Fit-Sakkos.

»Magnus Hansen«, meldete er sich routiniert. »Nein«, sagte er kurz angebunden. Er betrat das Treppenhaus. »Im Augenblick kann ich dazu noch keinen Kommentar zu diesem Video abgeben. Ich bitte um Verständnis.« Er beendete das Gespräch und rief den Fahrstuhl.

Wieder signalisierte sein Telefon einen Anruf. »Hallo«, sagte er und setzte sofort hinzu: »Nein, ich konnte ihn noch nicht erreichen. Ich bin gleich in der Redaktion. Melde mich, sobald ich ihn gesprochen habe.« Auf dem Weg nach oben drückte er drei weitere Anrufe weg.

An der Tür zu Redaktion stand eine Frau in Rot. Er erkannte sie nicht gleich, denn sie lehnte mit dem Rücken zu ihm an der schweren gläsernen Scheibe und presste ihr Gesicht dagegen. Als sie es ihm zuwandte, waren ihre Augen verschmiert von schwarzer Mascara und Tränen.

»Maria!? Was machen Sie hier?«

Sie war freie Fotografin, die hin und wieder für die Redaktion arbeitete, zuletzt mit Christian Pfeiffer an einem skandalträchtigen Report – dem letzten, bevor Magnus ihn endgültig zur Online Redaktion versetzt hatte, weil ihn wieder einmal jemand wegen Pfeiffers halblegalen Methoden verklagt hatte.

»Er hat sich erschossen!«, brach es aus Maria hervor, »Ich wollte es verhindern, aber es war zu spät!« Ihre Stimme war kaum zu verstehen. »Er hat es direkt vor meinen Augen getan! Ich habe es mitansehen müssen!«

»Ja, ich habe es auch schon gesehen.« Magnus legte ihr eine Hand auf die Schulter und schob sie gleichzeitig ein Stück zur Seite, um die Türe aufzuschließen. »Kommen Sie erstmal rein.«

Sie betraten den Empfangsbereich. Es war totenstill, wie fast jeden Sonntag. Magnus hatte immer noch seinen Arm auf Marias Schulter. »Ich sehe mal nach Christian Pfeiffer, der muss hier irgendwo sein. Wahrscheinlich vorne im Coworking-Space.« Er reckte den Hals und rief laut: »Christian!?«

Maria kreischte hysterisch auf. »Ich gehe da nicht rein!« Ein neuer Weinkrampf schüttelte sie durch.

»Ist gut, ist gut.« Er führte sie ein paar Schritte in das kleine Besprechungszimmer direkt neben dem Empfang und setzte sie auf einen Besucherstuhl. »Nehmen sie sich was zu trinken. Bin gleich wieder da.«

Im leeren Großraumbüro empfing ihn ein befremdlicher Geruch: Etwas Unbekanntes mischte sich in das vertraute starke Aroma von viel altem und ein wenig frischem Filterkaffee, das ein untrügliches Zeichen für Pfeiffers sonntägliche Anwesenheit war. Über dem Kaffeeduft lag etwas Scharfes, Metallisches – etwas, das alte, verschwommene Erinnerungen in Magnus weckte.

Er kam erst darauf, als er um den Schreibtisch direkt vor der Fensterfront herumging, an dem Pfeiffer sonst immer arbeitete. Magnus dachte plötzlich an seine Zeit bei der Bundeswehr – und erkannte den charakteristischen Geruch von Schießpulver in der Luft.

Pfeiffer lag vor seinem Bürosessel, halb unter dem Tisch, auf dem Bauch. Sein linker Arm war zur Seite ausgestreckt, der rechte abgewinkelt, die Hand neben dem Kopf. Unter dieser Hand lag eine Pistole. Das Gesicht war nach rechts gedreht, sodass Magnus direkt in die starren Augen des Toten sah. In dessen Schläfe bemerkte er ein sauberes kleines Loch, aber Kopf und Oberkörper lagen in einer großen Blutlache.

Magnus´ Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Also jetzt auch Pfeiffer?!

Ein paar fiebrige Atemzüge lang versuchte er, sich zu besinnen – da fiel ihm Maria ein. Er hastet nach vorne in den Besprechungsraum.

»Pfeiffer!«, stieß er heiser hervor und deutet in die Richtung, in der der Tote lag. »Maria, haben Sie etwa gesehen, wie ER sich erschossen hat?«

Sie atmete zitternd ein. Nach einer langen Pause nickte sie kaum merklich. Sie sah Magnus mit gerunzelter Stirn an. »Ich war unten auf der Straße«, sagte sie tonlos. »Ein Mann hat mich angerufen. Ein Fremder. Er sagte, es ginge um Leben und Tod! Wenn ich wollte, dass Christian nichts geschieht, dann müsse ich sofort herkommen und mich unten auf die Straße vor die Redaktion stellen. Andernfalls würde Christian sich erschießen. Ich solle nach oben schauen. Und da hab ich ihn gesehen … «

Sie schüttelte heftig den Kopf und brach wieder in Tränen aus. »Er hat mich auch gesehen. Er sah so panisch aus! Zwischendurch hat er sich immer wieder weggedreht, als würde er etwas am Computer machen. Und plötzlich war da der Schuss!«

Sie hielt den Atem an. Dann schloss sie die Augen. »Ich sah den Blitz – Christian stand noch ganz kurz da und hat mich angesehen. Dann ist er zusammengebrochen.« Schluchzend barg sie das Gesicht in ihre Hände.

Magnus rieb sich den Nacken. »Das ist nicht gut«, knurrte er leise und starrte auf den Boden. Er begann, nervös vor Maria auf und ab zu gehen.

Plötzlich blieb er stehen. Er ging vor ihr in die Knie und fasste ihren Arm.

»Maria? Sind sie sicher, dass er es selbst getan hat?«

Sie blickte ihn unverwandt an. »Rufen sie jetzt die Polizei?«

(c) jona meergrund

Die Abrechnung

Herr Joseph K. mochte die Ruhe am Sonntagvormittag. Keine Termine, keine Hektik.

Er mochte es, ausgiebig mit seiner Frau Dorothea zu frühstücken und gemeinsam die Stille des Morgens zu genießen. Auf Worte zu verzichten und mit vertrauten Handlungen einander alles zu sagen. Den Frieden der sonntäglichen Frühe zu teilen, seitdem die Kinder aus dem Haus waren. Kein Geschrei, kein Gezanke.

Nach dem Frühstück brühte Joseph K. sich immer noch eine Tasse frisch gemahlenen Kaffees auf und nahm sein Zeitungsfenster, wie er seinen Tabletcomputer nannte, um im Wintergarten auf dem Balkon in Ruhe die Sonntagsausgabe des Frankfurter Generalanzeigers zu lesen. Besonders mochte er die wöchentliche Kolumne von Christian Pfeiffer: „Gestatten, Pfeiffer mit 3F und gestatten Sie mir eine Meinung.“

Pfeiffer war ein Journalist von alter Schule, zwar irgendwo zwischen gestern und heute gefangen, aber er war immer schonungslos ehrlich geblieben. Mit allem und allen, aber besonders sich selbst gegenüber. Das rücksichtslose Schönfärben von Neuem, die übertriebene Positivität vieler junger Leute im Fehlen einer eigenen Meinung und ihr Zwang, für bewährte Begriffe nur noch sinnfreie, englische Ausdrücke zu verwenden, die sie auch fortwährend änderten, wurden von Pfeiffer mit Spitzfindigkeit entlarvt und vor dem Spiegel der Wahrheit gezerrt, um in der ganzen Pracht ihrer Idiotie zu scheinen.

Herr Joseph K. setzte die Tasse mit heißem, braunem Glück auf den kleinen Beistelltisch vorsichtig ab und ließ seinen Blick schnell über den Europapark vor ihrem Appartementhaus schweifen, bevor er es sich in seinem gemütlichen Lesesessel bequem machte. Er glaubte in der Ferne einen Knall zu hören, als ob Jugendliche wieder tagsüber einen Feuerwerksböller im Park gezündet hatten. Aber da es in letzter Zeit öfter geschah, beschloss er, das vage Geräusch zu ignorieren, um sich Pfeiffers Kolumne zu widmen. Zu seiner Überraschung fand Joseph in der Zeitungsrubrik keinen Text vor, sondern ein Video. Neugierig klickte er es an und erwartete, eine Pfeiffersche Persiflage auf die Unmengen von Kurzvideos zu sehen, die das Internet überfluteten und Worten kaum noch Platz ließen. Ein Bild lügt mehr als eintausend Worte.

Entgegen seiner Erwartungen sah Joseph K. kein Bild von Christian Pfeiffer, der gegen den zeitgenössischen Mitteilungswahn der heutigen Digitaljugend schonungslos austeilte, sondern ein verwackeltes Amateurvideo, das mit einem Smartphone aufgenommen worden sein musste. Es war der Kopf eines älteren Herrn zu sehen, der aus dem Spalt einer kaum geöffneten Eingangstür verdutzt herausschaute. Das Gesicht kam Joseph seltsam vertraut vor.

Er wollte gerade einen Schluck Kaffee trinken, als es ihm einfiel: Richard, irgendetwas mit B. Burger? Nein, Berger. Richard Berger. Joseph kannte ihn über seine Frau Dorothea, die mit Bergers Frau befreundet war. Beide Frauen hatten den gleichen Vornamen, was auf der Gartenfeier letzten Monat immer wieder für kleine, aber heitere Missverständnisse sorgte. Joseph hatte sich mit ihm an diesem Abend gut über Aktiengeschäfte unterhalten, vor allem über die Firma Schwarzfels. Die Aktie versprach viel Potenzial, wenn auch die Geschäftsfelder ethisch fraglich waren, speziell die Investitionen in Rüstung und Rohstoffhandel. Vergangene Woche war die Aktie jedoch stark eingebrochen, nachdem Aktivisten anstatt von Journalisten eine Vielzahl von illegalen Machenschaften des Unternehmens aufgedeckt hatten, in die auch weltweit führende Politiker verstrickt waren. Immer mehr Straftaten des Unternehmens, speziell im Bereich der Umweltkriminalität, wurden durch weitere Ermittlungen bekannt und beherrschten weiterhin die Berichterstattung in den Nachrichten. Joseph K. hatte durch den Kurseinbruch der Investmentgesellschaft eine beträchtliche Summe verloren, die aber durch eine breite Streuung der Aktiva in seinem Portfolio aufgefangen wurde, sodass letztlich kein Verlust zu monetisieren war. Für ihn war es so, als ob nichts geschehen wäre. Trotz all seiner Erklärungen und Versicherungen, keine finanziellen Verluste erlitten zu haben, hatte ihm seine Frau Dorothea eine hässliche grüne Krawatte mit goldenen Eurozeichen geschenkt. Angeblich war es die lustige Idee ihrer Freundin und Namensvetterin. „Ein wenig Spott musst Du schon ertragen, Joseph“, sagte sie liebevoll neckend, als er die Krawattenschachtel öffnete. „Du weißt doch, wie das mit dem Schaden ist.“

„Ich brauche zehntausend Euro. Wenn Sie mir die nicht geben, bringe ich mich um“, tönte es blechern aus den Lautsprechern seines Tabletcomputers. Der graubärtige Mann wirkte entschlossen. Joseph wollte gerade den Videoplayer schließen, da es sich offensichtlich um eine Fälschung handelte, um seinen Bekannten Richard Berger zu diskreditieren, der immerhin als erfolgreicher Geschäftsinhaber eines bekannten Reisebüros zur Frankfurter Stadtprominenz zählte.

„Geben Sie ihm zehntausend Euro.“ Diese Männerstimme gehörte weder zu dem graubärtigen Mann noch zu Richard Berger, war Joseph aber sehr vertraut. Sie musste also von dem Mann stammen, der die ganze Farce aufzeichnete. Wieder die bekannte Stimme: „Sie haben das Geld, und er braucht es.“

Joseph traute sich nicht, den Gedanken auszusprechen, und flüchtete mit einem Blick in die Ferne des Europaparks. Sind das etwa Polizeiautos dort hinten beim Redaktionsgebäude, fragte er sich. Hat die Staatsordnung endlich die Halbstarken einkassiert, die schon am Sonntagvormittag Böller loslassen?

Plötzlich knallte es laut in seinen Händen. Joseph erschrak, schaute wieder auf das Video und sah jetzt den graubärtigen Mann erschossen am Boden liegen, die Pistole noch in der Hand.

Die ihm so bekannte Stimme überschlug sich im Schreien: „Sie haben ihn umgebracht! Sie haben ihn umgebracht mit Ihrem Geiz!“ Die Aufzeichnung wurde zunehmend verwackelter, verlor an Schärfe und die ihm so verwandte Stimme krakeelte fort: „SIE Schwein! SIE Ausbeuter!! SIE KAPITALIST!!!“

Das Bild verlor sich plötzlich im Himmel und kehrte wieder auf den Boden zurück; zeigte jetzt in Nahaufnahme ein Gesicht, mehr eine in Ekstase verzückte Fratze, mit verzerrten Mundwinkeln voller klebrigem Geifer.

„Das kann nicht wahr sein, das kann nicht wahr sein“, stammelte Joseph K. und wurde vom bleiernen Gewicht der Gewissheit in den Sessel gepresst, sackte einfach in sich zusammen, als ob es für ihn kein Halt mehr gäbe, keinen Widerstand, nur noch Fallen, in eine Ohnmacht zu fallen, aber ohne die Gnade zu erfahren, das Bewusstsein zu verlieren.

Augen mit riesigen Pupillen, in denen sich purer Hass und abgrundtiefer Wahn spiegelten, starrten direkt in die Kamera und schienen nur Joseph anzustarren.

„Jetzt kommen wir zu Dir!“, brüllte sein Sohn in die Kamera.

(C) Felyx

Obwohl die Frau mit den schwarzen Haaren und dem roten Mantel einen Knall erwartete, zuckte sie leicht zusammen, als die Gruppe Tauben neben ihr aufgeschreckt in den Himmel flüchtete. Vielleicht gerade weil sie den Schuss herbeigesehnt hatte. Sie beobachtete die Menschen um sich herum, die den Knall im Unterbewusstsein als Nebengeräusch einer geschäftigen Stadt abgetan hatten: Ein fallengelassenes Rohr auf der Sonntagsbaustelle nebenan, oder das Knallen der Boards der Skater in dem belebten Europapark.

Ein Gefühl warmer Genugtuung durchströmte ihren Körper, als eine neutrale, nüchtern klingende Stimme in ihrem Ohr verkündete: »Ziel erledigt.«

Die Frau grinste grimmig. Sie wusste ohne die Bestätigung, dass der Job erfolgreich erfüllt war. So effizient wie seine Kommunikation, so effektiv war Alexander in allem, was er tat. Sie atmete ihre Anspannung in einem Stoß Luft aus, der als Dampfwolke in den kalten herbstlichen Wind entwich. Dieser Schachzug war aufgegangen.

Lydia lief zu der vereinbarten Tiefgarage.

Sie griff in der Manteltasche nach ihrem Handy und prüfte den Sozial-Media Account der Zeitung. Die Cyber-Meute hatte sich bereits auf Berger eingeschossen. Sie tippte eine Schnellwahltaste.

»Bitte?«, fragte eine Stimme knapp in den Hörer.

» Es ist erledigt. Der Plan scheint aufzugehen.«

Die Stimme lachte leise in das Telefon. »Dieses egoistische und korrupte Journa-listenschwein. Sehr gut. Wir machen mit dem Anwalt weiter.«

Lydia atmete gegen die aufkeimende Panik in ihr an.

»Das ist verrückt«, flüsterte sie in ihr Telefon.

Die Stimme an der anderen Leitung hielt kurz inne. In einem Tonfall, der keinen Widerspruch duldete, entschied sie: »Es muss sein.«

Alexander sah prüfend durch sein Zielfernrohr. Der Journalist lag halb über den Tisch gebeugt. Der Pott Kaffee dampfend daneben, so als ob ihn die Szenerie absolut nichts anginge. Alexander atmete den metallischen Duft nach verbranntem Plastik tief durch die Nase ein. Er liebte den beißenden Geruch von Schießpulver. Was er nicht mochte, war das Töten. Ein notwendiges Ergebnis seiner akribischen Vorbereitungen, Planungen und Ausführungen. Die Bestätigung seines Könnens. Mehr nicht.

»Der steht nicht mehr auf«, entschied Alexander und gab den Blick durch die Visierung auf. In geübten, über die Jahre eingeschliffenen Handgriffen nahm er den Mündungsschalldämpfer vom Lauf und drehte den Bajonettverschluss des Gewehrlaufes ab. Beides verstaute er sorgfältig in einer kleinen Reisetasche. Dazu packte er die Ohrwatte sowie den Rest seiner Waffe. Es war ein Trugschluss, befeuert durch Kino und Spielfilme, zu glauben, der Schuss einer Präzisionswaffe sei immer komplett leise. Mit dem Schalldämpfer an seinem Gewehr verhinderte er lediglich den Mündungsknall und somit eine Ortung der Schussabgabe. Den Geschossknall, verursacht durch die Überschallgeschwindigkeit, nahm er für eine höhere Reichweite und Durchschlagskraft in Kauf. Die lauwarme Patronenhülse verstaute er in einem bereitgelegten Zip-Beutel.

Alexander blickte auf die drei akkurat nebeneinanderliegenden Handys vor ihm auf dem Tisch. Eines, um Kontakt mit Lydia zu halten, das Zweite, um den Account der Zeitung zu prüfen und das Dritte, um Pfeiffer zu kontaktieren. Er nahm das Letztere und schredderte es in einem kompakten, dafür vorgesehenen Gerät. Es hatte etwas Befriedigendes, zu sehen wie sich der Mechanismus durch Kunststoff und Platinen fraß.

Er nahm die kleinen Einzelteile und spülte sie in der Toilette ab. Ein Vorteil der spülkräftigen Hoteltoiletten.

Zufrieden schaute er sich in dem geschmacklos eingerichteten Hotelzimmer um, dessen Oberflächen er gründlich mit Wasserstoffperoxid behandelte, und trat über den weichen Teppich durch die Tür in den Gang. Er hatte zuvor geprüft, wo die Uberwachungskameras montiert waren. Alexander schritt entsprechend zügig, aber nicht hastig, in Richtung Aufzug. Unten angekommen, stieß er die schwere Brandtür zu den Tiefgaragen auf.

Wortlos stieg er in den unauffälligen VW ein, an dem Lydia wartete. Sie streifte sich die Schwarzhaarperücke ab, unter der ihr leuchtend rotes Haar hervortrat. Alexander beobachtete sie verstohlen, wie sie den altmodischen Mantel ablegte. Unter ihrem eng anliegenden Kaschmirpullover zeichneten sich die Rundungen ihrer Brüste ab sowie der flache Bauch. Verlegen schaute Alexander schnell zur Seite, als Lydia seinen Blick bemerkte.

Lydia grinste innerlich. Sie wusste, dass Alexander auf sie stand. Sie hatte sich am Morgen extra etwas Parfum in das Dekolleté gerieben. Sie musste ihn für das, was kommen sollte, bei Laune halten. Sie setzte sich neben ihn auf den Sitz und beugte sich näher zu Alexander, als es nötig gewesen wäre und suchte seinen Blick: »Du bist gut!«

Alexander errötete leicht. Wie paradox sie dies fand. Ein ehemaliger Elitesoldat, hoch intelligent, der von einem Lob außer Konzept gebracht wird. Aber sie spürte, wie sympathisch ihn das machte. Sie überlegte, ob sie den Mann neben ihr mochte.

Doch direkt schüttelte Lydia diese kitschigen Gedanken ab. Dafür war in den kommenden Stunden kein Platz.

Satz des Pythagoras

Kriminaloberkommissar Benno Hüttmann schmiss seine Jacke Richtung Garderobenständer und knallte die Tür zum Besprechungsraum hinter sich zu. Die Jacke landete auf dem Boden, keiner der Anwesenden machte Anstalten das zu ändern. Als ihn der Anruf der Leitstelle zu Hause erreichte, war das Liga Spiels seiner Heimmannschaft gerade mal zehn Minuten alt. Die Eintracht hatte bereits eine überzeugende Torchance, es stand aber noch 0:0 gegen Werder. „Alle da?“ Mit Blick auf seine vier Mitarbeiter beantwortete sich die Frage von alleine.
“Sie sind der Letzte, Chef,“ entgegnete Fritz Franke vom Dauerdienst und grinste in die Runde. “Sparen sie sich das. Wie viele Anrufer sind es bis jetzt?“ Hüttmann schnaufte schwer, kam sofort zur Sache. Er schaute Franke mit seinem typischen es ist mir Ernst Gesicht an.
„Fünf Anrufer + fünf Videos = Null Leichen.“ Jetzt konnte Fritz sich ein giksendes Lachen nicht verkneifen. „Wohl Pythagoras gefrühstückt.“ Anwärterin Helena, von allen nur die Schöne genannt, wollte mit Allgemeinwissen glänzen.
„Leute, wir haben keine Zeit für Kinderkram. Womöglich ruft gleich Nummer sechs oder sieben an. Was hat die SpuSi gefunden – Richard, habt ihr was?“ Der Angesprochene zuckte leicht zusammen, war er doch just mit seiner Hand auf Erkundungstour an Ritas Bein. Rita und er waren erst seit kurzer Zeit ein Paar und das Knistern war noch heiß und nicht auf die Freizeit beschränkt. „Oh ja, an allen vermeintlichen Tatorten wurden Reste von Blut gefunden. Wir konnten dies nur mit der Luminollösung darstellen. Da hatte wohl jemand gut saubergemacht. Ob es sich um menschliches Blut handelt wissen wir noch nicht, die Kollegen sind dran. Ansonsten keine Spuren von Tatwaffen, Hülsen oder Ähnlichem.“
„Okay, das bringt uns nicht wirklich weiter. Zumal von allen null Leichen jede Spur fehlt. Der Mann vor dem Bergerschen Haus, die Frau im roten Mantel, die Kassiererin an der Tankstelle und die beiden anderen Untoten. Jedes Mal die 10.000 Euro Ansprache, alles wird gefilmt und an die Presse weitergeleitet. Mit wie vielen Tätern haben wir es zu tun? Das Gebiet, in dem sich die fabulösen Fälle abgespielt haben ist zu groß für einen alleine. Der erste Anruf kam um 9:45, der bisher letzte um 16:32. Da wird es ohnehin dämmerig bei dem trüben Wetter.“ Die Hände verschränkt hinter dem Kopf, dehnte sich Hüttmann im Stuhl so weit nach hinten, bis das Möbel zu ächzen begann.
„Wir wissen nicht einmal was wir ermitteln. Handelt es sich um Selbstmord, Mord oder sind es Vermisstenfälle. Erpressung, Nötigung oder vielleicht verstehen sie Spaß.“ Der Oberkommissar war wütend und sein Oberkörper schnellte nach vorne. „Es ist zum Kotzen,“ brüllte er und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Was ist mit den Zeugen?“ „Herr Berger ist noch nicht vernehmungsfähig, der Notarzt hat wohl zu tief in seinen Notfallkoffer gepackt. Die Aussage vom Redakteur ist schlüssig aber der Kontaktmann konnte noch nicht ermittelt werden. Die Kundin der Tankstelle hat eine Gesichtserkennungsschwäche und die Übrigen stehen unter Schock.“ Aha, Rita war also doch geistig anwesend.
Helena zeigte auf wie in der Schule. „Herr Hüttmann, aber den Ursprung der Videos kennen wir immerhin,“ glaubte sie einwerfen zu müssen, „die sind alle vom Frankfurter Generalanzeiger.“ ritz, Rita und Richard verdrehten die Augen. „Die sind dem Generalanzeiger auch nur zugespielt worden. Wer sie aufgenommen und der Zeitung zugesandt hat steht in den Sternen mein Bobbelsche.“ Fritz verzog bei der kurzen Ansprache keine Miene, sondern schaute der Anwärterin, die ihm direkt gegenübersaß, hart in die tiefblauen Augen. Das, so glaubte er, reiche, um seine Position klar zu machen. Der Chef ging nicht weiter auf den Dialog ein.
„Vielleicht ist die Nacht unser Freund - Schlaf ist gestrichen wegen Dunkelheit. Ihr macht euch mit der KTU sofort an die Arbeit. Stammen die Videos von einem oder mehreren Handys? Lässt sich diese Mail Absender zurückverfolgen? Die Kollegen sollen sich die Bänder nochmal genau anhören – Stimme – Dialekt – Hintergrundgeräusche. Was ist mit den Überwachungskameras, zumindest an der Tankstelle wird es welche geben, oder auch an Nachbarhäusern, Geschäften, was weiß ich. Warum an einem Sonntag?
Und – gibt es eine Verbindung zwischen den Vermissten?“


Christian Pfeiffer starrte aus dem Fenster, die Augen leer, unfähig, sich zu rühren. Auf den Straßen vor dem Europagarten herrschte das reinste Chaos. Menschen rannten, schrien, flüchteten. Die Sirene eines Krankenwagens heulte in der Ferne. Da lag sie – Maria, regungslos auf dem Boden, die schwarzen Haare, der rote Mantel in der Blutlache, fast eins mit dem Asphalt.
Ein Schrei stieg in ihm auf, doch er presste ihn mit aller Kraft zurück. Die Welt um ihn verlor ihre Schärfe, verschwamm zu einem wirren Fleck, wurde leiser. Sein Atem kam flach. Die Finger seiner rechten Hand krallten sich in die Fensterbank, die Rillen der Holzoberfläche gruben sich in seine Haut … Ein dumpfes Vibrieren durchbrach die Stille und riss ihn aus seiner Erstarrung.
Instinktiv griff er nach dem Handy, dabei stieß er die Kaffeetasse um, die mit einem lauten Klirren zerbrach. Es interessierte ihn nicht.
Seine Hände zitterten so sehr, dass das Handy beinah aus seinen Fingern glitt. Die gleiche Nummer. Panik kroch in seine Brust, ein kalter, stechender Druck, der sich wie Eisen um seine Lunge legte und ihm den Atem raubte. Er zwang sich, ruhig zu bleiben, weiter zu atmen.
«Hallo…» stammelte er hohl.
«Gute Arbeit, Herr Pfeiffer», erklang die dunkle Stimme aus dem Lautsprecher. «Aber glauben Sie nicht, dass das alles war. Ihre Reise hat gerade erst begonnen.»
«Was wollen Sie? Ich habe breits getan, was Sie von verlangt haben.», brachte Pfeiffer mühsam hervor.
«Für den Moment, ja. Wenn auch etwas zu spät.», antwortete die Stimme gelassen. «Doch jetzt, Christian Pfeiffer, liegt es an Ihnen, wie die Geschichte weitergeht. Aber dafür brauchen Sie Informationen.» Eine Pause. «Sehen Sie in ihrer Post nach.»
«Post? Welche Post?»
«Ihr Briefkasten, Herr Pfeiffer!», kam es mit einem höhnischen Lachen. «Keine Polizei. Die Zeit läuft. Tick, tack.»
Die Leitung brach ab.
Pfeiffer starrte auf das Display. Der Bildschirm zeigte einen Timer, der rückwärts lief – die Zahlen zählten unaufhaltsam herunter. Einer tickenden Zeitbombe gleich. Jede Sekunde ein Stich in seiner Brust. Mit zitternden Händen ließ er das Handy in seine Tasche gleiten, sprang auf und rannte aus dem Büro.

Der alte Hausflur war kühl und roch nach feuchtem Beton. Pfeiffer zog den Schlüsselbund aus der Tasche, die Finger zittrig. Der Briefkasten quietschte, als er ihn mühsam öffnete – zwischen Werbezetteln und einer Stromrechnung fand er einen weißen Umschlag. Kein Absender. Mit einem Ruck riss er ihn auf und zog das Blatt heraus.
«Es geht um Leben und Tod, Herr Pfeiffer. Ihre Story geht weiter. Stellen sie die richtigen Fragen.» Darunter stand eine Adresse – eine der besseren Wohngegenden Frankfurts soweit er sich richtig erinnerte.
Pfeiffer starrte auf das Blatt. Journalistische Neugier, das unbändige Verlangen nach Antworten, blanke Panik und das brennende Gefühl des Verlustes, das sich wie ein enger Knoten in seiner Brust festsetzte, rangen in ihm um die Oberhand.
Ihm blieb keine Wahl.
Er schob das Papier in seine Tasche und stürmte aus dem Haus. Ein Taxi hielt sofort, als er die Hand hob. „Fahren Sie schnell. Keine Zeit zu verlieren“, keuchte er, während er sich auf den Sitz fallen ließ.
Die Uhr tickte. Jede Sekunde zählte.
Wenig später hielt der Wagen vor einem schmiedeeisernen Tor. Ein Absperrband der Polizei flatterte wild im Wind. An der Tür prangte ein Schild aus Messing …

Der Architekt

Das Video zeigte eine Frau mit schwarzen Haaren. Der Winkel ließ darauf schließen, dass die Kamera schräg vor ihr installiert war. Installiert. Nicht mit der Hand gehalten.

Der rote Mantel der Frau wehte. Sie zitterte, doch es war nicht kalt an diesem frühherbstlichen Tag mitten in Frankfurt. Schaute nach oben, als betrachte sie die Glasfassade der Redaktion. Ihr Blick verriet eine tiefsitzende Angst, gar Grauen. Und während sie die Pistole aus ihrer Manteltasche zog, füllten sich ihre Augen mit Tränen unausweichlicher Bitterkeit.
Ein Schuss knallte.
Und Maria fiel aus dem Bild.

Christian wagte es nicht, aus dem Fenster zu sehen. Solange ich nicht rausschaue, ist es nicht wahr, säuselte sein Verstand wie der Dampf über der Kaffeetasse.

Die Schreie, die den Platz unten überfluteten und Vorreiter einer lokalen Hysterie waren, hörte er nicht durch das Glas. Stattdessen hörte er die Stimme des Anrufers in seinem Kopf als sich dauerhaft wiederholendes Echo: Probleme der Menschen, Eigennutz, zu spät.
Christian hörte seinen Namen. Langsam drehte er den Kopf, sah auf das Telefon am Schreibtisch herab.
“Christian Pfeiffer”, wiederholte der Anrufer geduldig.
Fahrig, fast schon ohne sein bewusstes Zutun, griff seine Hand nach dem Telefon, führte es ans Ohr. In seinem Magen schwelte ein Eisklumpen.
“Bei Gott, wenn Maria etwas passiert ist…”, presste Christian tonlos hervor. Er wollte wütend klingen, drohend, die Stimme am anderen Ende der Leitung das Fürchten lehren. Nichts davon setzte sich durch. Ich bin in einem Traum. Ich bin eingeschlafen und in einem Alptraum.

Die Stimme ignorierte die Bemerkung. “Ich versprach Ihnen Antworten.” Christian sagte nichts und der Anrufer fuhr fort: “Das Video wurde hier in Frankfurt aufgenommen. Um exakt 09:05 Uhr. Und das werden Sie sich merken, Christian: Vier Stunden. Notieren Sie sich das.”
Christian gehorchte, der Kugelschreiber kratzte über das Papier: F, 0905, 4 h.
“Wer sind Sie?”, fragte Christian anschließend schwach. Seine Stimme hörte sich eigenartig fremd in seinen Ohren an. Der Kugelschreiber verharrte zitternd knapp über dem Papier.
“Jeder spielt seine Rolle in diesem Spiel, Christian. Sie als der Journalist. Und ich… Nun, ich bin der Architekt.”
Christian merkte als Nebensächlichkeit in einem vollkommen anderen Universum, dass seine Hände inzwischen feucht geworden waren. Seine Atmung ging flach und zäh.
“Was ist das für ein beschissenes Spiel?”
“Eines, das Ihren nächsten Zug in knapp vier Stunden erwartet. Die Zeit läuft. Aber denken Sie daran: Jeder Zug hat Konsequenzen.”
Und der ‘Architekt’ legte auf.

Pfeiffer grabschte sein Handy und rannte los, riss Türen auf, versuchte erst gar nicht, den Aufzug zu nehmen. Nahm drei Stufen gleichzeitig, flog fast um die Kurven der Treppenabsätze, erreichte endlich die Eingangshalle und verwünschte lautstark die Trägheit der gläsernen Drehtür. Er musste sich nicht lange orientieren, denn eine kleine Menschenmenge hatte sich dort eingefunden, wo eben noch Maria gestanden und zu ihm hoch geschaut hatte.

Maria! Das durfte nicht sein. Sie würde immer seine große Liebe bleiben, daran änderte auch diese unsägliche Trennung nichts. Maria, die ihn vor sich selbst gerettet hatte, die verstanden hatte, dass er kein hoffnungsloser Fall war und ihm gezeigt hatte, wie er ohne diesen verdammten Alkohol ein besseres und zufriedeneres Leben leben konnte. Und die aus ihm sogar einen ganz herzeigbaren Stiefvater gemacht hatte.

Endlich erreichte er die kleine Gruppe von Menschen, die sich aufgeregt unterhielten und erwartete, Marias Körper auf dem kalten Asphalt liegen zu sehen. Doch da war sie nicht. Auf dem kalten Asphalt lag nur ein Haufen roter Stoff, Marias Mantel.

Verstört sah er sich um. Keine Spur von ihr. Schliesslich packte er eine der umstehenden Passantinnen an der Schulter. „Was ist hier passiert?“ Erschrocken sah sie ihn an und schien sich fast vor ihm zu fürchten. „Ich weiss nicht, es ging alles so schnell. Ein lauter Knall, vielleicht ein Schuss?“, sie wies mit der Hand Richtung Park, „…und dann lief jemand da lang!“ Pfeiffer hörte nicht länger zu, er rannte weiter.

Schliesslich sah er sie. Sie lebte! Er lief schneller, sprintete mit voller Kraft, bis sie in Hörweite war, hoffte er zumindest. Er brüllte aus vollem Hals: „Maria!!!“, immer wieder: „Maria!“ Doch der Herbstwind schluckte seine Stimme. Pfeiffer ignorierte eine rote Ampel, sonntags war wenig los auf der Straße. Ein Fehler, denn wenig war nicht nichts. Und so stoppte er zwar unfreiwillig, dafür aber mit vollem Körpereinsatz einen weißen VW-Bus, der eigentlich eine kleine fröhliche Reisegemeinschaft zu einer Wanderung an die hessische Weinstraße bringen sollte.

Im Bergerschen Haus und Vorgarten hatte unterdessen ein ganzes Aufgebot an Staatsbediensteten die Arbeit aufgenommen.

Durch den wohnlich eingerichteten Flur nahm Kommissar Peter Stark Kurs auf das Wohnzimmer der Bergers. Richard und Dorothea wirkten wie bemitleidenswerte Miniaturausgaben ihrer selbst, wie sie da nebeneinander auf einem grotesk großen Brokatsofa saßen. Vor sich, auf einer schweren, schwarzen Schiefertischplatte, zwei weiße Porzellantassen mit dampfendem Tee.

Mit einem knappen „Dankeschön, ich übernehme ab hier.“, schickte der Kommissar einen uniformierten Beamten aus dem Raum und sah sich um. Links eine schwere Schrankwand, die ein für seine Begriffe gerade noch gesundes Maß an Reisesouvenirs und Dekoschnickschnack beherbergte. Vor allem Elefanten: Indische und afrikanische, verewigt in Stein, Holz und Plüsch. Auf vielen Fotos nur die beiden, Richard und Dorothea. Gemeinsam in jungen Jahren beim Bergsteigen, vor Glück strahlend im Hochzeitsgewand und immer wieder einzeln posierend vor berühmten Bauwerken. Was jedoch fehlte, waren Bilder von Kindern, von jungen Familien, die im Fotostudio um die Wette in die Kamera lächeln.

„Es tut mir sehr leid, was Ihnen …“, begann er, doch bevor er seinen Satz beenden konnte, schoss der alte Herr Berger vom Sofa in die Höhe und sah ihm mit einem vom Blitz der Erkenntnis getroffenen Blick fest in die Augen.
„Ich kenne den Mann“, stellte er erstaunt fest und liess sich sogleich wieder neben Dorothea fallen, der der Schreck über den plötzlichen Ausbruch ihres Mannes deutlich anzusehen war.

Langsam kam Pfeiffer zu sich. Um ihn herum Stimmengewirr, laute Rufe nach einem Krankenwagen, und direkt vor ihm: Marias Gesicht. War das Wirklichkeit? Was war passiert, war er tatsächlich so blöd gewesen, vor ein Auto zu rennen? „Noch ein Trennungsgrund, Maria“, dachte er.

Sie war wirklich da, hielt seinen Kopf und sah ihm in die Augen. „Christian, hörst du mich?“ Er sah sie an und lächelte selig. „Chris, ich muss weiter. Hör mir zu, er hatte Leah und Paul in seiner Gewalt, ich weiss nicht, wie sie es angestellt haben, aber sie konnten abhauen! Leah hat mich angerufen, dieser dreckige Bastard…“ ihre Lippen wurden schmal vor Wut, „… hat mir nur das Firmenhandy abgenommen. Oh mein Gott, so ein Glück! Sie warten in Connys Schrebergarten auf mich. Ich hoffe nur, da sind sie sicher.“ Eine ferne Sirene wurde stetig lauter. „Der Krankenwagen ist gleich da. Halte durch! Und melde dich so schnell du kannst!“

Und während ihre Worte sich gemächlich auf den Weg in Pfeiffers Bewusstsein machten, rannte sie so schnell sie konnte weiter.