Sensationslust
Auf der Straße hatte sich eine Menschentraube um Maria gebildet. Ein Mann kniete neben ihr und fühlte ihren Puls, was eigentlich in dieser Situation völlig irre war. Er schaute hilflos in die Runde, doch niemand bot sich an, ihm beizustehen. Maria lag im Sterben. Aus einer Eintrittswunde mitten in der Brust, pulsierte dunkles Blut, das sich langsam auf den Gehsteig ergoss und eine glänzende, immer größer werdende Blutlache bildete.
Das Getöse des Verkehrs wurde immer lauter. Ein vielseitiges Hupen und Bremsenquitschen, das sich wie ein Echo die ganze Straße entlang ausbreitete, weil Sensationsgeile, blind und ohne Verstand, die Straße überquerten.
Christian kämpfte sich schreiend durch die Menge. Krampfhaft versuchten besessene Gaffer, ihre Plätze zu verteidigen, und hielten ihn am Sakko fest. Doch der Name „Maria“, den er immer wieder aus voller Lunge brüllte, machte auch dem Begriffsstutzigsten klar, den Mann durchzulassen zu müssen. Im inneren Kreis der Menschenansammlung angekommen, lies sich Christian auf die Knie, fallen, nahm Maria in die Arme und wiegte sie, begleitet von einem herzzerreißenden Weinkrampf.
„Machen Sie bitte den Weg frei!“,schrie eine Stimme, die sich durch die Menschentraube arbeitete. Es war ein Polizist, alarmiert von der Menschenansammlung und der dadurch ausgelösten Verkehrsbehinderung. Von Weitem hörte man die Martinshörner herannahender Streifenwagen und Rettungsdienste, die sich durch den Stau quälten.
Der Polizist kniete sich vor Christian, der mittlerweile so blutverschmiert war, dass der Beamte sich nicht sicher sein konnte, ob er nicht ebenfalls verletzt ist. Der Polizist kniete nur stumm da, unfähig, auf den verzweifelten Mann vor ihm einzugehen. Er wandte sich an die Zuschauer:
„Hat jemand den Vorfall beobachtet?“
Die einzige wahrnehmbare Reaktion darauf war, dass die Menschentraube begann sich aufzulösen und in das Blut traten, das mittlerweile in einem kleinen Rinnsal, Richtung Straße floss.
„Es muss doch jemand etwas gesehen haben!“, versuchte er es erneut, jedoch ohne Erfolg. Unzählige Passanten – und niemand will etwas gesehen haben.
Er wandte sich wieder Christian zu:
„Wer sind sie, ist das ihre Frau?“
Er konnte die Einschusswunde nicht sehen, da Christian sie an seinen Körper presste. Als der Polizist versuchte, Maria an der Halsschlagader zu berühren, zog Christian sie besitzergreifend nur noch enger an sich heran. Erschrocken wich der Polizist zurück, der völlig überfordert schien, mit dieser Situation umzugehen.
Mit quietschenden Reifen hielt der erste Streifenwagen. Die Beamten stiegen aus und bahnten sich einen Weg durch die Schaulustigen.
„Zurücktreten, machen Sie den Weg für die Einsatzkräfte frei!“, forderten sie mit Nachdruck. Das forsche Auftreten zeigte Wirkung. Ein Beamter breitete die Arme aus und drängte auch die letzten Unwilligen vom Tatort weg. Sein Kollege ging in die Hocke und fragte:
„Was ist passiert?“ Er schaute in das Gesicht des vollkommen ratlosen Kollegen.
„Ich weiß nicht. Der Mann hier ist nicht ansprechbar, und Zeugen gibt es anscheinend auch keine“, antwortete er kleinlaut und resigniert.
Zwei Sanitäter und ein Notarzt kamen dazu.
„Der Mann steht anscheinend unter Schock“, sagte der Polizist zum Notarzt. „Machen Sie etwas.“ Der Arzt klappte seinen Koffer auf und zog eine Spritze auf. Ein Blick genügte, um die Einschätzung des Polizisten nicht infrage zu stellen.
Christian wiegte Maria immer noch in seinen Armen. Die Spritze, die er bekam, nahm er nicht wahr. Bei jedem Versuch, ihn von Maria zu trennen, klammerte er sie noch enger an sich – wie ein trotziges Kind, dem man die Lieblingspuppe wegnehmen will. Die Spritze begann zu wirken. Das Wiegen wurde langsamer, und schließlich gelang es, die beiden zu trennen. Die Blutung pulsierte nicht mehr. Der Polizeibeamte sah den Notarzt fragend an, der angesichts der Blutmenge, die Maria verloren hatte, nur leicht den Kopf schüttelte. Maria war tot.
Neue Erkenntnisse
Die Vernehmung von Christian Pfeifer war erst am zweiten Tag nach dem Mordanschlag möglich. Der Chefarzt des Krankenhauses hatte Christians Zustand als problematisch eingestuft und ihm mindestens zwei Tage Ruhe verordnet. Der Tod seiner Freundin Maria Lösch hatte ihn völlig aus der Bahn geworfen.
Der Kommissar Alfons Beermann von der Mordkommission hatte die Ermittlungen übernommen. Aus der pathologischen Untersuchung wusste er bis jetzt nur, dass Maria mit einem Geschoss Kaliber 9 mm aus nächster Nähe getötet worden war. Auch über das Video, das Christian auf den Server der Onlineredaktion FGZ.NET hochgeladen hatte und das nach dem Erscheinen von der Redaktion sofort wieder gelöscht und zur Anzeige gebracht worden war, wusste er Bescheid. Der Zusammenhang, der zum Tod von Maria führte, war ihm aber bis jetzt nicht klar geworden.
Alfons Beermann betrat in Begleitung seines Assistenten Benno Klimm das Krankenzimmer von Christian, der in seinem Bett lag und die Decke anstarrte, und das Eintreten der beiden nicht bemerkte oder nicht bemerken wollte.
„Guten Morgen“, sagte der Kommissar. Keine Reaktion von Christian, der weiterhin nur die Decke fixierte.
„Ich bin Kommissar Alfons Beermann, und das ist mein Assistent Benno Klimm. Ich habe den Fall Maria Lösch übernommen.“
Sofort liefen bei Christian Tränen über das Gesicht – Tränen, die allein der Name Maria auslöste.
„Ich benötige dringend ein paar Informationen von Ihnen. Es ist leider unvermeidlich.“
Christian drehte den Kopf zu ihm und schaute durch ihn hindurch.
„Da draußen scheint ein Wahnsinniger seinen perfiden Trieben nachzugehen, den wir so schnell wie möglich stoppen müssen. Verstehen Sie mich?“ Alfons nahm sich einen Stuhl und setzte sich direkt neben das Bett.
Christian drehte den Kopf wieder zurück und starrte weiterhin die Decke an. Wenigstens, dachte Alfons, war er aufnahmefähig. Ein vorsichtiges Herantasten war jedoch geboten.
„Ich habe das Video gesehen, das Sie hochgeladen haben. Den Umständen nach zu urteilen, vermute ich, taten Sie das nicht freiwillig, oder?“
„Sie vermuten richtig“, sagte Christian. „Dieser Wahnsinnige hat mich dazu gezwungen. Er hat gedroht, meine Freundin zu töten, wenn ich es nicht hochlade.“
„Aber Sie haben es doch hochgeladen?“
„Er hat mir ein Zeitfenster von zwei Minuten gegeben. Es war unmöglich.“
„Sie haben es trotzdem versucht.“
„Ja, aus reiner Verzweiflung.“
„Dann verstehe ich nicht, dass er geschossen hat.“
„Das Video war hochgeladen, aber noch nicht online, als die Zeit um war.“
Christian schien wieder in Panik zu geraten. Es war offensichtlich, dass er es nicht verarbeiten konnte, seine Freundin nicht gerettet zu haben, und sich selbst die Schuld dafür gab. Alfons war klar, dass der Chefarzt mit seiner Einschätzung richtig lag: Christian war völlig neben der Spur. Alfons hatte seine eigenen Erfahrungen durch Verhörmethoden, die einen Menschen so zusetzen können, dass sie komplett aus dem Ruder laufen. Er beschloss, Christian etwas Zeit zu geben.
„Ich hätte Lust auf einen Kaffee. Gibt es hier einen genießbaren?“ fragte Kommissar Alfons Beermann.
„Ich glaube, in der Cafeteria. Sie dürfte nicht weit sein, ich kann ihn riechen, wenn er frisch aufgebrüht wird.“
„Trinken Sie einen mit?“
Christian nickte leicht, und Alfons registrierte ein kleines, wenn auch nur sehr kurzes Lächeln.
„Möchten Sie etwas dazu? Kekse oder so etwas?“ Auch dieses Mal nickte Christian leicht. Alfons gab seinem Assistenten mit einer Kopfbewegung ein Zeichen, und Benno Klimm stand auf und verließ das Zimmer.
„Wissen Sie“, fuhr Alfons fort, „ich bearbeite auch den Fall, von dem Sie das Video hochgeladen haben.“ Christian wurde aufmerksamer.
„Das war die gleiche Stimme wie am Telefon“, erwiderte Christian.
„Sind Sie sich da sicher?“, fragte Alfons nach.
„Ja.“ Christian nickte.
„Leider sieht man ihn auf dem Video nicht, da er ja gewissermaßen die Kamera ist, aber wir haben eine gute Beschreibung von ihm und auch ein Phantombild anfertigen lassen.“ Alfons zog ein gefaltetes Blatt Papier aus seiner Brusttasche, faltete es auf und reichte es Christian, der es aufmerksam betrachtete.
„Bitte bedenken Sie, dass es nur eine Phantomzeichnung ist. Suchen Sie nur nach Ähnlichkeiten. Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?“
Nach kurzer Zeit schaute Christian wieder auf.
„Tut mir leid, ich kann keine Ähnlichkeiten mit irgendwelchen Personen feststellen, die ich kenne.“
„Sie müssen ihn nicht in Ihrem Bekanntenkreis suchen. Wir haben Profiler, die unschwer analysieren konnten, dass die beiden keine Geistesblitze waren. Ihr Wortschatz war eingeschränkt. Das Auftreten der beiden erinnert mich an ‚Süßes oder Saures‘. Es gibt dumme Menschen, deren Selbstbewusstsein grenzenlos ist. Ein Kollege von mir äußerte einen Verdacht, weil er mit dem Selbstmord überhaupt nicht klarkam, und sagte zu mir: „Stell dir vor, der Selbstmörder ging davon aus, die Waffe sei nicht geladen, und sie stammte von dem, der mit dem Handy filmte.“
„Ein ganz neuer Ansatz. Sie meinen, das könnte so gewesen sein?“, fragte Christian.
„Wer weiß … Das mit dem Selbstmord ist schließlich vollkommen irrsinnig.“
Die Tür ging auf, und Benno kam herein. Er hatte es wieder gut gemeint: ein Tablett mit zwei Kännchen Kaffee, drei Tassen und rechts und links in den ausgebeulten Sakkotaschen Tüten mit Keksen. Er musste selbst über sich grinsen, als er die Tür mit dem Fuß zuschlug.
„Sie hatten nur Kuchen. Ich musste Kekse in Tüten kaufen. Ich habe, glaube ich, eine gute Wahl getroffen.“ Er stellte das Tablett auf dem kleinen Tisch vor dem Fenster ab und begann, den Kaffee einzuschenken.
„Wo sind wir stehen geblieben? Ach, fällt mir wieder ein … Wissentlich begangener Selbstmord möchten wir gerne ausschließen. Auf dem Video sieht man, dass der mit der Kamera vor dem Schuss einen Schritt zurücktritt, was auch bedeuten könnte, dass er wusste, dass die Waffe geladen war.“
Christian war wieder voll da, wie ausgewechselt. Das Gespräch brachte ihn auf andere Gedanken.
„Steht denn die Identität des Toten schon fest?“, fragte Christian, bei dem der Journalist wieder erwachte.
„Nein, bisher nicht. Wir haben aus dem Video leider nur Profilbilder von diesem Mann, außer wenn er am Boden liegt, aber da fehlt ihm der Unterkiefer. Die Bilder kennen Sie ja aus dem Video. In der Pathologie versucht man, den Unterkiefer zu rekonstruieren. Wenn das keine brauchbaren Ergebnisse bringt, muss er digital ersetzt werden, um ein Frontalbild zu erstellen. Wir vermuten, dass dieser Mann aus der Obdachlosenszene stammen könnte, was an seiner Kleidung und seinem mehr als ungepflegten Äußeren abzulesen war.“
„Kommen Sie, setzen wir uns.“
Der Kommissar stand auf und ging zum Tisch. Christian war ein wenig gehandicapt und wickelte seine Zudecke um sich.
„Entschuldigung, aber ich habe keine Kleidung mehr, und das Hemdchen, das ich anhabe, ist hinten offen. Ich habe das Personal gebeten, meine Kleidung zu entsorgen. Ich kann und will sie nicht mehr tragen.“
„Das kann ich verstehen. Ich kann Ihnen anbieten, dass ein Beamter bei Ihnen zu Hause vorbeifährt und Ihnen Kleidungsstücke holt.“
„Das ist nicht nötig. Eine Krankenschwester besorgt mir in ihrer Mittagspause einen Trainingsanzug, Socken und ein paar Turnschuhe.“
„Das nenn ich mal einen Service.“ Christian grinste zufrieden und griff zu den Keksen. Alfons schlürfte seinen Kaffee und lächelte. Er war zufrieden – ein Arzt hätte es nicht besser machen können, dieses Häufchen Elend, das Christian noch vor kurzem gewesen war, wieder auf die Beine zu stellen.
„Kann man trinken. Sehr gut. Ich hasse Kaffeeautomaten“, sagte Alfons.
„Wenn ich da an meine alte, vergilbte Kaffeemaschine im Büro denke, wo ich ein Warnschild aufgeklebt habe: Bitte Kanne nur mit klarem Wasser ausspülen, um das Aroma zu erhalten. Den Tipp hat mir mal ein alter Spanier gegeben“, sagte Christian und lächelte den Kommissar an.
Die Tür öffnete sich einen Spalt, und der Chefarzt streckte seinen Kopf herein.
„Alles in Ordnung bei euch?“
„Alles gut, wie Sie sehen können“, erwiderte der Kommissar.