Von denen, die nicht schlafen
Wenn wir Menschen schlafen, werden wir an die uralte Zeit erinnert, als wir noch unsterbliche Götter waren und über dem Berg in der Dunkelheit wohnten. Im Traum können wir Dinge tun, die Menschen unmöglich sind, wir können höchste Gefahren bestehen und Geschehnisse voraussehen, die noch in der Zukunft liegen. Schlafend erlangen wir, was wir im Wachen so notwendig brauchen: die ruhige Besinnung, um mit unseresgleichen in Frieden zu leben und die wehrhafte Kraft, um uns vor Feinden und tödlicher Bedrohung zu schützen.
Doch nicht allen Menschen ist die Notwendigkeit des Schlafes höchstes Gebot und oberste Regel. Auch seit die Wächter einst die Aufgabe übernommen hatten, die Zeit zu behüten, auf dass ein jeder sie achte und dem Schlaf den zugemessenen Respekt widme, gab und gibt es doch manchmal Uneinsichtige, die Zweifel am Nutzen des Schlafes haben. Sie halten den Schlaf für sinnlos vergeudete Zeit, und die gemeinsame Einhaltung der Ruhe zwischen dem Abend- und dem Morgensignal scheint ihnen eine unrechte Einschränkung ihres freien Willens.
Einer von diesen, ein junger Mann mit dem Namen Waa, beschloss eines Tages, als er noch bei den Eltern wohnte, auf das Schlafen zu verzichten. Lieber wollte er, während alle anderen sich in das Dunkel ihrer Kojen zurückzogen, draußen umherziehen und erkunden, was man mit der gewonnenen Zeit alles anfangen könne.
Also legte er sich am Abend wie die Anderen zur Ruhe und wartete, bis er den ruhigen Atem der Schlafenden hörte. Dann verließ er seine Liegestatt und ging nach draußen, um zu sehen, was in der Welt geschah, während alle ruhten. Er lief durch die Waldsiedlung, über Stege und Treppen, ohne einen Menschen zu treffen, bis zum großen Platz, der jetzt völlig leer war. Es war sehr still, nur das Geräusch von Waas Schritten hallte unnatürlich laut von den Wänden der umliegenden Hütten zurück. Er schlich von Haus zu Haus, spähte hinein und sah die Bewohner in ruhigem, wehrlosem Schlaf.
‚Wenn jetzt jemand mit bösen Absichten käme‘, dachte Waa, ‚so könnte er diese Ahnungslosen alle töten. Sie würden es vielleicht nicht einmal bemerken bis zum letzten Augenblick.‘ Er fragte sich, woher diese Gedanken in seinem Kopf kamen, konnte aber keine Antwort finden. Es war fast gewesen, als hätte jemand anderes ihm leise ins Ohr gesprochen.
Er ging zurück auf den Platz. Ein lautes Geräusch ließ ihn zusammenfahren – ein Schwarm Vögel, aufgeschreckt durch die außergewöhnliche Anwesenheit eines Menschen zu dieser Zeit, flog über dem Platz auf und verschwand hinter den Baumwipfeln.
Waa verließ das Dorf und stieg hinunter zum Flusspfad. Er wollte sehen, ob auch die Lebewesen des Waldes zu dieser Zeit schliefen. ‚Vielleicht kann ich ein Tier im Schlaf überraschen und töten. So wäre es ein Leichtes, an Fleisch zu kommen, ohne die Mühsal der Jagd.‘ Auch diesmal kamen die Worte von irgendwoher, als hätte sie ihm jemand zugeflüstert.
Am Meerfluss ging er ein Stück entlang, und bald traf er wirklich auf ein Wasserschwein, das im Uferschlamm lag und friedlich schlief. Er schlich sich an, zog sein Messer und schnitt dem Schwein die Kehle durch. Es starb, ohne einen Laut von sich zu geben. Waa packte sich das Schwein auf die Schultern. Stolz und über und über mit Blut beschmiert ging er zurück zu Siedlung. Er fühlte sich stark und mutig wie ein großer Jäger.
Als er die Treppe zum großen Platz hinaufschritt, hörte er oben jemanden leise seinen Namen rufen:
‚Waa…, Waa…‘
Mitten auf dem Platz sah er eine Gruppe von Gestalten stehen. Es waren hässliche, gebeugte Wesen mit lichtheller, durchscheinender Haut. Sie hatten das Aussehen von uralten, kranken Menschen, verwahrlost und aufgegeben. Sie warteten dort auf dem Platz auf ihn, mit leeren Blicken, schweigend. Nur die vorderste in der Gruppe, ihre Anführerin, sah zu ihm herüber und rief nach ihm. Die schaurige, flüsternde Stimme kam ihm jetzt irgendwie bekannt vor.
‚Waa… Komm her zu uns, Waa!‘
Er setzte das tote Schwein auf dem Boden ab und starrte hinüber.
Es waren Rander! Die Erzfeinde der Menschen vom Rand der Welt! Als Kind hatte er einmal welche gesehen – aber als Leichen. Auf dem Weg zu den Kavernen waren sie neben dem Pfad gelegen, getötet von den Wächtern. Wie kamen diese Kreaturen hierher in die Waldsiedlung?
‚Komm zu uns, Waa…‘
‚Was wollt ihr von mir?‘
Waa versuchte, mutig zu klingen. Er ging ein wenig auf die Rander zu. Dabei sah er, dass nicht nur ihre Haut, sondern der ganze Körper der Gestalten selbst durchsichtig war. Er konnte das, was hinter ihnen war, durch sie hindurchsehen.
‚Wer seid ihr?‘
Die Anführerin, die größer war als die anderen Rander – oder was immer diese Wesen waren – trat einen Schritt nach vorne auf Waa zu.
‚Wir sind die Geister vom Rand der Welt‘, sprach sie. ‚Wir sind die, die nicht schlafen. Wir sind die, die nicht zurückkehren dürfen. Wir suchen nach unseresgleichen.‘
Da erinnerte sich Waa an eine Geschichte, die ein Alter auf dem Dorfplatz ihnen als Kinder erzählt hatte: Die Geschichte von den Randgeistern, die durch die Welt ziehen und Menschen holen. Es sind die wandelnden Geister der Rander, dieser lichtscheuen blutgierigen Kreaturen aus den finstersten Winkeln unserer Welt. Die Rander selbst können den Rand nicht überschreiten und sind verdammt, dort auf ewig im Dunklen zu hausen, hungrig und verzweifelt. Sie leben von kriechendem Getier und manchmal auch von verirrten Menschen, die sich in die gefährliche Gegend der Kavernen begeben müssen, um sich vor der Flut zu retten. Wenn die Rander vor Hunger und Blutdurst dem Irrsinn nahe sind, senden sie ihre Geister aus, um nach Beute zu suchen. Die Randgeister lassen ihre Hülle zurück und machen sich als körperlose Wesen auf die Suche nach Opfern, die sie zum Rand locken und fressen können. Oder sie suchen nach ihresgleichen unter den Menschen – Schlaflose, die sie mit bösen Gedanken zu schändlichen Taten an wehrlosen Menschen und Tieren anstiften, und die dann, selbst zu Randern geworden – mit ihnen ins Dunkel hinausziehen müssen.
Waa begriff, dass er von den Randern gerufen worden war. Er hatte den Schlaf gemieden. Er hatte ein wehrlos schlafendes Tier getötet. Und er hatte daran gedacht, seine Mitbewohner zu ermorden. War er selbst ein Rander?
‚Du bist einer von uns, Waa‘, raunte die Anführerin der Randgeister. ‚Komm mit uns. Komm mit zum Rand, dort kannst du nach Herzenslust töten und dich im Blut deiner Feinde baden. Und du wirst nie wieder schlafen müssen, wie diese Weichlinge hier im Dorf. Sie werden sich vor dir fürchten und vor deiner Stärke zittern.‘
Die Zeit zwischen Abend und Morgen war schon fortgeschritten, und eine schwere Müdigkeit hatte sich über Waas Denken gelegt, die er sich aber nicht eingestehen wollte. Die Worte des Randgeistes schienen ihm verlockend. Sie kreisten in seinem Kopf herum und wurden zu seinen eigenen Gedanken. Er wollte stark, er wollte unbesiegbar sein. Er kämpfte gegen den Schlaf an, sah auf das geronnene Blut hinunter, das die Haut seiner Brust und seiner Schultern bei jeder Bewegung spannte. Mit einem Ruck richtete er sich auf und sah in die fahlen Augen des Randgeistes, der jetzt direkt vor ihm stand.
Er fühlte sich stark und unbesiegbar.
‚Ich komme‘, sagte er. Und er erschrak über seine eigenen Worte. Seine Stimme klang schwach und verzweifelt.
Aber er konnte nicht zurück. ‚Ich komme mit euch.‘
Da ging ein Aufseufzen durch die Schar der Geister, und plötzlich schauten ihn alle aus ihren durchsichtigen Augen an. Die Anführerin legte Waa ihre knöchernen Hände auf die Schultern.
‚Waa! Du bist jetzt ein Rander…‘, flüsterte ihm die Stimme ins Ohr. ‚Du kommst mit uns, Waa… Aber zuvor…‘ Die spitzen dürren Finger des Randgeistes bohrten sich in seine Schultern. ‚Zuvor musst du sie töten. Töte sie alle, Waa!‘
‚Töte sie! Töte sie alle!‘ klang es aus den durchsichtigen Mündern der anderen Geister, die jetzt in einem Kreis um ihn herumschritten und unaufhörlich wiederholten: ‚Töte sie! Töte sie alle!‘
Waa war jetzt so müde, dass er die Augen kaum mehr offenhalten konnte. Alles drehte sich um ihn, er selbst drehte sich im Kreis der Randgeister und murmelte mit ihnen: ‚Töte sie! Töte sie alle!‘
Er zog das Messer aus seinem Gürtel, es war noch beschmiert mit dem Blut des Schweines.
‚Töte sie! Töte sie alle!!‘
Mit dem Messer in der erhobenen Faust betrat er die erste Hütte, gefolgt vom Zug der Randgeister. Er trat an eine Liege heran und zog leise den Vorhang zur Seite. Friedlich schlief ein kleines Mädchen darin, seine Puppe im Arm.
‚Töte sie!! Töte sie!!!‘
Waa senkte lautlos sein Messer an den Hals des Mädchens, so wie er es zuvor bei dem Wasserschwein getan hatte. Aus halb geschlossenen Augen blickte er in den Kreis der durchscheinenden Gesichter, die sich um die Liege versammelt hatten. Sie flüsterten jetzt fast unhörbar: ‚Töte sie… Töte sie…‘
Er atmete noch einmal tief ein und setzte sein Messer für den Schnitt an. Die Geister verstummten, sie schienen ebenfalls den Atem anzuhalten.
In diesen Moment der Stille brach laut und dröhnend das erste Morgensignal vom Berg. Das kleine Mädchen schlug die Augen auf. Als das zweite Signal ertönte, steckte es verwundert den Kopf aus der Koje.
‚Wer hat meinen Vorhang weggezogen?‘, fragte es.
Aber es war niemand zu sehen.
Als die Menschen aufgestanden waren, fanden sie mitten auf dem großen Platz ein getötetes Wasserschwein. Niemand wusste, woher es gekommen war, deshalb vergruben sie es unten im Wald. Dann merkten sie, dass Waa nicht da war. Sie suchten ihn überall, aber er war und blieb verschwunden. Keiner sprach mehr von ihm.