Die Austern
Die weite Halle war festlich gedeckt. Alles war in Erwartung eines außergewöhnlichen Abends. Es sollte ein Festmahl werden. Ich kannte dieses Mahl, welches so besonders sein sollte, und konnte es seit Kindertagen nicht nachvollziehen. Nonna hatte wieder speziell dazu eingeladen, was inzwischen eher seltenvorkam. Sie war zwar nicht ungesellig, pflegte aber ihre Kontakte meist außer Haus. Sie trat, wie gesagt, wenig in Erscheinung. Jedenfalls war dies immer mein Eindruck. So war es schon früher, als ich im Hause wohnte, und so war es heute noch mehr. Es fügte sich, dass ich zu diesem seltenen Ereignis im Lande war. Ich war lange im Ausland gewesen und kam nur sporadisch in die Gegend, die früher einmal Heimat war.
Nonna hatte eine Lieblingsspeise, und diese Vorliebe teilten nicht alle ihrer Hausgenossen, am wenigsten Certo, obwohl er eine gewisse Ähnlichkeit mit den Protagonisten dieses Mahles hatte, nämlich den Austern.
Auch er befand sich, wie die Austern, gern in seichteren Gewässern. Auch er haftete am mütterlichen Riff, angedockt mit harter Schale, unverrückbar statisch, vom Fluss der Dinge umspült, das Weiche in sich aufsaugend und in harter Schale konservierend. Es mögen diese Ähnlichkeiten der Grund dafür gewesen sein, dass Certo diese Meerestiere nicht mochte. Wer hat schon gern sein Spiegelbild, serviert auf einem Teller, vor der Nase, und wer würde es gerne versuchen, solche harten Schalen, spiegelbildgemäß, zu knacken.
Das festliche Ereignis sollte im Rahmen der Familie stattfinden, und so waren nur die engsten Bekannten eingeladen. Onkel Carlo war unter den Gästen. Obwohl er mich damals in die Fremde hinaus nötigte, war ich ihm nie böse. Die guten Zeiten bei ihm am Meer hatten sich zu tief eingeprägt. Ich meinte immer besser zu verstehen, weshalb es so sein musste. Denn obwohl Nonna eine weltoffene Atmosphäre hinterließ, wurde das Haus von einer eigenen Enge geprägt, die schwer zu beschreiben ist. Und da ich sie nicht erfassen konnte, brauchte ich mehr als nur Abstand, um mich, wenn auch langsam, aus dieser Enge zu lösen. Nonna hatte das gespürt und mich mit Onkel Carlos Hilfe auf den Weg ins Ausland geschickt. Es war, als konnte selbst sie nichts gegen diesen ›Hausgeist‹ ausrichten. Die Stärke, die sie anfangs für mich ausstrahlte, war nicht allgemein tonangebend, sie war auf mehr untergründige Weise eindrucksvoll.
Es war ein schöner Abend des beginnenden Herbstes. Die Dämmerung kam früher und die schwächer werdenden Sonnenstrahlen machten dem kühlen Abendwind Platz. In der Halle brannten viele Kerzen und verströmten ihr goldenes Licht. Man aß und trank, war fröhlich und lachte. Der Wein ging zur Neige und Nonna stand auf, um Nachschub zu holen. Heute mochte sie kein Personal am Tisch und so ging sie selber in die Küche.
Hier saß Certo, der sich schon längere Zeit an dieser gepanzerten Speise versuchte, Mentes missbilligende Blicke ignorierend. Die hin und wieder maßregelnden Bemerkungen, die sie in Gegenbewegung zum Austernsaugen zwischen die Zähne hindurch zischelte – nicht zu laut, damit der Missklang nicht nach draußen dränge, dafür aber um so energetischer – fing Certo jedes Mal mit seinem Geschick ab, sich in den Wind seines Gegenübers zu drehen und zu bestätigen mit einem: »…mach ich doch schon immer«, oder »…das mein’ ich ja…!«
Als Nonna zur Küchentür hereinkam und mit leichter Ironie fragte: »Na Certo, so fleißig bei der Arbeit!?«, setzte er ein untertänig-öliges Grinsen auf. Um sein Ungeschick nicht zu sehr zu zeigen, hatte er die widerspenstige Auster inzwischen niedergelegt, und sein Grinsen glitt mehr auf die Seite der Verlegenheit. Nun kam Onkel Carlo in die Küche, um Nonna beim Öffnen der Flasche zu helfen. Der Anblick Certos muss ihn gereizt haben, dass er seine gewohnte vornehme Art vergaß und sich zu der Bemerkung hinreißen ließ: »Ecco Certo, die Austern sind härter zu knacken wie die Rosinen, stimmt’s?!«, womit er deutlich auf das damalige Verhältnis von Certo mit Rosina anspielte, was inzwischen jeder wusste.
Certo war der Erste, der diesen Seitenhieb erfasste und dies war einer der seltenen Momente, wo sein Siedepunkt erreicht war, und das in einer Spontaneität, die selbst für einen Choleriker einen Rekord dargestellt hätte.
Alles geschah zugleich. Während Nonna sich umdrehte, um mit der neuen Flasche Wein zu Onkel Carlo hinüber zu gehen, sprang Certo kochend auf, griff in die Besteckschublade, umklammerte das riesige Bratenmesser mit der Faust, drehte sich mit einem gewaltigen Ruck, stieß den Versuch einer Erwiderung aus: »So knackt man mit Rosinen …«, und bevor er merkte, was er gesagt hatte, seine Worte neu ordnen konnte, lähmte die Stille des Schreckens die weiteren Laute. Er hatte nicht bemerkt, dass Nonna in seine Richtung gegangen war, dort hinüber wollte, wo Onkel Carlo mit dem Korkenzieher auf den Wein wartete. Certo stand da, das Messer umklammernd, in dem Nonna hing mit weit geöffneten ungläubigen Augen. Das Blut lief ihm rot über die Hand und den Arm hinauf bis zum Ellenbogen, von wo es auf seine neuen Schuhe tropfte. Certo behielt das Heft fest in der Hand und hielt damit Nonnas Körper aufrecht. Er stand wie erstarrt, hatte Angst, sich zu bewegen, damit Nonna nicht ihrem schneidenden Halt entglitt, denn es war ihm angeboren, dass man eine Dame öffentlich nicht fallenließ.
Das Tropfen des Blutes auf seine neuen Schuhe tönte hohl in die Stille und schien ihn ins Leben zurückzurufen. Er griff instinktiv nach seiner Serviette und gab damit das Messer frei, während Nonna sterbend zusammen sank, gerade noch aufgefangen von Mente, der Onkel Carlo zu Hilfe eilte.
»Ja das ist doch …! Ja, was ist denn …!?«, setzte Certo fort und es war nicht deutlich, ob er sich auf das Messer in Nonnas Bauch oder das Blut auf seinen neuen Schuhen bezog. Es krachte. Nonnas Hand hatte die Weinflasche freigegeben und ließ sie splitternd zu Boden fallen. Weißer Wein floss durch die Scherben in rotes Blut, vermischte sich, verdünnte, als wollte er die Röte des Entsetzens mildern. Und darauf hin war Certo wieder still, denn er hatte begriffen, dass es nichts mehr zu sagen gab. Es entstand eine Zäsur, die Zeit hatte aufgehört und der Raum dehnte sich mit unhörbarem Dröhnen aus, wie eine rotierende Kugel, deren Mittelpunkt wir waren.
Das Läuten an der Türe holte mich zurück aus meiner Erstarrung. Dottore Graziano trat in die Küche. Sein Erscheinen brachte etwas von der alten Wirklichkeit zurück, obwohl nichts mehr war, wie vorher. Er tat sein Bestes, doch Nonna kam nicht mehr ins Leben zurück.
Langsam löste ich mich aus meiner Erstarrung, verließ den Platz in der großen Halle, von dem aus ich alles mit angesehen hatte, und packte meine Sachen. Es war kalt geworden in diesem Haus.
Als ich draußen stand, strahlte mir der volle Mond entgegen. Sein silbernes Licht traf mich mild wie ein sich entfernendes Echo aus Nonnas scheidendem Glanz. Trauer und Tröstung in einem. Aber die Tröstung war entfernter. Der ruhende Pol, den Nonna immer für mich in diesem Hause dargestellt hatte, war ins Schwanken geraten, trudelte wie ein zu langsam gewordener Kreisel und sank wie ein erstarrter Stern ins Dunkel des Alls. Ich wünschte es mir wie im alten Mythos: Die Götter mögen Nonna zu einem warmleuchtenden Stern in den Weiten des Universums in die Unsterblichkeit erheben. Wie würde das meine hiesige Navigation erleichtern auf der Suche nach meinem Wege auf dem Meer der Seele.